Quart Nr. 37

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Quart Heft für Kultur Tirol Nr. 37 / 21 € 16,–


Foto: Günter Richard Wett

cafe bar planscH

v. l. n.r.:  Gönül Özkan (planscH)  Robert Possenig (Regionalleiter ÖBB Immobilien) Architekt Rainer Köberl (Architektonische Gestaltung der Viaduktbögen)  Architektin Stephanie Topf + Architekt Alexander Topf (Gestaltung Innenraum)  Heval Özkan (planscH)


legendär


* Notizbuch der Architekten

Architektur-Gruppenausstellung im Zeitschriftenformat Die linken Seiten dieser Ausgabe von Quart gestalteten Architektinnen und Architekten aus Österreich, Südtirol und Bayern. Im Frühjahr 2021 schickte die Redaktion an die teilnehmenden Büros drei bis fünf layoutierte Textseiten – nunmehr die rechten Seiten im Heft – mit der Einladung, auf den jeweils linken Seiten wie auch immer zu reagieren. Die Wahl der Gestaltungsmittel war dabei völlig frei (Text, Fotografie, Zeichnung / Skizze, Grafik, Diagramm usw.), der Beitrag sollte allerdings mit den vorgegebenen Textseiten korrespondieren. Die teilnehmenden Architekturbüros sind:

Architekten Scharfetter_Rier scharfetter-rier.at

Peter Haimerl featuring beierle.goerlich 6, 8 / 64 / 106

peterhaimerl.com

80, 82, 84, 86, 88

he und du heunddu.me

LAAC Architekten laac.eu

90, 92, 94

10, 12, 14, 16 Margarethe Heubacher-Sentobe siehe nextroom.at Künstlerische Mitgestaltung: Rens Veltman

96, 98, 100, 102, 104

Walter Angonese angonesewalter.it

18, 20, 22, 24, 26

Cukrowicz Nachbaur Architekten cn-architekten.at

28, 30, 32

stifter + bachmann

Rainer Köberl rainerkoeberl.at

44, 46, 48, 50, 52

fasch&fuchs.architekten | werkraum ingenieure faschundfuchs.com

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54, 56, 58, 60, 62

stifter-bachmann.com

116, 118, 120


Inhalt

Nick Oberthaler Halotech Lichtfabrik

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Das Hirn ist ein Gewohnheitstier Der Wahrnehmungspsychologe Ivo Kohler schrieb mit seinen „Innsbrucker Brillenversuchen“ Wissenschaftsgeschichte. Von Florian Aigner

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Vom Verlorengehen Landvermessung No. 5, Sequenz 9 Vom Trentino nach Berlin Sandra Gugić konnte nicht verreisen, war aber trotzdem überall – auf einem Friedhof in Berlin.

78–89

2–3

Notizbuch der Architekten* 4 Inhalt 5 Fließtext Von Laura Freudenthaler

Oliver Laric Originalbeilage Nr. 36

7–9

„Hier ist alles ruhig.“ Was hat Friedrich Hebbel mit Kaiser Ferdinand zu tun? Klaus Zeyringer beschreibt eine richtungsweisende Begegnung. 91–95 11–17 Marginaltext (10): „Zwölf Stunden von der Heimat“ Ein Auszug aus Franz Michael Felders Autobiografie „Aus meinem Leben“

Brennergespräch (22): „Macht etwas, es spielt keine Rolle was, aber macht etwas richtig!“ Nicola Weber im Gespräch mit Gion A. Caminada

19–27

È PERICOLOSO SPORGERSI Marie de Brugerolle über die Arbeit von Nick Oberthaler

29–33

Nick Oberthaler

34–43

Heiterkeit und Wehmut Berthold Seliger erzählt eine kleine Geschichte der erfundenen Volksmusik.

45–53

Dies alles gab es also (2) Weiter geht’s mit der kulturellen Inventur eines Zugereisten: Florian Waldvogel über Ungeliebtes und Vergessenes.

55–63

Eine Art „ewige“ Dunkelheit Fotograf Bernhard Fuchs führt in Quart seine Fotoserien „Autos“, „Straßen und Wege“, „Höfe“, „Mühl“, und „Portraits“ zusammen.

65–75

Das Sprechen der Bilder Beatrix Sunkovsky zeigt abstrakte Arbeiten auf Lindenholz. Mit einem Vorwort von Ferdinand Schmatz

97–105

107–115

Solange der Vorrat reicht Nachschau bei den „Erben der Einsamkeit“: Durch das Vinschgau und das Ultental unter besonderer Berücksichtigung der Speisekammer. Von Simone Mair / Lisa Mazza und Nicolò Degiorgis 117–127 Eigenwerbung

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Besetzung, Impressum

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Architekten Scharfetter_Rier

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Fließtext*

Von Laura Freudenthaler

*

— Text, der in einem Stück und ohne Unterbrechungen durch Absätze, Überschriften, Abbildungen, Fußnoten u.  Ä. gesetzt wird. — Aufforderung, seinen Gedanken freien Lauf zu lassen und dabei nicht zurückzuschauen; freihändig draufloszulegen, ohne zu korrigieren; die Buchstaben zu Papier zu bringen und bedenkenlos aus der Hand zu geben.

Es geht nicht gut mit dem Schreiben. Wir leiden unter Konzentrationsschwierigkeiten. Du sprichst von Unbehaustheit. Ich sitze unter einem schiefen Dach. Tage dehnen sich aus und ziehen sich zusammen. Wir sind nervös und unendlich müde. Ich war immer gern allein und bin plötzlich einsam. Wir wissen miteinander nichts anzufangen. Kein Anfang möglich. Ist das ein Paradigmenwechsel? fragst du. ¶ Du hast die Nacht immer als dein natürliches Habitat betrachtet, doch die Atmosphäre deines Habitats hat sich verändert. Oft fühlst du einen Druck auf der Brust. Ich spreche davon wegzufahren, um endlich in Ruhe zu arbeiten, obwohl mich hier niemand behelligt. Keiner behelligt den anderen. Es scheint, dass Stillstand etwas anderes ist als Ruhe. Der Rückzug war immer die Grundlage des Schreibens, aber rundherum muss Leben sein. Schreiben ist Leben, sagst du, eines gibt es nicht ohne das andere. ¶ Innen und Außen haben sich verschoben, die Bedeutung von Abgeschlossenheit und Ausgeschlossenheit hat sich verändert. Die Erfahrungen stimmen nicht mehr mit den Wörtern überein. Du sagst, wir müssen die Begriffe neu denken. Um sich zu sammeln, ist ein Raum nötig. Was dem Raum das Drinnen und Draußen ist, sind der Gegenwart Vergangenheit und Zukunft. Gegenwart ist ohne Zukunft nicht möglich. Man muss irgendwohin können. ¶ Mit Vergangenheit und Zukunft, schreibt Simone Weil, füllen wir die Leere. Es geht immer darum, die Leere auszuhalten. Passivität als Weg zur Transzendenz. Sich ausliefern, um erlöst zu werden. Der Sklave als eine Art Ideal: das Werkzeug des Herrn. Die Idee des Göttlichen ist mir fremd. Immer wieder aber setzt Weil Heiligkeit und Genie nebeneinander, also Glauben und Kunst. Gut ist, was man hervorbringt, indem man die Aufmerksamkeit beständig auf das Unaussprechliche, das Unmögliche gerichtet hält. ¶ Nicht die Dinge dieser Welt sind illusionär, sondern der Wert, den wir ihnen beimessen. Jeglicher Besitz ist unwirklich. In gewissem Sinne, schreibt Weil, sind Verbrechen, Krieg und Rache imaginär. Die Energie sei von den Objekten zu lösen, ob es sich dabei um Besitztümer oder den Wunsch nach Vergeltung handle. Die Energie ist wirklich. So wie zehntausende Gigatonnen Kohlendioxid im Gestein, in den Böden, Wäldern und Meeren gebunden sind, so stecken unvorstellbare Mengen an seelischer Energie in Besitztümern und falschen Werten. Wenn nur ein we-


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nig davon frei würde. Gelingt die Loslösung, so Weils Gedanke, entsteht Leere. Durch die Leere kann die Gnade eindringen. ¶ Ich stelle mir Hügel vor, Erde, Wiesen und Bäume, grünen Wald. Eine Landschaft sehen, schreibt Weil, in der ich nicht bin. Wenn ich irgendwo bin, beschmutze ich die Stille des Himmels und der Erde mit meiner Atmung und meinem Herzschlag. ¶ Weils Leere und die Reinheit ihrer Sprache sind die denkbar größten Gegensätze zu dem, was uns medial umgibt. Zu den digitalen Bildern, Informationen und Inhalten. Die irreal sind. Ich lese Weils Schriften in einer Welt, aus der das Sinnliche verbannt worden ist. Ihre Abstraktheit entspricht meiner Perspektive: Ich bin aus der Welt, obwohl mittendrin. Ungreifbar sind Weils Aufzeichnungen für mich nur, wo ihr Wahn durchschimmert. Das religiöse Denken, nicht das Nachdenken über Religion. Manche Stellen erinnern an Exerzitien. Der unbedingte Wille zur Selbstauslöschung. Sie ist brutal und voller Liebe und sie ist mir nahe. Sie schreibt: Der Widerspruch ist die Spitze der Pyramide. ¶ Einen Moment lang begreife ich, was sie mit der Abwesenheit Gottes meint, im Angesicht der schlimmsten Geschehnisse. Wo religiöse und atheistische Erfahrung auf gewisse Weise zusammenfallen: Es gibt keinen Trost. ¶ Solange ich allein bin, geht es. Solange wir nicht sprechen. Ich will nicht telefonieren. Nichts hören und sehen von der Welt. Nach und nach werden alle verrückt, höre ich dich sagen. Am ungefährlichsten ist es, nur für sich zu sein. Am ungefährlichsten nur für sich selbst. Du sprichst von der Angst, nichts zu sagen zu haben. Wir teilen den Erfahrungshorizont und die Handlungsmöglichkeiten, aber über unsere Unfreiheit wollen wir nicht sprechen. Über das alles Beherrschende. ¶ Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft, wie die Glieder einer Kette. Das Leiden, schreibt Weil, sei nichts als die Verbindung zwischen Vergangenheit und Zukunft. Unmöglich, eine Zukunft zu denken, in der das Unglück fortdauere. Die Zeit sei irreal, aber unsere Unterwerfung darunter sei wirklich. Die Höhle zu verlassen bedeute, sich nicht mehr an der Zukunft auszurichten. Die Leere wird möglich. ¶ Von der Oberfläche gehen wir in die Tiefe. Dem Rasenden stellen wir die Langsamkeit entgegen. Mit der höchsten Aufmerksamkeit von Wort zu Wort. Dem Impuls nicht folgen, sondern betrachten, schreibt Weil. Und: Das Gute ist, was sich nicht nicht tun lässt. Wenden wir uns dem Wirklichen zu.


LAAC

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Das Hirn ist ein Gewohnheitstier

Der Wahrnehmungspsychologe Ivo Kohler schrieb mit seinen „Innsbrucker Brillenversuchen“ Wissenschaftsgeschichte. Wenn wir seine Experimente weiterdenken, kommen wir zu einem interessanten Ergebnis: Manchmal lernen wir, indem wir etwas Neues erfahren. Und manchmal lernen wir, indem wir uns an etwas gewöhnen. Beides ist wichtig. Von Florian Aigner

Normalerweise setzt man Brillen auf, um besser zu sehen, doch Ivo Kohler hatte andere Pläne. Seine Brillen waren nicht dazu da, die Wahrnehmung zu schärfen. Im Gegenteil: Sie sollten verzerren, verdrehen und verwirren. Angetrieben wurde Ivo Kohler von einer der allergrößten Fragen überhaupt: Wie hängt die Wirklichkeit mit unserer Wahrnehmung zusammen? Was passiert eigentlich, wenn wir uns mit Hilfe unserer Sinne ein Bild von der Welt machen? Wenn ein rotgetigerter Kater auf dem Schreibtisch sitzt und Licht vom Fell des Katers in unser Auge gelangt, dann nehmen wir einen rotgetigerten Kater wahr. Und wenn ein Klavierdreiklang erklingt und die Schallwellen in unser Ohr gelangen, dann nehmen wir einen Klavierdreiklang wahr. Es gibt eine bestimmte Zuordnung zwischen der Umwelt und unseren inneren Wahrnehmungen – aber wie starr sind diese Zuordnungen? Können sie sich im Lauf der Zeit verändern – und wenn ja, wie? Die Innsbrucker Brillenversuche Um das zu erforschen, führte Ivo Kohler in den 1940er und 1950er Jahren an der Universität Innsbruck Experimente durch, die als „Innsbrucker Brillenversuche“ oder „Innsbruck Studies“ berühmt wurden: Aus unterschiedlichen Prismen, Spiegeln und anderen optischen Elementen stellte er sonderbare Spezialbrillen her, mit denen man die Wirklichkeit verzerrt wahrnehmen konnte: Die sogenannte „Umkehrbrille“ vertauschte

Oben und Unten oder Rechts und Links, andere Brillen ließen gerade Linien gekrümmt oder schräg gekippt aussehen. Die Versuchspersonen – auch Ivo Kohler selbst zählte dazu – hatten nun die Aufgabe, mit diesen seltsamen Verzerrungsbrillen ihrem ganz normalen Alltag nachzugehen. Das war zweifellos nicht einfach: „Die sonst so wohlbekannteste Form scheinen [sic!] in Auflösung begriffen und setzen sich in neuen, noch nie gesehenen Proportionen wieder zusammen“, schrieb Kohler am ersten Tag seines Experiments. Er war ständig überrascht, wie „irgendeine Hauswand überhängend schräg zur Gasse abfiel, ein gesehener und mit dem Blick verfolgter Kraftwagen sich verbog, die Straße wie eine Wasserwoge abwärts glitt, Häuser und Bäume umzufallen begannen“. Doch dieses Gefühl wandelte sich im Lauf der Zeit. Kohler und die anderen Versuchspersonen lernten, mit dem verzerrten Bild umzugehen. Irgendwann waren die anfangs so verwirrenden Störungen kaum noch zu bemerken. Und nach etwa vier Monaten schließlich schrieb Kohler: „Die Welt ist trotz Brille und Prisma zu meiner alten geworden.“ Unser Gehirn ist offenbar in der Lage, selbst radikale Eingriffe in unsere Wahrnehmungen, wie das Verzerren oder Spiegeln unseres Blickfelds, nach einer gewissen Gewöhnungsphase selbstständig auszugleichen. Das ist allerdings keine Fähigkeit, die wir nur dann benötigen, wenn uns von kreativen Wahrnehmungspsychologen wie Ivo Kohler ausgeklügelte Spezialbrillen aufgesetzt


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werden. Diese Fähigkeit nutzen wir ununterbrochen, unser ganzes Leben lang. Ich seh’ etwas, was ich nicht seh’ Das menschliche Sehen funktioniert ganz anders als eine Kamera. Bei einer Kamera fällt das Licht durch optische Linsen auf einen Sensor, dort werden die Beleuchtungswerte gemessen und schließlich als Zahlen abgespeichert. So entsteht eine Datensammlung – aber noch keine Wahrnehmung. Auch in unserem Auge fällt Licht durch eine Linse und wird dann an einem Sensor gemessen – nämlich an unserer Netzhaut. Aber all das, was unsere Wahrnehmung wirklich ausmacht, entsteht erst danach, in unserem Gehirn. Würde eine Kamera ein Bild liefern, wie es auf unserer Netzhaut ankommt, würden wir sie wohl dringend umtauschen wollen: Das Bild ist fehlerhaft und großteils unscharf. Der Glaskörper im Auge hat Trübungen, Blutgefäße im Auge stören die Sicht. An einer bestimmten Stelle der Netzhaut können wir überhaupt kein Licht wahrnehmen – dort, wo der Sehnerv ansetzt, haben wir nämlich keine Lichtrezeptor-Zellen. Das ist der sogenannte „blinde Fleck“. Richtig scharf sehen wir nur in einer erstaunlich kleinen Region unseres Gesichtsfelds: Jedes Auge deckt einen Sehwinkel von gut 100 Grad ab, doch nur aus einem kleinen Winkel von ungefähr zwei Grad fällt Licht auf die sogenannte Fovea, jene Region auf unserer Netzhaut, auf der die Sehzellen besonders eng aneinandersitzen. Nur dort erreicht unser Auge die höchste Auflösung. Wenn wir den Arm ausstrecken und den Daumen fixieren, dann füllt der Daumen ungefähr die Fovea aus. Er wird dann optimal abgebildet, überall sonst ist das Bild vergleichsweise unscharf. Doch nichts davon nehmen wir wahr. Es gibt kein störendes Loch in unserer Sehwahrnehmung, das durch den blinden Fleck auf unserer Netzhaut entsteht. Niemand von uns hat das Gefühl, außerhalb des gerade fokussierten Punktes unscharf zu sehen. Trübun-

gen, Schatten und Imperfektionen in unserem Auge sind uns zum Glück meistens nicht bewusst. In den Daten, die unser Gehirn von unserem Auge geliefert bekommt, sind all diese Fehler zwar enthalten, aber unsere Wahrnehmung, das Bild in unserem Kopf, ist frei von diesen Fehlern. Mit bemerkenswerter Qualität und hohem Rechenaufwand erzeugen wir im Gehirn ein Bild von der Welt – und Fehler, die offenbar nichts mit der wahren Welt zu tun haben, werden in dieses Bild in unserem Bewusstsein einfach nicht eingebaut. Korrektur durch Gewöhnung Ähnlich verhält es sich mit den künstlichen Wahrnehmungsfehlern, die von Ivo Kohlers Verzerrungsbrillen verursacht werden: Die Versuchsperson interagiert ununterbrochen mit der Welt. Sie lernt daher durch Erfahrung, dass gekrümmt aussehende Linien in Wahrheit gerade sind. Sie weiß, dass der Himmel oben ist und nicht unten, auch wenn die Umkehrbrille das Gegenteil vorgaukelt. Und irgendwann, wenn sich die Versuchsperson an diesen Widerspruch gewöhnt hat, dann ist der Widerspruch verschwunden. Daher ist es vielleicht auch nicht ganz korrekt zu sagen: „Wenn man eine Umkehrbrille trägt, ist alles verkehrt – aber das Gehirn dreht das Bild wieder zurück, sodass es wieder richtig wahrgenommen wird.“ Besser ist vielleicht die Sichtweise: Das Gehirn lernt, mit den gespiegelten Bildern umzugehen, und irgendwann wird die Tatsache, dass die Bilder gespiegelt sind, so gewöhnlich und banal, dass sie nicht mehr ins Bewusstsein weitergeleitet wird. Und wenn wir uns der Spiegelung nicht bewusst sind, dann ist sie nicht da – genauso wenig, wie unser blinder Fleck „da“ ist, solange wir ihn nicht bewusst erleben. Die Welt fühlt sich wieder normal an, genau wie Kohler das selbst beschrieben hat. Dasselbe lässt sich natürlich auch bei anderen Sinneseindrücken beobachten: Ununterbrochen spüren wir eigentlich die Kleidung an unserer Haut, aber in unsere bewusste Wahrnehmung gelangt dieses Gefühl nur in


