Quart Heft für Kultur Tirol Nr. 34 / 19 € 16,–
Foto: GĂźnter Richard Wett
Ausstellung Beatrix Sunkovsky und Alfons Egger . Galerie Johann Widauer . Architektur Hanno SchlĂśgl
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Inhalt
Claire Morgan, Cover Halotech Lichtfabrik
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Michael Kienzer 4 Inhalt 5 Fließtext Von Marie Gamillscheg
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Brenner-Gespräch (19): „Man braucht ein bisschen Verblödung.“ Christian Petzold erzählt Georg Cadeggianini, wo er am besten entspannt – und es ist nicht das Kino. 11–19 Federn in der falschen Kammer Die Weltbeschreibung des Tiroler Bauern Leonhard Millinger als Nacherzählung. Von Christian Lorenz Müller
Morag Landvermessung No. 6, Sequenz 5, bei Schluderbach, Hotel am See Daniel Wisser trifft auf eine mysteriöse Fremde und kommt nicht weiter. 58–63 Inspiration / Expiration Lionel Favre koppelt fantastische technische Zeichnungen mit der Bergwelt.
Berge bilden den Horizont Die Frage gibt es schon lange: Wie viel Architektur vertragen die Alpen? Florian Aicher schwindelfrei auf der Suche nach Antworten 75–85 Matthias Krinzinger Originalbeilage Nr. 33
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Fallen Vision Eva Maria Stadler über Illusion und Naturnähe in den Arbeiten von Claire Morgan 31–37 Claire Morgan Who didn’t want to be an astronaut. 40 / 41 This is going to hurt. 42 / 43 Happy ending. 44 / 45 I wanted the most beautiful thing in the world. And then I got it. And then it died. And then I was surprised. 46 / 47 Bungalows in Bologna Zwei Bands zwischen Fern- und Heimweh. David Baldinger vergleicht Wanda und Bilderbuch. 49–57
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„Sie retten die Sprache.“ Paul Celan war im Sommer 1948 für zwei Tage in Innsbruck. Peter C. Pohl weiß mehr darüber. 89–97 The Marvelous Miss D. Reloaded / 2019 Sarah Decristoforo zeigt Reflexionen der Show-Welt. 99–107 Marginaltext (7): Es ist noch nicht Zeit. Zentrales über das Leben an der Peripherie. Diesmal von Kundeyt Şurdum, geboren 1937 in Instanbul, verstorben 2016 in Vorarlberg 109–115 Eigenwerbung
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Besetzung, Impressum
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Fließtext*
Von Marie Gamillscheg
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— Text, der in einem Stück und ohne Unterbrechungen durch Absätze, Überschriften, Abbildungen, Fußnoten u. Ä. gesetzt wird. — Aufforderung, seinen Gedanken freien Lauf zu lassen und dabei nicht zurückzuschauen; freihändig draufloszulegen, ohne zu korrigieren; die Buchstaben zu Papier zu bringen und bedenkenlos aus der Hand zu geben.
Ich erinnere mich an das Gefühl, im Auto einzuschlafen und im Halbschlaf ins Bett getragen zu werden. Ich erinnere mich, dass ich immer behauptete, das Buch gelesen zu haben, um dann hinzuzufügen: „Aber das ist schon lange her.“ Ich erinnere mich daran, wie ekelhaft ich den Gedanken an Cola-Rot fand und wie gut es dann war. Ich erinnere mich an Kroketten mit Knoblauch-Mayonnaise. Ich erinnere mich, zu erschrecken, als ich in den Spiegel sah. Ich erkannte mich nicht. Ich erinnere mich, morgens zu bedauern, als dieses Ich aufgewacht zu sein. Ich erinnere mich daran, dass ich am nächsten Morgen als jemand anderes aufgewacht bin. Ich erinnere mich daran, nicht einschlafen zu wollen, weil es am nächsten Tag diesen Moment nach dem Aufwachen gab, in dem mir jedes Mal neu einfiel, dass wir uns nie wieder sehen würden. Ich erinnere mich an das Rattern der Autos über Pflastersteine. Ich erinnere mich an das Gefühl, unter einem Wollpullover zu schwitzen. Ich erinnere mich an Debatten. Ich erinnere mich, wie schnell sie auch wieder vergingen. Ich erinnere mich an die kuratierte Aussicht von Zugfenstern. Ich erinnere mich, als ich mich auf einem Spaziergang eine Stunde lang nicht an einer Bisamratte vorbeitraute und mir ein Leben auf dieser schmalen Düne ausmalte. Es war Dezember. Ich erinnere mich daran, Äpfel in drei Bissen zu essen. Ich erinnere mich an eine Preisverleihung, als man meinen Namen sagte und ich nicht verstand, dass er etwas mit mir zu tun hat. Ich erinnere mich, dass meine Sätze auf Bühnen endlose Schleifen drehten und ich mich später im Hotelbett dafür schämte. Ich erinnere mich, dass man mit dem Taschenrechner ESEL schreiben konnte. Ich erinnere mich an den Knall, als ich beim Klettern von der Wand fiel und mir alle Bänder im linken Knie riss. Ich erinnere mich an eine unheilbare Müdigkeit. Ich erinnere mich an das Rutschen über eisige Gehwege. Ich erinnere mich daran, wie gut die Idee im Vorhinein oft war, zur Kühlung einen Eiswürfel in den Mund zu nehmen, und wie schnell es dann viel zu kalt wurde, aber der Eiswürfel sich noch nicht zerbeißen ließ. Ich erinnere mich, dass eine Buchhändlerin einmal zu mir sagte: „Halten Sie durch.“ Ich erinnere mich an Pflanzen, die wie Menschen aussahen. Ich erinnere mich an Menschen, die wie Tiere aussahen. Ich erinnere mich, als ich Malina las und nichts verstand. Ich erinnere mich, als ich Malina wieder las und alles mit mir zu tun hatte. Ich erinnere mich an Joe Brainards I REMEMBER und die magische Wirkung, die davon ausging. Ich erinnere mich an die Erleichterung, wenn ich den Wohnungsschlüssel beim Nachhausekommen zwei Mal umdrehte, also niemand zu Hause war. Ich erinnere mich daran, die Dinge meiner Mitbewohner aus dem Kühlschrank zu essen und sie danach heimlich nachzukaufen. Ich erinnere mich daran, als ich daran arbeiten wollte, mysteriöser zu wirken. Ich erinnere mich an viele angefangene Tagebücher. Ich erinnere mich daran, einen Kloß im Hals zu haben und zu denken, dass
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es sich tatsächlich wie ein Kloß im Hals anfühlt. Ich erinnere mich, dass ich mehr Zwetschgenknödel essen konnte als mein Bruder. Ich erinnere mich, dass ich unter einer Bettdecke, abends, Süßigkeiten mit der Taschenlampe aß. Ich erinnere mich, dass ich vortäuschte, Fieber zu haben, und den Thermometer unter der Nachttischlampe aufheizte und der viel zu schnell in die Höhe schoss. Ich erinnere mich an den Neid, wenn ich Anfang zwanzig-jährige Paare durch die Straßen gehen sah. Ich erinnere mich daran, wie im Tierpark Schönbrunn ein Jaguar eine Pflegerin tötete. Ich war ungefähr zehn. Ich erinnere mich, dass jemand, den ich gut kenne, am gleichen Tag wie Helmut Pechlaner Geburtstag hat. Ich erinnere mich, wie ein Mann eine Tonne Braunkohlebriketts in unseren Keller trug. Ich erinnere, als ich beschloss, nur mehr Schwarz zu tragen. Ich erinnere, als ich kurz danach beschloss, nur noch sehr ausgefallene Sachen zu tragen. Ich erinnere mich an den Schmerz anderer Menschen, der sich wie der eigene anfühlte. Ich erinnere mich an fleischfressende Pflanzen. Ich erinnere mich an das Raunen der auf die Haltestelle zukommenden Straßenbahn und wie ich sie jeden Morgen, mit offenen Schuhen und Mantel und Schultasche in der Hand, gerade noch erwischte. Ich erinnere mich an Cornflakes mit Wasser. Ich erinnere mich an das Wort versifft. Ich erinnere mich an das Gefühl, auf einem Gipfel zu stehen und kein einziges Haus zu sehen. Ich erinnere mich an die Entschärfung eines verminten Gebiets. Ich erinnere mich an den Geruch von kalten Skijacken. Ich erinnere mich daran, Nagellack in einem Stück abzuziehen. Ich erinnere mich an Nägel, die in Wände fielen. Ich erinnere mich an Pizza nach Umzügen, zwischen den Kisten. Ich erinnere mich an den dringenden Wunsch, einen Hosenanzug zu besitzen. Ich erinnere mich, dass ich später überlegte, wann der Wunsch wieder verschwand. Mir fiel es nicht ein. Ich erinnere mich daran, tagelang das Internet querzulesen und am Ende alles zu vergessen. Ich erinnere mich an einen leichten Schwindel, als ich merkte, dass ich nicht verstand, wie die Finanzwelt funktionierte. Ich erinnere mich an das Wort Reizwortgeschichte. Ich erinnere mich daran, die Geschichten anderer so oft zu erzählen, bis ich glaubte, dabei gewesen zu sein. Ich erinnere mich an meine erste Zigarette, an einem Vormittag am Fenster in meiner ersten Wohnung. Ich erinnere mich, als ich von diesem Fenster wenig später einen Unfall sah. Ich erinnere mich, als ich mit dem Moped auf die Autobahn auffuhr und wie die Menschen mir aus den offenen Fenstern Dinge zuriefen. Ich erinnere mich, als ich aus dem Fenster sah und auf der Straße jemand im Gehen Ravioli direkt aus der Dose aß. Ich erinnere mich an gezuckertes Schweinefleisch. Ich erinnere mich an die Aufregung, ein SMS zu bekommen und wie lang ich an der Antwort feilte. Ich erinnere mich an das Gefühl, eine Lebensmittelmotte in der Luft zu erschlagen und wie sie dann mehlig auf der Handfläche klebte.
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Brenner-Gespräch (19): „Man braucht ein bisschen Verblödung.“
So viele Leute fahren über die Alpen. Quart bittet herausragende Persönlichkeiten an den Straßenrand zu einer Jause mit Gespräch. Folge 19: Der deutsche Filmregisseur, Drehbuchautor und Fußballfan Christian Petzold, unter anderem ausgezeichnet mit dem deutschen Bundesfilmpreis, ist bekannt für seine menschlichen Geschichten. Mit Georg Cadeggianini redet er über die Notwendigkeit von Pilzfreunden, Zeitverschwendung beim Autofahren und die Sockenabteilung von Karstadt.
Georg Cadeggianini: Herr Petzold, bei Ihren Filmen sind Sie überall dabei, Idee, Drehbuch, Set, Schnitt, überall reden Sie mit. Wie gut sind Sie eigentlich im Schweigen? Christian Petzold: Das ist gar nicht so leicht. Wenn hier neben uns im Café jetzt ein Paar säße, das sich einfach anschweigen würde, würde jeder denken: Sagt mal, habt ihr Probleme? G. C.: Man würde ihnen einen Therapeuten empfehlen. C. P.: Dabei kann gemeinsam schweigen wahnsinnig guttun. Schweigend durch den Wald zu gehen zum Beispiel. Das ist etwas ganz Anderes, als alleine unterwegs zu sein. Alleine ist man mit sich beschäftigt. Zu zweit nicht. Peter Handke zum Beispiel geht immer alleine Pilze suchen. Das würde bei mir nicht funktionieren. Ich hatte das große Glück, mit Harun einen Pilzfreund zu haben. G. C.: Harun Farocki, der Essayfilmer, mit dem Sie bis zu seinem Tod 2014 fast 20 Jahre lang zusammengearbeitet haben. C. P.: Mit Harun habe ich viel geschwiegen. Wir waren viel unterwegs, spazieren und auf Irrwegen. Wir steckten in Sackgassen fest, auch monatelang. Und dann kamen wieder große euphorische Momente. Und da gehört dann schon das Gespräch dazu. Im Gespräch stießen wir oft auf etwas völlig Neues …
G. C.: … was vorher keiner von beiden überhaupt gewusst hat. C. P.: Genau. Der falsche Zeuge. So nannte Harun mich immer. Ich habe etwas erzählt, was ich gesehen oder gelesen habe. Später hat er es nachgelesen. Das stimmt ja alles gar nicht, meinte er dann. Aber weil es nicht stimmt, ist es gut. Und weil es nicht stimmt, hat er auch mitmachen können. Gerade bereite ich ein neues Drehbuch nach einem Roman vor. Es steht noch nicht mal ein Treatment, aber es fängt in meinem Kopf an zu arbeiten. Gestern habe ich der Casterin davon erzählt. Weil das Stück so traurig ist, weinte sie sogar. Und dann bin ich nach Hause, habe das Buch noch mal aus dem Schrank geholt und die letzten Seiten gelesen, die ich ihr beschrieben hatte. Aber die existieren überhaupt nicht. Ich brauche das Erzählen. Während des Erzählens merke ich, ob die Geschichte einen Kern hat, ob es gut wird. Anders geht es bei mir nicht. Ich finde, jeder sollte einen Pilzfreund haben. G. C.: Ein Ort, in dem viele Leute miteinander schweigen, ist das Auto. C. P.: Ja, das ist schön. Dieses Somnambule im Auto, diese Trance, da wieder einen überholen, Umfahrung, dazu Musik, Stau, sich überholen lassen. Beim Autofahren wird man zum Gespenst, ist anwesend und abwesend im selben Moment. Ich hätte nichts gegen eine Geschwindigkeitsbegrenzung. Dieses Dahintreiben, das ist es, was ich suche. Das ist ein bisschen so,
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wie zu lange aufs Wasser zu gucken. Etwas, was mein protestantischer Vater uns immer verboten hat. G. C.: Weil es Zeitverschwendung ist? C. P.: Man kann dann ja nicht mehr arbeiten, ist zu nichts mehr fähig. Aber ich glaube: Man braucht ein bisschen Verblödung. Und das Auto ist natürlich totale Verblödung, aber eine schöne. Es gibt so viele Möglichkeiten der Zweisamkeit im Auto. Es gibt nicht nur Konflikte, es gibt auch so etwas wie behütet sein. Dann ist das Auto faradayscher Käfig. Mein Sohn saß immer rechts hinten. Und ich hatte das Gefühl, dass der von hinten so geguckt hat, mich gesehen hat, und langsam einschlafen konnte: ah, alles okay, der fährt, der ist selber blöd. Es ist schön, gemeinsam zu verblöden. G. C.: In vielen Ihrer Filme, vor allem Ihrer früheren, wird verdammt viel Auto gefahren. Warum? C. P.: Autofahren im Film hat etwas vom Theater. Die Schauspieler sitzen nebeneinander, sprechen beide Richtung Kamera – das ist ein Theater-Setting. Etwa so wie heute im Fernsehen gern Küchenszenen gezeigt werden: Da stehen ständig Leute an einer Kochinsel, beide Richtung Kamera, und schnibbeln Paprika. Aber das Auto ist kein Ort zum Dialoge-Aufsagen. Das ist ein Ort, an dem Leute in Somnambulität geraten, wenn sie Fahrer sind. Wo sie in den Krieg geraten auf der Autobahn. Wo sie nebeneinander schweigen, manchmal belastend und furchtbar, etwa, wenn sich ein Paar gestritten hat und dann trotzdem noch miteinander nach Hause fahren muss. Das Ganze ist dann kein Kammerspiel, sondern ein Druckkammerspiel. Das hatte ich für mich entdeckt: dass da etwas drunter ist, was das Kino entdecken kann. G. C.: Vor allem hier in Deutschland. C. P.: Wolfsburg, Stuttgart, Zuffenhausen – wir leben doch in einem Land, das vom Auto lebt. Die Gewerkschaft, der Käfer, die Beteiligung des Staates an VW,
Hitler, Blitzkrieg. Verdammt, was ist das für ein Land? Ein Land der Mobilität. Ein Land, das mit dem Auto den Blitzkrieg privatisiert hat? Vielleicht … Solche Gedanken hat man dann plötzlich. Und das ist ja produktiv, man merkt dadurch etwas, man sieht etwas. G. C.: Was heißt hier sehen? C. P.: Das ist genau das, worum es mir ging. Ich wollte zuerst überhaupt keine Filme drehen. Ich wollte eigentlich nur Filme gucken. Ich wollte sehen lernen. Durch den Nationalsozialismus und die anschließende Rezivilisation leben wir in einem Land, in dem die Bilder immer eine Bedeutung haben müssen. Sie sind immer propagandistisch in die eine oder die andere Richtung. Aber es geht nicht um Handlungsanweisungen, sondern ums Entdecken. Dieser Infektion, die ganz tief in den Menschen hier drinsteckt, musste künstlerisch etwas entgegengesetzt werden. Bei Fassbinder etwa konnte man plötzlich ein Bild sehen: Bei ihm wurden all die Gemeinheiten, diese Kränkungen, das Unterdrückte sichtbar. Der filmte Orte, als ob er Tatorte betreten würde. Man weiß gar nicht, was für ein Verbrechen hier stattgefunden hat, aber irgendetwas stimmt nicht. Wie widerlich zum Beispiel diese Gesellschaft zu Brigitte Mira in Angst essen Seele auf ist, wenn sie ihren marokkanischen Freund vorstellt und Fassbinder Portraits der Familie macht – das ist unfassbar gefilmt. Und ich war total begeistert, dass ich dieses Druckkammerspiel, das Auto, für mich entdeckt habe. G. C.: In den Städten hat das Auto viel kaputt gemacht. C. P.: Unglaublich. Ich war jetzt bei den Dreharbeiten für Undine in der Gegend, wo ich groß geworden bin. Remscheid, Solingen, Wuppertal. Da sieht man, was diese Wahnsinnigen dort angerichtet haben. Es kommt immer wieder die Autolobby durch. Das sind ja Verbrecher. Zum Beispiel Remscheid: Da haben die achtspurige Straßen durchgelegt, die Eisenbahn abgeschafft, Busbahnhöfe gebaut. Das kennt man zum Beispiel aus
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der Türkei. Da haben sie auch die Eisenbahn mit dem US-Greyhound-System ersetzt. Weil da einfach die Privatwirtschaft Geld verdienen kann. Jetzt haben wir diese Flix-Bus-Scheiße. Man kann das nicht der Privatwirtschaft überlassen. Städtebau und Infrastruktur müssen vom Staat konzeptioniert werden. Das geht nicht anders. Mit Harun habe ich beim Spazierengehen oft rumgeschaut: Was hier sind die Ruinen des Krieges und was die Ruinen des Friedens? Und die Ruinen des Friedens – auf denen fahren meistens Autos. Das Auto hat die Städte kaputt gemacht. Ich liebe Autos, aber wir müssen damit aufhören. Auch wenn das bedeutet, dass wir alle nur noch Halbtagsjobs haben. G. C.: Und zurück zur Eisenbahn? C. P.: Warum nicht? Wie toll ist es, in eine Stadt mit dem Zug einzufahren? Auf dieser einen Achse, die durch die Stadt führt. Man sieht die Häuser von hinten, man sieht in die Vorgärten, in die Kaninchenställe. Und dann fährt man in den Bahnhof ein und geht durchs Portal mitten in die Stadt. Das ist doch großartig! Man lernt eine Stadt von hinten kennen und dann erst kommt man in den repräsentativen Teil. Die erdabgewandte Seite der Geschichte heißt das bei dem Schriftsteller Nicolas Born. G. C.: Herr Petzold, was tun Sie, um sich zu erden? C. P.: Ganz ehrlich: Ich gehe bei Karstadt am Hermannplatz in die Sockenabteilung. G. C.: Bitte? C. P.: Ja, das hat mit meiner Kindheit zu tun. Meine Eltern waren arm, mein Vater lange arbeitslos, bei uns wurde alles weggepfändet. Wir mussten schon als Jugendliche arbeiten, um uns Kleidung zu kaufen. Die Kleidung, die ich mir selber gekauft habe, war natürlich das Billigste vom Billigen. Zumindest das, was ich direkt am Körper trug, das, was die anderen nicht sehen konnten. Unterhosen, vor allem aber Socken: Poly-
acryl-Polyester-Frottee-Nachbau, das allerschlimmste Zeug. Das Geld musste ja für die Levis 501 herhalten. Der letzte Anstrich musste stimmen. G. C.: Und seitdem Sie es sich leisten können … C. P.: … kaufe ich nur noch die teuersten Socken. Etwa die Socke Milano von Falke, da kostet das Paar 22 Euro. Aber wahrscheinlich ist das weniger Erdung, sondern vor allem Freude und ein bisschen Entschuldigung beim Körper für das ganze Polyester. Wenn man selbst Kinder hat, ist man ein Stück weit immer geerdet. Zwischen Schulsportfest und der ersten unglücklichen Liebe der Kinder. Und plötzlich hat man ganz viel mit den anderen Eltern aus dem Kiez zu tun. Man wird regionalisiert. Das ist ja auch eine Erdung. G. C.: Das erste Kind nehmen die Eltern ja oft als Projekt an. Im Fußball würde man vielleicht sagen: Die Eltern spielen Manndeckung. Mit dem zweiten wechseln dann viele in die Raumdeckung. Wo stehen Sie als Vater? C. P.: In der Viererabwehrkette … Meine Kinder sind inzwischen erwachsen. Das Gefühl, dass sie das sind, habe ich trotzdem noch nicht. Die Raumdeckung ist der Manndeckung total überlegen, selbst bei Standards. Das gilt für uns als Eltern. Vor allem aber für die Kinder. Es ist schwierig, aus der Manndeckung gesund und unverletzt raus zu kommen. G. C.: Kinder zu haben, bedeutet ja auch, sich einer großen Verletzlichkeit auszuliefern. Was macht das mit einem, wenn das eigene Kind keine Lust am Leben findet, keine eigenen Talente, keine Freunde? C. P.: Hannah Arendt ist in Königsberg aufgewachsen. Antisemitismus gab es da immer: Die anderen in der Klasse mobben mich, werfen Steine nach mir. Und Hannah Arendt erzählt dann, wie ihre Mutter antwortet: Das ist mir doch scheißegal, da musst du durch. Aber wenn die Lehrer antisemitisch wurden,
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dann kam die Mutter sofort in die Schule und hat die zur Schnecke gemacht. Ich glaube, da kann man was draus lernen: Die Kinder müssen da durch. Die Kinder müssen wissen, dass die Eltern immer auf ihrer Seite sind, sie immer lieben. Ob sie nun schwach, stark oder blöd sind, sie werden immer geliebt. Meine Eltern haben überhaupt nicht gewusst, was Schule ist. Die waren auf keinem Elternabend, nicht mal auf der Abiturfeier. Später habe ich Germanistik studiert. Mein Vater wusste bis zum Schluss nicht, was das ist. G. C.: Dieses Desinteresse Ihrer Eltern, war das ein Problem? C. P.: Im Gegenteil: Das war befreiend. Ich bin mir ganz sicher: Wenn meine Mutter Cineastin gewesen wäre, hätte ich nie Filme gemacht. Das war absolut toll, dass die nicht wussten, was das ist. G. C.: Ihre Eltern sind in den Fünfzigerjahren aus der DDR geflohen. Sie haben die Verwandten dort regelmäßig besucht und auch viel vom Alltag dort mitbekommen. Im Westen kennt man von der DDR oft nur ein politisiertes Bild. Im aktuellen Projekt Open Memory Box werden private Schmalfilme aus der DDR online gezeigt, teilweise kommentiert. Kann so etwas diese Lücke schließen? C. P.: Ich glaube nicht, dass der private Hobbyfilm viel von der Welt erzählt. Was wird denn da gedreht? Das war damals nicht anders als heute. Selfies. Ich bin da, ich bin hier, ich bin dort. Die montieren ja nicht. Kino ist Montage. Zwei Bilder werden aneinandergeschnitten und dann entsteht ein drittes. Und dazwischen fehlt etwas, oder es reibt sich etwas oder es passt nicht zusammen. Oder es tut so, als ob es zusammenpasst. Aber der Superachtfilm ist der Weihnachtsbaum, der Geburtstag, dann Ostern. Es ist im Grunde genommen immer nur eine Einstellung. Man kann aus einem nostalgischen Gefühl heraus das anschauen: was die für Klamotten anhaben, wie die lachen, dann die kräftigen Farben von Agfa oder Kodak. Aber die Welt wird dort
nicht verarbeitet, sondern die eigene Anwesenheit in der Welt dokumentiert. G. C.: Haben Sie das nahende Ende der DDR bemerkt? C. P.: Retrospektiv zeichnete sich der Untergang schon seit Jahren ab. Veränderungen bemerkt man ja oft besser, wenn die Eindrücke unterbrochen sind. Ich war einmal im Jahr bei der Verwandtschaft in der DDR, immer für ein paar Wochen im Sommer. Und Jahr für Jahr zeigte sich deutlicher: Die sind fertig. Schrecklich ist ja, dass Apparate, die im Sterben sind, noch wahnsinnig lange durchhalten. Beim Weißen Hai gibt es diese Geschichte, da zeigt einer seinen vernarbten Körper und erzählt: Torpedotreffer mitten im Pazifik, auf einmal hängen 3000 Matrosen in ihren Schwimmwesten und warten auf Hilfe. Aber erstmal kommen die Haie. Die holen sich einen nach dem anderen. Er erzählt dann, wie sie einen Kreis bilden und mit den Füßen strampeln, um den Haien Größe vorzutäuschen. Als das Rettungsschiff kommt, ist die Hälfte der Leute tot. Das Schlimmste aber sind die letzten Minuten. G. C.: Man sieht die Rettung schon … C. P.: … aber gestorben wird trotzdem noch. Und so empfand ich die DDR zum Schluss: Das letzte Jahr war eine unglaubliche Depression unter den Leuten, die Läden waren leer, die Kraft weg, rundherum erodierte alles. G. C.: Wie haben Sie den 9. November erlebt? C. P.: Westberlin war ja sofort überflutet. Als ob wir, der Westen, ein Museum wäre und nicht die DDR. Es war alles voll von Neugierde und Euphorie. Nachdem wir den Schabowski in den Nachrichten gesehen haben, sind wir sofort zum Grenzübergang Bornholmer Straße. Ich war wirklich sehr gerührt. Abends waren wir auf einer Party eingeladen. Da standen wir auf dem Balkon und winkten einer Gruppe von DDRJugendlichen zu, ob sie nicht hochkommen wollten.
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Sie kamen wirklich, fanden die Musik geil, das kleine Buffet. Dann sagte der eine – meine Frau ist Türkin – halblaut in ihre Richtung: Zu viele Ausländer hier. Und da war mir klar: Nur schön wird’s nicht die nächsten Jahre. Für uns ist die Mauer aufgegangen. Aber das sind ja auch 17 Millionen Flüchtlinge.
von rechts kommt das Tageslicht, links oben ist noch eine Luke für Nordlicht. Oder die Beschreibung des Parks in den Wahlverwandtschaften. Wo ist eine Bank, was für einen Blick hat man, dann geht es plötzlich um eine Steintreppe – das ist wie ein Schnitt. Da entdeckt Goethe Kino vor dem Kino.
G. C.: Menschen, deren Staat aufgelöst wurde, abgestorben ist.
G. C.: Gilt das auch umgekehrt: Inwiefern heißt Filmemachen Häuserbauen?
C. P.: Und die Leute dort haben sofort gesehen: Huch, da sind ja noch andere Flüchtlinge, hoffentlich werden die nicht bevorzugt.
C. P.: Mit jedem Film baue ich ein Haus. Ich schreibe ein Drehbuch, konzipiere alles, baue eine Logistik auf, und das gemeinsam mit rund 80 Leuten. Und dann kommen aber irgendwann die Menschen, die darin leben sollen, die Schauspieler. Manchmal benutzen sie das Haus vollkommen gegen die Konzeption. Die nehmen einen anderen Weg zum Parkplatz, stehen nicht an dem Fenster mit dem Südlicht, sondern lassen dort plötzlich das Rollo runter und setzen sich lieber in die Küche. Da muss man dann den Mund halten und staunen. All das ist ja weniger ein Protest gegen die Konzeption, sondern vor allem Aneignung. Und dieses Aneignen stellt im Grunde erst den Film her.
G. C.: Finden Sie das Leben lang? C. P.: Es wird immer kürzer. Das merke ich schon. Aber es gibt Längen, schöne Längen: Es gibt die Samstagvormittag-Länge. Um 15:30 Uhr spielt Gladbach. Um 10 Uhr hat man gefrühstückt und alles erledigt. Die fünfeinhalb Stunden bis zum Anpfiff sind die schönste Länge der Woche. Es gibt auch grauenvolle Längen, zum Beispiel die, nachdem sie verloren haben: Was mache ich jetzt mit dem Rest des Tages? Fast in jedem Film lasse ich einen Gladbach-Spieler-Namen auftauchen. Eine Kommissarin etwa heißt Constanze Hermann – wie der Stürmer Patrick Herrmann. Le Fevre oder Vogts waren auch schon dabei. Jetzt durch meine Freundschaft zu Matthias Brandt, der Werderfan ist, schleichen sich auch andere Namen ein: Beim letzten Polizeiruf zum Beispiel heißt die Kommissarin, die an der Seite von Matthias Brandt ermittelt: Nadja Micoud. Micoud war ein Spieler von Werder Bremen, ein Genie, der jetzt ein Weingut besitzt. Matthias hat gegrinst. G. C.: Ein Film ist wie ein Haus, haben Sie mal gesagt. Was hat Kino mit Architektur zu tun? C. P.: Architektur ist manchmal selbst Kino. Mies van der Rohe etwa hat seine Häuser wie Filme beschrieben: Eine Wendeltreppe schleudert einen in einen Raum,
G. C.: Was heißt das konkret? C. P.: Wir haben für Undine gerade eine erotische Szene gedreht zwischen Paula Beer und Franz Rogowski, in der sie miteinander schlafen. Und zwar ohne Brüste, ohne Pimmel, ohne Arsch. Das spielt sich alles unterm Bettlaken ab. Man hörte nur das Atmen und die Lust. Man sieht nur Paula Beers Gesicht und ihre Hände, die unters Laken greifen, dorthin, wo er ist. Beim Drehen hat sie sich plötzlich – und damit habe ich absolut nicht gerechnet, das stand nicht im Skript – einfach das Laken übers Gesicht gezogen: Der Rest ist privat. G. C.: Sie hat einen anderen Weg zum Parkplatz genommen. C. P.: Das war ein Riesenmoment. Ich war vollkommen fertig. Aber genau deswegen mache ich Kino.
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Federn in der falschen Kammer
Von 1753 bis 1834 lebte in Waidring der Bauer Leonhard Millinger, der auf über tausend Seiten eine minutiöse „Weltbeschreibung“ verfasste, in der das gesamte ihm verfügbare Wissen nachzulesen ist. Er schrieb über Astronomie, Geografie, sogar ein kurioser Blick in die Hölle findet sich in seinen Aufzeichnungen, sich selbst erwähnt er aber so gut wie nie. Der Schriftsteller Christian Lorenz Müller wagt sich an den Versuch einer fiktiven Innenweltbeschreibung.
Als er den gerupften Ganter auf dem Kucheltisch liegen sieht, stürzt er nicht hinüber in die Stube, er stürzt nicht mitten hinein zwischen die Kinder und das Gesinde, er packt die Millingerin nicht am Handgelenk und reißt sie nicht heraus aus der Kachelofenwärme, stößt sie nicht vor das Haus und greift sich keinen Treibstecken, um sie grün und blau zu schlagen. Er rennt kopflos hinaus in den dämmernden Abend, hinaus in den Dreck, der so stark an seinen Schuhen zieht, dass er sich kaum um das Haus herumarbeiten kann. Als er endlich den Misthaufen erreicht, keucht er auf, vor Anstrengung und vor Enttäuschung, denn es ist nichts mehr zu retten: Die Federn klumpen schmutzig im Kot. Die Millingerin hat sie nicht einfach aus ihrem Kübel auf den dampfenden Haufen flocken lassen, sie hat sie tief in den Mist getreten, und nun wird er, Leonhard, hinübergehen müssen zu den Nachbarn und um Federkiele betteln. Zum Gespött wird er sich wieder einmal machen. Das Gesinde vom Prantner oder vom Gorgiser wird ihm einen Ganter zutreiben oder eine große Gans, und er wird den fauchenden Vogel packen, wird einen Schlag gegen den schnappenden Schnabel tun und den Kopf mit dem Fuß auf die Erde drücken, bevor er den flatternden linken Flügel zu fassen vermag, denn er kann nur die stärksten Außenfedern verwenden, nur die linken Außenfedern sind ihm gut genug. Die Magd oder der Knecht werden bloß so tun, als ob sie ihm dabei helfen, den Ganter niederzuhalten, einen Spaß werden sie sich mit ihm machen, bis er endlich seine fünf Federn zusammenhat. Zurück auf dem Ponerhof, wird er sie sorgfältig präparieren: Zuerst muss er das Mark aus den Kielen
drücken, dann muss er sie in Wasser einlegen, um sie anschließend in heißem Sand glasig schwitzen zu können. Als Letztes wird er die trocken gewordene Haut abziehen, wird er die Federn sorgfältig zuschneiden, ehe er sie endlich als Wintervorrat in seiner Schreiblade verschließen kann. Statt schleunigst wieder ins Haus zu gehen, bleibt er stehen, bis er merkt, dass es regnet, dass ihm das Wasser über Stirn und Wangen rinnt. Er schaut hinauf in die Wolken, die grau vor dem Gebirge stehen. Bei guter Sicht kalkt die Kette scheinbar direkt hinter dem Hof in die Höhe; jetzt kann er nur einen Streifen Bergwald erkennen, in dem viele Buchen stehen: ein Abendrot, das traurig-nass zu ihm herüberleuchtet. Der geschlachtete Ganter ist für morgen Nachmittag, für die Taufpaten der Kinder. Nach der Allerheiligenandacht auf dem Gottesacker kommen sie samt ihren Frauen, samt ihren Männern auf den Ponerhof. Immer setzt ihnen die Millingerin das Feinste vor, was der Stall und die Speis hergeben. Das Haus wird voll sein, und wieder einmal wird er nicht einen Augenblick Zeit haben zum Schreiben. Nass kommt er zurück in die Stube, wo sich die älteren Kinder an den Kachelofen drücken, eines neben dem anderen. Die gute Mari liegt auf dem Kanapee und hat Notburga auf dem Bauch, die Jüngste, die die Millingerin gerade zu entwöhnen versucht, weil sie ihr die Brustwarzen aufbeißt. Der Vater hat den besten Platz, er streckt sich neben der Mutter auf dem Ofen aus und bläst blauen Pfeifenrauch unter die Holzdecke, die fast so schwarz ist wie die im Stall.
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Die Menschen, fährt es dem Millinger durch das Hirn, sind die Menschen nicht auch so etwas wie Tiere, dunsten sie nicht auch Tag um Tag diese Schwärze, diese Schwere hinauf zur Decke, die in den Wintern so herunterdrückt, dass es fast nicht auszuhalten ist? Er setzt sich wieder auf seinen Sessel am Stubentisch. Direkt unter der Öllampe, deren Licht durch die Stube flackert, liegt aufgeschlagen sein Buch, und davor stehen die drei Tinten, eine schwarz, eine rot, eine grün. Das grüne Glasfässchen ist noch ganz neu, er hat es noch nicht geöffnet. Für seine Frau gibt es nur das Schwarz; das Rot und das Grün sind für die Millingerin sündhafte Verschwendung, das weiß er gewiss, obwohl sie es noch nie gesagt hat, kein Wort hat sie jemals gesagt über seine Schreiberei, seit er anno 1790 damit begonnen hat. Auch jetzt sagt sie nichts, aber sie sitzt neben ihm am Tisch und lässt ihre Stricknadeln vorwurfsvoll klappern. Die Schafwolljanker, die Socken, die Unterhosen der Millingerin werden alle grau oder braun, nie kommt es ihr in den Sinn, einmal eine Farbe dazu zu verwenden, etwas Schönes für das Auge einzusticken. Der Vater wird nicht müde, sie für ihre umsichtige Wirtschaft zu loben und dafür, dass die Kinder immer so sauber daherkommen, alle sechs sind immer gewaschen und geputzt; die drei größeren gehen zur Schule und lernen Rechnen, und für alle ist Tinte da, aber bloß schwarze. Auch die Mutter ist mit der Schwiegertochter sehr zufrieden, sie weiß nichts von dem Kummer ihres Sohnes. Nur die Mari spürt ihn und streicht ihm manchmal, wenn niemand zuschaut, kurz mit dem Handrücken über die Wange und schüttelt den Kopf, und dann wird es besser, dann kann er es wieder aushalten für ein paar Tage. Auf der Eckbank, die sich um den Tisch zieht, liegt der alte Hans und lässt es gutmütig zu, dass ihm Stefan frech an den Ohrlappen zupft. Eigentlich noch ein Kind, ist der Älteste bereits recht kräftig und kann schon gut mithelfen in der Wirtschaft – muss mithelfen, weil es die Knechte nicht mehr ausgehalten haben. Das ganze Gesinde, bis auf Mari und den alten Hans, ist vor zwei Wochen fort, sie haben nicht bis Lichtmess warten wollen. Der Millingerin ist es egal gewesen. „Drei, vier Jahre noch, und wir brauchen die Knechte
nicht mehr“, hat sie gesagt und dabei auf den Stefan gedeutet. Er ist blond wie seine Mutter, und ganz wie sie wird er sehr rot im Gesicht, wenn er arbeitet. Letztes Jahr hat er einen steilen Berghang das erste Mal ganz alleine mit der Sense heruntergemäht, er kann sich anstrengen wie ein Pferd und schwitzt dabei sehr stark. Auch seine Mutter schwitzt viel. Nicht selten riecht sie sauer und stallschwer zugleich. Das schwarze Tintenfass aufschraubend, schnuppert er in Richtung seiner Frau und findet erleichtert, dass sie schon ihren Festtagsgeruch an sich hat, einen Kernseifengeruch, der so frisch ist, dass er heute Nacht nicht in Versuchung geraten wird. Versuchung, warum eigentlich in Versuchung? Ist er denn nicht berechtigt, die Ehe zu vollziehen, wann er das will, ist er nicht der Mann im Haus? Er tunkt eine Feder, die vom vielen Nachschärfen eigentlich zu kurz ist, in die Tinte und setzt seine vorhin unterbrochene Eintragung fort: Schon seit zwei Wochen listet er die Häretiker auf, alle, die von der katholischen Religion abgefallen sind: die Arianer, Waldenser, Albigenser, die Hussiten. Und nun ist er bei den wichtigsten Falschgläubigen angelangt, bei den Lutheranern. Über den abtrünnigen Mönch Martin Luther hat er schon oft etwas gelesen, über seine Heimsuchung durch den Teufel und seine schändliche Auslegung der Heiligen Schrift. Nun schreibt er auf, dass sich der Ketzer anno 1523 mit Katharina von Bora verehelicht hat, einer entlaufenen Nonne, die ihm sechs Kinder zur Welt gebracht hat, und es geht ihm durch den Kopf, dass auch die Millingerin mit Vornamen Katharina heißt und dass sie erst vor vier Monaten mit der Notburga niedergekommen ist. Wenn er Stefan anschaut, der gerade dem alten Hans die Socken auszieht, um ihn an den krummen Zehen zu kitzeln, muss er sich sagen, dass sechs Kinder genug sind, denn der Älteste wird, wenn er den Hof übernimmt, die Geschwister auszahlen müssen. Bleibt es so, wie es ist, bekommen alle fünf einen ordentlichen Batzen Geld mit auf den Weg, haben alle fünf Aussichten auf eine gute Partie – aber wenn es mehr werden, zehn oder elf, bleibt für den Einzelnen nicht mehr so viel übrig, dann werden sie Kleinhäusler heiraten müssen. Insbesondere für Katharina wünscht er sich etwas
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Besseres, wünscht er sich eine gute Stube, in der sie sich wärmen kann. Die Älteste ist ganz anders geraten als ihr Bruder Stefan, dunkelhaarig, blass und kränklich hockt sie mit angezogenen Beinen auf dem Rand des Kanapees und drückt ihren verfrorenen Rücken an den Ofen. Katharina hat in der Schule schnell Lesen und Schreiben gelernt. Wenn er, Leonhard Millinger, einen längeren Eintrag fertiggestellt hat, gibt er ihr sein Buch und bittet sich Stille aus. Katharina muss dann eine Stelle vorlesen, und Stefan hört für ein paar Minuten auf, seinen Schabernack zu treiben, die Millingerin lässt das Stricken sein und der alte Hans richtet sich auf seiner Bank auf aus Respekt vor dem Bauern. Aber alle tun nur so, als ob sie zuhören, sie müssen so tun, weil er der Hausherr ist. Wenn er sie fragen würde, was sie gehört haben, könnten sie ihm überhaupt nichts antworten – außer Mari, die für alles, was sie hört, eigene Gedanken hat. Der Katharina ist der Luther lieber als das Kloster, schreibt er mit schönem Schwung in sein Buch. Die Feder ist besser, als sie aussieht, sie kratzt kaum über das Papier. Überschriften und Wortanfänge rot zu markieren, hat er bei seinem Onkel Simon, Viertelschreiber von Fieberbrunn, bei dem er seine jungen Jahre verbracht hat, gelernt. Er steckt die Feder ins schwarze Glas, dann schraubt er vorsichtig das grüne auf. Die Millingerin soll sehen, dass er grünfarbig schreiben kann, wann immer er das will! Wenn sie auch nur einen abfälligen Blick tut, hier vor den Kindern und dem Gesinde, dann zieht er sie wirklich hinaus in den Regen und haut ihr den Hintern mit dem Treibstecken schwielig – ihren Hintern, den sie ihm so bereitwillig hinstreckt, wenn er sich wieder einmal nicht beherrschen kann. Er wird ihr diesen Hintern zerhauen und dann endlich seine Ruhe haben vor ihr. Er wird nicht wieder diese ekelhafte Gier auf sie entwickeln, wenn sie sich am Abend auszieht, wenn sie durch die Schlafkammer schweißelt, wenn sie sich die Röcke hochschiebt und wenn ihn der Bocksgeruch, der darunter hervorkommt, ganz von Sinnen macht. Eine gute Zeit hat er eigentlich nur noch im Frühsommer, dann, wenn er mit der Mari hinaufzieht auf die Alm. Eine ganze Woche bleiben sie oben, sie klauben
Steinbrocken aus den Wiesen und richten die Knüppelzäune, und am Abend sitzen sie in der Hütte und es ist nichts zu hören als das Brunnenwasser, das draußen in den Holztrog plätschert. Dort kann er in Ruhe schreiben, denn dort ist kein Hans, der sich das Lachen nicht mehr verbeißen kann, weil ihn Stefan unbarmherzig kitzelt; dort gibt es nicht die mittleren Töchter Barbara und Maria, die auf der Ofenbank um einen Packen bunte Spielkarten zu zanken beginnen, und das Stricknadelklappern der Millingerin gibt es schon gar nicht. Wenn Mari strickt, ist das kaum zu hören. Immer bevor sie auf der Alm zu Bett gehen, will sie wissen, was er gerade geschrieben hat. Dann liest er ihr alles vor, und meistens nickt sie dazu. Manchmal aber fragt sie nach, und dann reden sie für eine halbe Stunde in schönster Eintracht miteinander, es ist ganz anders als hier unten im Tal, wo sie für Tage oder Wochen kaum einmal mehr als zwei Sätze miteinander wechseln. Es ist, als sparten sie sich alle Wörter für diese eine Woche in den Bergen auf. Dort reden sie dann über die Märkte und Städte in der näheren und ferneren Umgebung von Waidring, deren Namen, Größe und Bedeutung er aufschreibt; sie mutmaßen über entlegene Länder in Asien und Europa, deren Bevölkerungen, Hauptstädte und Handelsgüter er in seine Bücher eingetragen hat. Ganz besonders gerne bringt Mari aber das Gespräch auf die verschiedenen Abschnitte der Heiligen Schrift, deren Inhalt er bereits gänzlich zusammengefasst hat. Nur über die Kriegsbeschreibung, die er vor zwei Jahren begonnen hat, will sie nicht reden. Sie ist der Meinung, dass niemand diese Sachen lesen soll, schon gar kein junger Mann, der noch nicht weiß, wie schnell er seine Kraft und seine Gesundheit an die Schwerter und die Kanonen verlieren kann. Sieben Monate wird es noch dauern, bis er wieder mit der Mari auf die Alm kann, sieben Monate, in denen er abends hier in der Stube hocken wird, ohne mehr als einen Eintrag von wenigen Zeilen zu machen. Wenn, wie jetzt, die Unruhe zu groß wird, wenn Notburga zu raunzen beginnt und Barbara zu jammern, weil Maria die Spielkarten auf dem Bretterboden verstreut hat, denkt er an das Kabinett seines Onkels Simon, in dem ein Tischchen steht mit Tintenfässern darauf und eine
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große Truhe mit Büchern darin. Wenn der Onkel mit dem Schreiben fertig ist, lässt er sein Buch einfach liegen, und wenn er aus dem Kabinett geht, knarzt er die Türe hinter sich zu und schließt sie ab. Im Ponerhof gibt es nur vier echte Kammern: Eine für den Bauern und seine Frau, eine für die Eltern und zwei für die Kinder. Die beiden falschen Kammern, die auf die Rehm hinausgehen, stehen jetzt, wo das junge Gesinde weg ist, beinahe leer. Aber er kann ja nicht die Mari und den alten Hans zusammenlegen, denn der Hans ist so gutmütig nicht, wie er immer tut. Er hat die Mari schon als junges Mädchen immerzu gezwickt und ist ihr auch manchmal nachgestiegen ins Heu, und es heißt, dass er einer anderen Magd, die lange beim Gorgiser gewesen ist, ein Kind gemacht hat. Wirklich getraut hat sich Hans bei der Mari aber nie. Mit sieben Jahren ist sie als Kostkind auf den Hof gekommen, und mit ihr ist alles viel leichter, selbstverständlicher gewesen als mit Leonhards eigenen Schwestern, die immer nur im Haus und in der Küche haben arbeiten wollen, aber nie draußen oder auch nur im Stall. Mari hingegen hat gleich ähnlich gut mit dem Vieh umgehen können wie er selbst, und so ist es kein Wunder gewesen, dass sie mit zehn Jahren Almkinder geworden sind, dass sie im Juli mit einer unverheirateten Tante und den Kühen auf den Berg gezogen sind und dort den Sommer verbracht haben, jeden Sommer, bis er siebzehn und die Mari fünfzehn Jahre alt geworden sind. In sieben Monaten dürfen sie wieder gemeinsam hinauf, schön wird es sein, wenn sie hintereinander her durch den frühjahrslichten Bergwald steigen werden. Es wird alles so leicht sein, trotz der vollen Kraxen, die auf ihre Schultern drücken werden, denn dort drinnen werden nicht nur Brot und Speck sein, sondern auch zwei oder drei von seinen Büchern. Sie werden die Ersten sein, die den Almboden wiedersehen nach dem langen Winter, tintenfassblau der Enzian, versalienrot der blühende Almrausch. Sie werden ihre Last vor der vernagelten Hütte abstellen, und, nebeneinander auf der Türschwelle sitzend, tief verschnaufen und hinunterschauen ins Tal, das sie eine ganze Woche lang nicht zu kümmern braucht.