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Ausnahmesituationen, etwa wenn der neue Rollkragenpullover schrecklich am Hals kratzt. Unser Ohr sendet ein gewisses Rauschen ans Gehirn, das als bedeutungslos verworfen wird. Jede Wohnung hat einen charakteristischen Geruch – doch wir nehmen ihn nach kurzer Zeit nicht mehr bewusst wahr. Zellen, Terzen und Dreiklänge Kein Zweifel: Unser Gehirn ist ein Gewohnheitstier – und zwar auf mehreren unterschiedlichen Ebenen: Das beginnt bereits beim Verarbeiten elektrochemischer Signale, die Nervenzellen untereinander austauschen. Wenn eine Zelle einen elektrischen Puls aussendet, kann sie dadurch eine Nachbarzelle aktivieren. Und wenn beide Zellen häufig zusammen aktiv sind, kann sich dadurch die Verbindung zwischen ihnen verstärken. Je häufiger das elektrische Feuern der einen Zelle zum elektrischen Feuern der anderen Zelle führt, umso effizienter wird die Übertragung des Pulses, und umso leichter erregt die eine Zelle die andere. Man könnte sagen: Die Zellen gewöhnen sich aneinander. So laufen in unserem Gehirn Lernprozesse ab. Aber auch unser Denken im Ganzen, unsere Vorlieben und Gefühle passen sich an – und zwar an die täglich erlebte Umwelt. So teilen wir etwa in der Musik seit Jahrhunderten die Intervalle in unterschiedliche Kategorien ein: auf der einen Seite die konsonanten, wohlklingenden Intervalle, auf der anderen Seite die dissonanten Intervalle, die eher unangenehm klingen oder für Unruhe und Unausgeglichenheit stehen. Das lässt sich in Zahlen fassen: Schwingungen, die in einem einfachen Zahlenverhältnis stehen, klingen konsonant – etwa die Oktave, zwei Töne mit einem Schwingungsverhältnis von eins zu zwei. Oder die Quinte – mit zwei zu drei. Die kleine Sekunde hingegen, mit einem Schwingungsverhältnis von 256 zu 243, klingt ziemlich dissonant und eher schräg. Aber gibt es eine eindeutige Grenze zwischen Konsonanz und Dissonanz? Offensichtlich nicht: Die Terz

(große Terz: vier zu fünf, kleine Terz: fünf zu sechs) galt vor Jahrhunderten noch als dissonantes Intervall. Heute empfinden wir den Dreiklang – zwei aufeinandergestapelte Terzen – fast als Inbegriff des Wohlklangs. Wie konnte das passieren? Die Schwingungen sind die gleichen geblieben, auch die Biologie des menschlichen Gehirns hat sich in dieser historisch gesehen kurzen Zeit nicht geändert. Aber die Musikgeschichte hat sich weiterentwickelt, und wir haben uns daran gewöhnt. Fähigkeit, Ungewöhnliches normal zu finden Es ist wie mit Ivo Kohlers Umkehrbrille: Das Bild, das seinen Augen präsentiert wurde, war am ersten und letzten Tag seines Experiments das gleiche. Doch während ihm dieses Bild am ersten Tag mit unübersehbarer Heftigkeit die Zusatzinformation „verkehrt herum!“ ins Bewusstsein schrie, verstummte diese Meldung im Lauf der Zeit. Die Verkehrtheit des Bildes wurde irgendwann nicht mehr mitkommuniziert – und somit war nichts mehr verkehrt. Bei der Terz war es wohl genauso: Im Bewusstsein eines Musikers aus dem Mittelalter hätte sich wohl die Zusatzinformation „Dissonanz“ ins Bewusstsein geschoben. Exakt dieselben Schallwellen lösen diese Assoziation in unseren Köpfen aber nicht mehr aus. Wir sind mit der Terz aufgewachsen, wir finden daran nichts Ungewöhnliches. Und vielleicht ist genau das die Fähigkeit, die uns Menschen ausmacht: die Fähigkeit, ungewöhnliche Dinge normal zu finden. Unsere Spezies stammt aus Afrika, aber wir haben die ganze Welt besiedelt. Sogar Regionen am Polarkreis, wo wir nur überleben können, weil wir Kleidung entwickelt haben, schützende Behausungen und wärmende Energiequellen. Das ist für uns normal. Wer in Grönland aufwächst, hat nicht das Gefühl, in einen Ausnahmezustand hineingeboren worden zu sein. Wir finden es normal, in verwirrend großen Gemeinschaften zusammenzuleben, in Städten, umgeben von


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Menschen, die wir noch nie gesehen haben. Wir finden es normal, auf andere Leute Rücksicht zu nehmen, auch wenn wir sie nie mehr wiedersehen und sie sich niemals revanchieren können. Wir essen Dinge, die unsere Vorfahren nicht kannten, wir leben länger, als man sich das vor Jahrhunderten vorstellen konnte, wir betrachten Elektrizität, Telefone und Computer als völlig selbstverständlichen Teil unseres Lebens – oder fast schon als Erweiterung unseres Körpers. Wissenschaft: Auf zu neuen Gewohnheiten! Was für uns gewöhnlich geworden ist, können wir manipulieren, verwenden und in unseren Alltag einbauen. So können wir Probleme lösen und in Gedankenwelten vordringen, für die uns die Evolution eigentlich gar nicht ausgerüstet hat. Erst dadurch wurden Wissenschaft und Technologie überhaupt möglich. Ein Extrembeispiel dafür ist die merkwürdige Welt der Quantenphysik: Vor etwa hundert Jahren untersuchte man die Naturgesetze, die für winzige Teilchen gelten. Und einige der klügsten Menschen unseres Planeten waren völlig verblüfft: Diese neu entdeckten Gesetze erschienen ungewohnt, verwirrend, verrückt. Wohlbekannte Selbstverständlichkeiten wurden von den neuen Teilchen-Regeln plötzlich in Frage gestellt: Ein Stein, den wir in hohem Bogen in den Teich werfen, hat in jedem Augenblick einen ganz bestimmten Aufenthaltsort. Wir können seine Bahn mit einer Hochgeschwindigkeitskamera exakt bestimmen. Ein Quantenteilchen hingegen benimmt sich völlig anders: Es hat keinen bestimmten Aufenthaltsort. Es kann sich zur selben Zeit in gleichem Ausmaß an unterschiedlichen Orten aufhalten. Es muss sich auch nicht wie der Stein in eine ganz bestimmte Richtung bewegen. Es benimmt sich manchmal eher wie die kreisrunde Welle, die der Stein im Teich erzeugt: Sie kann sich in alle Richtungen gleichzeitig ausbreiten. Es war eine schwere Verzerrung des damaligen Weltbildes, eine schmerzhafte Dissonanz in den Köpfen

der Physiker. Doch heute werden die merkwürdigen Gesetze der Quantenteilchen in den Physikinstituten der Welt nicht mehr als Problem gesehen. Was den größten Genies vor hundert Jahren schlaflose Nächte bereitete, ist für die jungen Studenten von heute völlig normal. Nicht weil sie klüger sind. Auch nicht, weil sie ein umwälzendes Erleuchtungserlebnis hatten, in dem ihnen der wahre Sinn der Quantenphysik offenbart wurde. Der Grund ist einfach, dass sie mit den neuen Ideen aufgewachsen sind. Sie haben sich daran gewöhnt. Vielleicht sollte man sogar sagen: Wir alle gemeinsam, als Menschheit, haben uns daran gewöhnt. Die verrückte Seltsamkeit der Quantenphysik wurde nicht entschlüsselt oder wegerklärt, wir nehmen sie bloß nicht mehr als derart seltsam wahr. Manche Dinge lernt man, indem man neue Fakten verkündet bekommt: Welche Masse ein Kohlenstoffatom hat, kann man in einer Tabelle nachsehen und auswendig lernen. Aber andere Dinge lernt man wie eine Fremdsprache oder wie das Fahrradfahren: Man probiert einen Gedanken aus, verwendet ihn und kombiniert ihn mit anderen Ideen. Und irgendwann ist er normal. Unserem Bewusstsein wird keine Verzerrung, keine Verdrehung, keine Dissonanz mehr gemeldet. Wenn heute eine Physikerin mit einer Quantenchemikerin über das Verhalten von Molekülen plaudert, dann sind die merkwürdigen Gesetze der kleinen Teilchen für beide etwas völlig Selbstverständliches. Sie haben sogar ein intuitives Verständnis für diese Gesetze – ähnlich wie ein geübter Umkehrbrillenträger den Kopf intuitiv in die richtige Richtung wendet, auch wenn seine Brille ihm die Welt spiegelverkehrt präsentiert. Jeder von uns hat diese Fähigkeit, sich an Neues zu gewöhnen und konstruktiv damit umzugehen. Diese Fähigkeit ist es, was unsere Spezies so besonders macht. Genau dadurch haben wir es geschafft, Orchestermusik hervorzubringen, Städte zu bauen oder Roboter auf fremden Planeten landen zu lassen. Und darauf können wir auch einmal stolz sein.


Walter Angonese

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Brenner-Gespräch (22): „Macht etwas, es spielt keine Rolle was, aber macht etwas richtig!“

So viele Leute fahren über den Brenner, man müsste nur herausragende Persönlichkeiten an den Straßenrand zu einer Jause und einem Gespräch bitten. Nur jetzt gerade geht das nicht. Nicola Weber begab sich darum nach Graubünden und traf den Architekten Gion A. Caminada, der Dörfer aus ihrem regionalen Potenzial heraus weiterbaut und damit einzigartige Orte schafft. Er erzählt, wie Architektur lebendig wird, wie existentiell wichtig genaue Kenntnisse eines bestimmten Ortes sind und warum er die Welt lieber kosmopolitisch als global betrachtet.

Nicola Weber: Es sind ungefähr dreieinhalb Stunden von Innsbruck bis hier herein nach Vrin auf 1448 Meter, zuhinterst im Val Lumnezia. Es fühlt sich schon wie eine Reise an, in dieser Zeit, wo wir so stark auf unser engstes Umfeld fokussiert sind. Fehlt dir das Reisen? Gion A. Caminada: Nein. Ich reise eigentlich nicht unbedingt gerne, und wenn, dann eher im kleinen Umkreis. Ich muss nicht nach Peru oder Japan fliegen. Ich kann mir die Inspiration hier überall holen, in den Gassen, bei einem hitzigen Gespräch oder im leeren Raum. Durch die Betrachtung des Immergleichen lerne ich am meisten. N. W.: Am Weg hierher kommt man in Valendas vorbei, einem Dorf mit 300 Einwohnern. Dort hast du vor einigen Jahren das „Gasthaus am Brunnen“ revitalisiert. Die Wirtin dort hat erzählt, welch starker Impuls das für das Dorf war. Es ging also nicht nur um den gestalterischen Aspekt des Bauwerks, sondern fast noch mehr um den sozialen, gesellschaftspolitischen Akt für diesen Ort. Was ist dort passiert durch deine Arbeit? G. C.: Es gab in diesem Ort schon seit vielen Jahren einen Verein, der gegen die Verarmung des Dorflebens aktiv war. Mit dem entstand unter anderem die Idee von einem kleinen Gasthaus mit ein paar Gästezim-

mern. Schon der Diskurs allein ist ein Generator für die Gemeinschaftsbildung und genau das brauchen die Dörfer – Leute kommen zusammen und diskutieren über ihre Anliegen. Der Standort mitten im Dorf war dazu noch ein echter Glücksfall. Das alte Haus blieb und anstelle des Stalls entstand ein neuer Bau – das Neue und das Alte erzeugen zusammen die Atmosphäre, die wirkende Kraft. Wir haben einen Gastbereich für die Einheimischen gemacht und einen anderen für die Gäste, aber sie können sich treffen, eine Säule ist zugleich Zeichen der Trennung und der Verbindung. Solche Themen interessieren mich: die Frage, was kann Architektur für einen Beitrag erbringen, abgesehen von einem schönen Objekt. Ich glaube, das kann sie dann, wenn sie Strukturen schafft, wo Gemeinschaft entsteht, wo man sich aber auch aus dem Weg gehen kann. Nähe und Distanz sind wichtige Momente jeder Gemeinschaft. Neben der Architektur war noch entscheidend, dass wir einen unglaublich guten Wirt gefunden haben, der wiederum einen hervorragenden Koch, das macht ein solches Projekt als Ganzes interessant. N. W.: Solche Projekte sind deine typische Art zu arbeiten. Du setzt in Dörfern, die von Abwanderung bedroht sind, mit deiner Architektur sensibel Impulse und gibst ihnen dadurch eine Zukunftsperspektive, stärkst ihre Identität.


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G. C.: Architektur kann einen Beitrag leisten. Ich glaube, die Dörfer sterben nie aus, sie verändern sich ständig. Für viele Leute ist der Schwund ein großes Problem, für mich ist es ein Privileg, an einem Ort zu wohnen, wo niemand wohnen will. Es gibt in der Schweiz einige Studien, die prognostizieren, dass in ländlichen Gebieten nur noch Ortschaften über 500 Einwohner oder Ferienressorts eine Chance haben. Das stimmt aus einer ökonomischen Perspektive heraus, sie greift aber zu kurz. In der Pandemie hat sich das Ländliche ja wieder als gut erwiesen und sehr an Beliebtheit gewonnen. Diese Art von Zuwachs gilt es kritisch zu betrachten. N. W.: Hier in Vrin hast du schon Mitte der 1990er Jahre begonnen, mit sanften Interventionen das Dorf weiterzuentwickeln, Wohnhäuser, Ställe, ein Gemeindehaus … Wurde dieses Engagement immer wertgeschätzt? Es gibt vermutlich auch den Wunsch nach dem Anderen, dem scheinbar Fortschrittlicheren aus der Stadt? G. C.: Die Leute wollten immer schon eine bessere Welt als die, die sie haben. Eine Romantisierung war vor Ort nie da, das ist eher die Sicht der Städter, die hierherkommen, die wollen, dass es so bleibt, wie es ist. Verständlich, dieses Bild hat sie schließlich angezogen. Die Menschen hier wollten nicht nur das Alte erhalten – ich auch nicht –, man wollte aber auch nicht das aus der Stadt einfach übernehmen, weil es nicht zu uns passt. Was es also braucht, ist ein logisches Weiterdenken, ein selbstverständliches Weitermachen aus dem heraus, was schon da ist. Die Umstände haben sich verändert. Heute ist vieles verfügbar, der Umgang mit diesen Möglichkeiten erweist sich als schwierig. Gefordert ist eine Haltung. Die Kontinuität des FastGleichen fasziniert mich, daran arbeiten wir in Vrin. N. W.: Dafür braucht es eine Nähe und enge Beziehung zum Ort, eine Wertschätzung dafür. Du bist hier aufge-

wachsen, deine Familie hat diese Wiesen bewirtschaftet – hast du das selbst so erfahren? G. C.: Die genauen Kenntnisse des bestimmten Ortes waren etwas ganz Existenzielles in meinem Leben. Wir mussten wissen, wie das Wetter bei der Bewirtschaftung einer Wiese wirkte. Welche Bedingungen sind ideal für dieses Grundstück? Es macht bei der Bewirtschaftung einen großen Unterschied aus, ob der Hang nach Westen oder nach Osten ausgerichtet ist. Aus diesem Verständnis für das Praktische, das Funktionale des Ortes und aus der Topografie heraus entsteht Beziehung, nicht aus einer abstrakten, romantischen Vorstellung. Das geht heute weitgehend ab. Die Bauern haben große Maschinen, das Heu wird in der Scheune mit künstlicher Belüftung getrocknet oder auf dem Grundstück stehen gelassen und in Plastik eingewickelt. N. W.: Du sprichst oft davon, mit deinen Projekten „Orte zu schaffen“. Wann gelingt das? G. C.: Der Raum ist grenzenlos, ist etwas Politisches. Der Ort ist etwas Sinnliches. Aber ein schönes Objekt allein macht noch keinen Ort. Ein Ort ist die Summe aus vielen Dingen, da spielt auch das Können der Menschen eine wichtige Rolle, ihr kulturelles Vermögen, das man erkennen und einsetzen muss. Viele unglaublich schöne Orte sind entstanden, weil dort Menschen mit ganz spezifischen Fähigkeiten lebten. In dieser Vorstellung des Ensembles geht es um die Wertschätzung des Gegenübers. In diesem Sinne ist die ästhetische Perspektive, ob etwas schön oder hässlich ist, nicht vordergründig wichtig. Werte sind mehr als nur die Ästhetisierung von etwas. Das schöne Objekt ist also nicht das primäre Ziel im Prozess, sondern der Prozess führt im besten Falle zu Schönheit. Ein stark wirkender Ort entsteht immer aus einer großen Intensität heraus. Lokales Bauen ist mehr als die Verwendung der Materialien aus dem Ort, ist Intensität!