Die Millingerin steht auf und nimmt Mari die raunzende Notburga aus der Hand, dann setzt sie sich wieder auf ihren Platz und knöpft ihr Mieder auf. Als sie ihren Busen hervorholt, brennt ihm für einen Augenblick ihre Brustwarze rot entgegen, dann verschwindet sie im gierigen Mund des Kindes. Leonhard versucht sich zu konzentrieren, versucht aufzulisten, was Luther in die Welt hinausgeketzert hat: Dass es keinen Papst geben soll, keinen Stellvertreter Christi auf Erden. Und der Herr Jesus soll nicht anwesend sein während der heiligen Wandlung und das Fegefeuer soll nichts anderes sein als eine Erfindung der Menschen. Nur den Himmel soll es geben und die Hölle, dazwischen soll rein gar nichts sein, aber dass sich der abgefallene Mönch das nur ausgedacht hat mit seinem Hirn, ist keine Frage. Denn Himmel und Hölle hat Gott nicht für das Gehirn gemacht, sondern für die Seele, und wenn sie für die Seele sind, kann man sie spüren. Eine Ahnung vom Himmel ist in Leonhard, wenn er mit Mari hinaufsteigt auf die Alm, eine Vorstellung von der Hölle ist in ihm, wenn er wieder hinuntermuss. Dazwischen ist das Fegefeuer, immer spürt er den brennenden, aufzehrenden Schmerz – nur nicht, wenn er schreibt, denn dann denkt er über fremde Städte und Länder nach, dann merkt er seine Seele nicht, sondern bloß sein Hirn. All das hat mit dem roten Rock angefangen, mit einer Fahne, die am Ast einer Erle geflattert ist. An jenem unseligen Sonntag vor nunmehr zehn Jahren ist er am Millauer Mühlbach entlanggewandert, er hat den Rock gesehen und ist sofort näher herangepirscht, weil er schon gewusst hat, was ihn erwartet. Vor ein paar Tagen erst hat ihm der alte Hans hinter vorgehaltener Hand von der Müllerstochter erzählt, die so gerne badet. Nun schleicht er sich hinter einen Felsbrocken, der einen Riss hat, und durch diesen Riss kann er hinunterschauen ins Bachbett. Dort schwallt das Wasser weiß in eine Gumpe, es dreht sich in dem steinernen Becken im Kreis, es strudelt um die nackten Beine der jungen Frau, die bis zu den Knien darin steht und zittert. Der Bach rauscht über die Ufer, rauscht zu Leonhard herauf und rauscht durch ihn hindurch, schwemmt ihn so weit weg von sich selbst, dass er nicht aufhören kann, die
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Frau anzustarren. Über der Gumpe steht die Sonne, ihre Strahlen blonden auf dem Kopf der Frau, blonden zwischen ihren Beinen, und ihre Brustwarzen sind spitz vor Kälte. Jetzt holt sie tief Luft, jetzt sinkt sie bis zum Hals in den Strudel und schnellt gleich wieder daraus hervor, und das Wasser auf ihrer Haut glitzert Leonhards Augen blind. Als er wieder sehen kann, steht sie bereits am Rand der Gumpe, sie will hinauf zu ihrem Gewand, will sich trocknen und anziehen, aber da ist wieder ein lautes Brausen und Rauschen in Leonhard. Es schwemmt ihn aus seinem Versteck, es spritzt ihn hinüber zu dem Erlenbaum und wäscht ihm den Rock in die Hände. Noch ehe er weiß, was er tut, schwenkt er ihn in rotem Triumph über seinem Kopf, er sieht, wie der Müllerstochter das kalte Erschrecken in die Glieder fährt und sie sich ihre Hände vor die Scham schlägt, aber er erbarmt sich nicht, er wirft ihr die Fahne nicht einfach zu und läuft dann nicht mit einem Scherz auf die Wiese hinaus und wartet dort nicht auf sie, bis sie, sittsam angezogen, herauskommt und mit gesenktem Blick an ihm vorbeigeht. Er folgt ihr nicht den Bach entlang und fragt sie nicht, ob er ihr am kommenden Sonntag ein Handtuch vorbeibringen darf und ein Stück Seife, sagt ihr nicht, dass er immer dann, wenn sie sich baden will, zu ihrer Verfügung stehen und scharf aufpassen wird, dass ihr auch ja kein anderer Bursche zu nahe kommt. Und sie lacht nicht verschämt und die Röte erwärmt nicht ihre Wangen. Sie gehen nicht zusammen zurück zur Mühle, und als es Zeit ist, sich zu verabschieden, sagt er nicht, dass er am nächsten Sonntag wiederkommen wird, er sagt nicht, dass er bei der Gumpe auf sie warten wird, ein, zwei Stunden warten, und das bei jedem Wetter. Als der nächste Sonntag kommt, ist er krank, er fiebert und kann nicht zum Gottesdienst. Erst Wochen danach wagt er sich zur Beichte. Es würgt ihn, als er vor dem Fensterchen kniet, hinter dem nicht der Herr Pfarrer sitzt, sondern der Herrgott selbst, es würgt ihn, weil er so voll ist von seiner Verdorbenheit, und in seinem Kopf fängt es an zu rauschen und zu schäumen und er sieht alles wieder vor sich, aber er kann nichts sagen, er sagt, was er schon beim letzten Mal gesagt hat, nämlich, dass er ungehorsam gegen den Vater gewesen
ist und dass er seine Schwestern nicht wirklich liebt. Nach zwei, drei Monaten wird es ihm etwas leichter, aber dann sitzt der Müller plötzlich mit dem Vater bei Speck und Brot in der Stube. Eineinhalb Wochen später verkündet der Herr Pfarrer in der Kirche das Aufgebot. An die Hochzeit kurz vor Allerheiligen erinnert er sich nicht, nicht an den Gottesdienst und nicht an den Tanz im Wirtshaus, er weiß nur noch, dass er verzweifelt Schnaps geschluckt hat, ohne auch nur im Mindesten betrunken zu werden. Dafür sieht er die falsche Kammer, die eilig umgeräumt worden ist, vor sich, sieht die zusammengeschobenen Betten der Mägde, die knistersteifen Federbetten, auf denen ein Strauß weißer Blumen liegt. Es sind Maris Herbstastern. So vernarrt ist sie in diese Pflanzen, dass sie sie mit einer Decke vor den ersten Frösten schützt, damit sie länger blühen. „Kinder, es ist Zeit!“ Die Millingerin legt ihr Strickzeug auf den Tisch, das Schafwollknäuel rollt über Leonhards Buch. Gut, dass die Tinte schon trocken ist. Sie steht auf und scheucht Barbara und Maria von der Ofenbank. Der Vater brummt zustimmend vom Ofen herunter, er ist sehr dafür, dass die Kinder früh in die Betten kommen. Der Wollfaden liegt diagonal über dem Luther-Eintrag, streicht alles durch, was Leonhard an diesem Abend geschrieben hat. Es wird noch dauern, bis Stefan, den die Millingerin gerade von der Bank zieht, weit genug ist. Dann erst wird vielleicht eine der falschen Kammern frei, dann kann er sich dort ein Kabinett einrichten, dann erst wird ihn niemand mehr beim Schreiben stören. Niemand bis auf Mari, die ihm manchmal einen Krug Bier hinüberbringen wird im Sommer oder einen im Kachelofen warm gemachten Stein für die kalten Füße im Winter.
Die Texte des Bauern sind im Orginal online nachzulesen unter: https://millinger-archive.acdh.oeaw.ac.at/pages/toc.html?collec tion=editions. Außerdem gibt es eine Dissertation aus dem Jahr 2015 von Peter Andorfer, Universität Innsbruck: https://diglib. uibk.ac.at/ulbtirolhs/content/pageview/747718
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Fallen Vision
Das Cover dieser Ausgabe kommt diesmal von Claire Morgan, die auch die nachfolgenden Doppelseiten mitgeliefert hat. Eva Maria Stadler über die irische Künstlerin und ihre Illusion des Lebendigen.
Die Ästhetik des Naturschönen müsse scharf abgegrenzt werden von der Ästhetik des Kunstwerks, schreibt Wilhelm Worringer in seiner Dissertationsschrift „Abstraktion und Einfühlung“, die er im Jahr 1907 veröffentlichte. Wir wären gewohnt, das Naturschöne, oder Worringer spricht auch vom Naturwahren, als Bedingung des Kunstschönen anzusehen. Jedoch vergessen wir darüber, dass wir uns jene Bedingungen genauer ansehen müssten, unter denen eine Darstellung, etwa einer Landschaft, überhaupt zum Kunstwerk wird. Worringer gab uns so etwas wie einen Leitfaden für Fragen der modernen Ästhetik, die vor allem durch ein Merkmal zu charakterisieren sei – und zwar wäre dies der Übergang vom ästhetischen Objektivismus zum ästhetischen Subjektivismus. Das Verhalten des Subjekts, die subjektive Wahrnehmung, der kreative Akt des Betrachters, den Duchamp hervorhebt, bis zu Rancières emanzipiertem Betrachter, sie alle beschreiben die grundlegende Voraussetzung der modernen Kunstbetrachtung – das subjektive Sehen. Eng verknüpft damit wäre die Einfühlung in das Kunstwerk, die zurückzuführen sei auf die Romantik, in der die Betonung des Ich, die künstlerische Intuition und das subjektive Empfinden eine zentrale Rolle spielen. Worringer bezieht sich auf die Einfühlungstheorie Theodor Lipps aus dem Jahr 1902, die den Zusammenhang von Denken, Fühlen und Wollen herausarbeitet. Lipps These, dass wir Ideen und Vorstellungen entwickeln, während wir wahrnehmen oder fühlen, kann als au-
topoietischer Vorgang bezeichnet werden. Das heißt, es handelt sich um einen fortwährenden Prozess der Selbsterschaffung, wie es Humberto Maturana dann in der Mitte des 20. Jh. beschrieben hatte. Der archimedische Punkt der Subjektivität, nämlich diese eine und einzige Möglichkeit der Kunstbetrachtung, wäre auf eine ganze Reihe von Kunstwerken jedoch nicht anwendbar, weshalb laut Worringer neben dem Einfühlungsdrang, der vor allem nach der Schönheit des Organischen strebe, im Abstraktionsdrang der Wunsch nach dem lebensverneinenden Anorganischen, dem Kristallinen zum Ausdruck käme. In der Gegenüberstellung von Einfühlung und Abstraktion also entfaltet Worringer seine Theorie, die sich aus diesen widerstreitenden Kräften generiert. Die Einfühlung beschreibt Worringer nach Lipps als tätige Kraft, als ein Einlassen oder inneres Arbeiten, dem ein Streben und Wollen zugrunde läge. Das Einlassen des Betrachtenden kann aber auch bedeuten, dass er oder sie auf einen Widerstand, auf eine Zumutung stößt, der nicht stattgegeben werden kann. Lipps beschrieb in diesem Zusammenhang die positive und die negative Einfühlung, die von Lust oder Unlust dem Objekt gegenüber gekennzeichnet wäre. Während der Einfühlungsdrang von einem Vertraulichkeitsverhältnis zwischen dem Menschen und den Außenwelterscheinungen geprägt wäre, ist der Abstraktionsdrang die Folge einer großen inneren Beunruhigung, sagt Wilhelm Worringer. Seine zivilisationskritische Abstraktionstheorie geht von der Ohnmacht des Men-
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schen gegenüber einer ihm entfremdeten Welt aus. Im Schwinden der Dinge, im Zurückweichen des Realen, haptisch Erfahrbaren sieht er nicht alleine einen Verlust, sondern auch die Möglichkeit, einen neuen wissenschaftlichen Geist der Abstraktion zu denken und sich von der Naturnachahmung abzugrenzen. Die Installationen und Zeichnungen der irischen Künstlerin Claire Morgan vor dem Hintergrund Wilhelm Worringers Text zu lesen, erscheint insofern produktiv, als die Reflexion von Abstraktion und Einfühlung im historischen Kontext Aufschluss über veränderte Wahrnehmungsformen geben kann. Ein herabstürzender Vogel – er scheint getroffen von einer Gewalt, die nicht zuordenbar ist. Es ist nicht auszumachen, ob der rot und grün durchtränkte Farbsturz den Vogel zu Fall bringt, oder ob sich der Vogel im Aufschrei des Untergangs im Farbnebel verliert. Tiere nehmen in Claire Morgans Arbeiten eine zentrale Stellung ein. In naturalistischer Manier gezeichnet oder als Tierpräparat stehen sie in krassem Gegensatz zu den abstrakten Lineaturen, geometrisch organisierten Raumgebilden, in die sie die Künstlerin einbindet. Das Glück des Organisch-Lebendigen würde das Motiv bilden, das hinter einer naturalistischen Darstellung stünde, sagt Worringer. Denn nicht die Illusion des Lebendigen, sondern der Zauber, der dem Gefühl für die Schönheit des Organischen innewohnen würde, läge dem Naturalismus zugrunde. Worringer unterscheidet also, wie eingangs erwähnt, das Naturwahre, bzw. die Naturnachahmung, von der naturalistischen Darstellung und differenziert damit die künstlerische Haltung, die der jeweiligen Ästhetik zugrunde liegt. Während die Nachahmung der Natur auch als eine Strategie des
Realen gelesen werden kann, würde der Naturalismus aus dem Einfühlungsdrang resultieren. Claire Morgan lebt im Nordosten Englands, in Gateshead, einer kleinen Stadt am Fluss Tyne, geprägt von einer Mischung aus Industrie, neuen Freizeitanlagen in „signature-architecture“-Manier und ehemaligen, heute stillgelegten Industriegebäuden. Das Leben am Fluss inmitten von industrieller Architektur provoziert ständig von Neuem die unterschiedlichen Kräfte der Zivilisation, die wechselseitig aufeinander einwirken. Die Überformung und Ausbeutung durch die Industrie der kapitalistischen Produktion und Formen des Widerstands und der Anpassung, mit der sich Menschen, Pflanzen und Tiere zu wehren suchen. Für Claire Morgan bildet dieser Widerspruch Ausgangs- und Zielpunkt ihrer künstlerischen Arbeiten. Die psychischen Voraussetzungen des Einfühlungsprozesses lägen in der Tendenz, „in der ästhetischen Anschauung hemmungslos mit seinem inneren Vitalgefühl, mit seinem inneren Tätigkeitsbedürfnis in den beglückenden Lauf des formalen Geschehens einzufließen“1. Worringer schreibt weiter, dass der Naturalismus beim Betrachter „das ungetrübte Glück seines rein organischen Seins“ auszulösen vermag, indem es ihn von der Differenziertheit seines individuellen Bewusstseins erlösen würde. Dieser von Wilhelm Worringer am Beginn des 20. Jahrhunderts beschriebene Einfühlungsdrang, diese tiefe ästhetische Empfindung gegenüber dem Organischen, 1 Wilhelm Worringer, Abstraktion und Einfühlung, Wilhelm Fink Verlag, München 2007, S. 95
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kann wohl noch immer als Grundlage gelten, wenn sich auch die Vorzeichen inzwischen radikal gewandelt haben. Die Vielzahl an Umweltproblemen, die mit der andauernden Industrialisierung einhergehen, hat unser Naturempfinden – und dies soll nicht zynisch klingen –, nachhaltig verändert. Zur sensualistischen Tendenz hin zum Organischen gesellen sich Schmerz und Verletztheit über Vergänglichkeit und Tod. Man könnte an die barocken Stillleben von Juan Sánchez Cotán vom Anfang des 17. Jahrhunderts denken, der Gemüse und Geflügel hängend malte und, wie Norman Bryson in seinem Buch „Looking at the Overlooked“ ausführt, die Hierarchie des Barock auf den Kopf gestellt hatte. Denn Cotán folgte nicht einer höfischen Logik oder Dramaturgie, er zeigt nicht die seltenen, kostbarsten und wertvollen Früchte, Blumen oder Tiere, sondern er zeigt einfach Gemüse, wie es auch im 17. Jahrhundert alltäglich verfügbar war. Es ist auch bei Cotán, wie bei Claire Morgan, nicht auszumachen, ob die Früchte und Fasane fallen oder aufsteigen. In dieser Ambivalenz kommt etwas zum Ausdruck, was Bryson als „Fallen Vision“ bezeichnet. Die Intensität eines ungetrübten Naturempfindens ist nicht mehr zu haben, und dennoch wird genau diese vermeintlich unschuldige, intensive Wirkung von Claire Morgan adressiert, um die Fallhöhe zu markieren, die es braucht, um die Zumutungen, denen die Tiere ausgesetzt sind, im Ästhetischen zuzuspitzen. Gegenüber dem Einfühlungsdrang und seinem Vertrauen in die organische Form sieht Worringer hinter dem Abstraktionsdrang eine Unruhe, der die Kunst entgegenzuwirken suche. Worringer orientiert sich in seiner Abstraktionstheorie am Begriff des „Kunstwollens“ des österreichischen Kunsthistorikers Alois
Riegl. Gebrauchszweck, Rohstoff und Technik würden das Kunstwollen modifizieren und es damit in Distanz zur Naturnachahmung bringen. Wie es die Moderne umfassend vorführt, haben nunmehr bei der Herstellung eines Kunstwerks Materialien und Techniken den gleichen Stellenwert innerhalb der gesamten künstlerischen Konzeption. Für die Abstraktion hat dies zur Folge, dass sich das Formenvokabular an den Koordinaten der eigenen Bedingungen zu differenzieren beginnt. Es scheint kein Zufall, dass die Operationen der Abstraktion oftmals mathematische sind. Die Mathematik wird etwa bei Novalis als das Leben der Götter bezeichnet, und Riegl spricht von der „kristallinen Schönheit, die das erste und ewigste Formgesetz der leblosen Materie bildet und der absoluten Schönheit am nächsten kommt“.2 Für Claire Morgan bildet die Abstraktion wie für Worringer das Gegenüber der Einfühlung. In ihren raumgreifenden Installationen treffen postminimalistische Formen, wie Kugeln, Trichter oder Kuben, auf organische Elemente, das können Samen sein oder auch Tierpräparate, wie Fliegen oder andere Insekten. Der Paradigmenwechsel, den die Minimal Art eingeleitet hat, wird hier ein Stück weit zurückgenommen, denn die Kugel rückt stärker ins Zentrum der Wahrnehmung, obgleich die Künstlerin die geometrischen Formen zu transzendieren sucht. Indem Claire Morgan aus einer Vielzahl von Entitäten ein größeres Ganzes formt, versucht sie nicht zuletzt Aspekte der Arbeit sichtbar zu machen. Die Zartheit der Raumgebilde und die rationalisierte Organisation der Elemente verweisen zum 2 Wilhelm Worringer, Abstraktion und Einfühlung, Wilhelm Fink Verlag, München 2007, S. 85
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einen auf die Flüchtigkeit des Tuns und zum anderen auf die Bedingungen, in die das Tun eingebunden ist, etwa die Messung der Zeit/Arbeitszeit oder ihre institutionelle Ordnung und Hierarchie. Für Claire Morgan stellt diese Ordnung auch eine Form der Kontrolle und Disziplinierung dar, die zunächst Sicherheit zu vermitteln scheint. Die Unmöglichkeit der Kontrolle bringt sie zum Ausdruck, indem die Künstlerin Tiere – oftmals sind es Tiere, die verletzt, im Begriff zu sterben sind –, die abstrakte Ordnung stören, ja zerstören lässt. Am Beginn des 20. Jahrhunderts war die Abstraktion noch stärker der Grafik und Malerei vorbehalten, auch wenn die Objekte und Skulpturen des Primitivismus eine wichtige Folie für die Diskussion der Abstraktion darstellt. Wilhelm Worringer spricht sogar von einer Unterdrückung der Raumdarstellung oder von einer Raumscheu in Bezug auf den Abstraktionsdrang. Worringer begründet dies damit, dass sich im Raum die Dinge miteinander verbinden bzw. in Relation zueinander stehen, während es in der Ebene möglich ist, die kristalline und klare Ordnung herzustellen, die vielmehr dem Selbstentäußerungstrieb entsprechen würde. Denn in der Betrachtung des Unverrückbaren würde der Notwendigkeitswert von der Willkür sinnlicher Erscheinungen befreien. Claudia Öhlschlager sieht darin eine Parallele zu Helmuth Lethens „Verhaltenslehren der Kälte“, die sich mit dem Aspekt des Reinheitsbegriffs und seiner Verfügbarkeit bzw. Vereinnahmung in der Zwischenkriegszeit auseinandersetzt. Und bereits in den Dreißiger Jahren wandten sich Theoretiker und Künstler wie Carl Einstein oder Georges Bataille gegen die mathematische Trunkenheit der Moralisten, die in der Abstraktion die Moral der puren Form verteidigten. Der Begriff der Kälte ist für Claire Morgan noch in
anderer Hinsicht relevant. Sie kritisiert die Tendenz der Disziplinierung durch Kontrolle, wie dies aktuell mit den zum Teil totalisierenden Strategien der Digitalisierung angestrebt wird, und spricht in diesem Zusammenhang von einer Kälte, die den Raum absorbiert, „als wäre der Raum ein Fisch, der den anderen vertilgt“. Der Raum ist nicht nur ein Ort der gewaltsamen Interaktionen, „der Raum ist selbst ein gewalttätiger Akteur, dessen Gewaltsamkeit im Zusammenbruch jener entscheidenden Grenze sichtbar wird, die das Leben des Organismus oder der sozialen Systeme garantiert“.3 Claire Morgan verknüpft zwei Formen des ästhetischen Erlebens, die einander zu widersprechen scheinen. Empathie und Einfühlung als Strategien eines objektivierbaren Empfindens stehen dem ästhetischen Genuss gegenüber, in dem sich das Ich gerne verliert. Morgans Arbeiten zielen aber letztlich darauf, die widerstreitenden Ich-Empfindungen als Eines zu begreifen, um das „unsichtbare Wesen der Dinge hinter dem Schleier der Erscheinungen sichtbar zu machen“.4
3 Friedrich Balke und Maria Muhle: Räume und Medien des Regierens, https://www.fink.de/uploads/tx_mbooks/9783770559022_ leseprobe.pdf, gesehen am 18.11.2019 4 Wilhelm Worringer, Abstraktion und Einfühlung, Wilhelm Fink Verlag, München 2007, S. 40
Claire Morgan Who didn’t want to be an astronaut. (S. 40 / 41) This is going to hurt. (S. 42 / 43) Happy ending. (S. 44 / 45) I wanted the most beautiful thing in the world. And then I got it. And then it died. And then I was surprised. (S. 46 / 47)
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Die zwei besten Frontmänner seit Generationen, einer in Mode und Zeitgeist gebadet, der andere in Pop, Austropop und speckige Jacken gewandet. Der eine riecht vermutlich selbst nach über zwei Stunden Schönbrunn-Konzert noch gut, vom anderen erwartet man Eau de Rock’n’Roll. Der Musikjournalist David Baldinger beschreibt mit Hilfe zweier Bands, die aus konträren Ecken dasselbe Ziel anpeilen, den Soundtrack zur zwiespältigen österreichischen Seele, zwischen Fernweh und Heimweh.
Sieben Jahre oder ein ganzes Teenagerleben lang liefern Bilderbuch und Wanda nun schon ganz unterschiedliche Soundtracks österreichischer Identitätsstiftung abseits von schambesetzter Politik und Kulturwelten von gestern. Beide stehen im Jetzt. Am Anfang waren beide Teil des sogenannten österreichischen PopWunders. Vom Wunder ist keine Rede mehr, alles wird irgendwann normal, auch zwei Ausnahmen. Während andere in gepflegtem Vorabendserien-Deutsch, als Proto-Berliner Aggro-Rapper oder mit dem Soul von Physikprofessoren in seichten Klischee-Teichen fischen und gängige Posen bedienen, haben Bilderbuch und Wanda ihre eigenen Welten erschaffen. Und das ist Pop im klassischen Sinn: ein catchy Dialog mit dem Hier und Jetzt, der sich reibt, der träumt und trivialisiert. Songs als Abziehbilder und Blaupausen von Realitäten und Fantasien, die – auch – mit Österreich-Bildern kokettieren und damit zwei Routen durch verwirrende Zeiten signalisieren. Zwei Bands als Mozartkugeln, als Repräsentanten eines österreichischen Gemüts. Denn die beiden stehen für Österreich und sind so etwas wie zwei Teile eines Puzzles. Zwei Seiten einer Double A-Side: kulturelle Qualitätsmarken aus der Manufaktur Austria. Und sie spiegeln auch ein zerrissenes Naturell. Intro Kritik und auch Popkritik verehrt das Binäre. John Lennon liebt Kunst, Avantgarde und das Wagnis. Paul
McCartney schreibt süße Melodien. Punkt. Am Hafen in Liverpool wäre Lennon in See gestochen, McCartney nach Hause gegangen. Ein solch frivoles Pendeln zwischen gegensätzlichen Polen scheint auch ein prägender österreichischer Grundgemütszustand zu sein. Man laviert und oszilliert. Zwischen Leberkas und Sacher. Zwischen Vorarlberger Gründergeist und Wiener Raunzen, Berg und Tal, Sieg und Niederlage, Stadt und Land, Triumph und Gruppenaus. In diesem fiktiven, weil lediglich ge- und beschriebenen, Pop-Dualismus stehen Bilderbuch in der einen und Wanda in der anderen Ecke. Bilderbuch: innovativ, offen, Schönbrunn. Wanda: konservativ, poppig, mit einem Fuß im Bierzelt. Hier die modebewussten Optimisten mit Perspektive, dort die mit dem Versifften kokettierenden Poeten – Wiener Vorstadt-Schmuddelkinder. Ein „Battle of the Bands“ mit medial schnell und klar verteilten Rollen. Bilderbuch sind die schönen Dandies, künstlerische Freigeister, die auch in Berlin die Trends setzen, avantgardistisch, schräg, poppig. 1-AFeuilleton-Material. Das sind Wanda auch, aber in der ihnen angedichteten und zugeschriebenen Rolle. Als fasziniert bestaunte Wiener Institution. Irgendwie dreckig, irgendwie echter und räudiger als Bilderbuch. Ein „Relikt“ und Rock-and-Roll-Wiedergänger, der mit Slim Fit oder übergroßen, neckisch-ironischen Sonnenbrillen gar nichts zu tun haben will – und schnell gelernt hat, dieses Gossen-Image zu bedienen. Irgendwie kaputt – zweifellos geliebt. Die Liebe zu Wanda scheint inniger und feuriger als jene zu Bilderbuch. Vielleicht
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weil die Band eine Lebensweise feiert, die heute gern negiert wird. Das schafft Lust. Der Hedonismus und die Lethargie, das Halbseidene, das Besoffene und das Schludrige – Bilderbuch würden nie „I Am From Austria“ singen. Wanda könnten es anstimmen. Von außen betrachtet segelt die Band rund um Marco Michael Wanda – oder fischt in ihrem Fall – in stehenden Gewässern. Als Charles Bukowski des österreichischen Pop-Wunders. Für manche waten Wanda schon in verdächtig retro-patriotischen Tümpeln. Wanda sind wie Helmut Berger oder Hanno Pöschl im Vergleich zu Bilderbuchs Oskar Werner. Bilderbuch dagegen haben und pflegen Manieren. Hansi Hölzl ist die Schnittmenge der beiden, ein Hallodri in feinem Zwirn und nicht umsonst schillernde Österreich-Figur bis heute. Falco ist eine Gemeinsamkeit von vielen, die nonchalant übersehen werden. Weil die Story ja nicht ist, dass sich da zwei junge Gruppen mit Jahrzehnt-Potenzial auch ähnlich entwickeln. Erzählt wird, was kracht. Strophe 1 Wo siedeln die beiden Bands ihre Songs an, wo leben ihre Figuren und wie? Welche Beziehungen besingen sie? Welches Selbstverständnis wird so skizziert? Bilderbuch beschwören das OM, singen „Gib dir mehr Zeit für Dich“ und cruisen im nächtlichen Taxi durch eine Stadt, die zwar wohl Wien ist – aber nicht sein muss. Hinter der Hippness steckt in der Bilderbuchmusik auch immer schon die Aufforderung zur Muße und zur Ruhe inmitten des Strudels. Wanda dagegen hetzen. Immer in Wien – „weiter, weiter“. Bilderbuch streben nach vorn, wo immer das auch liegen mag. Dagegen beschwören Wanda den stationären Rausch als alternatives Faktum. Ihre Texte spielen mit der Faszination des Rotlichts oder dem Rotlicht als Leuchtturm. „Ich leb so viel wie du in einem Jahr an einem Tag“, singt Marco Michael Wanda – Rausch, Rausch, Rausch. Wer seine Band nach einer legendären Wiener Prostituierten benennt, der weiß, was er tut. Zwei Entwürfe zwischen Rausch und Muße.
Wandas Erzählungen bestehen aus Worten, die als Essenzen kleiner Mikro-Wahrheiten daherkommen, denen keiner widersprechen kann. „Ich seh Dich gern von links an.“ Viele tun das. Alle anderen können es sich vorstellen, weil sie die Perspektive von rechts kennen. Oder „Ciao Baby“: „Manchmal denk ich alles schwer Manchmal lach ich umso mehr Manchmal geht sich alles aus Manchmal geb’ ich alles auf Alles schaut so gut aus So dass man es fast glaubt.“ Bilderbuch pinseln lieber abstraktere Wortgemälde. „Wir sind Skoda-Crash-Stuntshow Highlife im Bungalow Snacks für die Late-Night-Show By the rivers of cashflows, rivers of cashflow.“ (Bilderbuch, Sprit N’ Soda) Gleichzeitig blinzelt nicht nur im Albumtitel „Mea Culpa“ die katholische Vergangenheit der Band hervor. Christus, Religion, katholische Schwere – all das spülen Bilderbuch immer wieder an die Song-Oberfläche. Hier die ranzige Wanda-Lederjacke, dort der passgenaue knallgelbe Maschin-Handschuh. Zwischen diesen Accessoires liegen, poetisch gesprochen, Welten des Versagens, der Ängstlichkeit – ein emotionales Feld, das Wanda regelmäßig mit Hymnen auf das ehrliche Scheitern bestellen. Mei potschertes Leben – solang das Herz sitzt – passt. „Weiter, weiter. Immer weiter brauche ich mehr und mehr und immer leichter wird es schwer und schwer und alles wirft mich aus der Bahn.“ Auf dem letzten Wanda-Werk „Ciao“ findet sich ein Song namens „Swing Shit Slide Show“, er markiert die zentrale Stelle, genau in der Mitte des Albums. Ein potenziell wichtiger Song, jedenfalls so angelegt. Trotzdem sagt Marco Wanda lachend: „Die Nummer
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funktioniert nicht.“ Dieses Scheitern in Würde und Selbstverständlichkeit macht Wanda sympathisch. Scheitern spielt auch bei Bilderbuch eine Rolle, wenn auch anders. Bei der Veröffentlichung von Magic Life 2017 spricht Sänger Maurice Ernst von der Möglichkeit, als Band zu scheitern, und von privater und gesellschaftlicher Verunsicherung, die diese Zeit charakterisiert habe. Das Erfolgsalbum Magic Life war auch ein Anker, von dem nicht klar war, ob er Halt gibt. Ein Risiko, weil die Glamour-Rüstung abgenommen wurde und es persönlicher wurde. Bungalow leuchtete aber so hell, dass von latenter Orientierungslosigkeit nur mehr wenig zu hören war. Scheitern, planen, aber nicht verwirklichen – österreichisch. Da harmoniert das kakanische Unterbewusste mit den Schwingungen der beiden Bands. Refrain 1 Große Bands stürmen und drängen. Einmal abgegraste künstlerische Weiden werden zurückgelassen, der Hunger bleibt. Dieses Attribut wird gern Bilderbuch zugeschrieben. Als feinsinnige Innovatoren und Tüftler stehen sie dann neben den groben Wanda-Buben. Das ist eine Lesart, die sich durchgesetzt hat. Aber anders als Bilderbuch auf „Vernissage My Heart“ und „Mea Culpa“ treten Wanda auf „Ciao“ gegen alle Erwartungen an. Es ist eine Platte mit Tempo und Melodie, Rage und Ärger, Wut und Wiener Lethargie. Besser denn je inszeniert, musikalisch vielfältiger. Besser im Sinn von gereift, selbstreflektierend. Bilderbuchs musikalische Glasur bleibt verlockend süß und mittlerweile vertraut. Der Kern aber wird stets komplexer und verschachtelter – in Musik und Text. Waren es zu „Schick Schock“-Zeiten noch Songs so bunt und prägnant wie Plakat-Slogans, füllen mittlerweile sensibel-zarte Poesie und leise Töne die Fläche. Wanda bleiben formattreu. Bilderbuch laden pompös zur Vernissage – gezeigt werden Bilder hemmungsloser Experimentierfreude. Die einen im gelben Lamborghini, im Bungalow mit Marmorbad. Die anderen pfeifen
auf das Haus am Land – und wollen – Scheiß-drauf far niente – „zum Himmel fahren, so schnell es geht“. Strophe 2 Be here now – eine Gegenwart nur im Jetzt gelingt den Wenigsten. Bilderbuch holen sich Orientierung im Morgen, Wanda im Gestern. Bilderbuch denken in Projekten, in Saisonen, wie bei einem Modelabel. Ein neues Album ist nicht nur ein akustischer NeuEntwurf, es ist immer auch eine Identitätswandlung, eine neue Schicht, die angelegt wird, neues Vokabular, ein neuer Style. Schon Feinste Seide war für die Band „ein Projekt“ – eine Versuchsanordnung. Wasserstoffblonde Haare, ein Swimmingpool, alles planscht im Versuchsbecken. Musikalisch ging es für Bilderbuch von Franz Ferdinand über The Strokes, Talking Heads und Roxy Music zu Soul: Prince, Al Green, über Stevie Wonder zu Kanye West. Ein Jay-Z-Konzert in Zürich wird zum Schauplatz des ersten Treffens zwischen dem künftigen Schlagzeuger Pille, Mike, dem Gitarristen und Maurice, dem Sänger. Im Radar aller: Weiterbewegung, kein Stillstand, es drängt zu neuen Positionen. Überspitzte Statements („Mein Schwanz so lang wie ein Aal“) schärfen die Konturen, sind reizvoll und Pop, wie er immer war. Sexyness war das große Anfangsthema – das Biedermeier auszufegen und rotzig neue Posen einzunehmen – große Entwürfe, wie auch Falco sie skizzierte. Wenn es zu clean wird, dann „suchen wir Dreckfarben für unseren Malkasten“ und sind wieder happy, meinte Maurice Ernst 2014. Bilderbuch tänzeln (wo Wanda schunkeln), weil die aktuelle Position nie zur Raststätte werden soll. Die Band wirkte schon 2014 wie Ingenieure ihrer Musik. Fasziniert von Produktionstechniken und neuen Sounds, gelangweilt und abgestoßen von gesättigten Erfolgsmustern, die zu ausgefransten Blaupausen werden. „Es gibt nichts, was mich in der deutschsprachigen Musik im Moment kickt“, sagte Gitarrist Mike. Logische Schlussfolgerung: selbst machen. Kicks! Wanda denkt nicht in Projekten. Wanda hatte einen
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Plan, und der wurde zur Erfolgsroute. Wandlung, Häutung, Kostümwechsel – nicht mit Wanda. „Ich bin kein Konzeptkünstler. Ich hab’ nicht an einer Kunstfigur gearbeitet – das sollen die narzisstisch Persönlichkeitsgestörten machen, sich selbst neu erfinden, oder so einen Schwachsinn.“ 2019 singt Wanda „(…) alle, die mir zuhören, tun das Einzige, das man tun kann – Man kann zuhör’n. Aber nix kann man reparieren. Nix kann man reparieren.“ Man ist, wer man ist. Full stop. „Ich quäle mich nicht und reflektiere das alles, das ist ja geistesgestört.“ Um Erfolg ging es Wanda nie. Sagt Wanda. „Es geht nicht um Anerkennung, sondern darum, Musik zu schaffen, die den Menschen etwas bedeutet. Eine Band ist nur so gut, wie blind sie gegenüber dem Erfolgsdruck ist. Sobald wir den Erfolgsdruck spüren, sind wir weg, das weiß ich. Deswegen scheiß ich auf den Erfolgsdruck.“ Wanda zuckeln gemütlich und gedankenverloren auf einem Kreuzer Richtung Sonnenuntergang, Wien im Rückspiegel, italienische Fantasien als Sehnsuchtsort. Das gut geölte Koordinatensystem des österreichischen Mittelstandes für viele Jahre. Vertraut und eng verwoben mit kultivierten Projektionsflächen. Ein Entwurf, der trägt. Ob das etwas mit Nostalgie zu tun hat, mit dem Wunsch nach Komplexitätsreduktion und einer Flucht in ein Gestern, das im Rückspiegel immer goldener schimmert, als es je war? „Austropop war die rebellischste und aggressivste musikalische Bewegung, die unser Land jemals erlebt hat.“ Marco Wanda ärgert die Frage. „Nostalgie kann etwas Schönes sein. Ich bin nicht nostalgisch, mir ist das egal.“ „Wir wollen keine aufgewärmte Suppe. Man könnte jetzt auch noch mehr Mundart machen und könnte ein Gefühl bei den Menschen triggern, das ihnen Sicherheit suggeriert“, meinte Ernst beim Release von „Magic Life“. „Endlich wieder so etwas wie damals. Das ist gut. Tradition, juhu. Das ist der Grund, warum Seiler & Speer, Wanda, Voodoo Jürgens und Granada besser funktionieren. Es hat keinen anderen Grund. Das Eingeständnis zum Dialekt, das Eingeständnis zur Tradition, das ist nichts anderes als der Bungalow, nur, dass wir spielerisch damit umgehen und die Opfer die-
ses Moments sind, künstlerisch gesehen. Und das will ich nicht. Ich will kein Opfer sein, ich will damit umgehen und den Moment spüren. Ich will den Moment kanalisieren. Und wenn das dann mit mir selbst zu tun hat, dann ist das nur ehrlich, weil der Punkt ist, ich bin verunsichert, so wie jeder andere.“ Bilderbuch verdauen den Zeitgeist, Wanda treffen ihn. „Wir sind nicht nur dazu da, Dir permanent den Kopf zu kraulen“, meint Maurice Ernst. „Magic Life“ war für ihn eine Platte voller Anspielungen auf soziale Unsicherheiten, auf symbolisch aufgeladene Vergänglichkeit. „Einerseits wollten wir nur Musik machen und uns an den Höhen der Kunst erfreuen. Andererseits hatten wir das Gefühl, als müssten wir Stellung beziehen. Das haben wir auf unsere Weise gemacht. Nicht ganz konkret politisch, aber wir haben mit diesem Gefühl im Bauch Musik gemacht.“ Zwei Jahre später verteilen Bilderbuch bei den Konzerten in Schönbrunn Flyer mit einem Aufruf, zur anstehenden Europawahl zu gehen. Sie beziehen Stellung. Refrain 2 Bilderbuch träumen von Gibraltar und New Mexico, Wanda hängen im Café Kreisky ab. Vielleicht ist die Reibung zwischen den Bands auch eine zwischen Heim- und Fernweh. Zwischen einer Herkunft, einem Zentrum und dem Umgang damit. Wie zwei Magnete, deren Pole sich abstoßen – aber auch anziehen können. „Wir reagieren immer auf uns selbst“, sagt Maurice Ernst. Die eigene Band als Perpetuum Mobile, mit offenen Sensoren durch die Welt navigierend. Wanda reflektieren sich auch selbst, docken verbal an das eigene Gestern an. Aufbruch und Lust an der Bewegung ist aber nicht Motivation. Gestorben wird hier immer noch in Wien. Bilderbuch dagegen müssen weg, „Du weißt, ich muss weg, ja, Du weißt, der success, ja“, heißt es in „Erzähl’ Deinen Mädels, ich bin wieder in der Stadt“ – schon der Titel eine Ode an die Flüchtigkeit, an Bewegung und nur temporären Aufenthalt. Wanda appelliert an die österreichische Selbstver-
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gessenheit. Bilderbuch an die weite Welt. Wanda hat Chuzpe, als ob das Leben einem jeden Tag etwas schuldig sei. Die Band trägt das Wienerisch Verträumte, das Trotzige und Zärtliche, das Kranke und die Genusssucht in sich. Am Ende doch lieber eine rauchen, anstatt gesund zu leben. Glück im zweiten Hieb. Mit Wanda kann und muss man auch gemeinsam altern. Weniger Haare, mehr Bauch, auch mehr Reife. Bilderbuch traut man zu, ewig jung bleiben zu wollen. Wanda lassen einem keine Möglichkeit. Und stellen sich und ihr Altern aus. Eine Band mit Jahresringen, mit eigener Geschichtsschreibung aus Fetzen des umfangreichen Rock’n’Roll-Archivs. Im Mittelpunkt, immer, wie in jedem Rock and Roll Fantasia: die Beatles. Ewige Sonne, ewiger Nordstern, ewiger Himmel des Pop. Auch da treffen sich Bilderbuch und Wanda dann wie stehen gelassene Weinflaschen im Songkeller der Fab Four. Middle 8 Middle 8 – der Moment in einem Song, wo sich alles drehen könnte, wo an der Tonleiter geschraubt wird. Wäre die Middle 8 ein Film, es wäre die Sequenz, wo man kurz doch noch zweifelt, ob nicht doch der Gärtner, etc. … dann kommt die Auflösung und alles ist sweet love. Am Ende sind auch Bilderbuch und Wanda auf dem Weg zum gleichen Ziel. Sie sind sogar von ähnlichen Orten aus gestartet, um dann zwei unterschiedliche Abzweigungen zu nehmen. Beide sind erzählende Bands, die Geschichten und die eigene Geschichte verweben und in Songs und LPs abpacken. Wenn eine Band Emotionen und seelische Verfasstheiten kommuniziert, Posen einnimmt oder Verrenkungen des emotionalen Gerippes vollführt, die der Hörerschaft vertraut sind, dann spiegelt sich das und ergibt eine sexy Projektionsfläche, in die sich das Publikum verliebt. Dass sie Projektionsfläche sind, ist beiden Bands bewusst. Wanda malt in den Primärfarben und immer noch figurativ, wenn auch mittlerweile psychedelische Skizzen dabei rauskommen. Bilderbuch geben sich einmal als Impressionisten, dann als Dadaisten, dann
sind sie begeistert von Video-Installationen. Sie flirten. Bilderbuch ist der Flirt, Wanda die Lebensfrau. Konstanz und Verlässlichkeit vs. verschmitzte Romantik. Da spielt auch die Stadt / Land-Spaltung hinein, wenn auch schräg oder gar spiegelverkehrt. Die Städter Wanda erträumen sich Idylle und die ländlichen Klosterschüler werden zu den hipperen Städtern. Beide denken auch bewusst dramaturgisch in Alben und in Spannungsbögen und Statements. Beide sind Slogan-Bands. Dass fm4 Sticker mit Kurzbotschaften von beiden macht, sagt alles. Bussi. Sweet Love. Und Falco. Überhaupt. Mindestens eine Pop-Generation nach Junge Römer singen Österreichs größte Bands selbstverständlich auf Deutsch, Englisch und / oder Italienisch. Beide frönen der in Österreich gepflegten Tradition des innigen Flirts mit der deutschen Sprache, damit, sie umzuformen, ihr eine Seele einzumassieren. Marco Wanda verbrachte Jahre als Sprachkunst-Student an der Universität für Angewandte Kunst, bevor er zum Sänger wurde. Auch in Maurice Ernst hört man Echos von Artmann und Jandl. Beide kokettieren mit dem Trivialen. Auch wenn es Kunsttexte sind, machen sie Alltag und emotional Vertrautes erlebbar. In der Herangehensweise dann wieder eine Kluft: Bilderbuch entwerfen Welten, Wanda sind bodenständige Tischler. Beide wirken von außen mit ihrer Berufswahl glücklich. Innenraumarchitekten sind beide – menschliche Innenräume loten beide aus: die einen viszeral, fleischig und blutig, die anderen feingliedriger, verkopfter, leichtfüßiger. Wenn bei Bilderbuch vs. Wanda ein Vergleich herangezogen wird, dann Blur vs. Oasis. Es gibt ja auch genügend Gemeinsamkeiten. Besser passen würde aber die Beziehung zwischen den Beatles und den Stones – man respektiert sich und kommt sich nicht ins Gehege. Es regiert die friedliche Koexistenz. Marco Wanda singt in der Zwischenzeit auch englisch. Und Maurice Ernst benutzte gar kürzlich „0043“ als Österreich-Kürzel. Das kann Chuzpe, aber auch eine Respektbekundung sein.