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So verstanden kann das lokale Bauen überall, auch in der Stadt stattfinden. N. W.: Stadt und Land sind ohnehin Polaritäten, die es vielleicht gar nicht mehr gibt. Das Dorf ist längst nicht mehr unabhängig, sondern hat vielfältige Beziehungen in die globale Welt. Entwickeln wir also verschiedene Identitäten – zuerst eine lokale aus der Lebensumgebung heraus und dann eine globale, aus den Bezügen nach außen? Und wie lassen sich diese zwei Identitäten in Übereinstimmung bringen? G. C.: Ich denke, dass es sinnvoll und wichtig ist, zuerst einmal einen intensiven Bezug zu etwas herzustellen. Ich sage meinen Studenten immer wieder: Macht etwas, euer ganzes Leben lang, es spielt keine Rolle, was! Egal, ob das Bienenzucht ist oder Architektur, aber macht etwas richtig. Jemand hat einmal gesagt: Wenn man etwas richtig beherrscht, dann beherrscht man alles. Das merken wir auch bei bestimmten Bauweisen. Für den hier so typischen Strickbau aus Holz muss man andere Techniken beherrschen als im Betonbau. Aber irgendwie kommt es doch auf das Gleiche an, immer geht es um ein intensives Sich-Einlassen, um das Prozesshafte. Darüber hinaus ist aber auch die globale Sicht wichtig. Wenn ich an einem abgelegenen Ort etwas entwickle, muss ich wissen, welche Kräfte von außen einwirken, sonst ist die Gefahr des Scheiterns groß. Ich mag in diesem Zusammenhang sehr die Idee vom Kosmopoliten. Der Kosmopolit richtet den Fokus ganz spezifisch auf etwas, aber er hat dabei die Welt im Blick, den Kosmos, das Gesamte. N. W.: Es gibt also einen Unterschied zwischen kosmopolitisch und global? G. C.: Im Globalen bist du ständig irgendwo unterwegs und zugleich nirgends, du rotierst herum, ohne Zentrum, alles ist gleichwertig. Da kann keine Intensität entstehen. Beim Kosmopolitischen fokussierst du auf

einen Punkt, du kannst weit ausschweifen, aber es gibt immer diesen intensiven Bezugspunkt, der über allem steht. N. W.: Wenn man ohne Fokus auf die Welt schaut, besteht ja die Gefahr, dass man angesichts der komplexen Probleme in Schockstarre verfällt und dann gar nichts macht. G. C.: Genau. Darum ist es wichtig, in kleineren Einheiten zu denken! Ich kann unmöglich Verantwortung für die ganze Welt übernehmen, aber ich kann Verantwortung für das Dorf Vrin tragen. Und wir müssen auch immer mit unseren eigenen Mitteln eine Antwort geben. Klimawandel – was soll ich da machen? Bei einem Wohnprojekt in Valendas habe ich das Prinzip der Klimazonen angewandt, das war meine Antwort auf die Thematik. Innerhalb jeder Wohnung gibt es unterschiedliche Zonen – einen normal beheizten Raum, kalte Zonen und andere, die passiv durch die inneren Räume aufgeheizt werden, sie sind temperiert und zudem zweckfrei. Man kursiert im Laufe des Tages also zwischen 22 Grad, 12 Grad, bis hin zu minus 10 Grad im Winter. Diese unterschiedlichen Temperaturen beeinflussen die Wahrnehmung im Raum, die genaue Größe der Wohnung ist gar nicht mehr so klar. Die Referenz kommt aus meiner Kindheit. In unserem Bauernhaus war einzig die Stube beheizt und die anderen Räume im Winter nahe an der Nullgradgrenze. Das Charakteristische dieser Typologie hat mich interessiert – was macht das mit deinem Körper, wenn du dich zwischen den unterschiedlichen Klimazonen bewegst? Welche Freiheit erzeugt das im Wohnen, wenn es definierte, verlässliche Zonen und undefinierte, flexible Bereiche gibt? Das birgt zum Beispiel die Möglichkeit, für das pubertierende Kind ein Zimmer zu bauen, das durch einen kühleren Zwischenraum von der Wohnung getrennt ist, das also zugleich dazu und nicht dazu gehört, was genau seiner Lebensphase entspricht.


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N. W.: Dieses Übersetzen einer traditionellen Typologie in aktuelle Architektur hast du auch bei einem frühen Projekt in Vrin gemacht, der Stiva da Morts, der Totenstube. Wie kam die Idee für dieses Bauwerk? G. C.: Das Ritual, die Toten daheim aufzubahren, ist immer mehr verschwunden. Ich sah das als Verlust. Meine Eltern waren zu Hause aufgebahrt und in dieser Zeit habe ich erfahren: Der Tod hat eine gewisse Schönheit, die man nicht erklären kann, etwas ganz und gar Großartiges. Das Abschiednehmen hat sich in Stube, Küche und Gang abgespielt, wo Gemeinsamkeit, aber auch Rückzug möglich war. Auch hier hat mich die Leistungsfähigkeit der Typologie für dieses Ritual interessiert. Den eindrucksvollen Trauerzug vom Haus des Toten bis zur Kirche wollte ich unbedingt erhalten. Das ist der emotionalste Moment der Trauerfeier. Die Totenstube selbst ist zwischen sakral und profan positioniert, zwischen Lebenden und Toten, also knapp außerhalb der Friedhofsmauer. Das kleine, zweigeschossige Haus hat Stube, Küche und Gang, alles aus Holz, konstruiert in Strickbauweise, das können die Vriner so gut und mich hat die Weiterentwicklung dieses tektonischen Schichtens massiver Holzbalken immer interessiert. Den Bezug zwischen Kirche und Dorf haben wir mit einer bewussten Veränderung aus dem gleichen Material erzeugt. Holz und Konstruktion, wie die Häuser im Dorf, aber mit einem weißen Kalkanstrich veredelt, der es dem Stein der Kirche ähneln lässt. Das könnte man vielleicht auch als Bricolage bezeichnen, dieses Basteln, das fast etwas von Alchemie hat. Wie kann ich aus einem einfachen Stück Holz durch meine Arbeit etwas Wertvolles machen? So wie die Alchemisten alles zu Gold machen wollten. Für die architektonische Qualität ist das Können und die Vorstellungskraft einer Umwandlung der materia prima entscheidend. Ich denke, unsere kulturelle Leistung ist viel größer, wenn wir nehmen, was da ist, und daraus einen gewissen Wert generieren. Dieser Wert ist Schönheit.

N. W.: Den Begriff der Bricolage verwendest du öfter, es heißt so viel wie „zusammenbasteln“. Da steckt viel vom Wissen aus Erfahrung drin, vom lokalen Handwerkswissen, im Gegensatz zum heute so viel stärker betonten kognitiven Wissen. Was muss zusammenfließen, dass etwas gut gelingt? G. C.: Ich glaube, als Architekt muss ich auf Verschiedenes ausgerichtet sein. Ich bin einmal eine Art Wissenschaftler, muss etwas wissen über Bauphysik oder Statik, dieses Expertenwissen ist unglaublich wichtig. Aber Architektur hat nicht nur mit Material, Konstruktion und Raum zu tun, sondern auch mit Ereignissen, mit Zufällen, Geschehnissen, Emotionen – da ist das Narrative wichtig, vielleicht ist es in einem bestimmten Fall der Wetterprophet. Architektur für den Ort geschieht in diesem Wechselspiel. Wichtig ist auch der Glaube an andere Wirklichkeiten. Ich denke in dem Zusammenhang gerne an die zweite Naivität. Als Kind war man naiv, dann lernt man dazu, wird quasi Experte. Aber was passiert, wenn man das wegschmeißt und sich noch einmal einlässt in dieses kindliche Denken, aber eben mit Erfahrung und Wissen im Hintergrund? N. W.: Der respektvolle Umgang mit den Gegebenheiten vor Ort, der in allen deinen Projekten liegt, wäre auch ein Rezept für einen anderen Umgang mit der Welt insgesamt. Wir merken ja, dass es so nicht weitergehen kann und sich die Natur wehrt. Wie könnten wir diese Beziehung verträglicher gestalten? G. C.: Für zukünftige Handlungsformen auch in der Architektur finde ich Bruno Latours Ansatz im „Terristrischen Manifest“ wegleitend, wo er ein neues Verhältnis des Menschen zur Erde fordert. Er meint, die Dinge hätten uns etwas zu sagen. Wenn ich mich auf das Material einlasse, kommt etwas zu mir zurück, es entsteht Resonanz. Der Begriff der Resonanz ist mir überhaupt ganz wichtig, ich finde ihn in so vielen Projekten wieder: Im Gasthof in Valendas zum Beispiel


denken bauen wohnen frei nach martin heidegger –

denken (gion ist ein großer denker), bauen (gion ist ein ex-

hommage an gion a. caminada. mit seinem projekt „burg-

zellenter erbauer) und wohnen (mit valendas hat wie gesagt

garta“ in valendas hat caminada das wohnen neu definiert

das wohnen eine neue dimension erfahren). das verbrannte

und eigentlich als erster heidegger gebaut. die küche,

holz steht für das feuer, aber auch für das denken als feuer

der herd, die feuerstelle als zentrum des wohnens. von

des seienden; holz ist auch der von gion bis dato favorisier-

heidegger gibt es bekanntlich den aufsatz „bauen wohnen

te baustoff. der kontext ist mein arbeitstisch, er steht für das

denken“. mit frei nach meine ich eben die andersreihung in:

handwerkliche. (walter angonese)

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wollte man im Speisesaal ein großes Panoramafenster haben. Aber was ich dann sehe, ist nur Bild. Ich wollte einen Rhythmus von Öffnung – Wand – Öffnung – Wand erzeugen, durch dieses Hin und Her berührt mich das, was ich sehe. Es entsteht eine Beziehung, die Materie wird lebendig, das Gegenüber wird Teil der Raumatmosphäre. Oder der Aussichtsturm im Tierpark Arth-Goldau, den ich gebaut habe – je nach Perspektive scheint er sich zu bewegen, gar zu kippen, ist nicht mehr statisch korrekt. Das ist ein Spiel mit Körper und Geometrie. Latour redet im „Parlament der Dinge“ vom Quasi-Objekt und dem Quasi-Subjekt. Plötzlich schauen die Dinge dich an und mit dem Erkennen der Lebendigkeit im Gegenüber entsteht eine höhere Wertschätzung für das Nicht-Menschliche. N. W.: Muss man beim lokalen Bauen auch eine Form der aktiven Verweigerung praktizieren, gegen manche Dinge, die als innovativ oder technologisch modern gepriesen werden? G. C.: Ja klar, man muss Widerstand erzeugen durch eine andere Art des Machens. Viele Stadtmenschen würden gern einen Stall in Vrin ausbauen und zu einem Feriendomizil machen. Das raubt auf Dauer den Dörfern ihr Potenzial für die Zukunft. Die leeren Ställe sind für mich Platzhalter für zukünftige Entwicklungen, sie halten Raum frei für später und sind dadurch ungemein wertvoll.

Ein anderer Artikel verbietet Zyklopenmauerwerke. Das heißt, man kann hier kein Haus aus dem Katalog kaufen und anschließend das Gelände mit dem Bagger so planieren und abstützen, dass es draufpasst. Und das Wichtigste war – ein Horror für die fusionierte Gemeinde –, man darf nicht mehr als 40 Prozent eines Stalles für eine andere Nutzung umbauen, ohne das äußere Bild zu verändern. Eine Tarnung ist also unmöglich. Das hat einen Einfluss: Es kauft dir kein Städter diesen Stall ab, wenn er nur einen Teil nutzen kann. Das war damals eine Art kosmopolitischer Gedanke, den wir angewendet haben. Schauen, was in der Welt passiert und welchen Einfluss das auf dich und deinen Ort haben kann, um dann entsprechend zu reagieren. Manches davon lässt sich übrigens auch in der Stadt anwenden. Dieser Raum zwischen den Räumen zum Beispiel, zu spüren, was in diesem Nullraum passiert, das ist wichtig. N. W.: Du arbeitest immer mit den Realitäten vor Ort, du gehst zuerst einmal vom Vorhandenen aus. Aber braucht es nicht auch eine Menge Utopie bei deinen Projekten? G. C.: Natürlich! Architektur ist einerseits Realität, aber der utopische Gedanke muss immer mitschwingen. Gesucht ist ein Jenseits. Bleibe ich Realist, so ändert sich wenig, bin ich nur Utopist, dann bin ich arbeitslos.

N. W.: Was wohl nicht so einfach ist, weil die Dorfbewohner den Stall sicher um viel Geld an die Städter verkaufen könnten.

N. W.: Hier, wo du lebst, wird im Alltag Bündnerromanisch gesprochen. Wie würden wir uns in dieser Sprache verabschieden?

G. C.: In dem Zusammenhang bin ich recht stolz, dass wir schon vor 20 Jahren ein paar tückische Artikel in die Bauordnung von Vrin hineinreklamieren konnten. Sie verbietet zum Beispiel, das ganze Grundstück einzuzäunen. Ich wollte dadurch diese flüssigen Übergänge zwischen öffentlichem und privatem Raum erhalten.

G. C.: Stau bi cun tei, engraziel per la bialla discussiun. Das heißt: Es war schön mit dir, danke für das schöne Gespräch. Stai bain, leb wohl. Adia!


Cukrowicz Nachbaur Architekten

Proportionen, schlichte, wiedererkennbare Formen: Dreiecke, Quadrate …

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È PERICOLOSO SPORGERSI* Von Nick Oberthaler stammt das Cover dieser Ausgabe von Quart sowie die folgende Bildstrecke. Eine Einführung zu dieser Arbeit liefert Marie de Brugerolle, aus dem Französischen übersetzt von Kristina Lowis.

Nick Oberthaler fährt Zug. Ständig steigt er in Abteile ein, setzt sich und blickt aus dem Fenster, das die jeweils vorbeiziehende Landschaft rahmt. Das trainiert seinen Blick darin, immer wieder den Fokus umzustellen. Weil er weite Strecken zurücklegen muss, beobachtet er das Wechselspiel der atmosphärischen Variationen: Sie verändern die Detailschärfe der Landschaft. Immer wieder zoomt er ein einzelnes Element wie ein Haus auf einem Feld heran, gleich danach springt sein Blick zurück, um die sich rot färbende Sonne am Horizont zu sehen, dann wieder zieht er den Vorhang zur Seite, um das Blickfeld zu erweitern. Oberthaler überträgt die Erfahrung der Bewegung durch eine fahrende Landschaft auf das Blatt und ordnet auf der Suche nach Ansichtsvarianten heterogene Materialien an. Wie bei einem Story-Board oder einem Schnittplan beim Filmemachen fügen sich die Bildelemente in gegenseitiger Abhängigkeit zueinander. Alle Doppelseiten hier sind identisch aufgebaut. Sie zeichnen sich durch einen breiten senkrechten Streifen aus, der die Farbigkeit der vorausgehenden Seite aufnimmt. Rhythmisch verschiebt sich die Farbe von einer Doppelseite zur folgenden, als ob sich eine Seite auf die nächste ausdehnen würde. Die Übertragung der Farbigkeit zeigt sich auf der zweiten Doppelseite als gelber Streifen, der die Fläche der linken Magazinseite begrenzt. Dieser gegenüber eröffnet sich ein weißes Feld, als hätte man ein Blatt Papier auf den grauen Hintergrund gelegt. Darauf befinden sich drei mit blauem Kugelschreiber gezeichnete Skizzen. Sie zeigen das Fragment eines durchgestrichenen Dreiecks und die schräge Basis zweier weißer Rechtecke auf blauem Grund, über dessen Linie die Filzstiftschraffur hinausgreift. Die beiden Vignetten zeigen eine Ansicht von oben auf so etwas, das an geöffnete Briefumschläge erinnert. Linksseitig wiederum ist ein kleines Gemälde zu sehen. Es scheint über dem grauen Hintergrund zu schweben, denn an seiner Unterkante ist ein Schatten zu erkennen. Ist das eine Postkarte? Das ist eine Postkarte!

* Warnhinweis an Zugfenstern: Bitte nicht hinauslehnen.

Wieso sich das so leicht behaupten lässt? Aufgrund des Formats. Alle anderen gemalten Elemente des vor uns liegenden Raums besitzen Proportionen, schlichte, wiedererkennbare Formen: Dreiecke, Quadrate … doch das einzig konkret dimensionierte Element ist dieses aufgelegte Bild. Es hat ein Standardmaß: Seine Proportionen sind bezeichnend und indexieren es als Postkarte. Ihre Komposition folgt einer bestimmten Gattungskategorie der Malerei. Sie zeigt eine Landschaft, genauer gesagt eine Landschaft niederländischer Art mit der für diese Malweise typischen tiefen Horizontlinie. Der graue Himmel füllt den überwiegenden Teil des mit einem blauen Pinselstrich abgeschlossenen Raums aus. Die rote Scheibe verweist auf jene erwähnte untergehende Sonne. Alles ist scharf umrissen, bis auf die blaue Pinselspur. Durch diese Geste wird das Bild zur „Komposition“: ein informelles, vom Kartenrand begrenztes Zusammenspiel von drei in der Fläche zusammengeführten Elementen. Der Begriff der Komposition geht mit einer Reihe von Regeln einher und bezieht sich auf die Konzeptionsphase eines Werks. Für Oberthalers künstlerische Praxis ist die konzeptionelle Entwicklung entscheidend. In der Malerei bedeutet Komposition die Kunst, Farben und Formen zusammenzusetzen, und bezieht sich auf deren Anordnung auf einer Oberfläche. Oberthalers Komposition allerdings wird zur Partitur, weil sie sich nicht nur räumlich, sondern auch zeitlich entfaltet. Durch die überlappende Anordnung der Arbeit auf den Seiten des Magazins wiederum und die sinnliche Wahrnehmungserfahrung des Lesens wird sie zur Konstruktion. Auf diese Weise nämlich entzieht sich die Arbeit den Rahmenbedingungen einer Zeitschrift und reflektiert einen veränderten Habitus des Lesenden. Ein Buch öffnet sich normalerweise auf zwei rechts und links vom Mittelfalz angeordnete Seiten. Man liest von links nach rechts oder umgekehrt, von oben nach unten, ein Blatt nach dem anderen, bevor man weiterblättert. Mit dem Aufkommen von Tablets und Computertastaturen mit integrierter Maus blättern wir aber keine Seiten mehr um, sondern schieben eine Bildschirmseite über die andere. Eben diese Tatsache hat Oberthaler in die Praxis umgesetzt. Er kombiniert zwei Modalitäten: das Schieben (slide) und das Blättern (flip), und eröffnet


Das Landschaftsbild ist ein Ausschnitt, ein Stück eingerahmte Natur.

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damit eine veränderte Form der Rezeption. Aus der Kombination beider Modalitäten entsteht eine hybride dritte Lesart: ein Gemälde, das sich umblättern lässt, ein Buch aus Bildern, das sich mit der Zeit entfaltet. Der Hintergrund tritt in den Vordergrund und wird wiederum selbst zum Hintergrund der nächsten Seite. Die Malerei wird in einen Erzählstrang überführt. Um was für eine Art von Malerei handelt es sich? Eine Malerei, die Fenster öffnet. „Die Malerei hat genau dann zwei Dimensionen, wenn sie aufhört, Hintergrund zu sein“, sagt Martin Barré.1 Eine Malerei, die sich ihres Gegenstands entledigt hat, ist a priori nicht figurativ darstellend, sondern abstrakt; Postkarten im eigentlichen Sinne zeigen Landschaften, Farben und Formen als konkret fassbare Elemente. Die frühesten Inspirationen Piet Mondrians waren konkrete Bäume, deren kraftvolle Linien er später in seine abstrakten Gemälde überführte. Das Landschaftsbild ist ein Ausschnitt, ein Stück eingerahmte Natur. Ein Gemälde ist ein Rahmen, ein Viereck, das einem Fenster gleichkommt. Dieses Fenster kann sich entweder nach außen öffnen oder den Blick nach innen freigeben. Der Ausspruch, die Malerei sei wie ein Fenster zur Welt, wird Alberti zugeschrieben. Zunächst hat er von ihr als einem Fenster zur Geschichte der Welt gesprochen, dann von einem offenen Fenster, von dem aus er sehen könnte, was hier zu malen sei.2 Oberthaler öffnet das Fenster auf die Malerei selbst. Am Anfang steht die frei erfundene Geschichte einer Reise, oder vielmehr einer Strecke, einer Bewegung zwischen zwei Punkten, zwei Orten, zwei Räumen. Dabei handelt es sich nicht um eine Erzählung mit Anfang, Höhepunkt und Ende. Alles findet unterwegs, zwischen zwei Haltestellen statt, wie auf Eisenbahnlinien. „Eisenbahn“ bezeichnet die eisernen Bahnen, auf denen die Züge fahren: Schienen. Mit einer Schiene arbeitet auch der Bildhauer, der eine Blockseite flach behauen will. Im gleichen semantischen Feld steht die Strecke für die Seitenabfolge im gedruckten Buch und die Straße bezeichnet die hintereinandergeschalteten Maschinen für seine Herstellung in der Druckerei. Oberthalers Strecken bringen die Gesamtstruktur in Bewegung und bilden das Nervensystem seiner Arbeit. Design on the move. Index. Das hat jedoch nichts Romantisches – hier gibt es nichts Erhabenes, keine Übersicht und keinen allumfassen-

den Panoramablick. Im Gegenteil, jede Gesamtansicht wird unmöglich, durch das Nacheinander der Figuren in den hintereinander aufgeschlagenen Seiten. Indem Oberthaler ein Detail streckt, wird es zur Malerei, der Zwischenraum übernimmt die Malfunktion, wie in den Vertikalen Panoramen von Walter Obholzer.3 Diese internen Strecken schaffen eine unendliche Menge an unsichtbaren Punkten und Linien – erst aus ihrer Verdichtung entstehen die Formen. An diesem Gerüst tasten wir blätternd mit den Fingern entlang. Der Finger, mit dem man auf etwas zeigt, heißt „Zeigefinger“ oder „Index“. Index bezeichnet in Pierces Zeichentheorie eine Ikone, die von dem durch sie repräsentierten Gegenstand beeinflusst wird: Die Interaktion generiert eine Abwandlung. Zudem ist ein Index ein Register, ein Namensverzeichnis, eine Nomenklatur, die wortwörtlich „beim Namen ruft“. Farbennamen, der Name. Outsourced colors. Exformation. In bestimmten Bildabschnitten (den senkrechten Streifen) hat Oberthaler auf Farben aus ungewöhnlichen Quellen zurückgegriffen, wie etwa den Google color charts: BLUE: Hex Color #4285F4 RED: RGB (219, 68, 55) YELLOW: Pantone PMS 123 C Diese Namen wirken wie geografische Standortangaben, bei denen Längen- und Breitengrade zueinander in Beziehung stehen. Der rote Punkt auf der gemalten Postkarte erinnert an den Punkt auf Google Maps, der als Anhalts- und Orientierungspunkt dient. Genau diesen Effekt erzielt Oberthaler, wenn er zwei Flächen grafisch miteinander verbindet: Er stellt Schnittpunkte bzw. Begegnungspunkte her.

1 „La peinture a deux dimensions quand précisément elle cesse d’être un fond“, Martin Barré in einer Videoaufnahme, die auf der Seite des Mnam-Centre Pompidou zu seiner Retrospektive (14. Oktober 2020 bis 5. April 2021) abrufbar ist. 2 Leon Battista Alberti: De pittura, im Original in lateinischer Sprache von 1435, Buch I: „quod quidem mihi pro aperta fenestra est ex qua historia contueatur.“ In der von Alberti selbst verfassten italienischen Ausgabe von 1436 heißt es dagegen: „una finestra aperta per donde io miri quello che quivi sarà dipinto“. Zum Übergang von der „historia“ zur Malerei s. Gérard Wajcman, in: Fenêtre, Paris: Editions Verdier, 2004, S. 54–55. 3 S. Walter Obholzer: Vertikale Panoramen, Ausst.-Kat. Galerie Thaddaeus Ropac, Salzburg, 1991.


doch der unterhalb angedeutete Schatten lässt die Illusion entstehen

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Seine künstlerischen Quellen liegen zum Teil im Realen, was den zwischen Partitur (score) und Permutation (poetic system) angesiedelten Arbeitsprozess erklärt. Oberthaler zeichnet per Grafikpalette am Computer, wobei vorangegangene Skizzen und Recherchen als unsichtbare Informationen mit einfließen. Eine solche Arbeitsökonomie nennt man Exformation: Der abwesende Teil ist genauso wichtig wie der sichtbare Part. Der Künstler selbst nennt es „die unsichtbare Information (noch) nicht ausgeführter Arbeiten“4, wobei nicht ausgeführt nicht heißt, dass es sie nicht gibt. Diese Gleichbehandlung von Skizze und fertigem Werk macht jede Hierarchie zunichte – nach dem gleichen Prinzip, mit dem auch die Unterscheidung zwischen Form und Inhalt aufgehoben wird. Rewinding pages: a corner twist. Zeitschriften haben die Eigenschaft, dass man sie von vorne nach hinten und wieder zurück durchblättern kann. Auf der ersten von Oberthaler gestalteten Doppelseite bilden die senkrecht angeordneten grauen, blauen, gelben und grünen Linien ein rhythmisches Raster mit drei Ebenen und Größen aus. Blättert man rückwärts, so wird der Anfang zum Ende, das Vorher zum Nachher, das Motiv zum Hintergrund, das Behältnis zum Inhalt. Im Index der Zeichnungen5 führt Ernst Caramelle eine kleine Skizze wie folgt auf: 1 IDEA Gedanke 1 picture Bild Werk Er benennt damit das Grundprinzip der sogenannten Konzeptkunst: Ein Gedanke zeitigt eine Form. Oberthaler geht noch weiter: In seinen vieldeutigen Werken entspricht einem einzelnen Gedanken gleich eine ganze Serie von Variationen. Auch hierin zeigt sich, dass er Hierarchien auszuhebeln versucht, denn er stellt Grundierung und Oberfläche, Motiv und Thema, Konturen und Flächen gleichwertig nebeneinander. Die von ihm spielerisch eingesetzte Typologie aus wiederkehrenden Formen ist zu seinem Markenzeichen geworden. Senkrechte Linien (Google color chart) Das (gelbe, rote) Dreieck Das Rechteck (der Seite, der Postkarte) Der (rote) Punkt

Die Postkarte (ein aus zwei Dreiecken gebildetes Rechteck) wird selbst zum Motiv, sie trägt die Komposition, gliedert das Bild und spielt eine Hauptrolle in dieser Arbeit. 
 Postkarten: Reisegemälde Die Postkarte tritt in verschiedenen Erscheinungsformen auf. Sie ist gemalt dargestellt, doch der unterhalb angedeutete Schatten lässt die Illusion entstehen, sie sei in hyperrealistischer Manier auf das Blatt geklebt. Sie ist die Darstellung einer Darstellung, ein Bild im Bild, das die Malerei an sich in Zweifel zieht. 
Duchamp hat 1918 den Begriff „Reiseskulpturen“ („Sculptures de voyage“) geprägt, hier könnte man nun im übertragenen Sinne von „Reisegemälden“ sprechen. Die Postkarten sind eine Art erweiterte tautologische Definition. Als ob man Joseph Kosuths One and Three Chairs von 1965 noch ein Element hinzufügte: das Bild eines Gegenstands, der Gegenstand selbst und seine Definition. Die Postkarte in Quart 37 erweitert die Darstellung im 21. Jahrhundert um eine vierte Dimension: Malen im Bildschirmzeitalter. Vom Fenster zur Screentime. Die in einem Briefumschlag steckende Postkarte präsentiert den in Quart 37 verwendeten Farbcode wie ein Blatt aus dem Pantone-Fächer. Oberthaler hat eine Reihe solcher kleiner Gemälde mit schwarzen Buchstaben (Letraset) darauf verschickt. Man liest „S. O.“, was einer geografischen Richtung – Sud-Ouest (Süd-West) im Französischen, Süd-Ost im Deutschen – oder dem Anfang von S. O. S. (dem Notruf im Morsealphabet) entsprechen könnte. Auf der mittleren Doppelseite ergeben die Karten eine versprengte kaleidoskopische Ansicht – wie eine durch ein schräg geöffnetes Fenster gesehene Landschaft. Die meisten Zugfenster lassen sich nicht vollständig öffnen. Manchmal kann man die obere Scheibe herunterklappen, andere sind Schiebefenster, die sich nur horizontal und teilweise öffnen lassen. Es ist sehr gefährlich, in einem fahrenden Zug das Fenster zu öffnen, denn wenn man sich zu weit herauslehnt, läuft man Gefahr, den Kopf zu verlieren.

4 „Invisible information of non-executed works“, Nick Oberthaler im Gespräch mit der Autorin im April 2021. 5 Ernst Caramelle: Josef Troma schläft heute (Marginalien) / PA-RA-BU 11, Frankfurt am Main: Ed. Karl Riha, Patio Verlag, 1978.












Rainer Köberl

Wie das Globe-Theater (1599 / 1613)

„Das Treibhaus – Theater im Turm“ im Hinterhof der Angerzellgasse scheint aus der Idee des Shakespeare-Theaters entwickelt zu sein. In unserem Entwerfen spielte dies jedoch keine Rolle. Begonnen hat die Geschichte im „Treibhaus“ in Pradl in der Anzengruberstraße. Dort lautete der Auftrag Norbert Pleifers, im Garten einen unterirdischen Saal zu planen. Der Mappe mit schönen Plänen war die Empfehlung hinzugefügt, das Projekt nicht zu verwirklichen, sondern sich einen Standort „in der Stadt“ zu suchen. Vorschlag war das „Turnusvereinshaus“ am Waltherpark, das revitalisiert werden sollte. Dies war nicht möglich und nach längerem Suchen und Versuchen wurde der Platz im Hinterhof gefunden. Zuerst ein eingeschoßiger Bau mit großem zeltartigem Pyramidenstumpf darauf – „der Panzer“. Dann mit Maßband die Traufe der Gumppschen Jesuitenuniversität gegenüber gemessen. 12,50 m. Da wir diesen Bezug als maßgebend für die städtebauliche Situation empfanden, entstand der hohe Raum. Zuerst eine Galerie, dann – „wenn schon“ – zwei Galerien. Zuerst noch quadratisch, entwickelte sich das Achteck erst durch den Wunsch – „irgendwie rund“ hinaufzugehen. Dann war’s die „Säule der Menschen“ – „rund ums Geschehen“. Wohl verwandt mit dem Shakespeare-Theater.

Architekten: Rainer Köberl, Gerhard Manzl, Raimund Rainer, 1986 Bauherr: Verein Treibhaus – Norbert Pleifer, Johann Juen 44 / 45


Heiterkeit und Wehmut Volksmusik entsteht aus der „Mitte“ oder der „Tiefe“ eines Volkes, heißt es bis heute vielerorts. Was für ein Unsinn! Berthold Seliger erzählt eine kleine Geschichte der erfundenen Volksmusik, auch „imaginäre“ Folklore genannt – von Johann Gottfried Herder über Béla Bartók bis Werner Pirchner.

Es war der 28. Februar 1993. Die französische Band Bratsch spielte das allererste Mal überhaupt in Deutschland, nämlich eine der legendären, vom WDR veranstalteten und live übertragenen „Matineen der Liedersänger“ in einem Bochumer Museum. Das war eine Reihe von anspruchsvollen und geradezu legendären Sonntagmorgen-Konzerten, die seit 1974 von der Redaktion Volksmusik (die in den 90er Jahren sinnvollerweise in Redaktion Musikkulturen umbenannt wurde) des WDR veranstaltet und längst eingestellt wurde – so „scheißig“ (Goethe!) sind sie, die Zeiten … Bratsch hoben mit Nane Tsora an, dem traditionellen Lied der Roma, und es war ein magischer Moment von ungeheurer Intensität und Schönheit, den diejenigen vermutlich nicht vergessen werden, die damals dabei waren, ob live in Bochum oder am „Weltempfänger“ zuhause. Sie nannten ihre Alben damals Notes de voyages (1988), Sans domicile fixe (1990), Transports en commun (1991) oder Correspondances (1994) – ein deutlicher Hinweis also auf prinzipielle Heimatlosigkeit, auf Reisetätigkeiten und auf traditionelle Wandermusikanten wie die Klezmorim, Ròm oder Sinte, die musikalische Inspirationen auf ihren Reisen oder bei Begegnungen mit anderen Musikern gewonnen haben. Ausdrücklich bezogen sich Bratsch seinerzeit auf die Musik der „Zigeuner“ Zentraleuropas sowie auf jiddische Traditionen, die sie etwa aus der Beschäftigung mit dem amerikanischen Crooner und Radiostar österreichischer Herkunft Theodore Bikel herausfilterten. Bikel musste 1938 nach dem „Anschluss“ Österreichs an Nazi-Deutschland vierzehnjährig nach Palästina fliehen, arbeitete in einem Kibbuz und an Theatern in Tel Aviv, studierte an der Londoner Royal Academy of Dramatic Art, wurde von Laurence Olivier für eine Produktion von Endstation Sehnsucht entdeckt und ging 1955 nach New York, wo er einen Plattenvertrag von Elektra Records erhielt, für die er jiddische, hebräische und russische Volkslieder aufnahm. Er wurde mit Pete Seeger zum Mitbegründer des Newport Folk Festivals, wo er 1960 auch selbst auftrat. Bikel spielte in etlichen Filmen, unter anderem Flucht in Ketten (1958), wofür er eine Oscar-Nominierung erhielt, oder 1971 in Frank Zappas 200 Motels, war Präsident ei-

ner Schauspielergewerkschaft und Vizepräsident des American Jewish Congress und nahm eine Vielzahl von Schallplatten auf. Das Besondere war, dass er seine Produktionen bevorzugt von Musikern aus der jeweiligen Region einspielen ließ. Es ging ihm um eine Mischung von Musikkulturen, wie sie für Zentraleuropa und speziell den Balkan selbstverständlich war. Um auf das Bratsch-Konzert im Jahr 1993 zurückzukommen: Der Moderator der WDR-Sendung, ein freier Mitarbeiter, war nach einem Hintergrundgespräch mit der Gruppe einigermaßen perplex und sprach von einer Art Fake – das seien ja gar keine „Zigeuner“! Der gleiche Vorwurf wurde Bratsch wenig später im, nomen est omen!, „Folkmichel“ gemacht. Es sind immer noch die Deutschen, die entscheiden, wer ein „echter“ Ròm oder Sinto ist … Die Journalisten hatten ungewollt etwas von der Idee, der die Bratsch-Musiker nachhingen, verstanden und gleichzeitig eben überhaupt nichts davon: Nie wollten Bratsch als „Zigeuner“-Musiker gelten oder einfach Musik der Ròm und Sinte nachspielen – im Gegenteil, vermeintliche Authentizität war ihnen ein Graus, ihnen war es vielmehr darum zu tun, eine gewissermaßen „prätraditionelle“ Musik zu entwickeln. Sie glaubten, „dass die Musik, die sie spielen, eines Tages von Musikologen für eine Spielart traditioneller Musik gehalten wird“ (Trouillet 1993). Es ging ihnen keineswegs um originalgetreue Reproduktionen alter Stücke, sie gehörten nie zu den vielen Bands, die vorhandene alte Musik im vermeintlich „traditionellen“ Stil nachspielen – vielmehr schufen sie vor allem eigene Kompositionen, die dem ursprünglichen, emotionalen Gehalt der Musik des Balkans, der osteuropäischen Shtetels, armenischer oder neapolitanischer Gesänge verbunden sind – entlang der Herkunft und der langjährigen Interessen der fünf Bandmitglieder also. Einige Jahre später gelangte aus Frankreich ein neuer Begriff für derartige Musik in Umlauf: die „imaginäre Folklore“. Die Musikerinitiative ARFI (Association à la Recherche d’un Folklore Imaginaire) in Lyon bediente sich dieses schönen Begriffs für eine „erfundene“ neue Volksmusik und übertrug ihn vor allem auf eine bestimmte Version des Jazz – eine Musik, in


Der schwebende Supermarkt

„Der Mpreis in Wenns“, ein aufgeständerter, fast schwebender Körper in der Landschaft, dessen sechs Begrenzungsflächen sichtbar sind, also sowohl Untersicht als auch Draufsicht, so wie fast bei jedem Bau auch seine vier Seitenflächen. Ein klares architektonisches Konzept, das vielleicht einfach so „gedacht“ worden ist. Der Weg zu dieser Lösung war jedoch keineswegs so logisch, wie es das Ergebnis vermuten lässt. Einen Supermarkt im Steilhang, mit seinen ökonomischen Vorgaben, beginnt man eher mit einem hangparallelen Bau. Viele Versuche mit länglichen Baukörpern, mit Aufschüttungen und Aufständerungen führten zu langen Verkaufsgängen, das langweilige „Vor“ und „Zurück“ dann einfach „zu Frustration“. Dann der Versuch einer Mitte mit Obst, Gemüse, Fleisch, Wurst und Käse mit dem Rest rundherum, ohne Bezug zum Bauplatz. Ein breiter Körper ist entstanden. Wie diesen lösen am Grundstück? Seine Breite erlaubt ihn kürzer zu machen und plötzlich wurde seine Nordseite sichtbar, von der fallenden, an ihm vorbei führenden Straße. Es entstand der große, in der Landschaft schwebende „Bildschirm der Ware“. Die alles generierende Idee des Innenraums wurde nicht verwirklicht, sie eignete sich nicht für den notwendigen „Fluss des Einkaufens“.