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Morag Landvermessung No. 6, Sequenz 5, bei Schluderbach, Hotel am See
Geschichten kann man auch durch geometrische Operationen auf der Landkarte generieren: In Quart folgen unterschiedliche Autoren mit unterschiedlicher Kondition unterschiedlichen Linien (s. Übersichtskarte). Wir befinden uns derzeit auf der Geraden, die von Obermauern im Osttiroler Virgental Richtung Südtirol und weiter ins Trentino führt. Daniel Wisser wurde aufgehalten und wartet auf den Neumond.
Gerne gehe ich zu Fuß. Gerne gehe ich lange zu Fuß, tagelang, aber ich muss gestehen, die Route, die Landschaft, ja selbst die eindrucksvollste Kulisse ist an mir verschwendet. Ich blicke meist zu Boden. Das Gehen ist auch keine Inspiration, es bringt mir keine Einfälle, keine neuen Sätze, sondern ich bleibe dabei bei einer Geschichte hängen, die ich immer und immer wieder durchdenke. Diese Geschichte ist niemals von mir, ich habe sie entweder irgendwo gehört oder gelesen, oder ich weiß gar nicht mehr genau, woher sie stammt. Vielleicht denke ich kurz, dass die Geschichte doch von mir ist. Doch was heißt schon ich und von mir, wenn man mit jedem Schritt weiter in einer Landschaft verschwindet? 1 Zum Hotel gehören zwei Boote, zwei kleine gelbe Boote, für die man gegen Kaution einen elektrischen Außenbordmotor bekommt. Gestern ließ ich mir zeigen, wie man diesen Motor montiert. Gestört hat mich nicht, dass er klein ist und man damit nur sehr langsam vorankommt, sondern dass, um ihn zu betreiben, eine Autobatterie im Boot sein muss. Die Kombination aus Wasser und Elektrizität macht mich ängstlich. Ich nehme also die Holzruder. Damit ich vom Rudern keine Schwielen an den Fingern bekomme, habe ich mir in einem Sportgeschäft im Städtchen Radfahrerhandschuhe gekauft. Am Dienstag rudere ich nach dem Mittagessen auf den See hinaus. Es ist mein vierter See. Die anderen drei habe ich bald wieder verlassen. Dieser hier scheint mir richtig. Schnell finde ich auch eine geeignete Stelle.
Hier ist das Wasser tief. Ich hoffe, dass ich ohne Licht bei Neumond in der Nacht hierherfinde. Übermorgen, am Donnerstag, ist Neumond. Beim Abendessen fällt mir eine junge Frau auf, die sich ganz alleine an den letzten Tisch gesetzt hat. Ich weiß nicht, warum ich diese junge Frau ständig anstarren muss. Ich versuche mich zu zwingen, nicht zu ihr hinüberzublicken. Zweimal erwischt sie mich, als ich sie betrachte, und lächelt mich an, bis ich wegschaue. Wie immer bin ich mit dem Essen schnell fertig und bitte den Kellner, alles auf meine Zimmerrechnung zu schreiben. Dann gehe ich und fahre mit dem Lift hoch in den dritten Stock. Als ich aussteige und den Korridor entlang zu meinem Zimmer gehe, kommt die junge Frau, die ich soeben beim Abendessen nicht anstarren wollte, die Treppe hoch und geht ebenfalls auf ein Zimmer zu. Eines ihrer Augenlider hängt leicht herunter. Ihr Gesicht ist voller Sommersprossen und doch wirkt sie nicht fröhlich. Diesmal lächelt sie auch nicht. Als ich bei meiner Zimmertür ankomme, sehe ich, dass ihr Zimmer nur zwei Türen weiter ist. „Sprechen Sie Deutsch?“ „Ja, akzentfrei.“ „Oh, entschuldigen Sie! Wie dumm von mir.“ Im Zimmer angekommen schreibe ich unseren Dialog wortwörtlich auf den kleinen Notizblock mit dem Hotellogo. Wie gut, denke ich, dass sie ihre Frage dumm fand. Ich fand meine Antwort dumm. 2 Am Mittwoch sitze ich schon viel zu früh beim Abendessen. Die junge Frau mit dem Hängelid, die ich am
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Vortag angestarrt habe, kommt erst spät, als ich schon beim Dessert bin. Es tut mir leid, dass ich keinen anderen Namen für sie habe. Sie ist schön. Und ich freue mich, sie zu sehen. Beides ist nicht gut. Sie trägt ein elegantes bodenlanges Kleid. Als sie an meinem Tisch vorbeigeht, bleibt sie kurz stehen. „Guten Morgen!“ „Guten Morgen!“ „Waren Sie morgens im Frühstücksraum? Ich habe Sie vermisst.“ Um nicht wieder etwas Dummes zu sagen, antworte ich nicht. Habe ich sie vermisst? Ich vermisse nicht mehr, niemand mehr. Aber das muss ich nicht aussprechen. Ich versuche nicht, in ihre Richtung zu blicken. Ich spreche sehr leise: „Bitte entschuldigen Sie, aber ich habe es aufgegeben, jemand zu vermissen.“ „Das verstehe ich. Es wird härter bei jedem Tag, nicht wahr?“ Sie geht weiter zu ihrem Tisch. Ich stehe auf, gehe auf mein Zimmer und schreibe sofort den Dialog auf. Vor allem der seltsame Ausdruck bei jedem Tag geht mir nicht aus dem Kopf. War das ein ungewollter Anglizismus? It’s getting harder by the day, isn’t it? Ich überlege lange und bin nicht sicher, ob ich ihre Worte nicht falsch verstanden habe. Später bin ich überzeugt, dass ich sie falsch verstanden habe.
Ich schüttle den Kopf. Sie zeigt auf ihr rechtes Auge. „Das Hängelid. Angeboren.“ „Sie sind wunderschön.“ „Damit haben Sie sich schon den Champagner verdient, den ich bestellt habe.“ Als der Kellner mit der Flasche kommt, bedeutet Morag ihm, ein zweites Glas zu bringen. Morag lächelt manchmal und rückt ihren eleganten wollenen Umhang zurecht. Aus Verlegenheit spreche ich ihren Namen aus: „Morag.“ „Ja, Morag, wie das schottische Lake-Monster.“ Bei diesem Wort hört man ihren britischen Akzent. Oder höre ich ihn jetzt nur, weil sie mir ihren Namen gesagt hat und weil sie Schottland erwähnt hat? „Und wie heißen Sie?“ Zögerlich sage ich meinen Namen. Dann sprechen wir viel während des Essens. Ich merke mir nichts davon. Der Champagner hat mich aufgekratzt. Der Rotwein danach müde gemacht. Morag hat bezahlt. Das ließ sie sich nicht nehmen. Ich sage, dass ich sehr müde bin. Als ich mich verabschiede, möchte ich sie auf die Wange küssen, aber sie weicht zurück. Später im Zimmer sitze ich vor dem Hotelblock und versuche alles aufzuschreiben. Aber ich schreibe nur ein Wort: PTOSIS.
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Kurz nach Mitternacht gehe ich los. Ich habe eine kleine Taschenlampe mit und gehe zum Steg. In meinem kleinen Rucksack ist alles bereit. Am Steg angekommen, bemerke ich, dass nur eines der beiden gelben Boote da ist. Ich ziehe die Fahrradhandschuhe an und rudere auf den See hinaus. Es ist nicht schwer, die Stelle wiederzufinden, die ich mir gemerkt habe, nur sehe ich schon aus einiger Entfernung, dass dort ein Boot steht. Als ich näherkomme, sehe ich, dass es das zweite gelbe Boot des Hotels ist. Vielleicht liegt jemand im Boot und schläft, denke ich und rudere ganz in die Nähe. Doch im Boot befindet sich nur ein schöner wollener Umhang, den ich schon zweimal gesehen habe in den letzten beiden Tagen.
Am Donnerstag sitzt sie bereits am Tisch, als ich in den Speisesaal komme. Bevor ich mich setzen kann, winkt sie mich zu sich. Ich habe noch immer keinen Namen für sie. Sie winkt noch einmal. Erst bin ich unsicher, ob sie mich meint, dann gehe ich zu ihrem Tisch. Wieder trägt sie den wollenen Umhang, bestimmt feinstes Kaschmir, denke ich. „Ich möchte Sie bitten, sich an meinen Tisch zu setzen.“ Noch ehe ich sitze, streckt sie mir die Hand entgegen. „Ich bin Morag. Nur damit ich einen Namen habe und nicht die Frau mit der Ptosis bin.“
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Inspiration / Expiration
Auf den folgenden Seiten ist eine Arbeit des Zeichners Lionel Favre zu sehen. Technische Pläne sind der Ausgangspunkt seiner künstlerischen Arbeit, er transformiert und redefiniert sie, indem er ihnen Fantasie einverleibt, sie mit handgefertigten Zeichnungen anreichert. Auf diese Weise entsteht eine neue Verbindung zwischen Wissenschaft und Fantasie, Industrie und Kunst, zwischen Konkretem und Abstraktem. Für Quart hat Favre seine Zeichnungen mit der Bergwelt konfrontiert – und dazu folgende Gedanken aufgeschrieben:
„Inspiration … (Einatmen) Kunst kann sich nicht von sich selbst ernähren, sonst ist sie nur ein selbstbezogener Kommentar. Das Jetzt ist eine seltsame Begebenheit geworden, die – wenn nicht aufgezeichnet – nur halb erlebt worden ist. Der Berg war schon vorher da. Er ist der physische Ausdruck unserer Vergangenheit. Er trägt all unser Erbe unter sich, seit ewigen Zeiten, als gigantische Kulisse hinter der Bühne unseres Lebens. Der Berg war einfach schon vorher da. ‚Die Natur ist gerecht und gibt uns ausreichend Zeichen, die wir je nach unserer Sensibilität sehen können oder nicht. Was für mich extrem ist, ist die Stadt, weil der Mensch unvorhersehbar ist.‘ (Géraldine Fasnacht, ,La femme oiseau‘, Extremsportlerin)
Natur und Elemente diktieren uns einen anderen Rhythmus als die Extreme der besiedelten, uns eigenen Zivilisation. Feuer, Wasser, Erde und Luft kann unser organischer Körper einschätzen und fühlen, wohingegen der psychotische Gegenwind der Ballungszentren unsere Sinne ordentlich verbläst. Wir sollten Obacht geben, dass wir die Stadt nicht überallhin transferieren, sonst werden nicht nur die Berge immer niedriger sein, sondern auch eine Zukunft ungewiss. In der Kunst wie auch am Berg suchen wir uns unseren eigenen Platz der Freiheit, und es braucht sehr viel Raum, um sich verlieren zu können. Expiration … (Ausatmen)“
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Berge bilden den Horizont
Streit gab’s und gibt’s um die Schweizer Monte-Rosa-Hütte, die Schwarzensteinhütte im Südtiroler Ahrntal oder den Laurin-Kristall am Rosengarten. Bauen in den Bergen erregt und fasziniert seit Langem. Aus gegebenem Anlass: Überlegungen zum Bauen in den Alpen. Von Florian Aicher
Die Fachwelt debattiert über Regionalismus oder Ortsbindung, die breite Öffentlichkeit über die Fragen: Passt das Neue in die Gegend? Kann so gefragt werden? Was sind Gegend, Umfeld, Umstände? Was bedeuten sie für geplante, in sich schlüssige Gebilde? Und wenn: Was sind Kriterien, um zu beurteilen, was passt und was nicht? Seit über Architektur nachgedacht wird, seit Vitruvs Trias Utilitas, Firmitas, Venustas, ist sie Syntheseleistung; daraus folgend wird sie die gesellschaftlichste aller Künste genannt, verpflichtet menschlichem Leben. Dies machen Menschen unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen, wie Marx feststellt. Für Heidegger ist der Mensch immer schon bei den Dingen; im zugreifenden Umgang begegnet Umwelt alltäglich. Wirksame Umstände sind demnach unbestreitbar. Nicht ob, sondern wie steht infrage. Was wirkt an Umständen, Gegend? Natur heißt es, Kulturlandschaft, Ort; die Spannweite reicht vom schwer fassbaren genius loci bis zu Baufibeln mit peniblen Angaben zur Bauweise. Unsere Zeit sucht Objektivität, verwirft das Subjektive, gar Sentimentale. Doch Präzision wird mit Schematismus erkauft, feind allen lebendigen Bauens. Wenn „Objektivität“ nicht weiterhilft, bleibt dann das Subjekt mit seinem Empfinden, Spüren, Gefühl? Wäre, mit einem Wort Goethes, Bildung des Gefühls gefragt? Annäherung „Draußen das weite bayerische Land mit Kuppelwolken am unbewegten Himmel, eine Fliege summte in der Stube, die Bauerntochter klapperte mit dem kräftigen Geschirr. Ein höchst heiteres Kreisen ging
fühlbar zwischen Drinnen und Draußen, Schein und Tiefe, Kraft und Oberfläche. ,Hören Sie‘, sagte da mein Freund, ,wie gut das Haus in Gang ist.‘ Und man hörte die Ruhe, das richtig Eingehängte, wie es läuft, die wohlbekannte Kameradschaft mit den Dingen, die jeder Gesunde fühlt, die Lebensluft um sie her und die taohafte Welt. So nahe und fast aus dem gelebten Augenblick heraus, so selber darin zuhause genossen wir das ,Land‘ …“ Wer würde sich heute so reden trauen? Kriegen wir da nicht heiße Ohren? Geschrieben hat das 1930 Ernst Bloch, kaum reaktionärer Heimattümelei verdächtig, setzt er sich doch schon damals den Kräften zur Wehr, die ihn 3 Jahre später ins Exil treiben – und doch beschließt das Wort Heimat sein philosophisches Hauptwerk. Berge bilden den Horizont dieser taohaften bayerischen Welt. Gebautes kommt vor als Haus am Land. Bauen in den Bergen meint Bauen am Land, in der Natur – nicht das Bauwesen alpiner Städte. Auf geht’s! Aus der Ebene des Voralpenlandes kommend „betreten“ wir Täler, die Erde rückt näher, ein Gefühl der Geborgenheit stellt sich ein, das in eines der Enge umschlagen kann. Unterschiedliche Besiedlung kommt in den Blick, Nachbarschaften rücken näher. Johann von Dillis malt 1825 ein Arkadien am Tegernsee, belebt vom Vordergrund bis zum Horizont. Ein Zug liegt in der Gegend – weiter, hinein und höher, hinauf. Bereichern, so fragt der bauende und lehrende Architekt Friedrich Kurrent, die Berge unsere plastischen Sinne? Für Adolf Loos steht fest: Gebirge verlangt andere Baugliederung als Ebene. Droben ist alles anders, Heimeliges dahin. Wer je eine klare Nacht am Gipfel verbracht hat, kennt den erhabenen Schauer, wenn die Täler im Dunkel versinken,
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der Horizont sich ins Endlose weitet, das Himmelszelt ins Unermessliche sich dehnt. Klein wird man, auf sich geworfen, sehr deutlich. Wundert’s, dass Nietzsches Zarathustra Bergsteiger, Gipfelstürmer ist? Entdeckung Natur der Berge? Blochs Text nennt Naturphänomene, doch sind die eingebunden in Alltagsgeschehen, Gebrauchsdinge – Kulturphänomene. Berge lehren, dass ihre Natur kulturell vermittelt ist. Was wir heute wahrnehmen, verdanken wir der Zeit, als Dillis am Tegernsee malte, der Romantik. Die Erregung des Gemüts durch das Erhabene fasziniert; das Ich tritt, mit einem Wort Adornos, aus der Gefangenschaft in sich selbst heraus. Wörtlich genommen: Eine Sucht des Reisens greift um sich; für unerreichbar gehaltene Regionen – etwa zahlreiche Alpengipfel – werden erschlossen und genauestens erforscht. Was wir heute über den Wandel der Gletscher wissen, verdanken wir Aufnahmen dieser Zeit. In der wilden, unberührten Natur erlebt das 19. Jahrhundert den Kontrast zur verbrauchten Industrielandschaft; im Tagwerk des Bergbauern den zur Plackerei des Proletariers und der Raserei des Profits; im autochthonen Bauen den zur verbildeten Stilarchitektur. Paradox: Die umwerfende technische Neuerung Eisenbahn befeuert diese Begegnung, hebt Naturerschließung auf eine neue Stufe. Um die Auslastung der ersten Gebirgsbahn, die Semmeringbahn (ab 1854) von Wien aus, zu verbessern, bereichert die Bahn selbst die Strecke mit alpinen Grand-Hotels; ebenso verfährt man bei der Pustertalbahn in Südtirol. Architekt der frühen Hotels war Wilhelm von Flattich, Hochbaudirektor einer der größten Bahnlinien Europas. Zweck und Form Beispiel Grand Hotel Toblach im Pustertal 1877. Die Anlage der freistehenden Bauten lassen an eine Maiensäss denken mit individueller Variation gemeinsamer Merkmale. Das Erdgeschoss gemauert aus örtlichem Naturstein; über geputztem Gesims Ziegel-Sichtmau-
erwerk der Hauptgeschosse, gefasst durch flachrustizierte Ecklisenen; dann das aufgesetzte Dachgeschoss – flach geneigtes Fafendach – als sichtbare Holzkonstruktion mit angedeuteten Balkenköpfen, Zierschalung, verzierte Pfettenbretter, Brettschnitzereien; schließlich vorgesetzte Balkone als verzierte Holzkonstruktion. Das ist die Antwort auf Chalets im Schweizerstil, dominant auf Weltausstellungen. Tirol macht einen Unterschied, ist malerisch, doch zurückhaltend, geordnet. Diesem Muster folgt das Bauen der Bahn unter Verwendung lokaler Baustoffe. Der regionale Bezug wird vom Architekten entschieden verfolgt – ein frühes Beispiel gebauter Corporate Identity. Technische Innovation steht nicht im Widerspruch zu Lokalkolorit, moderne Bauaufgaben nicht zu regionaler Identität. Heimatstil formuliert vielmehr Abscheu vor Vernutzung des Landes und geschmacklicher Entgleisung der Gründerzeit. Hausforschung dokumentiert alltägliches, noch vorwiegend bäuerliches Bauen und mündet in opulenten Bildbänden. Aus diesem Geist entstehen Regional-Architekturen wie Modenisme Catalan, finnische Nationalromantik, ungarischer „Jugendstil“, tschechischer Kubismus oder Amerikas Präriestil. Es ist die Zeit von „Arts and Craft“ und William Morris, der nicht müde wird, den Zusammenhang zwischen entfremdeter Arbeit und kultureller Verwahrlosung zu betonen. Nur Erneuerung des Handwerks, bäuerliches eingeschlossen, verspricht Umkehr. Die sozial-ästhetische Komponente der Hinwendung zum Bauen auf dem Land wird deutlich. Dort findet man: das „richtig Eingehängte“, die „Kameradschaft mit den Dingen“, die „Lebensluft um sie her“, die zeigt, „wie gut das Haus in Gang ist“. Ein wesentlicher Impuls des kommenden Funktionalismus … Der dem Heimatstil verbundene Wiener Publizist Johann A. Lux beobachtet um die Jahrhundertwende am Bauernhaus Natürlichkeit, höchste Zweckmäßigkeit, Einfachheit und von schlechter Dekoration freie Form. Jahre später schleudert Loos seinen Bann gegen das Ornament, nochmals später folgen seine Regeln für den, der in den Bergen baut. „Achte die formen, in de-
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nen der bauer baut. Denn sie sind der urväterweisheit geronnene substanz. Aber suche den grund der form auf … Veränderungen der alten bauweise sind nur erlaubt, wenn sie eine verbesserung bedeuten.“ (1913) Haus Khuner, an der Semmeringbahn gelegen, ist sein einziges Haus in den Bergen; dem Geist Flattichs ist es näher als dem Zeitgeist. Alpenstil
strebt ein konvex ausschwingender Baukörper einem sich emporschraubenden Zentrum zu. Gegenüberliegend läuft die vorgelagerte Terrasse in einem seitlichen Bergvorsprung aus. Das Hauptgebäude ist dunkel mit Fensterbändern und weit auskragendem Pultdach, aufsteigend zum Tal. Dem Zentrum mit Turm und technischen Aufbauten ist tiefer die Einhausung für die talseitige Seilbahn vorgelegt, die sich rückwärtig mit Richtungswechsel fortsetzt.