Architekt: Rainer Köberl, Mitarbeit: Astrid Tschapeller, 2001 Bauherr: Mpreis – Hansjörg Mölk 46 / 47


der Alpenländisches auf Duke Ellington oder Ornette Coleman und afrikanische Musik auf die des Balkans, auf Kurt Weill, auf osteuropäischen Klezmer oder auf etwas völlig Neues, Ungehörtes treffen kann, alles verbunden in den Köpfen, Herzen und, ja, in den Tanzbeinen der Musikerinnen und Musiker und der Zuhörerschaft und so weit weg von dumpfer Volkstümelei wie der Mars vom Zillertal. Der Begriff der imaginären Folklore geht auf den ungarischen Komponisten Béla Bartók zurück; so steht es jedenfalls bei Wikipedia, und so schreiben es alle von allen ab. Verifizierbar ist der Begriff in Bartóks umfangreichen Schriften meines Wissens jedoch nicht. Er findet sich lediglich in einem Buch von Serge Moreux über den Komponisten aus dem Jahr 1949. Moreux hatte Bartók 1938 persönlich getroffen und interviewt und bezeichnete die „idealisierte Bauernmusik“, von der Bartók schon 1925 in seiner umfangreichen Studie „Das ungarische Volkslied“ sprach, als „folklore imaginaire“, eben als „imaginäre Folklore“. Es bleibt allerdings unklar, ob Bartók in dem Gespräch mit Moreux diesen Begriff selbst gebraucht hat oder ob es sich um eine Zuschreibung durch Moreux handelt – falls Letzteres, dann wohl durchaus um eine Zuschreibung im Sinne des Komponisten. Bartók bezeichnete als „Bauernmusik die Gesamtheit derjenigen Melodien, welche in der Bauernklasse irgendeines Volkes in mehr oder minder großer zeitlicher und räumlicher Ausdehnung als ein spontaner Ausdruck des musikalischen Gefühls fortleben oder irgendwann fortgelebt haben“ (Bartók 1925: 17 f.). Interessanterweise geht Bartók davon aus, „daß fast jede heute bekannte neuere europäische Bauernmusik durch den Einfluß irgendwelcher, namentlich ‚volkstümlicher‘ Kunstmusik entstanden ist“. Diese Einschätzung löste Anfang des 20. Jahrhunderts die im 19. Jahrhundert vorherrschende Ansicht ab, Volksmusik und Volkslieder seien ohne bekannte Verfasser sozusagen aus der Mitte des Volkes entstanden. Johann Gottfried Herder, der das nach englischem Vorbild geprägte deutsche Schlagwort vom „Volkslied“ prägte, wies in den Vorreden und begleitenden Aufsätzen zu seinen Mustersammlungen bewahrenswerter Liedtexte aus oraler und poetischer Überlieferung immer wieder auf die „Doppelgesichtigkeit“ der Volkspoesie hin, die Freude, Jubel, Begeisterung, Heiterkeit, Ausgelassenheit, Scherz und Gelächter auf der einen, aber eben auch Trauer, Verzweiflung und Bitterkeit, Klage und Anklage auf der anderen Seite beinhaltete. Diese sozusagen soziale Funktion der Folklore haben „die nachfolgenden Sammlergenerationen für immerhin

rund eineinhalb Jahrhunderte stillschweigend unter den Tisch fallen gelassen“ (Stockmann 1992 I: 3 f.). Dabei beschreiben viele Liedersammler, dass sogar beim Singen von Einschlafliedern für Kleinkinder nicht nur Wiegenlieder im engeren Sinne genutzt werden: „Für nicht wenige junge Frauen war die Mußesituation an der Wiege eine Gelegenheit, um sich irgendeinen Kummer von der Seele zu singen, sei es mit einem zu ihrer momentanen Stimmungslage passenden Lied aus dem regionalen Repertoire oder auch in halbimprovisierter Form, einer Klage ähnlich, wobei fließend-amorphe Passagen, wie sie auch zum Repertoire für das Kleinkind gehören und für seine eigenen Äußerungsweisen charakteristisch sind, Verwendung finden konnten, da sie in bestimmten Klageformen gleicherweise vorkommen“ (Stockmann 1992 II: 166). In gewisser Hinsicht entstand hier bereits eine Art improvisierte, die Sorgen und Nöte des Daseins reflektierende „imaginäre“, jedenfalls über die gewöhnlichen tradierten Vorgaben hinausgehende Volksmusik. Im 19. Jahrhundert allerdings wurde diese Doppelgesichtigkeit der Volksmusik aus vornehmlich ideologischen Gründen weitgehend ignoriert. Bis weit ins 20. Jahrhundert hinein existierte eine Narration, die, geboren aus der Ideologie des Nationalismus, zum Ziel hatte, die Folklore eines Landes beziehungsweise einer Nation und deren angebliche Charakteristika gegenüber anderen Nationen abzugrenzen (siehe Müller 2020: 218 f.) und Volkslieder zu einem identitätsstiftenden Kulturgut auszubauen. Allzu bereitwillig wurden während der Romantik die „nationalen Schulen“ propagiert, also eigenständige nationale Komponisten-Schulen insbesondere in Ländern, die sich von der vorherrschenden deutsch-französisch-italienischen Musiktradition abzugrenzen suchten. „Nationalkomponisten“ verarbeiteten in ihren Werken die jeweilige Volksmusik ihres Landes: die russische Schule (von Tschaikowski bis Mussorgski), Komponisten aus der Tschechoslowakei (Suk, Smetana, Dvořák, Janáček), Finnland (Sibelius) und Skandinavien (von Gade und Grieg bis Nielsen), Ungarn oder Spanien. Allerdings zeigt gerade die Geschichte der russischen Schule und vor allem des „Mächtigen Häufleins“ um Mili Balakirew und seine Schüler Mussorgski, RimskiKorsakow und Borodin, dass eine derartige Bewegung eher in eine Sackgasse führte. Nach wenigen Jahren sagten sich Komponisten wie Rimski-Korsakow von der ideologischen Engführung Balakirews und seinen panslawistischen Glücksverheißungen los (Behrendt 2020: 136 f.). Mussorgski ging sowieso einen anderen


Wie eine Stube

Das „Sensei“ – Sushibar zum Roten Fisch in der Maria-Theresien-Straße liegt über dem Verkaufslokal der „Nordsee“, das heute nicht mehr existiert. Daher der ursprüngliche Namensteil „Sushibar zum Roten Fisch“. Das war eine auch humorvolle „Umkodierung“ des deutlich sichtbaren, prägnanten Logos der „Nordsee“. Wie eine japanische schwarze „Lackschatulle“ präsentiert sich das von Dil Ghamal aus Nepal geführte Restaurant. Ich war jedoch nie in Japan. Ich dachte nicht an Japan. Man dachte, „der Rainer macht alles schwarz“. Ich hatte bei Tschabrunn schon eine Sonderangebotspalette Nussholzparkett reserviert. Vielleicht einfach den ganzen Raum mit Nussholz auskleiden. Dann ähnlich wie Günther Ueckers Nagelbilder – die Wände voller Messingnägel. Die Nägel gefunden und Muster bestellt. Daniela Kröss würde helfen zu nageln. Dann ein aufgepixeltes Bild an der Decke, das man von innen nicht „erkennen“ kann – aber sehr wohl von der Straße aus. Dann kamen doch die schwarzen glänzenden kunststoffbeschichteten Platten, weil sich in ihnen die Speisen spiegeln und man von der Straße unten die sich in der Decke spiegelnden gedeckten Tische und die Gäste sieht – und im Inneren schneit es im Winter nach oben.

Architekt: Rainer Köberl, Mitarbeit: Matthias Bresseleers, 2007 Bauherr: Dil Ghamal 48 / 49


Weg: In seiner Oper Boris Godunow entwickelt er das gesamte erste Bild aus einer schlichten, viereinhalbtaktigen russischen Volksweise sowie dem berühmten Unterdrückungs- bzw. Gewaltmotiv. Mussorgski verwendet die Volksmusik hier als eine Art „Aufstandsmusik“ gegen die zaristische Unterdrückung und verstärkt diesen Eindruck noch durch den Einsatz von Chromatik und die Verwendung von Kirchentonarten – was von Bartók auch für die von ihm gesammelten ungarischen Volkslieder konstatiert wird, bei denen er neben einem grundsätzlichen Hang zur Pentatonik auch die häufige Verwendung besonders von dorischen und phrygischen Tonleitern nachweist. All dies zeigt, wie unsinnig es ist, der „Volksmusik“ eine Entstehung aus der „Mitte“ oder der „Tiefe“ eines Volkes zuzuschreiben. Die Bauernmusik, die Bartók und sein Kollege Kodály so umfassend gesammelt und wissenschaftlich untersucht haben, ist eben „das Resultat einer Umgestaltungsarbeit“ von vorgefundener Kunstmusik, also komponierter Musik – und diese Arbeit der Umgestaltung und Umformung hat wesentlich nicht nur mit „der Fähigkeit“, sondern auch mit der „starken Neigung“ der Bauern zu tun, „ihnen zur Verfügung stehende gegebene musikalische Elemente umzuformen“ (Bartók 1925: 19). Bartók spricht von einem „Umformungs- (Variierungs-)trieb im Individuum“, vor allem aber auch von „viel Improvisationsartigem“, das die Bauern „ganz ähnlich wie bei großen Vortragskünstlern“ einsetzen. Und hier sind wir mitten in der imaginären Folklore der Jetztzeit: Sie verhilft der Kunst der Improvisation zu neuer Bedeutung, eine Kunst, die heute ja praktisch nur noch im Jazz und eben in der osteuropäischen Volksmusik überlebt hat, während die Tradition der Improvisation in Westeuropa seit der Renaissance praktisch tot ist. So nimmt es nicht wunder, dass viele der Musiker und Bands, deren Musik (auch) als imaginäre Folklore bezeichnet werden kann, eine starke Affinität zum Jazz haben, ob die französischen Bratsch und Louis Sclavis, ob in Österreich Broadlahn und Werner Pirchner. Es ist keine Überraschung, dass gerade im alpenländischen Raum die imaginäre Folklore derart reüssieren konnte. Die Voraussetzungen waren in mehrfacher Hinsicht besonders günstig: Der Alpenraum war von jeher eine wichtige europäische Verkehrsverbindung, also ein im doppelten Wortsinn Transitraum – eben auch ein Raum, in dem sich unterschiedliche Kulturen begegneten und zum Teil vermischten. Wien war als Zentrum der Donaumonarchie auch ein Schmelztiegel

verschiedenster Ethnien, Sprachen und Kulturen, die mehr oder minder friedlich neben- und miteinander lebten. Dazu gehörten auch Juden und Roma, und Letztere fügten sich „mit dem für sie charakteristischen Anpassungsvermögen“ (Bartók spricht davon, dass sich das Programm der „Zigeunermusikanten“ im Allgemeinen „nach den Wünschen der Volksklasse richtet, die sie eben bedienen: der Herrenklasse spielen sie volkstümliche Kunstmusik oder westeuropäische leichte Kunstmusik, der Bauernklasse eventuell auch für sie näher zugängliche Bauernmusik“, weswegen er vorschlägt, statt von „Zigeunermusik“ von „Zigeuner-Vortragsart“ oder von „von Zigeunern vorgetragener ungarischer Musik verschiedener Herkunft“ zu sprechen; Bartók 1925: 452 f.) in die jeweilige „musikalische Unterwelt“ ein: „Ohne ihre eigene Musik aufzugeben, wurden sie zu Schöpfern regionalspezifischer ‚zigeunerischer‘ Instrumentalstile, ohne die sich Volks- und Kunstmusik, städtische wie ländliche Musikpraxis der letzten beiden Jahrhunderte, nicht nur im Donauraum, schwer vorstellen lässt“ (Stockmann 2020 III: 172). Seit 1811 wurden durch eine Initiative Erzherzog Johanns im Rahmen einer monarchieweiten Sammlung und Befragung Volkslieder aufgezeichnet, seit 1819 noch gezielter in Verantwortung der Gesellschaft für Musikfreunde. In den österreichischen Volksliedarchiven finden sich auch etliche Belege dafür, dass der seit Herder immer wieder bemühte Gegensatz zwischen „Stadt“ und „Land“ und die idealisierte Vorstellung, „auf dem Land seien die kulturellen Ausdrucksformen vergleichsweise unverfälscht vorzufinden“, wohl kaum zu halten ist, wie es mehr als hundert Jahre später auch Bartók belegt hat. Vielmehr können gerade in Volksliedsammlungen kontinuierliche Wechselwirkungen zwischen bürgerlich-städtischer Musikkultur und ländlichem Raum nachgewiesen werden (siehe Schwinger 2020: 83). Seit den 1830er Jahren finden sich in den Volksliedarchiven zum Beispiel etliche von Franz Schubert komponierte Lieder – Der Lindenbaum ist ein berühmtes Beispiel dafür, dass das Interesse der Landbevölkerung an romantischem Liedgut enorm war, während die Wiener Klassiker sich wiederum regelmäßig von Volksmusik und Volksliedern inspirieren ließen: Denken wir an Beethovens Dritte Sinfonie, die Eroica, in deren Finalsatz der Komponist Ländler aus dem Alpenraum, vor allem aber ungarische Musik, die er während seiner Ungarn-Aufenthalte kennengelernt hatte, sozusagen „sampelt“. Der „Tschardas“, den Beethoven ab Takt 210 im Finalsatz der Eroica


Konzertsaal: Man nehme einen Laufkatzenkran und einige Leimbinderstapel

Die von Architekt Josef Lackner geplante 44 m breite Halle wird von großen langgezogenen sechseckigen, umgekehrten „Holzschiffen“ überspannt. In ihr sind 16 m lange, 1,20 m breite und 6 m hohe Leimbinderstapel gelagert, die einzelnen Leimbinder in weiße Plastikfolie verpackt. Wände und Bühne des Konzertsaales für das Festival „Klangspuren“ wurden mit diesen Stapeln „bewerkstelligt“. Die Lage der Wände in Stapelmaß wurde auf die Geometrie der Deckenkonstruktion abgestimmt und mit Hilfe des großen Laufkatzenkrans in achteckigem Grundriss aufgestellt. Die durch die Stapeltechnik entstehenden horizontalen, regelmäßigen, in etwa 6 cm hohen Zwischenräume erzeugen einerseits Leichtigkeit und Durchsicht und ermöglichen neben der Bühnenbeleuchtung unterschiedliche Lichtinszenierungen aus dem „Off“. Andererseits entsteht eine ausgezeichnete Akustik durch diese Zwischenräume, die Helmholtzresonatoren entsprechen. Eigentlich wäre dieser aus zufälligen Umständen entstandene Konzertsaal ein „Prototyp“ für eine „Mehrzweckhalle“. Man benötigt nicht mehr als eine große Halle, einen Laufkatzenkran und eine Summe von Leimbinderstapeln – so können in kürzester Zeit unterschiedliche Räume mit massiven und akustisch funktionierenden Wänden entstehen.

Architekt: Rainer Köberl, 2003 Bauherrin: Festival Klangspuren – Maria-Luise Mayr 50 / 51


verwendet und mit einem französischen Revolutionsmarsch übereinanderstapelt, dürfte, wie Peter Schleuning schreibt, eine Art „Preislied auf die ungarische republikanische Bewegung der 1790er Jahre“ darstellen, ja sogar als eine ausdrückliche „Ermunterung“ dieser Bewegung gemeint sein. Die enorme Vielfalt und die Möglichkeiten der alpenländischen imaginären Folklore lassen sich beispielhaft an drei Musikgruppen zeigen. Nehmen wir die Appenzeller Space Schöttl, das Duo von Töbi Tobler (Hackbrett, Gesang) und Ficht Tanner (Kontrabass, Gesang), das wohl eine der vergnüglichsten Volksmusiken gespielt hat, die man sich überhaupt vorstellen kann. Von 1980 bis 1998 spielten die beiden Appenzeller ihre spezielle Mischung aus traditioneller Appenzellermusik und freien Improvisationen. Angeblich spielte das Duo nichts, was sie vorher schon einmal gespielt hätten. Ob man das glauben will oder nicht, klar ist, dass den beiden Musikern der Moment des Konzerts, das Improvisieren im Hier und Jetzt ganz besonders am Herzen lag. Wie man schon am Namen erkennen kann, wollten sie nicht bloße Tanzmusik spielen, sondern fügten Elemente des Jazz (Tobler hat eine Ausbildung an der Berner Swiss Jazz School), ein wenig Rock, eine Prise Komik sowie milde Verfremdungseffekte zur traditionellen Musik des Appenzeller Landes hinzu, die zur ältesten des Alpengebiets gehört: Die älteste Aufzeichnung eines Kuhreihens, einer Gattung der Hirtenlieder, findet sich aus dem Jahr 1545 bei Georg Rhaw, dem Buchdrucker, Leipziger Thomaskantor und Herausgeber von Musiklehrbüchern und Kompositionssammlungen aus dem Umfeld von Martin Luther. In einer Handschrift aus dem Jahr 1563 findet sich die schöne Tanzlied-Zeile: „Appenzeller tantz, ich staig uff einem fygen baum, wolt.“ Seit 1570 werden in Appenzell Saiteninstrumente genannt, mit denen zum Tanz aufgespielt wurde, und es kann davon ausgegangen werden, dass damals auch schon das Hackbrett zum Einsatz kam. Was für eine Tradition, auf die sich die Appenzeller Space Schöttl stützen konnten bei ihren musikalischen Reisen in eine fantasievolle neue, imaginäre Volksmusik! Während die Space Schöttl eine feine, akustische, geradezu Schubertsche Musik spielten, kann der 2001 viel zu früh verstorbene Tiroler Komponist und Musiker Werner Pirchner mit Fug und Recht als schillernder Paradiesvogel bezeichnet werden, der die alpenländische Musik in alle Himmelsrichtungen erweitert und bereichert hat. Signifikant ist die Selbstbeschreibung

seines Musikstils aus den Jahren 1982 /1997: Fußend auf der „jeweils neuesten Jazzmusik“, hat Pirchner, der Komposition und Vibraphon autodidaktisch erlernt hat, neue Wege des Ausdrucks durch die Auseinandersetzung mit den Theorien Schönbergs und vor allem mit Bachs Violinsonaten gewonnen, nennt als seine Lehrer aber auch unter anderem Thelonious Monk, Gil Evans, Bartók, Schubert, John Cage, Kafka, Karl Valentin, Kurt Schwitters „und vor allem den unvergleichlichen Ernst Ullrich Zufall.“ Sein Opus Magnum ist das Doppelalbum EU aus dem Jahr 1986, der Entwurf einer zeitgenössischen Musik, die Bestehendes aufgreift, verfremdet und erweitert und seinem Land und seiner Region einen Spiegel vorhält, ganz im Sinne des Universalkünstlers Herbert Achternbusch, der 1978 in seinem Film Servus Bayern postuliert hat: „Diese Gegend hat mich kaputt gemacht, und ich bleibe, bis man ihr das anmerkt.“ Pirchner war originell, bizarr, schelmisch und anarchistisch wie sein bairischer Bruder im Geiste. „Werner Pirchner ist die lustigere, kreativere Variante von Thomas Bernhard“, stellte sein Musikerkollege Mathias Rüegg einmal fest – aber Pirchner war beileibe nicht nur „lustig“, sondern er war sich der oben erwähnten Doppelgesichtigkeit der Volkspoesie wie der großen komponierten Musik bewusst: eine naive und mitunter anarchistische Heiterkeit auf der einen Seite, aber eben auch eine schmerzliche und tiefe Wehmut, Trauer und Melancholie, wie wir sie auch von Schubert oder Mahler kennen. „Selbst in vorgeblicher Fröhlichkeit schwingt noch ein Rest subversiver Wehmut“, formulierte Harry Lachner. Die Werke auf dem Album EU heißen zum Beispiel „Sonate vom rauhen Leben“ oder „Do You Know Emperor Joe“ (mit Satzbezeichnungen wie „Wer hat dir – du schöner Wald – eine vor den Latz geknallt?“ oder „Idylle und Krawalle“). Werner Pirchner war auch ein explizit politischer Komponist, der das falsche Pathos von Haydns Kaisermelodie, die später bekanntlich zur deutschen Nationalhymne mutierte, ebenso entlarvte wie das der heimlichen Hymne Österreichs, des Donauwalzers: „Die Donau ist blau – wer nicht?“ Dabei erwuchs Pirchners Engagement für eine andere Welt und ein anderes Dasein aus der Liebe zur Gegend und zu den Menschen, die dort wohnen, und daraus entwickelte er seine kammermusikalisch brillante, subversive Musik, die sich allen Kategorien entzieht und weit in die Welt hineinhorcht und tönt. Mir ist bewusst, dass der Begriff „Folklore“ uns im deutschen Sprachraum fast ebenso schwer über die


Die Verwandlung der Triumphpforte „wir hoffen nun – ca. 10 jahre später – diese umcodierung der triumpfpforte mit einer bronzetafel verwirklichen zu können“

Architekt: Rainer Köberl zusammen mit Benedikt Sauer 52 / 53


Lippen kommt wie alle Wortverbindungen, in denen „Volk“ vorkommt. Die Unbefangenheit, mit der Menschen in Frankreich „folklore“ sagen können, fehlt uns aus Gründen. Ich weiß nicht, ob sich Werner Pirchner mit dem Kunst(be)griff „imaginäre Folklore“ hätte anfreunden können – ich bin mir aber fast sicher, dass die Musiker Markus Binder und Hans-Peter Falkner, die als Attwenger seit Jahrzehnten weltweit Furore machen, angesichts einer derartigen Einordnung ebenso verwundert sein dürften wie ihre Fans. Attwenger spielen eine radikale und wilde Musik, eine Art Bastard aus althergebrachter Volksmusik, Mundartgesängen, HipHop, Punk, Drum and Bass, Ernst Jandl, Breakcore und Dadaismus und so doch nur höchst unvollständig beschrieben. „Drum“ lassen wir sie selber erklären in einem Text zu ihrem im Mai 2021 erschienenen Album drum: „trap-slang und country-fiction, kraut- und rübenmusik, dialektgroove und mentalitätskritik, electronica und polkapunk.“ Und: „drum auch deshalb, weil umstände zur sprache gebracht werden wollten, die nerven. würden sie nicht nerven, wozu dann die musik?“ Attwenger verweigern einer Welt die Zustimmung, in der „Happiness zum Business wurde“ und „die Leute zwar weit sind, aber leider nicht weiter“, und stellen den Zuständen ihre Musik, also drum, als ein „Trumm“ in den Weg. Und sie betonen: Hier sei „nichts authentisch, aber alles täuschend echt“. Insofern spielen Attwenger durchaus auch eine „folklore imaginaire“, wie eine utopische Musik bezeichnet werden kann, die sich eine andere Musik vorstellt, ja, erträumt und die gleichzeitig daran interessiert ist, andere Verhältnisse herzustellen. Solch eine imaginäre Musik stellt Verbindungen zwischen ihren Traditionen und etlichen anderen Musikstilen her, ohne in einen billigen Exotismus abzugleiten, wie er heute in einer kulturkosmopolitischen „Hyperkultur“ als „singularistischer Lebensstil der neuen Mittelklasse“ gepflegt wird, die „die gesamte Welt-Kultur aller Orte, Zeiten und sozialen Herkünfte als verfügbare Ressource für die eigenen Selbstverwirklichungswünsche behandelt“ (Reckwitz 2017: 263 f.). Béla Bartók schrieb 1942 in der US-amerikanischen Emigration, dass es auch für den kleinsten Staat unmöglich sei, originales, also von anderen Völkern unbeeinflusstes folkloristisches Material zu besitzen. „Kontakt zwischen fremden Völkern bewirkt nicht nur einen Austausch von Melodien, sondern – und das ist noch wichtiger – regt auch zur Ausbildung neuer Stilarten

an. (…) Als das Resultat einer ununterbrochenen gegenseitigen Beeinflussung zwischen der Volksmusik der verschiedenen Völker ergeben sich eine gewagte Mannigfaltigkeit und ein riesiger Reichtum an Melodien und Melodietypen“ (Bartók 1942). Und wie ungeheuer sind erst die Möglichkeiten der „ununterbrochenen gegenseitigen Beeinflussung“ in der digitalisierten Welt unserer Tage, da noch die für uns fremdeste Musik in aller Regel nur einen Fingertipp entfernt ist. „Authentizität“ mag ein postmoderner MittelklasseLifestyle sein, musikalisch aber ist sie ein Fake und unmöglich. Alle Musik hängt mit aller Musik zusammen, alle Musik vermischt sich mit anderer, und gerade diese Vermischung birgt Potential zur Weiterentwicklung, zur Kreation eines ungekannten musikalischen Bastards. „Folklore imaginaire“ kann die Utopie einer Musik sein, die „die große Kraft der Negation“ ebenso kennt wie „freudige Rebellion (und) Ausgelassenheit ob der abgeschüttelten Hemmungen“ (Marcuse 2000: 89 & 93) – und wir fühlen endlich Luft von anderen Planeten …

Literatur und Musik: Appenzeller Space Schöttl u. a., The Alps. Network 1994 (CD). Attwenger, drum. Trikont 2021 (CD). Bartók, Béla 1925: Das ungarische Volkslied. Berlin und Leipzig (Nachdruck Mainz 1965). Bartók, Béla 1942: Rassenreinheit in der Musik. In: Weg und Werk, 1957. Bonn. Bratsch, Gypsy Music From The Heart of Europe. Network 1993 (CD; im Booklet: Trouillet, Jean 1993: Das Phänomen „Bratsch“). Marcuse, Herbert 2000: Musik von anderen Planeten. In: Nachgelassene Schriften, Band 2. Lüneburg. Werner Pirchner, EU. ECM New Series 1986 (CD). Reckwitz, Andreas 2017: Die Gesellschaft der Singularitäten. Berlin. Reininghaus, F. / Kemp, J. / Ziane, A. (Hrsg.): Musik und Gesellschaft, Band 2. Würzburg. Darin: Behrendt, Maria 2020: Russische Volkslieder und das „Mächtige Häuflein“ Müller, Julian 2020: Volkslied-Sammlungen auf dem Balkan und ihre Folgen Schwinger, Fabian 2020: Musik an den Rändern industrieller Zentren Stockmann, Doris 1992 (Hrsg.): Volks- und Popularmusik in Europa. Neues Handbuch der Musikwissenschaft, Band 12. Laaber. Darin: I: Volksmusiksammlung und -forschung seit Herder II: Übernationale musikstrukturelle Gemeinsamkeiten in Vokalgattungen und ihre Ursachen III: Gesellige, lyrische und erzählende Singformen


fasch&fuchs.architekten | werkraum ingenieure

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Dies alles gab es also (2)

Fast niemand weiß mehr, was in zurückliegenden Jahrzehnten in der Kunst los war – auch nicht (oder vor allem nicht?) in der sogenannten Provinz. Oft braucht es den Anstoß von außen, auf dass die Geschichten wieder erzählt werden, an die künstlerisches Schaffen der Gegenwart und Zukunft anknüpfen könnte. Hier also aus gutem Grund die Fortsetzung der kulturellen Inventur eines Zugereisten: Florian Waldvogel über ungeliebte Röhrenplastiken, eine tierische Modeschau, eine Neujahrsproklamation, den vergessenen Maler Werner Scholz, ein couragiertes Mädchen mit blauer Mütze, einen gekreuzigten Frosch – nebst einer persönlichen Erinnerung an den Bauingenieur Christian Aste.

In meiner ersten Sammlungspräsentation als verantwortlicher Leiter der mir anvertrauten Modernen Sammlung am Tiroler Landesmuseum Ferdinandeum zeigte ich Peter Kogler und Oswald Oberhuber. Die Gestaltung der Sammlungspräsentationen der Modernen Sammlungen ist darauf ausgerichtet, Entwicklungen in der kulturellen Produktion und des kulturellen Austauschs quer durch alle Disziplinen aufzunehmen, neue Ideen und Entwicklungen der zeitgenössischen künstlerischen Praxis zu erkennen, Neuankäufe auszustellen und Raum zu schaffen für die sich ständig ändernden Ideen unserer Gesellschaft. Eine Sammlungspräsentation ist nicht zu trennen von ihrer Entstehungsgeschichte, auch der des Museums. Sie ist ein Dialog mit ihrer Zeit in der Gegenwart. Eine Sammlung muss überprüfbar sein, sowohl regional als auch überregional und vor allem international. Die Präsentation #1 widmet sich wie gesagt einer semantischen Gegenüberstellung der Werke von Peter Kogler (*1959) und Oswald Oberhuber (*1931). Peter Koglers Ameisentapete „Documenta IX“ (1992) steht synonym sowohl für eine metaphernreiche Anspielung auf die museale Sammlung des Ferdinandeums als auch für die zunehmende Komplexität unserer Lebensrealität. Dass so eine Sammlungsgeschichte nicht frei von Konfliktlinien und Widersprüchen ist, davon zeugt die Arbeit „Röhrenplastik“ (1969–1971) von Oswald Oberhuber. Im Auftrag der Tiroler Landesregierung schuf er für die Innsbrucker Chirurgische Klinik diese Skulptur, die 1971 angekauft wurde, bei der Tiroler

Bevölkerung allerdings auf breite Ablehnung stieß und deshalb wieder abgebaut werden musste. Leider verstarb Oswald Oberhuber während der Laufzeit dieser Sammlungspräsentation und er hat die längst überfällige Installation seiner „Röhrenplastik“ auch nicht mehr gesehen, da sein Gesundheitszustand eine Reise nach Innsbruck nicht zuließ. Immerhin durfte ich ihn noch kurz kennenlernen, gemeinsam mit Peter Kogler besuchte ich ihn an einem heißen Sommertag 2019. Oberhuber war eine facettenreiche Persönlichkeit, deren künstlerische Offenheit mit einer Großzügigkeit einherging, von der ich als Sammlungsleiter für die Modernen Sammlungen profitiere. Seiner findigen Vermittlungstätigkeit verdanken die Tiroler Landesmuseen Kunstankäufe und Zuwendungen mehrerer Spitzenwerke der klassischen Moderne – von Giovanni Segantini, Herbert Boeckl, Richard Gerstl, Walter Pichler, Koloman Moser, Erika Giovanna Klien, Broncia Koller-Pinell u. a. –, die zum Grundstock der mir anvertrauten Sammlungen zählen. Abschließend möchte ich den von mir hochgeschätzten, leider auch schon verstorbenen Kollegen Jan Hoet aus seinem Text „Oswald Oberhuber, Vernichtung der Identität, und trotzdem …“ zitieren (Locker Verlag, Wien 1998, S. 7): „Oswald Oberhuber hat ständig gegen seine eigenen Möglichkeiten angekämpft, um die Dimension des Faszinierenden erreichen zu können, eine Dimension, in der die Dinge Fragen aufwerfen, Unordnung schaffen, unsere Sicherheiten stören. Er hat sich für Unberechenbarkeit und Widerspenstigkeit, kritischen Ekel und Är-


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ger, Ohnmacht und inneren Zweifel entschieden, um der Sterilität der Wiederholung und Variationen aus dem Weg zu gehen.“ Ein wahrer Kompass. Innsbruck besuchte ich das erste Mal 2007 für die Ausstellung „Buggelpiste“ von John Bock im Kunstraum. Am Eröffnungsabend präsentierten ein Lama, ein Pony und eine Ziege von John designte Kleidungsstücke. Die Performance bzw. tierische Modenschau wurde dokumentiert und neben den verwendeten Materialien und Requisiten im Ausstellungsraum präsentiert. Ein wunderbarer Abend in einer Oase der Kunst. Der Kunstraum geht auf die Initiative von Elisabeth und Klaus Thoman und deren Freunde zurück und wurde damals von Stefan Bidner geleitet. In den fünf Jahren, in denen Bidner für das Programm des Kunstraums verantwortlich zeichnete, zeigte er Positionen wie Gelatin, Dan Perjovsci, Christoph Schlingensief, Amelie von Wulffen, Tobias Rehberger u. v. a. Betrachtet man das Ausstellungsprogramm dieser Zeit etwas näher, dann hat man das Gefühl: Bidner kuratierte Ausstellungen aus der Sicht des Passanten, mit einem Blick, der uns eigen ist. Es ist der alltägliche Blick, der aus seinen Kurationen zu uns sprach und sich deshalb bei uns einprägte. Bidner hatte verstanden, dass ein Ausstellungsmacher nicht einfach jemand ist, der die Vergangenheit aufnimmt, sondern er ist jemand, der sie erfindet; dass Kulturprojekte darauf hinweisen, wie vergeblich es ist, die Welt verstehen zu wollen. Mit seiner Auswahl an künstlerischen Positionen beschrieb er die komplexen Lebenswelten der Kultur. Als der Filmemacher Luis Buñuel einmal gefragt wurde, warum er Filme mache, antwortete er: „Um zu zeigen, dass dies nicht die beste aller Welten ist.“ Bidner zeigte uns etwas viel Einfacheres: nämlich, dass es eine andere Welt gibt. Stefan Bidner stellte sich als Kurator nicht über die Künstlerinnen und Künstler. Mehr kann man nicht verlangen. Außer: Er möge nach Innsbruck zurückkommen! Unter dem Einfluss der kulturtheoretischen Diskussionen in den 1960er Jahren, in deren Zentrum die handlungskonstitutiven Bedeutungen kultureller Sinnmuster und symbolischer Ordnungen standen, lösten sich die Künstlerinnen und Künstler aus der institutionellen Umklammerung. In den meisten Kunstinstitutionen der

damaligen Zeit kam die Kunst ganz selbstverständlich ohne Realitätsbezug aus. Sie waren (und sind es wieder) Tempel, in denen man in stiller und schweigender Demut und in herzergreifender Einsamkeit die Kunstwerke als die Erzeugnisse höchst zivilisierter Wesen bewundern soll. Theodor W. Adorno lieferte mit seiner Museumskritik die diskursive Folie für die künstlerische Auseinandersetzung um den Ort der Präsentation und seiner gesellschaftlichen Rezeption – etwa für Initiativen wie die Galerie Junge Generation in Innsbruck. Aus der Analyse der historischen und gesellschaftspolitischen Funktionen der Kunstinstitutionen und deren Wirkung auf die künstlerische Produktion und besonders auf deren Rezeption entwickelte sich eine gesellschaftliche und materialistische Praxis außerhalb der Museen. In der Neujahrsproklamation der Galerie Junge Generation aus dem Jahr 1968 wird kulturelle Produktion als ein Werkzeug der Kritik beschrieben und die Bestrebung formuliert, Kunst direkt ins Leben hineinzuversetzen: Neujahrsproklamation der Galerie Junge Generation in Innsbruck I Die Kunst ist ihrer Substanz nach an und für sich unpolitisch und erschließt sich dem Beschauer weder in politischen Kriterien noch durch sonstige Ideen, die er in sie legt: Sie liegt rein im Erschaubaren. Aber der Künstler ist tief in einen politischen Zusammenhang gebettet; er lebt nicht in einer Kunstwelt und erschafft sich keine Welt aus Kunst gemäß der Fiktion von der zeitlosen Asozialität der Künstler; um produktiv zu werden, muss er sich zumindest eine gewisse Einstellung zum Politischen klarmachen. Es gibt keine Kunst außerhalb der Zeit, der produktive Typ prägt sich im hautnahen Kontakt aus der Epoche, und es prägt ihn die Gesellschaft mit. Diese politische Stellung des Künstlers scheint uns einmal nicht darin zu liegen, dass einer Kunstpolitik betreibt und öffentliche Ämter anstrebt, seinen Ehrgeiz darauf vergeudet, vom Staat zur Repräsentation missbraucht zu werden, indes seine Kunst unverbindlich und Spekulation auf die Ewigkeit ist. Dass einer Farbflecken noch etwas lucider setzt