1918 ist die Alte Welt dahin – neue Staaten entwachsen dem Habsburgerreich, das Zentrum wankt. Mit Innsbruck bekommt Österreich ein neues Zentrum der Architektur, Innbegriff alpiner Moderne, Gegenpol zum dynamischen Berlin – anziehend wie abstoßend. Bindung der Berge bekommt neue Qualität. Verankerung im Gelände steht bei Clemens Holzmeister im Vordergrund: Das Hotel Drei Zinnen (1930), ein monolithischer, weiß geputzter Bau, bewältigt die enorme Dimension, indem der talseitige, dem Südtiroler Bauernhaus verpflichtete Giebel über einem Arkadengang eine differenzierte Erkerlandschaft entfaltet. Beim Wettbewerb für Hotel Seegrube nahe der Nordkettenbahn über Innsbruck (1927) sitzt das monolithische weiße Volumen auf einem sparsam differenzierten zweigeschossigen Natursteinsockel, wölbt sich konvex zum Tal und ist mit einem Eckturm exzentrisch betont. Dieser Wettbewerb wird zum Fanal der neuen Bauauffassung. Franz Baumann schlägt einen weißen Sockel vor, konvex zum Tal gebogen, der sich am höchsten Ende zu einem Turm aufschwingt. Auf dem Sockel erhebt sich, um die weite Terrasse zurückgesetzt, der dreigeschossige geschwungene Gästebau, bandartig befenstert und mit dunklem Holz verkleidet, bekrönt vom zum Tal ansteigend weit auskragenden Pultdach. Siegfried Mazaggs Idee ist eine asymmetrische Komposition geschichteter Baukörper, weiß geputzt, Fensterbänder, das oberste Geschoss als dunkle Holzkonstruktion mit Pultdach; exzentrisch kragt der Sockel halbrund übers Tal. Am dramatischsten die Massenentwicklung bei Lois Welzenbacher. Dem Berggrat folgend
Ausschwingende Baukörper, helle, massive Sockel, darüber dunkle Holzbauten, vorspringendes Pultdach, oft exponierte Konstruktion beherrschen nun das Bild. Oft findet ein exzentrisch vorstoßender Sockel in einem turmartigen Bauteil sein Gegengewicht. Baumann, Mazzag und andere variieren dieses Modell in den 1930er Jahren mehrfach; Welzenbacher geht weiter. Unverkennbar das gemauerte Bauernhaus mit massiven Wänden, kleinen Fenstern, aufgesetzten oder freistehenden Bergeräumen in luftiger, sonnenverbrannter Holzkonstruktion. Neu der Schwung – eine ausgreifende Geste, ganz Gelände und Klima verpflichtet. Vor allem Welzenbacher treibt diese Dynamik voran, spricht vom Haus als atmendem Organismus, jede Stunde des Tages der Sonne zugewandt. Vom Werkzeug hat sich das Haus zum Drehort gewandelt, der Bergbauer zum selbstbestimmten Ski- oder Motoradfahrer jenseits der Baumgrenze, frivoler Hüttenzauber inbegriffen wie beim Maler-Architekten Alfons Walde. Bemerkenswert der weitere Verlauf. Gio Ponti entwirft nach neuer Art 1935 ein Sporthotel. Es liegt in Südtirol, seit 1919 italienisch, seit 1922 faschistisch. Wenig später plant er einen Seilbahnverbund von Bozen bis Cortina mit zahlreichen Hotels, unverkennbar nach Innsbrucker Vorbild. Nun verkündet er im Namen des neuen Staates: Abkehr vom „nicht-italienischen“ Satteldach und starren Haus; stattdessen das „Nuovo Schema“: Flexibilität, Ökonomie, Expansion unterm expressiven Pultdach. Ein gutes Jahrzehnt später knüpft Carlo Molino mit seinen Bauten im Aostatal daran an. Auch wenn sein „Maniero moderna“ alle Regeln sprengt und der Bau sich vom Boden löst, be-
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zeugen zahlreiche Skizzen die Faszination von „Stadeln“, Inspiration seiner Konstruktionen. Franco Albinis Jugendherberge am selben Ort wenige Jahre steht dem in nichts nach. Bodenständiger bleibt Eduardo Gellner 1950 mit seinem Kinderhotel; das „Schema“ wird polygonal, das Volumen offen, die Materialien vielfältig. Der Bau ist Initial für ein neues Ortszentrum von Cortina; vor allem Auftakt für ein Feriendorf (1954–63) des ENIKonzerns für 6000 Gäste mit Ferienhäusern, Hotels, Nahversorgung, Gemeinschaftseinrichtung. Intensive Hausforschung Gellners inspiriert seine moderne Gestaltung, Typisierung und Vorfabrikation inbegriffen. Bemerkenswert: die landschaftliche Einbindung Hunderter Ferienhäuser in einen luftigen, erst beim Bau gewachsenen Wald. Tourismus hat sich den Massen geöffnet. Fünf Jahre später beginnt in Les Arcs Savoie unter Charlotte Perriand die Planung einer Ski-Stadt, die heute 30000 Betten bietet. Verdichteter Geschossbau, autofreie Zone, Waldstreifen, Orientierung zu Sonne und Landschaft, viel Holz und Balkon – das Schema wird modernisiert, doch die schiere Masse ergibt ein Weder-Dorf-noch-Stadt. Andere Wege Zurück ins Inntal der frühen 1930er Jahre. Bei Imst baut Paul Schmitthenner ein kleines Familienhaus – kein Bauern-, kein Tirolerhaus, sondern aus der Landschaft gedacht in dem Sinn, dass es nutzt, was die Gegend unmittelbar bereitstellt – Holz der Wälder, Stein des Bauplatzes, handwerkliches Vermögen örtlicher Bauleute. Eingeschossig, wohlproportioniert, hinreichend befenstert, verschaltes Fachwerk, geschindeltes Satteldach – und vom Boden gelöst durch zurückgesetzte Fundamentstreifen. Behaglichkeit statt Zeitgeist. Den fand die „Gläserne Kette“ Jahre zuvor im Kristall. Begleitet von expressionistischem Pathos der Menschheitsbrüderschaft proklamiert Bruno Taut ein neues Formgesetz: Transparent wie Kristall, offen, referenzlos, sich gleichwertig mehrend, verdichtend zu neuen Schöpfungen wie Stadt-, Bergkronen, „alpine Archi-
tektur“. Ein neues Wachstumsprinzip, dem technischen Zeitalter gemäß, sollte das organische Wachsen ablösen, wie es Goethe in der Metamorphose der Pflanzen oder Louis Sullivan mit seinem „form follows function“ formuliert hatte – ein im Keim angelegtes Programm, das seine Funktion über Blüte, Frucht entfaltet, verfällt und neu keimt im ewigen Kreislauf. Dagegen das Prinzip der Kristallisation, mechanisches Wachsen selbstidentischer Figuren zu Gebilden großer Massen. In seinem „Arbeiter“ von 1932 gebraucht Ernst Jünger das Bild der Kristallisation für die totale Mobilmachung der Technik. Die Architektur muss noch warten; Gebilde wie das Planetarium Jena 1926 sind Ausnahmen. Buckminster Fullers Domes ab den 1940er Jahren verbreiten die Idee. Über Wachsmanns Sommerakademie Salzburg wird der Salzburger Architekt Gerhard Gerstenauer damit vertraut. Bei seinen Bauten in Badgastein 1967– 72 werden sie Architektur: als Teil der Überdachung seines Kongresszentrums und als geodätische (Schutz und Aussichts-)Kugeln im ewigen Eis. Mit dem Zerfall des jahrzehntelang sakrosankten international style kehrt das Interesse am Alltagsbauen zurück. 1961 erscheint Roland Rainers „Anonymes Bauen im Burgenland“, 1963 Raimund Abrahams „Elementare Architektur“. Bernard Rudofskys Ausstellung „architecture without architects“ erreicht 1964 breite Wirkung. Der kritische Rationalismus, ab Beginn der 1980er Jahre von Frampton, Lefaivre und Tzonis eingeführt, belebt die Debatte. Friedrich Achleitner fragt 1997: Ist Region ein Konstrukt? Schwindel, falscher Zauber? Ja im banalen Sinn, dass jeder Begriff Vorannahmen des Interpreten unterliegt, sein Gegenstand geformt, konstruiert ist. Nein, wenn diese Dialektik zur Annahme führt, den Gegenstand so loszuwerden. Jahre später präzisiert Achleitner, regionale Architektur gebe es immer. Formale Festlegungen verwirft er, fordert stattdessen eine Architektur, die sich aus den kulturellen, personellen und ökonomischen Ressourcen eines Landes entwickelt – Architektur der Region, ob simuliert, konserviert oder interpretiert.
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Zum Gipfel Ab den späten 1950er Jahren erfährt das Bauen in den Bergen neue Impulse. In Tirol knüpfen Robert Schuller, Josef Lackner und Othmar Barth an Dynamik und Expression der 30er Jahre an. In Graubünden verschmilzt Rudolf Olgiati Bündner Steinbau mit Corbusiers Stil zu einer eigenen Moderne. Im Tessin macht Anfang der 1970er Jahre die „tendenza“ von sich reden, die lokale Tradition mit dem Rationalismus verbindet; wenngleich eher ein Phänomen der voralpinen Agglomerationen, wären die frühen Villen Mario Bottas oder Luigi Snozzis kaum denkbar ohne das karge Bauen in den Seitentälern. Die mitschwingende 68er-Kritik am Konsumismus steht in krassem Kontrast zur heute totalen Mobilisierung der Massen im Sport- und Vergnügungszirkus in technoidem, möglichst spacigem Gewand. Die Tendenza appelliert an die Autonomie der Architektur, ein der Form-auf-den-Grund-Gehen. Kein Bild, kein Programm. Peter Zumthors Bauen in den Bergen lässt sich so charakterisieren, mit Betonung des Materials. Bei streng stereometrischem Zuschnitt der Räume bewirkt alleine die Umhüllung der Therme mit Valser Gneis den starken Ortsbezug. Mit kulinarischer Kultivierung des Materials hat das wenig zu tun – lebendig wird es durch Kontrast. Die Kapelle Sogn Benedetg: statt Stein- ein Holzbau, rundspitz statt rechtwinklig. Ein Boot, eine Handschale, ein gefalteter Schutzmantel? Dem Betrachter wird einiges zugemutet, doch dieser geschindelte Leib gehört in die Berge. Verfremdung des Naheliegenden auch bei Walter Agonese. Eine merkwürdige Idee nennt er die Absicht, beim Verkaufspavillon eines Weingutes eine dicke Betonplatte auf Eichenschwellen zu hieven. Ein Paradigmenwechsel während der Planung des betonierten Kellers – Anspielung auf eicherne Spundwand, das Holz der Fässer? Die Erweiterung einer Villa mit flachem Walmdach als Weiterbau und Zusatz – nun mit spitzem Beton-Walmdach, das in der Ferne bei alten Bauten wieder auftaucht – object trouvé verkehrt? Noch mehr auf Distanz geht Valerio Olgiati, der heute
referenzlose Architektur fordert. Anstelle eines abgebrochenen Stalls steht in einem Bergdorf (2007) sein Abbild als Silhouette aus rot eingefärbtem Beton mit eingelegten Ornamenten aus bäuerlichem Schnitzwerk; ein Teil des Volumens nimmt ein nach oben offenes Atrium, den anderen ein Studio ein, übers Atrium belichtet. Beim Besucherzentrum Schweizer Nationalpark (2008) sind zwei identische Würfel so ineinandergeschoben, dass im Schnittpunkt von einem zum anderen sowie zu den beiden Obergeschossen gewechselt werden kann. Die Würfel sind je Seite und Stockwerk identisch befenstert, die helle monolithische Wand in Wärmedämmbeton schließt nach oben so scharfkantig ab wie zur Seite – reinste Geometrie, lediglich durch geringe Stockwerksversätze gestört. Olgiatis monolithische Würfel der Schule in Paspels 1998 und des Gelben Hauses in Flims 1999 sind Zuspitzungen volumenbetonter Kuben, die auch außerhalb Graubündens seither Schule gemacht haben. Die reine Geometrie wird polygonal gebrochen. Zum Turm gestreckt, dem Grundstück folgend zum Fünfeck geöffnet, unregelmäßig befenstert und mit dezenten Dachneigungen versehen, steht der Wohnturm von Miller & Maranta im Garten der Villa Garbald (2004); Farbigkeit und Haptik des Sichtbetons beziehen sich auf den Ort. Vergleichbar monolithische Turmhäuser von Bearth & Deplazes (2001) in Sichtbeton mit tiefen Fensterscharten oder aus Holz (1999), monochrom dunkel mit bündig sitzenden Fenstern. Bekanntestes Polygon mag die Monte-Rosa-Hütte sein, 2009 mit einem Studententeam von Andrea Deplazes realisiert. Extremes Klima und energetische Selbstversorgung (Sonne) waren formgebend. Die vorfabrizierte Holzkonstruktion wurde mit dem Hubschrauber geliefert. Eine umlaufende Treppe erschließt die konzentrisch angeordneten Zimmer auf vier sich nach oben verjüngenden Geschossen, gewährt wie der ebenerdige Speiseraum Panoramablicke, während die Hülle sonst mit Blech und Sonnenkollektoren weitgehend geschlossen bleibt. Nur kristalline Architektur, so Deplazes, vermag dem maßstabslosen Gletscher standzuhalten. Referenzlos? Die Bertolhütte von Eschenmo-
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sern (1975) wirft einen Schatten, während die heute umstrittene Schwarzensteinhütte (2018) im Schatten der Monte-Rosa-Hütte steht. Mit der Gipfelstation auf dem Chäserugg (2015) widersprechen & de Meuron dem kristallinen Postulat. Der Holzbau mit geneigtem, weit auskragen-dem Dach, vielen Fenstern und Veranden beschwört klassischen Zimmermannsbau mit überdimensionierten Hölzern – auch die expressiven Streben von Baumann und Ponti fehlen nicht. Die Presse spricht von Orientierung an ländlichen Typologien, vernakularer Architektur. Ins Tal Alltägliches Bauen kommt mit Spitzenarchitektur wenig in Berührung, doch ist es unser täglich Brot. Hohes Niveau mit Breitenwirkung bleibt die Ausnahme. Ende der 1970er Jahre macht Vorarlberg mit Bauten von sich reden, die erschwinglich waren, aus Holz, mit Satteldach. Was mit den Baugruppen um Dietmar Eberle und Roland Gnaiger beginnt, in der Holzarchitektur von Hermann Kaufmann und Helmut Dietrich seine Entsprechung fand, hat heute im Bregenzerwald zu einer Architekturlandschaft geführt, die weniger mit Highlights glänzt als mit nützlicher Geradlinigkeit, wie sie handwerkliche Kultur des Holzbaus hervorbringt, technologisch immer up to date. Was sich so im Kontext entfaltet und ihn weitet, wird Architektur. Welches Vermögen man braucht, gerade das Banale nicht mit Exzentrischem zu parieren, zeigt Bernardo Bader eindrucksvoll mit seinem Dorfzentrum in Steinberg, 2014. Hat der Architekt den Geist des Ortes getroffen oder dieser sich selbst begeistert? Aus gebräuchlichem Bauprozess schöpft Florian Nagler die Kraft, um in Bayrischzell den beim Tannerhof, üblichen Gästepavillons mit kleinen Wohntürmen neue Flügel zu verleihen. Aus dem Ort heraus entwickelt Armando Ruinelli sein Werk in Soglio. Inspiriert durch Alder, beginnt er mit Neubauten für Bauern, „anonymes Bauen“ feinster Art; sein Umgang mit alten Häusern und Ställen zeigt ihr Potenzial für heutige Nutzung im Zusammenspiel von Beton, wertvollen Hölzern, alten Mauern – höchs-
te Qualität der Bearbeitung statt gesuchter Kontrast. Von vergleichbarer Qualität ist ein Umbau von Corinna Menn in Samedan, der Bauphasen des 16. und 20. Jh. integriert und um wenige plastische Elemente ergänzt, die den monolithischen Steinbau zum Tanzen bringt. Weiterbauen im fast Gleichen, so ein Motto von Gion Caminada. In Vrin setzt er sich Jahrzehnte mit dem Strickbau der Bergbauern auseinander, gewinnt ihnen bei Wohn- ebenso wie Wirtschaftsbauten neue Qualitäten ab und erreicht eine Souveränität, um sensible Themen wie ein Totenhaus für das Dorf zu meistern. Bauen ist ihm Arbeit in der Gemeinde. Das bleibt, auch wenn er über seinen Ort hinauswirkt. Das Gasthaus in Valendas (2014) ist Ortszentrum, wiederbelebt dank einer aktiven Gemeinde und in seiner heutigen Gestalt eine Synthese aus sorgfältiger Erhaltung, Abbruch und Neubau. Es reflektiert Ereignisse und Geschehen im Dorf und ist unerwartet und gewöhnlich gleichermaßen. In aktuellen Wohnprojekten (2019) geht Caminada der Frage nach, welche neuen Bauformen sich aus der Begegnung heutiger Lebensformen mit tradiertem Leben in den Bergen ergibt. Dem Wie gilt sein Interesse, das Ob steht außer Frage. Gebräuchlichkeiten werden relevant. Pragmatismus neu? Die grundsoliden Wohnbauten Roman Hutters im oberen Rhonetal enthalten sich jeden Materialkultes, Formalismus oder Detailverliebtheit. Sie zeugen von gelebtem Bauhandwerk. Bei Umbauten fällt das Neue im Kontrast zum Alten sachlich aus, wohlproportioniert, fein im Baustoff. Erneut „um 1800“? Bauen in den Bergen zeigt heute eine große Bandbreite. Was Architektur ausmacht: dass sie in der Auseinandersetzung entsteht, gilt hier besonders. Die beeindruckende Kulisse fordert zur Auseinandersetzung heraus, ist kostbare Anregung. Jedes hier vorgestellte Bauwerk reagiert, jedes auf eigene Weise, jedes gewinnt, keines verliert.
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Matthias Krinzinger Originalbeilage Nr. 33
Selbstportät – Briefmarke im Stile der 1960er Matthias Krinzinger, 2019
Die Briefmarke zeigt ein Porträt von mir im Stile der 1960er Jahre. Der Entwurf ist kein Stich, das Gesicht wurde in einem Grafikprogramm aus mehreren historischen Briefmarken zusammengefügt. Unter anderen wurden Teile von Beethoven, Makart und Hofmannsthal verwendet. Jedem Magazin ist eine dieser gummierten Briefmarken in einer A6 Einsteckkarte mit Schutzfolie beigelegt. Die Briefmarken sind keine Reklamemarken, sondern besitzen einen Portowert der Österreichischen Post – sie sind für Quart-Leser auch benutzbar. Es gibt zwei Auflagen mit unterschiedlicher Farbgebung und Portowert. Dem Magazin liegen 98 % Marken mit höherem Wert und 2 % Marken mit niedrigerem Wert, aber höherer Seltenheit bei. Matthias Krinzinger
Die personalisierte Marke der Österreichischen Post AG ist für viele Sammler die Gelegenheit, spezielle Anlässe entsprechend zu würdigen, für die die Ausgabe einer Sondermarke aus verschiedenen Gründen nicht möglich ist. Sie kann aber genauso von Nichtsammlern – wie im vorliegenden Fall – zur Eigenwerbung o. ä. verwendet werden. Der große Vorteil gegenüber Markenausgaben der 60er Jahre, denen dieses Selbstporträt nachempfunden ist, besteht darin, dass nun auch lebende Personen abgebildet werden können. Dieses Privileg stand damals nur dem Bundespräsidenten zu. Und dies hat weniger mit Narzissmus zu tun als vielmehr mit dem Drang des Menschen, bestimmte herausragende Ereignisse möglichst vielen anderen Menschen sprachlich oder optisch mitzuteilen. In diesem Sinne Gratulation zu der Marke, und möge diese nicht nur auch den Nichtphilatelisten gefallen, sondern sich auch auf dem einen oder anderen Brief wiederfinden, als Geschenk an einen lieben Menschen. Helmut Kogler, Präsident des Verbands Österreichischer Philatelistenvereine
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„Sie retten die Sprache.“
Unbedeutendes Detail oder biografischer Wendepunkt? Paul Celan war im Sommer 1948 für zwei Tage in Innsbruck. Von Peter C. Pohl
Gewiss, Paul Celans kurzer Aufenthalt in Innsbruck im Sommer 1948 findet in der Celan-Forschung Erwähnung. Zumeist werden einige der folgenden Daten referiert. Der siebenundzwanzigjährige Dichter befand sich, aus Wien kommend, auf dem Weg nach Paris. Er kam am 4. Juli in der Tiroler Hauptstadt an und blieb eine Nacht. Am Vormittag des ersten Tages ging er in das Institut Français d’Innsbruck in der Karl-Kapferer-Straße, wo die Tochter des Brenner-Herausgebers Ludwig von Ficker als Bibliothekarin arbeitete, und lieh sich einen Roman aus. Am nächsten Tag suchte er den betagten von Ficker in Mühlau auf. Gemeinsam spazierte man zum Grab Georg Trakls, Celan legte dort Blumen sowie eine kurz zuvor abgebrochene Weidenrute nieder. Zwei Mal trug er im privaten Kreis Gedichte vor, darunter die Todesfuge. Das Gedicht, das die Grundlage seines späteren Ruhms bildete, war schon in Celans erstem Gedichtband Der Sand aus den Urnen (1948) erschienen. Jedoch ließ der Autor den in Wien, bei A. Sexl, gedruckten Band wegen schwerwiegender Druckfehler makulieren; in Mohn und Gedächtnis (1952) wurde das Gedicht erneut publiziert. Ein überarbeitetes Maschinenmanuskript des Erstlings ließ Celan am 5. Februar 1951 von Ficker zukommen. Es befindet sich im Brenner-Archiv der Universität Innsbruck.* Celan schrieb aus Innsbruck nicht zuletzt zwei Briefe: Einer ging an seinen in Bukarest lebenden Landsmann aus der Bukowina, Alfred Margul-Sperber, Celans Unterstützer und Vermittler; ein anderer an Celans Czernowitzer Geliebte Ruth Lackner, mit der er „eine Beziehung von großer Nähe [geknüpft hatte], die freilich nicht eine erfüllte Liebesbeziehung genannt werden kann“1. In den Briefen berichtet er von den
privaten Lesungen und dem Eindruck, den er und seine Texte auf die Anwesenden machten. Über die Aufreihung dieser Informationen kommt man in der Forschung, aus scheinbar guten Gründen, kaum hinaus. Zu flüchtig erscheinen die Begegnungen in, erscheint die Begegnung mit Tirol. Zu unbedeutend, zu friedlich, möchte man sagen, verhält sich das Ganze im Vergleich zu Celans sonstigen Widerfahrnissen. Bekanntlich richtet sich der Fokus der breiteren Öffentlichkeit auf die tragische Liebesbeziehung, die Celan und Ingeborg Bachmann unterhielten. Sie erlag drei Jahre nach Celans Freitod – er ertränkte sich im April 1970 in der Seine – schweren Verbrennungen, die sie sich zuzog, weil sie mit einer brennenden Zigarette eingeschlafen war. Überdies beschäftigt man sich mit Celans Problemen im deutschen Literaturbetrieb der 1950er Jahre. Während der Nienburger Tagung der auch aus ehemaligen Flakhelfern und Hitlerjungen bestehenden Gruppe 47 im Jahr 1952 lachte man den Exilanten aus. Man verglich seinen Vorlesestil gar mit der Sprechweise Joseph Goebbels’. Zudem bezichtigte die Witwe Yvan Golls Celan ab 1953 des Plagiats – eine infame Lüge, die sich auf Text-Zeugen stützte, die Claire Goll eigens manipuliert hatte. Und selbst ein prinzipiell positives Ereignis, die Verleihung des Bremer Literaturpreises 1958 an Celan – damals immerhin der zweitwichtigste Preis deutschsprachiger Literatur –, war von unschönen Umständen begleitet, die dem späteren Preisträger größtenteils verborgen blieben: Es dauerte vier Jahre, ehe man sich auf den Kandidaten 1 Wolfgang Emmerich: Paul Celan (= rowohlts monographien). Reinbek bei Hamburg 1999, S. 41.