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als ein anderer, schafft zwar kein höheres Bewusstsein, aber die Kunstmenschen geraten aus dem Häuschen. Und gerade die Vertreter der gegenstandslosen Richtung spielen kunstpolitisch bei uns eine dominierende Rolle. Wir ziehen die Artisten den Virtuosen der Malerei und Intrige vor und glauben, eine rechte Haltung in folgendem Satz von Karl Kraus präzisiert zu finden: „Mir scheint alle Kunst nur Kunst für heute zu sein, wenn sie nicht Kunst gegen heute ist.“ II Der Unverbindlichkeit, die sich heute gemein macht, entspricht eine Unsachlichkeit des kulturellen Stils, von der totalen Phrasenhaftigkeit der Offiziellen bis zum Vorurteil des Künstlers gegen das Leben: „Das, was denkt, ist etwas anderes als das, was lebt.“ (Benn) Wir halten Unverbindlichkeit in Kunstdingen für das größte Übel, das einer Kultur widerfahren kann. Mit dieser Proklamation geht es uns zum Beispiel darum, unsere eigene Tätigkeit verbindlicher zu machen, einen Maßstab für die Kritik an unserem Tun zu setzen; genauso geht es uns um eine Kunst, die gefährlich, das heißt, gesellschaftlich wirksam ist und im weiteren Sinne selbstverantwortliche Kunst ist; ist sie auch in ihren Ergebnissen wertfrei, so existiert sie dann dennoch nicht im wertfreien Raum, ist primär moralisch. III Wenn Sie wollen, sind wir nun eine Österreichische Galerie für engagierte Kunst. Die Galerie Junge Generation zeigte in der Salurner Straße 2 u. a. vom 16. Februar 1968 an für vier Wochen „Jüdische Kinderzeichnungen aus dem KZ Theresienstadt“. Unter Anleitung der ebenfalls im „Vorzimmer von Auschwitz“ internierten Künstlerin Friedl DickerBrandeis lernten die Kinder in den „Pflichtzeichnen“Kursen der Nazis einen freien Umgang bei der Ausführung ihrer Erinnerungen, der Lager-Realität, ihrer Wunschvorstellungen und Träume, anstatt wie vorgesehen technisches Zeichnen zu erlernen, um später Pläne für die Nazis anzufertigen. So entstanden ca. 4.000 Zeugnisse des Schicksals der in den Jahren 1941–1945 in diesem Lager internierten ca. 15.000 Kinder, von denen nur 100 die Vernichtungslager überlebten.

Ein weiterer in Tirol lebender unbeugsamer Zeitgenosse war Werner Scholz. Ich entdeckte seine erbarmungslose Arbeit „Reliquien“ in der Ausstellung „Tiroler Moderne? Tiroler Kunst 1900 bis 1960“. Auf der quadratischen Tafel aus dem Jahre 1948 sind zwei Figuren von eindringlicher Intensität zu sehen. Die Reliquien werden von einer Palette aus Rot, Grün, Weiß dominiert, der Duktus ist nervös und expressiv, die Tonwerte sind dunkel. Es sind Figuren aus dem Schattenreich, „die Blut getrunken haben“, so Hans-Georg Gadamer. Scholz malte keine liebliche Konzession, sondern eine auf Moll gestimmte Ikone. Seine Erfahrungen und der Verlust des linken Unterarms im 1. Weltkrieg sowie die zerstörerische Brutalität und Massenvernichtung im 2. Weltkrieg schlagen sich in dieser metaphorisch verdichteten Vorstellung des Todes nieder. Scholz wird 1898 in Berlin geboren und verpflichtet sich als Freiwilliger für den 1. Weltkrieg. An seinem 19. Geburtstag verliert er seinen linken Unterarm. Nach dem Krieg nimmt er sein Kunststudium an der Hochschule der Bildenden Künste in Berlin wieder auf und die Kriegserlebnisse schlagen sich in Schwarz-WeißBildern nieder. Einzelausstellungen am Bauhaus in Dessau, am Museum Folkwang in Essen und in den Kunstvereinen in Köln und Kassel folgen. Die Berliner Nationalgalerie und das Wallraf-Richartz-Museum in Köln erwerben seine Bilder für ihre Sammlungen. Ab 1937 wird Scholz mit einem Ausstellungsverbot durch die Nazis belegt und seine Gemälde „Das tote Kind“ und „Stilleben mit Amaryllis“ werden bei der Ausstellung „Entartete Kunst“ in München ausgestellt. Am Tag des Ausbruchs des 2. Weltkriegs erwirbt er das Haus „Büchsenhausen“ in Alpbach, Tirol, wo er bis zu seinem Tod im Jahr 1982 lebt und arbeitet. Nach 1945 zeigt Scholz im Rahmen großer Einzelausstellungen u. a. im Ferdinandeum (1947), im Haus am Waldsee Berlin (1948), der Kestner-Gesellschaft Hannover (1950), der Kunsthalle Mannheim (1952), in der Staatlichen Graphischen Sammlung München (1958) seine Pastelle zum Alten Testament. Mittlerweile hat die Gegenwart diesen großartigen Maler vergessen. Am 31. Januar 2021 wurde ich Zeuge einer ganz anderen Art von Zivilcourage durch ein kleines Mädchen mit blauer Mütze. An diesem Tag rief die Sozialistische


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Jugend Tirol unter dem Motto „Grenzen töten“ zu einer Kundgebung gegen die Abschiebepraxis der europäischen Grenzpolitik auf. Begleitet wurde der Protestzug von einem massiven Polizeiaufgebot. Im FullCombat-Outfit flankierten sie den friedlichen Marsch und es kam, wie es immer kommt, zu einem nicht verhältnismäßigen Einsatz von Chemie und Gummi. Allen höflichen Aufforderungen der demokratischen Gäste zum Trotz weigerte sich die rechtsextreme Szene, vom Gewalt-Exzess abzulassen. Und dann geschah etwas, was man nur aus dem Fernsehen bzw. aus Quentin-Tarantino-Filmen kennt: Ein kleines Mädchen mit blauer Wollmütze und Brille stürmt auf einen Beamten los, schlägt ihm den Stock aus der Hand und tritt ihm unerschrocken noch eine rein. Im Tumult konnte ich die Begriffe Unabhängigkeit, Vertrauen, Entschlossenheit, Widerstand, Hoffnung, Reiselust, Demut, Sichtbarkeit, Organisation, Licht, Wachsamkeit und Gemeinschaft auf ihrem Sweatshirt lesen. „Die Welt ist scheiße“, rief sie dem Beamten zu. „Es geht nicht um Zerstörung, sondern um Bewegung, den Fortschritt“, gab sie den verwunderten Beteiligten zu Protokoll. Das Outfit des Mädchens strahlte Eigensinn aus. Eine Mischung, die durch die blaue, selbstgestrickte und mit einem kleinen Irokesen (früher hätte man Bommel dazu gesagt) versehene Mütze abgerundet und zum Ausdruck gebracht wurde. Waren nicht die Irokesen die fortschrittlichste gesellschaftliche Indianer-Organisation, die sich in fünf Stämme teilte: Senekas, Cayugas, Onondagas, Oneidas und Mohawks? Frauen und Männer hatten eine Stimme und die Stämme waren nach Mutterrecht organisiert. Kriegerische Auszüge wurden meist von einzelnen Spezialisten organisiert. Es gab einen Kriegstanz, und wer mittanzte, erklärte seine Beteiligung an der Aktion. Das Aktionsteam wurde rekrutiert und sofort in Bewegung gesetzt. Das erklärt vielleicht auch das Verhalten des übrigen Pfefferspray-Orgien-Publikums, welches sich – nachdem das kleine Mädchen mit der blauen Mütze ihr Recht auf Widerstand à la Hannah Arendt zum Ausdruck gebracht hatte – auch den Rechtsextremen widersetzte. Nach einem kurzen Scharmützel wurden jene Menschen des Spaziergangs für Menschenrechte, die aus Mangel an Erfahrungsdifferenzierung und Identitätsbildung ihrer erziehungsbedingten Wut

vom Erlernen und Verstehen demokratischer Prozesse ausgeschlossen bleiben, von ihren Kolleginnen und Kollegen und somit unter Polizeischutz auf die Wache begleitet. Bleibt mir noch, mich bei diesem kleinen Mädchen mit der blauen Wollmütze für ihre Courage zu bedanken. Ich habe meine nächste Assistentin gefunden. Ok, dann bin ich wahrscheinlich zu alt. Wie wär’s mit Patenonkel? Bereit, wenn du es bist! Ganz andere Proteste gab es im Juli 2008 kurz nach der Eröffnung des Neubaus des Museion in Bozen. Nach jahrelanger Diskussion über Sinn und Zweck einer solchen Einrichtung und ebenso langer Standortsuche feierte man schließlich dieses kulturelle Ereignis mit der Gruppenausstellung „Peripherer Blick und kollektiver Körper“. Arbeiten von über 200 zeitgenössischen Künstlerinnen und Künstlern wurden gezeigt, unter anderem auch eine von Martin Kippenberger. Letzterer, zu diesem Zeitpunkt schon über zehn Jahre tot, hätte bestimmt seine Freude darüber gehabt, dass seine Arbeit „Zuerst die Füße“ solch einen Amoklauf unter Katholiken, eine Flut an Leserbriefen mit dem Vorwurf der Gotteslästerung und sogar einen einwöchigen Hungerstreik auslöste. Der Zorn der Gottes-Vertreter auf Erden richtete sich gegen einen ans Kreuz genagelten grünen Frosch aus Holz, der in der einen Hand einen Bierkrug und in der anderen ein Ei hält. Kippenbergers ironisches Selbstporträt – von der Innsbrucker Galerie Johann Widauer produziert – beschäftigte sogar Papst Benedikt XVI. und erst die Diskussion über künstlerische Freiheit im internationalen Feuilleton beendete die unsäglichen Blasphemie-Vorwürfe. Aber hat nicht das Christentum, als älteste Werbeagentur der Welt, uns schon vor langer Zeit gezeigt, dass unsere Erfahrungswirklichkeit aus der Produktion von Zeichen besteht und ihre Aufladung mit Bedeutungen zu der zentralen Wertschöpfungspraktik geworden ist? Erfahrungswirklichkeit im christlichen Sinne ist jene Realität, mit der sich das Individuum auseinandersetzt und in der es handelt. Mit der brutalen Bildmarke des Christentums, ein sterbender Jesus am Kreuz, lassen sich perfekt Projektionen, Ängste und Erwartungen ableiten, anhand derer sich die Subjekte spiegeln, selbst erkennen, ent- oder verwerfen. Damit wird die


„Es ist aber interessant, dass der Durchschnitt nie über einen gewissen Durchschnitt hinaus geht.“ Otto Grünmandl 62 / 63


Zeichenproduktion über Bild- und Wortmarken sowie die symbolische Politik zum wichtigsten Motor der wirtschaftlichen Wertschöpfung und der politischen Machtakkumulation. Sie findet ihren Niederschlag in einer symbolischen Kolonialisierung der Lebenswelt, einer Okkupation des symbolischen Feldes durch die Freisetzung normierender politischer und ökonomischer Ideologien im Prozess der kulturellen Kommunikation. Der in der christlichen Logik geschaffene Zeichenkosmos und seine Herrschaftsausübung über das Symbolische stehen somit kausal nicht mehr mit der konkreten Realität in Verbindung, das zeigte uns der Frosch von Kippenberger. Der Stiftungsrat des Museums entließ wenige Wochen nach dem Ende der Ausstellung die verantwortliche Direktorin des Museion, Corinne Diserens, fristlos. Zwar wurden budgetäre Gründe als ausschlaggebend dafür angegeben, doch bleibt der Verdacht, jemand musste als Folge des Ärgers um den Frosch unter den Bus geworfen werden. Während ich über diesem Text sitze, beschäftigt mich aber eine ganz andere theologische Herausforderung: Ein schwerer Schlaganfall zerstörte das Leben meines väterlichen Freundes Christian Aste. Ich bin zornig und Trauer hat auch immer etwas mit Wut zu tun. Wut darüber, dass unser Gespräch, lieber Christian, so abrupt abgebrochen wurde. Ein Gespräch, das ich am liebsten endlos weitergeführt hätte. Du liebtest Ernst Bloch und sein „Prinzip Hoffnung“, aber lass dir mit einer Paraphrase von Jean-Paul Sartres Theaterstück „Huis Clos“ sagen: „Ich sage, die Abwesenheit der andern, das ist die Hölle.“ Christian Aste war ein Braveheart unter den Tragwerksplanern und ein häufiger Gast in Blochs Utopia. Die Anlauframpe der Bergisel-Sprungschanze war ursprünglich als Durchlaufträger über drei Stützen geplant. Für Christian forderte der seillinienartige Längenschnitt aber eine freie Stützweite. In seinem ästhetischen Empfinden waren die konstruktiven Pfeiler im Seilfeld falsch und hässlich, weshalb er die 68,5 m lange Brücke, welche die Skispringer bis zum Absprung überwinden müssen, neu berechnete. Für die Tragwerksplanung der Bergiselschanze erhielt er mehrere nationale und internationale Preise und Ehrungen.

Titi, wie ihn seine Segel-, Stocksport- und Fußballfreunde nennen durften, wusste, was er wollte, und brachte dies begeisternd zum Ausdruck. Er ließ die Ereignisse kontrolliert ihren Lauf nehmen, das eine Projekt zog ein anderes nach sich und warf ihn atemlos vorwärts, wie jene Aussichtsplattform am Stubaier Gletscher, ein auf einem schmalen Grat sitzender Trägerrost, dessen Stahlschwerter neun Meter über die Felskante auskragen, oder das vom Himmel gefallene Oval, das höchstgelegene Café Österreichs am Pitztaler Gletscher, auf 3440 m. Dass diese auf Felskuppen sitzenden Objekte nicht ins Tal stürzen, ist der Bauingenieurskunst Astes zu verdanken. Jetzt plant er stützenfreie Wolkenheime in der Nacht der Zukunft. Er war die fleischgewordene Empörung gegen alles Mittelmäßige. „Denn jeder Mensch ist für alles und vor allen verantwortlich“, so Christian Aste zum Autor, kurz nachdem entschieden wurde, welches Büro den Architekturwettbewerb für die Platzgestaltung des Bozener Platzes in Innsbruck gewonnen hatte. Tragwerksplanung ohne Risiko, das ist ein Versicherungsabschluss mit einer Architektur, die sich nicht auszahlt. Er war ein Dolmetscher der Ingenieurskunst. Ein Wizard der Elemente und der Klothoidenschablonen. Ein Sichtbarmacher von Primär-Tugenden für ein richtiges Leben im falschen. Als Dynamiker kämpfte er gegen die Tugendoptimierung der Angestelltenmentalität und deren Ästhetikverzicht. Die Gemeinsamkeit aller großen Persönlichkeiten liegt im Kampf gegen Autoritäten und Normen, in der Bereitschaft, Risiken einzugehen, und in der Hingabe, Momente der Wahrheit freizusetzen. Der Ziviltechniker Aste war ein Widerstandskämpfer. Er unterrichtete 38 Jahre die Kunst des Bauingenieurs. Als Pädagoge wusste er, dass es im Unterricht nicht darum geht, zu gewinnen oder am Ende besser als die Schülerinnen und Schüler dazustehen, sondern auf einer höheren geistigen Ebene eine Balance zu halten. In jedem besseren Dialog erinnern sich Anrufer und Adressat gegenseitig an ihre intelligenten Mittel. Eins zu null für dich, Christian, ich danke dir, du großzügiger Freund. Dies alles gab es also – und noch viel mehr.