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Celan hatte einigen können. Gewählt wurde er auch, weil man derart die Wogen zu glätten trachtete, die die Verleihung des Preises 1956 geschlagen hatte. Der Preis ging an Ernst Jünger, dessen provokativ militaristischer Auftritt für Unmut sorgte. Intensiv diskutiert wird nicht zuletzt das Werk des Dichters deutscher Sprache der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Celan, an den Ausdrucksmöglichkeiten der klassischen Moderne und Avantgarden geschult, drängte darauf, die Bedeutung des Gedichts grundlegend zu verändern. Wie er anlässlich einer Umfrage der Librairie Flinker 1958 schrieb, sei die deutsche Sprache nach dem Krieg zur „grauen Sprache“ geworden: Deutsche Lyrik nach 1945, „Düsteres im Gedächtnis, Fragwürdigstes um sich her“, sei „nüchterner, faktischer geworden, sie mißtraut dem ‚Schönen‘, sie versucht, wahr zu sein“.2 Das vom Gedicht zu vermittelnde Faktische war Celan die jüngste Vergangenheit, der nationalsozialistische Massenmord an den Jüdinnen und Juden, dem seine Eltern zum Opfer gefallen waren. Es ist die Shoah, die Celans Gedichte in die deutsche Sprache – seine Muttersprache und die Sprache der Mörder seiner Eltern – bringen. In Anbetracht dieser in mehreren Gedichtbänden umgesetzten poetischen Bestrebungen einerseits, des tragischen Lebensschicksals mitsamt seiner besonderen Feind-, Freund- und Liebschaften andererseits erscheint es naheliegend, die Innsbrucker Anekdote als eine Marginalie und Ausnahme aufzufassen. Als einen unbedeutenden Moment während einer mit großen Hoffnungen, aber auch Ängsten verbundenen Übersiedlung, der sich ein ernüchterndes, gleichwohl produktives Exil anschloss. Unterzieht man die Informationen über den Innsbrucker Zwischenstopp jedoch einer idiosynkratischen Lektüre, finden sich hier bereits feinste Haarrisse. Es sind, wohlverstanden, Geringfügigkeiten, die die hier favorisierte – nicht empfindsame oder einfühlende, sondern empfindliche – Leseweise fokussiert. Ihr Ziel ist es, dem Aufenthalt Celans in Innsbruck eine andere, womöglich „grauere“, Bedeutung abzugewinnen – was ihrem Gehalt
keinen Abbruch leisten muss. Im Gegenteil. Wichtige Dokumente hierfür sind die Briefe von Fickers und Celans sowie die Erinnerungen von Birgit von Schowingen-Ficker, der damaligen Bibliothekarin. Mehrfach sah die später in Deutschland Wohnende Celan, zuerst an jenen Sommertagen 1948 in Innsbruck, sodann bei einem Trakl-Vortrag ihres Vaters in Paris 1953 und schließlich in Freiburg im Breisgau. Dort begegnete sie Celan sowohl anlässlich einer Lesung seiner Übertragungen aus dem Russischen 1967 als auch am 26. März 1970. Letzteres war ein Ereignis, von dem Celan seinem Freund Franz Wurm ausführlich in einem Brief berichtet. Er spricht dort von einer „Lesung im kleinen Kreise. Heidegger war da, die Tochter Ludwig von Fickers, zwei Assistenten von Prof. Baumann, der eine von ihnen, er stammt aus Brünn, hatte schon vorher meine Gedichte ins ‚Absolut-Metaphorische‘ verrückt.“3 Der in Celans Brief erwähnte Assistent ist Gerhard Neumann. Er arbeitete hernach als ordentlicher Professor für Neuere deutsche Literaturwissenschaft an mehreren deutschen Hochschulen, zuletzt an der LudwigMaximilians-Universität in München, und machte sich als Kafka-Interpret einen Namen. Zudem war er der Fahrer, der Celan und Heidegger 1967 zu Heideggers Hütte in Todtnauberg und dann weiter „zum 35 Kilometer südöstlich von Todtnauberg gelegene Horbacher Moor“4 brachte. (Dazu weiter unten mehr.) Was Neumann 1970 in dem in Poetics publizierten Aufsatz Die ‚absolute‘ Metapher. Ein Abgrenzungsversuch am Beispiel Stéphane Mallarmés und Paul Celans schrieb, bezeichnet Celan als Ärgernis. In dem Aufsatz erklärt Neumann, dass der „Eigentlichkeits2 Paul Celan: Antwort auf eine Umfrage der Librairie Flinker, Paris, in: Paul Celan. Gesammelte Werke Bd. 1. Frankfurt am Main 2000, S. 167f. 3 Paul Celan/Franz Wurm: Briefwechsel, hg. von Barbara Wiedemann. Frankfurt am Main 2003, S. 239f. 4 Paul Celan: Sämtliche Gedichte, kommentierte Ausgabe, hg. von Barbara Wiedemann. Berlin 2018, S. 994.
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grund“ der Celan’schen Metaphern im Dunkel liege: „Ihr Bezug bleibt apokryph.“5 Das war, auf hohem Niveau gesprochen, eine gängige Umgangsweise mit Celans Gedichten. In der Laudatio, die der Wolfenbütteler Bibliotheksdirektor Erhart Kästner bei der Verleihung des Bremer Literaturpreises auf Celan hielt, bezieht er sich auf dasselbe titellose Gedicht der unmittelbaren Nachkriegszeit wie Neumann. Alles sei dort „bloß aus Anklängen, Bilderketten und wörtlichen Wahlverwandtschaften gemacht, eine Sache der Worte unter sich sozusagen, eine Angelegenheit, die die Worte unter sich ausmachen sollen. Ich brauche hier nicht davon zu sprechen, daß dies alles seine lange Überlieferung und Begründung seit dem großen Mallarmé hat, ich brauche Ihnen die Namen, in deren Fluß so ein Dichten steht, die Namen Gerard de Nervals, Rimbauds, des großen Paul Valéry, Lautréamonts, Eluards, der Golls nicht oder nur eben zu nennen.“6 Celan wandte sich nach der Verleihung an Kästner und bat, den ihn peinigenden und für den Laudator peinlichen Vergleich mit dem Ehepaar Goll – dessen bessere und lebende Hälfte Celan ja des Plagiats bezichtigte – aus dem zu veröffentlichenden Text zu entfernen. Dies gelang Kästner nur halb. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung druckte am 31. Januar 1958 den Passus, die von Celans Verlag (DVA) erstellte Broschüre zur Preisverleihung weist den Vergleich dann, wie nachfolgende Drucke, nicht mehr auf. Wie Neumann schätzte Kästner Celans Lyrik wegen ihres ästhetischen Anspruchs auf Fortsetzung der Moderne. Doch Celan, es wurde angedeutet, war es dabei nicht ums Apokryphe oder um Bilderketten bestellt. Seine Gedichte hatten Wirklichkeit – ihre Daten waren, wenn man sie denn verstehen wollte, unmissverständlich. Birgit von Schowingen-Ficker nun ist nicht nur Zeitzeugin dieser denkwürdigen Konstellationen, sondern vielmehr selbst Akteurin. Auch sie erinnert sich „nach Heideggers Tod, wohl 1976“, an die Lesung bei Prof. Baumann: „Celan las aus Sprachgitter (?)[.] Schweigen, Beklom-
menheit, sein unaussprechlich selbstzweiflerischer, fast kindlicher, unvergeßlicher Ausdruck. Ich sagte ihm: ‚Vous sauvez la langue[.]‘ [Sie retten die Sprache.] Wohl hat er Sprache an äußersten Grenzen hörbar, fühlbar gemacht, feinste Sprachregungen zum Schwingen gebracht, aber ihn selbst konnte die Sprache nicht retten … Seine Leiche wurde am 5. Mai 1970 aus der Seine geborgen.“7 Die Freifrau verortet Celans dichterische Befähigung in einer Art synästhetisch-haptischen Erweiterung des sprachlich Möglichen durch Konzentration aufs ästhetische (Klang-)Material. Dass auch ihr das von Celan Angestrebte entgangen zu sein scheint, macht ihr Umgang mit jenem Gedicht deutlich, das sie der Erinnerung an Martin Heidegger (!) handschriftlich hinzufügt. Todtnauberg enthält Zeilen, die Celan nach dem Besuch von Heideggers Hütte 1967 in deren Gästebuch eingetragen hatte. Das Gedicht nimmt sie auf und spricht „von einer Hoffnung, heute, auf eines Denkenden kommendes Wort im Herzen, […].“8
5 Gerhard Neumann: Die ‚absolute‘ Metapher. Ein Abgrenzungsversuch am Beispiel Stéphane Mallarmés und Paul Celans, in: Poetics, 3 (1970), S. 188–225, hier S. 210. 6 Erhart Kästner: Wo Verschlüsselung ist, da ist Aufschluß. Aus Erhart Kästners Rede zur Verleihung des Bremer Literaturpreises an Paul Celan. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung (31. Januar 1958), S. 8. So auch im maschinengeschriebenen Manuskript, das im Bremer Staatsarchiv unter: Staatsarchiv Bremen, Bestand 7,5284, lagert. Verändert dagegen schon in: Paul Celan: Ansprachen bei der Verleihung des Bremer Literaturpreises an Paul Celan. Stuttgart 1958, S. 3–9. 7 Nachlass Birgit von Schowingen-Ficker, M05 (Erinnerungen an Martin Heidegger), handschriftliche Notiz (62-01-14), Brenner Archiv Innsbruck. 8 Celan: Sämtliche Gedichte (s. Anm. 4), S. 286.
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Die Annahme, die angesprochene Hoffnung hätte darin bestanden, Heidegger würde sich zum Nationalsozialismus und seinem Wirken während dieser Zeit äußern, ist naheliegend. Ein Brief Celans an seine Frau, Gisèle Celan-Lestrange, vom 2. August 1967 bestärkt die Vermutung: „Heidegger war auf mich zugekommen – Am Tag nach meiner Lesung bin ich mit Herrn Neumann […] in Heideggers Hütte im Schwarzwald gewesen. Dann kam es im Auto zu einem ernsten Gespräch, bei dem ich klare Worte gebraucht habe. Herr Neumann, der Zeuge war, hat mir hinterher gesagt, daß dieses Gespräch eine epochale Bedeutung hatte. Ich hoffe, daß Heidegger zur Feder greifen und einige Seiten schreiben wird, die sich auf das Gespräch beziehen und angesichts des wieder aufkommenden Nazismus auch eine Warnung sein werden.“9 Die Hoffnung, die nicht allein Celan hatte, trog bekanntlich. Heideggers Äußerungen über die NS-Zeit im Rückblick stehen in puncto Verbindlichkeit denkbar weit hinter den Aussagen während der NS-Zeit zurück. Auch von Schowingen-Ficker bekümmert sich in ihren Reminiszenzen wenig um das Celan Bedrängende: den aufkommenden Antisemitismus, die Goll-Affäre – und die auf seinem dichterischen Medium lastende Vergangenheit. Vielmehr firmiert Celan als Retter einer Sprache, die – nicht die der ermordeten Mütter und ihrer Mörder – die Sprache einer fernen Vergangenheit ist. Es könnte nun wohlfeil erscheinen, das in einfühlsamer Rhetorik verpackte Unverständnis einer Lyrik gegenüber zu monieren, die wahr und unschön sein will, aber kompliziert ist und oft hermetisch wirkt. Ist es nicht kleinlich, der literarisch überaus Gebildeten fehlendes Gespür für Subtiles und Schwieriges vorzuwerfen, das sich historisch und literarisch vermeintlich noch besser Informierten nicht erschlossen hat? Ja, aber gerade die kleinen Missverständnisse in dem Celan zweifelsohne wohlgesonnenen Umfeld ergänzen das Wissen über dessen Schwierigkeiten, künstlerisch und menschlich
Fuß zu fassen. Man kann derlei Probleme aus unterschiedlichen Sozialisierungen, divergenten kulturellen Positionen und abweichenden Ansprüchen erklären – allesamt Aspekte, die es für eine historisch fundierte Annäherung an Celans Leben, Werk und Wirkung zu bedenken gilt. Ihre Relevanz bestätigt auch von Schowingen-Fickers Erinnerung an das erste Treffen: „Als Paul Celan auf der Reise von Wien nach Paris 1948 in die Bibliothek des Institut Français in Innsbruck, die ich damals führte, eintrat – an jenem Vormittag kannte ich noch nicht seine Bedeutung als Dichter –, wurde mir ein starkes Erlebnis zuteil: Freudig wurde mir bewußt, daß es die Welt noch gibt, die zu meiner Kindheit und Jugend und später immer wieder zu meinem Leben gehörte, die der sensitiven, feinen jüdischen Erscheinungen, die das geistige Leben in Österreich bereicherten.“10 Allein, diese Welt von gestern war nicht mehr vorhanden – wohl aber das Bedürfnis, Celan zum Repräsentanten einer Vergangenheit zu stilisieren, deren Untergang Grundlage seiner Dichtung war. Solcherlei Vereinnahmungsstrategie ist anderen Zuschnitts als die von den westdeutschen Vertretern des literarischen Feldes gewählte Taktik. Positionierten sie Celans Lyrik in der Kontinuitätslinie der ästhetischen Moderne, sahen die von Fickers ihn die jüdische Tradition fortsetzen. Aus Celans Gedichten hörte Ludwig von Ficker eine „ergreifende Rückverbundenheit […], die aus der Weise der Lasker-Schüler sprach und nun in ihnen elegisch nachklingt“.11 In blumigen Worten beklagt er die Zerstreuung der Juden, die scheinbar aus der 9 Paul Celan – Gisèle Celan-Lestrange: Briefwechsel, mit einer Auswahl von Briefen Paul Celans an seinen Sohn Eric, übers. von Eugen Helmlé und Barbara Wiedemann, hg. und kommentiert von Bertrand Badiou in Verbindung mit Eric Celan. Frankfurt am Main 2001, S. 479. 10 Nachlass Birgit von Schowingen-Ficker, M04 (Erinnerungen an Paul Celan, ohne Datum), Brenner-Archiv Innsbruck. 11 Ludwig von Ficker: Briefwechsel 1940–1967. Innsbruck 1996, S. 195.
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absteigenden okzidentalen Moderne resultierte, gegen die der Brenner bereits in der Zwischenkriegszeit ein programmatisches katholisches Gegengewicht zu formieren suchte. Die heilsgeschichtliche Vorstellung eines christlichen Europa vor Augen, begann man das Bild vom Judentum zu differenzieren.12 Es wurde nun weniger als Symptom einer verpönten Zivilisation denn als monotheistisches Gegenmodell aufgefasst. Wenn von Ficker Celan mit der ihm hochgeschätzten, kurz zuvor im Heiligen Land verstorbenen Lasker-Schüler verglich, dann weil er Celan in erster Linie als jüdischen Dichter verstand. Celan habe die Bezugnahme auf Lasker-Schüler anfangs irritiert, wie er Alfred Margul-Sperber mitteilt. Er war zum Brenner-Herausgeber gekommen und hatte ihm Gedichte vorgelesen. „Es war nicht leicht für mich, dem Freund Trakls Gedichte vorzulesen, Ludwig von Ficker gehört auch nicht mehr zu den Jüngsten […], bei solchen Menschen darf man auch vermuten, daß sie die Freundschaft eines Dichters wie Trakl anderen Dichtern gegenüber verschließt […] und so war ich eigentlich darauf gefaßt, nicht die Aufnahme zu finden, die ich mir erhoffte.“13 Und doch kam es anders; denn man habe ihm gesagt, er sei „dazu berufen, das Erbe von Else Lasker-Schüler anzutreten. Zu diesen Worten wußte ich mir anfangs nichts genaues zu denken, weil ich – zu meiner Schande sei es gestanden – zu Else Lasker-Schülers Gedichten eine viel weniger starke Beziehung habe als etwa zu Trakl und Eluard, und auch deshalb, weil ich nicht wußte, was diese Gedichte Ludwig von Ficker bedeuteten.“14 Es habe ihn, Celan, besonders gefreut, dass von Ficker dann „ganz auf das Jüdische meiner Gedichte einging – Sie wissen ja, daß mir viel daran liegt.“ Dennoch kann man vermuten, dass Celans primäres Anliegen die Suche nach ästhetischen Gewährsmännern und -frauen war. In Wien hatte er im Kreis um die Zeitschrift Plan surrealistische Unterstützer wie Edgar Jené gefunden. Das Buch, das er sich im Institut Français auslieh, Au
château d’Argol (1938) von Julien Gracq, enthält eine Dreiecksgeschichte. In ihrem Verlauf nimmt sich eine von zwei Männern begehrte Frau das Leben, ehe der eine Liebhaber den anderen tötet. Aber von Handlung kann in diesem surrealistischen Text kaum gesprochen werden: Gracq stand im Banne André Bretons. Celan sah sich mithin nach avantgardistischen Netzwerken um. Und er unterstrich dies auch mit dem Versuch, von Ficker um Hilfe bei der Suche nach einem Verlag für seine Gedichte zu bitten – Gedichte, in denen mit Kritik am Christentum nicht gespart wird. Wie von Ficker ihn in seinen ästhetischen Bestrebungen missverstand und theologisch einnahm, hatte er die Lage in Innsbruck womöglich falsch eingeschätzt. Mit dem einstigen Förderer des Expressionismus über das Judentum zu sprechen, war so eine ambivalente Angelegenheit: Einerseits dürfte sie Celan in seinem Unternehmen bestärkt haben, als Jude modernistische Lyrik in deutscher Sprache nach Auschwitz zu schreiben, andererseits dürfte sie ihm die Komplexität des Unterfangens neuerlich bewusst gemacht haben. Innsbruck war daher weder eine biografische Marginalie noch ein Wendepunkt, weder ein Detail noch ein zentrales Ereignis, sondern vielmehr eine symptomatische Konstellation. An ihr lassen sich im Kleinen größere Lebens- und Werkzusammenhänge studieren. * Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Brenner-Archivs waren mir bei der Recherche behilflich und ich bin ihnen zu größtem Dank verpflichtet, allen voran Dr. Ursula A. Schneider.
12 Sigurd Paul Scheichl: Aspekte des Judentums im Brenner (1910–1937), in: Walter Methlagl u. a. (Hg.): Untersuchungen zum Brenner. Festschrift für Ignaz Zangerle zum 75. Geburtstag. Salzburg 1981, S. 70–121. 13 Paul Celan: Brief an Alfred Margul-Sperber (6. Juli 1948), in: Neue Literatur. Zeitschrift des Schriftstellerverbandes der Sozialistischen Republik Rumäniens (H. 7, 26. Jg., 1975), S. 52. 14 Ebd. 15 Ebd.
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The Marvelous Miss D. Reloaded / 2019
Auf den nächsten Doppelseiten ist eine Arbeit von Sarah Decristoforo zu sehen. Die Künstlerin setzt sich in Multimedia- und Textarbeiten mit Ästhetiken massenmedial vermittelter Alltagskultur auseinander, die über politische und soziale Machtverhältnisse Auskunft geben. In ihren recherchebasierten Arbeiten analysiert und rekontextualisiert sie kulturelle Ausdrucksformen, die so direkt und unvermittelt sind wie Graffitis und pornografische Aufnahmen, aber auch so reflektiert wie wissenschaftliche Werke. Zur Einleitung für ihren QuartBeitrag hat Decristoforo folgende Zeilen geschickt: „Diesmal wird die Show-Welt zur Bühne der Künstlerin. Die Rollenzuschreibung der Frau in der Unterhaltungsindustrie wird kritisch hinterfragt. Man findet sich in einer abstrakten Welt wieder, deren Wahrnehmungskosmos von queeren Geschichten begleitet wird und zwischen Zaubershow und Strip-Lokal changiert. Mit zwei Unterleibern ist Stripsy KingKong eine Reaktion, die auf ein Phänomen im Netz Bezug nimmt: iStripper kann man sich auf den Rechner laden, um jederzeit unterhalten zu werden. Den Abschluss bildet eine magisch-tragische Lovestory rund um eine in der Körpermitte zerteilte Dame.“
NOTES ON MISS D. I yank the curtain back, and make a sarcastic „after you“ gesture. MISS D. enters the area and stiffens as her eyes adjust to the darkness. I know she can smell this stench - it is unmistakeable, a mixture of alcohol and cigarette smoke combined with a thick, unholy roux and the aroma of unwashed G-strings. You want a dance, MISS D.? I pull out this club-looking device mounted with a vibrating rubber tube and tiny lights. She turns it on and waves it in the air, fog twists into the room and curls against the bare ceiling. MISS D. cocks her head tenderly. „It’s OK sweety!“ she murmurs. If you ask her what her type is, she’ll say „Monster Strippers“, although I tried to point out that „Monster Strippers“ aren’t a type. „No Venus! At least a Kali or a KING KONG!“ Miss D. yells.
Stripsy KingKong _ originated from iStripper _ a free desktop app for adults
MISS D. loves to slip intimate references into love stories, and no ones the wiser. She changes names, places, she fragments, rearranges and lies - that’s why she writes. Once she told me that people expect you to lie about yourself to reveal something true about all of us.
Lovestory _ light projection _ rabbit skin
I’ve got a thing going on with a magician’s exassistent. Things ended badly between them. After the rabbit died, he pulled a disappearing act, leaving her sawed in half in the black box. She’s trying so hard to pull it together, but really, she’s a fraction of the woman she once was. Two halves, to be exact. Which is not without its benefits: Sex with two people has never seemed more like a threesome; it’s even worth the bloodstains on the sheets left by either half of her waist. – It’s hard to watch her getting dressed afterwards, dragging her top half towards the bottom, sliding herself almost whole. Sometimes after sex, her top slips off walking to the bathroom. Her legs blindly stumble on, tripping heels over head on her way back to bed. She get’s back in between the sheets; arms, then back; ass, then heels; she aligns herself and meekly says, TADAAA. People will tell you that love only breaks your heart, but it really can break you all over: in half, in quarters, eighths, sixteenths. I tell her she’s lucky he didn’t leave her after the box-of-swords-trick, the one where she’s in the black box and he sticks sword after sword into diagonal after diagonal across her tender body. Or the metal blades trick, where he chopped her into minced meat. It could have been
so much worse, I tell her, but you are such a strong woman, and she nods through her sobs, staggers towards the bathroom. I’m not sure she knows it’s true. I think all she knows is that it feels like hell right now, that it’s hard to heal when you fall apart, bloodily, time after time, hour after hour, day after day. Strength, she says, is its own kind of curse. It’s so hard to keep myself here, she says, balancing her upper body carefully on her lower as I am she bends for a Kleenex in the dark. thinking of the other beautiful damaged women who have come through my life: the girl who had a crush on a lion—she lost her head over it—we just necked a lot; or the girl who fell in love with the tightrope, got addicted to getting high wired and nothing else was enough; I wonder what would have happened if I’d met them sooner – what they were like before they were so badly wounded. All this time I thought I’d been kissing, but maybe I’m always doing mouth to mouth resuscitation – kissing dead girls in the hope that the heart will start beating again. Where there’s breath, I’ve heard, there’s hope. I hear a soft slip followed by a wet thud in the bathroom – a small, damp dragging as she recomposes herself. She sobs, and chokes out her proudest TADAAA.
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Marginaltext (7): Es ist noch nicht Zeit.
Mit dem Wort Marginalie wird gewöhnlich Nebensächliches bezeichnet, etwas am Rande oder an der Grenze einer Sache Liegendes. In Quart werden unter diesem Titel zentrale Texte über das Leben an der Peripherie neu veröffentlicht, die längst vergriffen oder nur schwer zugänglich sind, an entlegenen Orten aufbewahrt oder gar in Archiven verschwunden. Folge 7: Ein Text von Kundeyt Şurdum, geboren 1937 in Istanbul, verstorben 2016 in Feldkirch. Şurdum war Journalist und Schriftsteller (seine Gedichte erschienen u. a. im Piper-Verlag), außerdem Übersetzer, Gerichtsdolmetscher und Lehrer für türkische Kinder in Vorarlberg, wo er 45 Jahre lang lebte. Der vorliegende Text erschien unter dem Titel „Siehst du nicht, mein Kind, wie sehr der Bodensee dem Marmarameer gleicht?“ erstmals 1994.
Ich muß die alte Dame im Krankenhaus besuchen. Ich mag sie. Sie ist eine gute alte Dame. Andererseits muß ich die Müllabfuhrfrage lösen, Übersetzungen machen, Geld verdienen. Und eine Nichte oder Base oder wie sie auch genannt werden mag, möchte ich sehen. Ich habe Sehnsucht nach ihr. Irgendwie weiß ich, daß der Müllabfuhrwagen am Montag morgens um 8 Uhr kommt. Zu früh für mich. Und dann kommt er am Donnerstag Mittag so gegen halb eins. Die Zeit ist zwar günstig, so daß ich ihn am Donnerstag nicht verpasse, doch kann ich nicht immer auf den Donnerstag warten, nur damit ich den Abfall loswerde. Obwohl ich allein lebe, sammelt sich ein Haufen Abfall in meinem Zimmer an: Bananenschalen, Konservendosen und Papiere, Zeitungen und wieder Papiere. Die Papiere vergilben, wenn sie lange irgendwo liegen, aber sie stinken nicht. Viele andere Dinge stinken regelrecht. Deshalb muß ich sie schnell loswerden. Zuerst versuche ich es mit Nylontaschen, die man hier im Lande
in jedem Geschäft bekommen kann; manchmal sogar kostenlos, wenn die Verkäuferin Sie öfters gesehen hat oder wenn Sie viel eingekauft haben. Da ich aber selten einkaufen gehe und, was ich kaufe, nicht ausreichend ist, um eine Nylontasche geschenkt zu bekommen, muß ich sie extra bezahlen. Da die Müllabfuhr solche Säcke nicht annimmt, ging ich eines Tages auf einen Parkplatz und warf sie, indem ich mich vorher vergewissert hatte, daß mich niemand beobachtete, in einen Abfallkorb. Es war ein Abenteuer, das mich beschämte, obwohl ich nicht sicher bin, daß ich gegen Vorschriften gehandelt habe. Deshalb hab ich an einem Donnerstag auf die Müllabfuhr gewartet und vom Fahrer 10 große, schwarze Säcke gekauft. Die waren auch aus Nylon, darauf stand aber „Müllabfuhr Feldkirch“, dreimal untereinander. Sie wurden schnell verbraucht. Da ich nicht wie ein Ausländer aussehe, trotzdem in gebrochenem Deutsch spreche und deshalb ein Aus-
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länder bin, empfahl mir der Fahrer, beim Müllabfuhrzentrum eine billige, gebrauchte Mülltonne zu kaufen. Ich bedankte mich bei ihm für den guten Tip. Zuerst fand ich es auch selbst eine gute Idee, nachher allerdings umständlich, erstens deshalb, weil ich nicht soviel Geld auf einmal ausgeben wollte, zweitens wollte ich nicht bis nach Gisingen gehen, damit ich zu einer Tonne komme, und außerdem, wer wußte, wie lange ich noch in diesem Haus wohnen würde? Dann würde ich dastehen mit einer Mülltonne, wüßte nicht wohin damit, wofür wäre ich bis nach Gisingen gegangen und hätte soviel Geld ausgegeben. Andererseits wäre es natürlich vorteilhafter, wenn ich eine Mülltonne hätte, aber wie gesagt, ich hatte auf einmal keine Lust dazu. Wenn ich die Müllabfuhrfrage irgendwie gelöst hätte, würde ich meine Papiere nicht hergeben. Zwar sind sie genauso wie die Zigarettenstummel, Obstschalen, Brotkrusten oder Glasscherben einfach wegzuwerfen; ich hatte aber keine Kraft dazu. Ich liebe die Papiere, auf denen ich, ohne zu denken, etwas geschrieben und gekritzelt und die ich mit dem Teeglas befleckt habe. Wie meine Nachbarin, die ihre Jugend in den Schubladen bewahrt und ab und zu darin wühlt, suche ich zwischen diesen Papieren einen Satz, der mich glücklich macht, der mich die Welt um mich für eine Zeitlang vergessen läßt. Wenn ich die Müllabfuhrfrage irgendwie gelöst hätte, würde ich vielleicht heute die alte Dame besuchen. Lieber beobachte ich mit einem Hund die Welt durch einen Türspalt. Ich tue, als ob ich den Satz mit dem Hund und dem Türspalt schriebe. Ich bemühe mich zu sehen, sehe, was verlogen ist, sehe nichts, ich träume. Meine Hände greifen nach den Wörtern Die Wörter weichen aus
Ich suche sie in den alten Kleidern Zwischen vergilbten Papieren Finde nur, was verlogen ist Was funkelt pechschwarz Reime Klage mit Plage Ruhm mit Rum Du aber schläfst Weit wie die Sterne Den Schlaf der Kinder Aus Kinderzorn ist dein Erwachen Am Rande der Träume Wenn du einschläfst Schläfst du lächelnd Sicherlich sind jene Schiffe im Hafen Wie deine Träume schlicht und schön Gib mir deine Träume mein Kind Für eine einzige Nacht Gib mir deine junge Stimme Für einen einzigen Schrei Gegen Meere mit Möven möchte ich schreien An die Hoffnung und Freude Immer hatte ich vor, die Geschichte meiner Kindheit zu schreiben. Ich bringe sie nie zu Ende. Nicht deshalb, weil ich wenig geschrieben habe, im Gegenteil. Ich habe viel geschrieben. Ich habe sogar das, was ich geschrieben habe, einem Verleger gezeigt. Er will es bald drucken. Er ruft mich an und fragt, wann ich endlich damit fertig werde. Er ist ein junger Verleger. Der kann natürlich nicht viel bezahlen. Ich bin aber auch kein Solschenizyn. Ah, ich muß etwas unternehmen. Ich muß
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einkaufen gehen. Ich muß die alte Dame im Krankenhaus besuchen. Ich warte auf meine Base. Sie kommt nicht. Ich höre stundenlang Tschaikowsky. Sag mir von der Rückkehr. Wenn ich nicht an das Geld denke, das heißt, an den Lebensunterhalt, dann träume ich weiter. Ich bin alt, vielleicht deshalb träumte ich neulich von einer ganz jungen Frau. Ich sah sie in den engen Gassen zwischen Mülltonnen. Sie hatte ein weißes Kleid, hatte keine Strümpfe, war barfuß. Sie kam mit gestreckten Armen, lächelnd, in meine Arme. Ich wurde angesteckt mit Liebe. Wir fanden uns in einem Zimmer, das mein war. Die Fenster mit dicken Vorhängen, die sie zumachte. Dadurch war es halbdunkel, die Atmosphäre in schwarzweiß, nur in manchen kleinen Flecken leuchtete etwas Rotes, mehr braun als rot. Ihr Haar zerschmolzen, ihr weißes Kleid. Ich wußte, daß wir uns liebten und bekamen zwei Kinder. Sie fragte mich manchmal, ob ich wüßte, wo ihre Strümpfe seien. Wir suchten zusammen ihre Strümpfe. Manchmal fragte sie nach ihrem weißen Kleid, wir suchten zusammen ihr weißes Kleid. Einmal sagte ich: „Du warst barfuß und hattest keine Strümpfe.“ „Ja“, sagte sie, „damals, damals ging es, damals war es so. Aber wie kann ich jetzt auf die Straße ohne Schuhe, ohne Strümpfe, ohne weißes Kleid.“ Und doch gingen wir am Morgen durch die gleiche Gasse, wo unsere Kinder zwischen den Mülltonnen spielten, zum Strand. Und schauten ins Wasser, als ob wir vor einem Schaufenster voller Strümpfe, voller weißer Kleider stünden. Ich küßte sie, küßte das Meer, die müde Sonne, küßte meine Kindheit, meine Zukunft, küßte an ihren jungen Lippen den Abschied und wachte auf, der Abschied, der blieb in mir.
Merkwürdig, wie lange dauert so ein Traum, und doch erlebt man die ganze Armut, das ganze Eheleben in einem einzigen Traum. Während ich so sitze oder von einem Fenster zum anderen gehe, liegt meine alte Nachbarin im Krankenhaus. Ihre Wohnung ist in dem gleichen Stockwerk wie meine. Weil sie keine Verwandten hatte, und ich auch allein war, besuchte sie mich öfters. Ich kochte für sie Tee, wir rauchten zusammen. Und eines Tages bekam sie einen Hirnschlag. Jetzt liegt sie im Krankenhaus. Sie erzählte mir oft von ihrem seligen Mann, der einmal nach dem Krieg sehr gut verdient hatte, aber mit seinem frühen Tod meine alte Freundin in ihrem besten Alter allein ließ. Von all den Wohnungen, die er gebaut hatte, blieb der Frau nichts. Was sie hatte, ging rasch unter den Händen weg. Nein, ich muß sie bald besuchen. Und meine junge Freundin, sie kommt seit einer Ewigkeit nicht zu mir. Von welcher Seite ich auch auf sie schaue, meine Nichte trägt Ohrringe; sie trägt Ohrringe, wenn ich sie nackt sehe, schöne, große Ohrringe. Ich glaube, sie küßt sie, wenn sie schlafen geht. Sie küßt sie und legt sie in einen Kasten voller Ohrringe. Ihre Ohrringe zeichnen ihr Alter auf die Rechnungen. Die Rechnungen wiederum zeichnen den Namen eines bestimmten Mannes, der als Dritter meine Träume zeichnet, fürchterlich. Ich schaue auf sie am Tisch beim Essen, im Auto schaue ich auf sie, ich schaue auf sie, wenn wir Musik hören, wenn wir über die Möglichkeiten einer Stimme reden, die unter schweren Bedingungen, wie beim Erdbeben, beim Autorennen, beim Ertrinken, beim Stillschweigen, nachdem man eine Nachricht gehört hat vom Radio, bei der Liebe den Notruf heult: z. B. Hilfe! Helft doch!
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sagt, sehe ich immer mindestens einen ihrer Ohrringe und werde traurig. Gerade in solchen Augenblicken wird meine Stimme wie die eines Kindes. Meine Nichte rückt näher, sagt, sei nicht so, ja nicht so. Was sie damit sagen will, weiß ich nicht. So sagt sie, wenn ich auch nichts gesagt habe, ich meine, wenn ich nicht mit meiner Kinderstimme gesprochen habe, wenn ich seit geraumer Zeit geschwiegen habe. Mütterlich wird sie. Beugt sich über mich und sagt: „Das ist ja nicht so schlimm, alles geht vorbei. Mach dir keine Sorgen. Du machst es dir wirklich sehr schwer.“ Öfters treten Wände zwischen uns, Papiere, Übersetzungen der Leumundszeugnisse, der Ausweise, die immer den gleichen Text haben. Vor einigen Tagen kam sie zu mir, als ich gerade aufhörte, auf sie zu warten. Ich wollte unter die Menschen gehen und mir ein Brot kaufen. Da kam sie. Mir schien, daß es draußen kalt war, daß sie fror. Ich fragte sie, ob ich den Ofen heizen sollte, ob sie etwas Warmes trinken wollte; sie sagte: „Nein.“ Sie saß auf meinem Bett; ich stand vor ihr. Sie saß, ihre Hände zwischen den Knien, ihre Tasche hing lose zwischen den Beinen, fast den Boden berührend. Auf ihrer Stirn waren kleine Schweißperlen. Ich fragte sie, ob es draußen regne. Sie sagte nein. In solchen Momenten, die leider zu oft vorkamen, wünschte ich mir, daß ich mehr davon in Erfahrung brächte, was draußen vor sich geht. Man sollte den Vorhang dann und wann öffnen, die Ohrwatte herausnehmen, den Kopf zum Fenster hinausstrecken. Dies alles hilft; man fragt dann nicht sehr viel. Man hört dann nicht oft nein als Antwort. Man kann Gespräche führen. Aber wenn ich in meinem Zimmer bin, tue ich nichts anderes, als auf sie zu warten. Ich hüte mich, etwas zu tun, was mich daran hindern könnte. Man darf sich
aber nicht vorstellen, daß ich nichts tue, wenn ich warte. Ich öffne ein Buch und zähle die Akkusative auf der Seite 5 und lese einen Satz: Es ist noch nicht Zeit. Ich sage für mich hin, und das zum ersten Mal, daß ich kurze Sätze liebe, weil sie zu verschiedenen Gedanken passen, weil sie vollständig und leicht verständlich und vielleicht gerade deshalb unglaublich beweglich sind. Aber dieser Satz: Es ist noch nicht Zeit. Was bedeutet dieser Satz? Handelt es sich dabei um die Zeit, in der es eine Revolution geben wird; oder geht es um die Zeit, in der man etwas unterschreibt? Ist es die Zeit des Krankenbesuches? Es ist auch gleichgültig. Ich weiß, diese schöne junge Frau, die mich besucht, ist eine heimliche Freundin, jung und schön. Wohin ich auch gehe, bin ich in meine Base verliebt, oder in meine Nichte, oder in meine Freundin? Ich nehme sie auf meinen Schoß, ich streichle ihre schönen Haare und spreche mit ihr über alles, ohne mich zu schämen. Die Geschichte ist überall die gleiche. In einem neuen Land glaubt man, ein neuer Mensch zu sein, man hat vor, ein besserer Mensch zu werden. So glaube ich in einem neuen Land, daß ich endlich meine Base überrede. Nirgendwo gelang es mir. Weil sie eine ganz junge Frau ist, ziehe ich es vor, sie mein Kind zu nennen. Mein Kind, sage ich ihr, mein Kind, in diesem Land, dessen Sprache mir fremd ist, fühle ich mich sehr einsam. Es ist langweilig hier, siehst du nicht, mein Kind, wie sehr der Bodensee dem Marmarameer gleicht?
Erstveröffentlichung in: Kein Innen. Kein Außen. Texte über Leben in Vorarlberg. Hg. v. Wolfgang Hermann. Bregenz: Russ-Verlag [1994]. Abdruck mit freundlicher Genehmigung der Erbengemeinschaft Kundeyt Şurdum.
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Besetzung
Florian Aicher, Ulm Rotis / Allgäu: Architekt und Autor. Er studierte Architektur in Stuttgart und verbrachte seine Lehrjahre in den USA und in München. Selbständige Arbeit als Architekt seit den 1980er Jahren. Heute lebt und arbeitet er im Allgäu, wo er überwiegend journalistisch tätig ist. Wien: Studium der Anglistik, PoliDavid Baldinger, Ohlsdorf tikwissenschaften und Geschichte in Wien und London. Seit 2013 Redakteur bei Radio Ö1. 2018 gemeinsam mit Matthias Greuling „Der Bauer zu Nathal – Kein Film über Thomas Bernhard“. München: Redakteur der SüdGeorg Cadeggianini, München deutschen Zeitung, außerdem freier Autor für Die Zeit, Merian, Deutschlandfunk u. a. Sarah Decristoforo, Hall in Tirol Linz: Bildende Künstlerin. Studium der Bildenden Kunst an der Kunstuniversität Linz; seither Teilnahme an nationalen und internationalen Ausstellungen, u.a. an der internationale Biennale for Young Art in Moskau / Russland, im Kulturbunker Dora in Trondheim / Norwegen, im Künstlerhaus Dortmund, an der Darmstädter Sezession und im Taxispalais Kunsthalle Tirol in Innsbruck. Auszeichnungen: Forschungsstipendiums des BMWF, Forschungsaufenthalt am Kinsey Institute in Bloomington/USA, Landeskulturförderpreis für zeitgenössische Kunst des Landes Tirol, Talentförderprämie des Landes Oberösterreich, Hilde-Zach-Kunstförderstipendium der Stadt Innsbruck. Lionel Favre, Morges / Schweiz Wien: Studium an der Akademie der Bildenden Künste Wien, Diplom bei Daniel Richter. Vertreten durch MAM (Mario Mauroner Contemporary Art Vienna) realisierte Favre in den vergangenen Jahren zahlreiche Einzel- und Gruppenausstellungen national wie international, zuletzt beispielsweise in New York und Paris im Rahmen des Projekts „Projective Drawing“, kuratiert durch den Direktor des „The Noguchi Museum New York“, Brett Littmann. Seit 2006 sind vom Künstler gesammelte technische Pläne der Ausgangspunkt seiner künstlerischen Arbeit. Berlin: Freie Autorin und SchriftstelMarie Gamillscheg, Graz lerin. Veröffentlichungen in zahlreichen literarischen Zeitschriften und Magazinen. Ihr Roman „Alles was glänzt“ landete auf der ORF-Bestenliste, wurde für den aspekte Literaturpreis nominiert und mit dem Österreichischen Buchpreis für das beste Debüt 2018 ausgezeichnet. Michael Kienzer, Steyr Wien: Bildender Künstler. Zahlreiche Ausstellungen im In- und Ausland. Lehrauftrag und Gastprofessur an der Universität für angewandte Kunst Wien. 2012 erhielt er den Österreichischen Kunstpreis für Bildende Kunst, 2015 den Preis der Stadt Wien für Bildende Kunst. Matthias Krinzinger, Innsbruck Wien: Bildender Künstler. Studierte Bildhauerei und Medienkunst bei Erwin Wurm an der Universität für angewandte Kunst Wien und diplomierte dort 2012 bei Martin Walde. Neben Ausstellungsteilnahmen im In- und Ausland leitet und organisiert er auch selbst Ausstellungen. Er ist Mitbegründer des Kunstraum „Pferd“ in Wien. Soziale Interaktionen, der Einsatz vertrauter Gebrauchsgegenstände und die Inszenierung alltäglicher Situationen sind im Fokus seines Interesses. http://matthiaskrinzinger.tumblr.com Claire Morgan, Belfast/Nordirland Gateshead / UK: Bildende Künstlerin. Nachdem Claire Morgan ihre Arbeit im Palais de Tokyo in Paris gezeigt hatte, weihte sie 2010 ihre erste französische 118 / 119
Galerieausstellung in der Galerie Karsten Greve ein. Bei dieser Gelegenheit zeigte sie zum ersten Mal ihre „Blutbilder“: Arbeiten auf Papier, die das Taxidermie-Verfahren widerspiegeln (Kunst der Haltbarmachung von Tierkörpern). Seither wurde ihre Arbeit sowohl in Europa als auch in den USA gezeigt, wo sie an zahlreichen Ausstellungen teilgenommen hat. Die Installationen und Zeichnungen der Künstlerin sind Teil renommierter internationaler öffentlicher und privater Sammlungen geworden, darunter das Museum für alte und neue Kunst (MONA) in Australien, die Stiftung ALTANA in Deutschland und die Sammlung Guerlain in Frankreich. Im Jahr 2017 organisierte das FRIST Center for Visual Arts in Nashville ihre erste Einzelausstellung in den USA. Die Fondation Francès in Senlis (Frankreich) widmete Claire Morgan in Zusammenarbeit mit der Galerie Karsten Greve 2017 eine Einzelausstellung. Christian Lorenz Müller, Rosenheim Salzburg: Schriftsteller. Gelernter Trompetenmacher. 2010 erschien der Roman „Wilde Jagd“ (Hoffmann und Campe), für den der Autor 2012 mit dem Bayerischen Kunstförderpreis ausgezeichnet wurde. 2018 folgte der Roman „Ziegelbrennen“ (Otto Müller Verlag). 2012 wurde Müller der Georg-Trakl-Förderungspreis zugesprochen. Peter C. Pohl, Weinheim (an der Bergstraße) Innsbruck: Universitätsassistent (Postdoc) an der Universität Innsbruck, hat sich mit einer Arbeit zu Robert Musils „Der Mann ohne Eigenschaften“ promoviert und arbeitet aktuell zur Geschichte des Bildungsromans, zu Tieren in Karl Marx’ „Kapital“ und der Poetologie Paul Celans. Eva Maria Stadler, Graz Wien: Vizerektorin der Universität für angewandte Kunst Wien für den Bereich Ausstellungen und Wissenstransfer. Sie leitet das Institut für Kunst und Gesellschaft und ist Professorin für Kunst- und Wissenstransfer an der Universität für angewandte Kunst in Wien. Sie unterrichtete an der Akademie der bildenden Künste in München und Wien sowie an der Staatlichen Akademie der bildenden Künste in Stuttgart. Von 2012–2013 war sie Leiterin der Galerie der Stadt Schwaz. Von 1994–2005 war sie Direktorin des Grazer Kunstvereines, von 2006–2007 curator in residence an der Akademie der bildenden Künste in Wien, und von 2007–2011 Kuratorin für zeitgenössische Kunst am Belvedere in Wien. Kundeyt Şurdum, Konya / Türkei Feldkirch / Vorarlberg: Aufgewachsen in Istanbul, Matura an der österreichischen Schule Sankt Georg in Istanbul, danach Studium der Deutschen Philologie in Istanbul. Lebte seit 1971 mit seiner Familie in Vorarlberg, verstarb 2016 in Feldkirch. Tätigkeit als Lehrer, Übersetzer, Rundfunkmitarbeiter und Schriftsteller (Gedichte, Hörspiele, Kurzprosa). Veröffentlichungen in Literaturzeitschriften und im ORF, Buchpublikationen. Daniel Wisser, Klagenfurt Wien: Schriftsteller. 2003 erschien sein Debutroman „Dopplergasse Acht“. Seither fünf Romane; zuletzt „Königin der Berge“ (Österreichischer Buchpreis 2018, Johann-Beer-Preis 2018). Mitbegründer der Band Erstes Wiener Heimorgelorchester, das zuletzt die Tonträger „Die Letten werden die Esten sein“ (2018) und „anderwo“ (2019) veröffentlichte.
Quart Heft für Kultur Tirol
Kulturzeitschrift des Landes Tirol Herausgeber: Markus Hatzer, Andreas Schett Chefredaktion: Heidi Hackl, Andreas Schett Anschrift der Redaktion: Circus, Kochstraße 10, 6020 Innsbruck (A), office@circus.at Anschrift des Verlags: Haymon Verlag, Erlerstraße 10, 6020 Innsbruck (A) T 0043 (0)512 576300, order@haymonverlag.at, www.haymonverlag.at Geschäftsführer / Verleger: Markus Hatzer Aboservice: T 0043 (0)512 576300, aboservice@haymonverlag.at Bezugsbedingungen: Quart Heft für Kultur Tirol erscheint zweimal jährlich. Jahresabonnement: € 22,– · Einzelheft: € 16,– · Preise inkl. MwSt., zzgl. Versand Die Bezugspreise unterliegen der Preisbindung. Abonnement-Abbestellungen müssen spätestens 3 Monate vor Ende des Kalenderjahres schriftlich erfolgen. Mitarbeiter dieser Ausgabe: Florian Aicher, David Baldinger, Georg Cadeggianini, Sarah Decristoforo, Lionel Favre, Marie Gamillscheg, Michael Kienzer, Matthias Krinzinger, Claire Morgan, Christian Lorenz Müller, Peter C. Pohl, Eva Maria Stadler, Kundeyt Şurdum, Daniel Wisser Linke Seiten: Michael Kienzer Visuell-editorisches Basiskonzept: Walter Pamminger Farbkonzept: Peter Sandbichler Grafische Realisation: Circus, Büro für Kommunikation und Gestaltung, Innsbruck / Wien, www.circus.at Druck: Lanarepro, Lana, Italien Papier: Luxo Samt 135 g / m2 Schriften: Sabon LT Std, Gill Sans Std Verwendung der Karte „Tirol-Vorarlberg 1 : 200.000“ auf den Seiten 58 / 59 mit freundlicher Genehmigung von Freytag-Berndt und Artaria KG, Kartographische Anstalt, Brunner Straße 69, 1231 Wien (A) Sämtliche inhaltlichen Beiträge dieses Heftes sind Ersterscheinungen, Auftragswerke, Uraufführungen. ISBN 978-3-7099-3491-3 · © Haymon Verlag, Innsbruck-Wien 2019 · Alle Rechte vorbehalten. Die Drucklegung erfolgte mit freundlicher Unterstützung der Abteilung Kultur der Tiroler Landesregierung und der Abteilung Deutsche Kultur der Südtiroler Landesregierung.