Architekten Scharfetter_Rier

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Eine Art „ewige“ Dunkelheit

Der Fotograf Bernhard Fuchs ist bekannt für Serien wie Autos, Straßen und Wege, Höfe oder Waldungen, die seit 2006 als Monographien bei Koenig Books erschienen sind. Hier in Quart veröffentlicht der 1971 im Mühlviertel geborene und heute in Düsseldorf lebende Künstler erstmals ein Arrangement, das die einzelnen Fotoserien in Beziehung zueinander bringt und in Ansätzen eine Geschichte erzählt. Als Motto könnte ein Satz aus Adalbert Stifters Nachsommer vorangestellt werden: „Ihr empfangt also das Gefühl von den Gegenständen und tragt es nicht in dieselben hinein …“ – Diese Worte finden sich auch als Einleitung zum 2020 erschienenen Fotoband Mühl, in dem Bernhard Fuchs knapp über seine Arbeitsweise Auskunft gibt: „Wenn ein Fluss sich an einem Wehr staut, verändert sich die zuvor lebendige Anschaulichkeit durch die steigende Wassertiefe in etwas Dunkleres, das meine Aufmerksamkeit erhöht. Dieser Zustand, erneut ein Schauender zu werden, ist eine wiederkehrende Erfahrung eines Gegenübers, die das Gesehene groß werden lässt. Je weiter sich die Orte und die Erfahrungen mit den prägenden Elementen meiner Herkunftsgegend entfernen, so näher kommt es mir vor, an sie herantreten zu wollen. Und oft schenkt während meiner Wanderungen das Betrachten und Erklettern eines Steinblocks dem Denken einen heilsamen Widerstand, weil in seiner Stärke und seiner Ruhe eine Art ‚ewige‘ Dunkelheit verborgen bleibt.“












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Oliver Laric Originalbeilage Nr. 36

Bei der Originalbeilage dieser Ausgabe handelt es sich um einen Druck des Künstlers Oliver Laric. Die Basis der Arbeit bildet eine Skizze von Charles Le Brun aus dem 17. Jahrhundert, die den Kopf des Menschen mit dem des Wolfes vergleicht. Laric zeichnet in tausend Schritten eine Mutation nach, die den Mensch zum Wolf werden lässt. Jeder Sammler und Leser hält somit einen bestimmten Moment der vielen Entwicklungsstufen in Händen.

1000 Einzelblätter, Format: 210 × 297 mm, Scodixlackierung



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Peter Haimerl featuring beierle.goerlich

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Vom Verlorengehen Landvermessung No. 5, Sequenz 9 Vom Trentino nach Berlin Geschichten kann man auch durch geometrische Operationen auf der Landkarte generieren: In Quart folgen unterschiedliche Autoren mit unterschiedlicher Kondition unterschiedlichen Linien (s. Übersichtskarte). Wir befinden uns derzeit auf der Geraden, die von Obermauern im Osttiroler Virgental Richtung Südtirol und weiter ins Trentino führt. Aus den mittlerweile mehr als bekannten Gründen konnte Sandra Gugić nicht verreisen, fand aber den perfekten Ort, um die fernen Gebiete in Gedanken aufzusuchen und die Landvermessung No. 5 würdevoll zu Ende zu bringen: einen Friedhof in Berlin.

„Es gibt keine Unschuld der Begriffe, gerade der geographischen nicht.“ (Gudrun Krämer)

Die Aufzeichnung läuft. Um den äußeren Zustand des Gehens mit dem inneren Zustand des Schreibens zu verbinden, beide Bewegungen wechselseitig aufeinander wirken zu lassen, zeichne ich meine Gedanken mit dem Smartphone auf. Ja, ich verwandle das Verfertigen der Gedanken beim Schreiben in ein Verfertigen der Gedanken beim Gehen. Was aus den Sprachmemos wird, ist im Augenblick noch offen. Ich behalte mir vor, sie zu einem späteren Zeitpunkt ins Reine zu schreiben, sie zu ordnen oder ungeordnet zu belassen. Wobei ich davon ausgehe, dass ein Text nie fertig geschrieben sein kann. Es gilt, ihn irgendwann loszulassen. Die Vermessung meiner Gedanken beginnt hier. Ich bin kein sportlicher Mensch, ebenso wenig bin ich der Bewegung abgeneigt, meine Wahrheit – wie auch die Wahrheit dieses Textes – liegt irgendwo dazwischen. Ebenso wie wir losgehen, um etwas zu entdecken, das wir so nicht erwartet haben. Oder sogar um vom Weg abzukommen, uns zu verlaufen. Ich fordere die Leserin und den Leser dazu auf, über das offensichtlich Erzählte hinaus die Verbindungen selbst herzustellen, Schichten freizulegen, die Topographie des Textes zu erkunden. Was die einen als anregende Vermessungspunkte wahrnehmen werden, wird bei anderen zu Irritation und vielleicht sogar Frust führen. Ich muss an den Tweet einer Kollegin denken, in einem langen

Thread twitterte sie sich ihren Unmut über detailreiche und umfängliche Landschaftsbeschreibungen in der Literatur von der Seele, die sie beim Lesen ermüden würden, die sie einfach nicht interessieren. Wer will das lesen? Und ich dachte mir und denke es in diesem Augenblick noch einmal durch: Ist nicht alles irgendwo mit der Landschaft verknüpft und der Überwindung dieser Landschaft, die sich einschreibt in unsere Biografien, Gesichter, Körper, Beziehungen? „Wenn wir gehen, kommt mit der Körperbewegung die Geistesbewegung“, sagt die Figur des Oehler in Thomas Bernhards „Gehen“. „Wenn wir uns bewegen, bringen wir über die Körperbewegung die Geistesbewegung zur Ruhe“, sagt die Yogalehrende auf YouTube. Weiter jetzt: mit der Verfertigung der Gedanken beim Gehen und zugleich Sprechen. Ich versuche im Gehen das Wort Wanderlust zu googeln, was mir nicht leichtfällt, da im Gehen jegliche Multitaskingfähigkeiten bei mir noch schlechter funktionieren als im Sitzen. Das erste Bild, das sich findet, ist Caspar David Friedrichs Gemälde „Der Wanderer über dem Nebelmeer“, beschrieben als: unsigniert, Öl auf Leinwand, eine Ikone der deutschen Romantik. Meine Erinnerung spuckt hingegen spontan ein Lied aus, dessen Zeilen sofort in meinem Hirn zu kreisen beginnen, „Das Wandern ist des Müllers Lust, das Wahan-dern“. Und ich sehe mich selbst, mit hochrotem Schädel singend vor der versammelten Gymnasialklasse, deren kollektives Grinsen und Kichern ich in diesem angestrengten Augenblick nur verschwommen wahrnehmen kann. Als Kind hasste ich das Singen ebenso


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wie den Schulsport, weil es beim Sport galt, zu funktionieren, auf jedes Ausprobieren folgte Lob, wenn etwas gelang, oder Spott und Hohn, wenn es nicht gelang, es gab nichts dazwischen. Die Ermunterungen, es noch einmal zu versuchen, hatten etwas von Drohungen. Die einzige Exit-Strategie war: sich lächerlich zu machen. Mein Körper schien mir nutzlos, ungeschickt, immer im Weg, nur mein Hirn und was ich damit machen konnte, schien einen Ausweg aus dem Körperdilemma zu bieten. Jetzt, während ich spreche, verheddert sich das Kabel meiner Kopfhörer mit Schal und Mütze, der säuerlichmuffige Geruch der Schulumkleideräume scheint plötzlich in der frischen Luft zu hängen, dabei bin ich doch hier draußen und alldem entkommen. Oder? Wäre ich dort, wo ich gerade nicht sein kann, wäre das zu erwandernde Gebiet etwa wie folgt begrenzt: Richtung Norden von den Ampezzaner Dolomiten und der Civetta, Richtung Süden durch das Feltriner Becken und den Grappastock; die Bilder dazu google ich mir herbei. Ich lese, dass auf der Marmolata, der sogenannten „Königin der Dolomiten“, während des Ersten Weltkrieges die Frontlinie zwischen Italien und Österreich-Ungarn verlief. Die Soldaten kämpften auf den Gipfeln und Gletschern der Alpen. Ein österreichischer Ingenieur baute eine Eisstadt aus unterirdischen Stollen und Höhlen, das dichte Tunnelnetz war eine wahnwitzige logistische Basisstation voller Räume, die zum Schutz, als Lager und Krankenstation dienten. Die Eisstadt ermöglichte den österreichisch-ungarischen Soldaten die Besetzung des Gletschers bis zum Tag des italienischen Rückzugs. Ich klicke mich ungläubig durch die Bilder der Soldaten in den unterirdischen Räumen aus Eis, die aus einem Science-Fiction-Film stammen könnten, versuche dabei nicht über meine eigenen Füße zu stolpern, betrachte die Gesichter, die auf diesen alten Fotografien immer sonderbar entrückt wirken und alterslos. Von der Eisstadt gibt es heute keine Spur mehr. Ich fröstle. Ja, es könnte eigentlich viel wärmer sein, aber man wird in ein Wetter geworfen und muss damit klarkommen. Eine Whatsapp-Nachricht poppt auf, ich lese: Wo bist du unterwegs?, und antworte nicht.

Wo war ich? Beim Körper. Meinem Körper und den ihm von außen zugeschriebenen Eigenschaften. Ein Umstand, der mich über das Heranwachsen hinaus bestimmt: mein weiblicher Körper als Zumutung an die Gesellschaft, weil dieser Körper Raum beansprucht und einnimmt, ebenso wie eine eindeutige Haltung, dieser scheinbar zerbrechliche Körper im Zentrum des politischen Geschehens. Und ich muss an Literatur denken, Geschichten über Männer, die in die Natur gehen, die sich die Natur „untertan machen“, sie „zähmen“, „erobern“. Klischees, die sofort kippen und nicht mehr funktionieren, wenn der Mensch, der dieser Natur gegenübergestellt wird, eine Frau ist. Warum eigentlich? Weil Frauen aus der Sicht des Patriarchats die Natur verkörpern, die sich untertan gemacht werden muss? Und von welcher Natur ist hier eigentlich die Rede? Auf meinem digitalen Notizblock suche und finde ich Sylvia Plath: „Yes, my consuming desire to mingle with road crews, sailors and soldiers, bar room regulars – to be part of a scene, anonymous, listening, recording – all is spoiled by the fact that I am a girl, a female always in danger of assault and battery. […] I want to be able to sleep in an open field, to travel west, to walk freely at night.“ Dear Sylvia, ich denke, wir sind unterwegs, aber noch lang nicht angekommen. Bin ich etwas auf dem Weg von der Zeitachse abgekommen, durch die Jahrhunderte gefallen? Caspar David Friedrichs Wanderer hat mir seinen Rücken zugewandt, scheint mit der Landschaft zu verschwimmen, lädt mich ein, seine Sehnsuchtshaltung und Perspektive einzunehmen. Das Bild erscheint mir jetzt seltsam vertraut, eine dieser Traumsequenzen, wenn ich in Schlaf falle nach einer Nachtschreibschicht: Das Textsubjekt steht inmitten einer Landschaft, das Panorama im Splitscreen: Streifenartig verlaufen die einzelnen Landschaften hintereinander: Küstenebenen, Bergländer, Täler steigen unendlich auf und ab. Die Geografie, der Geburtsort, das Geburtsland des Textes ist sein Ausgangspunkt. Seine Aufgabe ist es, die Schichten freizulegen, die verschiedenen Zeiten repräsentieren Gesteinsschichten, Kulturschichten. Landnahme und Zerstörung und Wiederaufbau. Ist es wahr, dass es egal ist, wie weit wir auch reisen, denn am Ende erwarten uns doch nur immer die glei-


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chen Warenketten in sich immer ähnlicher werdenden Einkaufsstraßen? Einmal mehr: das Thema der weißen Flecken auf der Landkarte, die im Verschwinden begriffen sind oder bereits verschwunden sind. Die ausgetretenen Pfade, das Nichts-mehr-zu-entdeckenfinden-Können. Und Wandern als europäisches Phänomen. Als Zeichen für das Privileg, sich Zeit nehmen zu können, Auszeit. Die Enge und die Verschmutzung der Großstädte, die jene, die es sich leisten können, hinaustreibt ins sogenannte Grüne. Natürlich denke ich jetzt auch an die Bilder aus dem Netz vom Frühjahr 2020, Videos aus den menschenleeren Metropolen, der Wiener Heldenplatz, das Brandenburger Tor, der Trevi-Brunnen in Rom, ungewohnt verwaiste Orte, die davor touristische Hotspots waren. Die Aufnahmen erinnern an Szenen einer Apokalypse, die sich nicht erfüllen wird, weil sie sich nur in unseren Albträumen erfüllen. Apropos Apokalypse: Aber nein, davon später. Fang am Anfang an. Da sind meine Vorfahren, Urgroßeltern, Großeltern und Eltern und ihr Aufwachsen auf dem Dorf, meine Vorfahren, die als Kinder kilometerweite Strecken über die Felder und Wiesen der Umgebung zurücklegen mussten, um zur Schule gehen zu können oder Schafe und Kühe zu hüten, jeden Tag. Während ich als Kind einer Migrantenfamilie am liebsten am Fenster unserer kleinen Wohnung saß und die vorbeiziehenden Menschen beobachtete oder las. Im Stillstand verharrte, mehr Kopf als Körper, dabei diese Verbindung zwischen Kopf und Körper nicht herstellen konnte. Lange nicht herstellen können würde. Das obligatorische Schulausflugswandern schien mir daher vielmehr Strafe als Vergnügen, ich hatte nichts übrig für die frische Luft oder die Landschaft, war das lange Laufen nicht gewohnt. Dazu kam eine von chronischer Bronchitis erschöpfte Lunge. Der besorgte Ausdruck meines Klassenvorstands: Du brauchst Ausdauer, mein Kind. Mehr Bewegung! Bewegung! Das dauernde Aushalten der Erwartungshaltung und der Enttäuschung der Erwachsenenwelt und der feste Wille, in eine Bewegung zu kommen, also eine Fluchtbewegung, und alldem letztlich zu entkommen. Eine Bewegung vom Träumen ins Denken und Schreiben, in einen Rhythmus, der nur

mir allein gehört. Überhaupt das Alleinsein. Das Alleinentscheiden. Schreiben wie auch wandern kann ein Mensch nur allein, es zu zweit oder gar in einer Gruppe machen zu müssen, ist eine Zumutung und hat mit dem eigentlichen Sinn des Wanderns oder Schreibens nicht mehr viel gemein. Im Gehen wie im Schreiben gilt es Rhythmus und Richtung allein zu bestimmen, keine Kompromisse zu machen. Dabei sind alle Umwege und Unübersichtlichkeiten willkommen, wenn ich mich verlaufe, werde ich belohnt werden mit neuen Perspektiven, unerwarteten Lichtungen, Ausblicken und Folgerungen. Die Spuren der Vorgänger aufnehmen, um sie zu verlassen, und als Ziel: Verlorengehen. Ein Pfiff lässt meinen Gedankenfaden abrupt abreißen, im nächsten Augenblick stolpere ich beinahe über einen Hund, die Besitzerin pfeift ein zweites Mal, nickt mir entschuldigend zu. Begegnen einander zwei Wandernde im Wald. Aber ich bin ja gar nicht im Wald. Trotzdem jagen im nächsten Augenblick zwei Eichhörnchen einander fauchend einen Baum hoch. Ein Tweet poppt auf: Habe gestern Abend zur Entspannung „Planet Erde“ angefangen und musste es abbrechen. Was ist die Natur denn für ein schrecklicher und grotesker Ort? Die Erinnerung an einen Schulausflug, Wandertag. Ich bin vielleicht zwölf Jahre alt, ich bin die Langsamste und irgendwo auf dem Weg, ich weiß nicht mehr, wie, und kann die Details nicht rekonstruieren, aber trotz der angeblich wachsamen Lehrkräfte verliere ich die Klasse oder hänge ich die Klasse ab. Gleich nach dem Erstaunen ob der Situation, in die ich geraten bin, erfasst mich ein ungeahntes Glücksgefühl. Mir wird klar: Ich bin frei. Ich habe keinen Augenblick Angst. Den Weg zu finden fällt mir nicht schwer, obwohl ich es noch nie zuvor allein gemacht habe. Auch dass mich ein älterer Mann erst anspricht und sich nach meiner abweisenden Antwort ungefragt an meine Fersen heftet, bringt mich nicht aus der Fassung. Ich gehe weiter, ohne Unruhe zu zeigen oder meinen Schritt zu beschleunigen. Irgendwann gibt er auf und verschwindet. Bei meiner Rückkehr werde ich umringt von meinen staunenden Mitschülern, die mir, genauso wie die


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Lehrkräfte, bis zu diesem Zeitpunkt nichts zugetraut haben. Der als Demütigung empfundene Wandertag, der allen anderen meine physische Unterlegenheit sichtbar gemacht hat, wird durch das Verlorengehen letztlich zu einem Akt der Selbstermächtigung. Was uns in Bewegung bringt, ist oft der Ausnahmezustand, die Krise. Menschen beginnen mit dem Wandern, in die Natur und damit auch in die Stille zu gehen, wenn sie sich in einer Erschöpfung wiederfinden, krank werden, nach einem Verlust, wenn sie sich existenziell bedroht fühlen oder Angst haben. Aufbrechen bedeutet auch: Wir betrachten unser Alltagsgepäck und überlegen, was wir davon zurücklassen können, wenn wir uns auf den Weg machen. Reise mit leichtem Gepäck, vor allem, wenn du es bei jedem Schritt, den zu zurücklegen willst, auf deinem Rücken tragen musst. Das freie Wandern und Flanieren war lange Zeit nur den „großen männlichen Denkern und Schreibern“ vorbehalten. Ich stelle mir vor, wie Henry David Thoreau in seiner selbst gebauten Hütte im Wald hockt und sein Buch „Walden“ schreibt, abgewandt von der Welt. In dem Essay „Vom Spazieren“ / „Walking“, der erst nach seinem Tod publiziert wurde, schreibt er davon, dass man bereit sein müsse, Vater und Mutter zu verlassen, Bruder und Schwester, Frau und Kind und Freunde, dass man all seine Angelegenheiten geregelt und irgendwo auch mit dem Leben (das man davor hatte) abgeschlossen haben muss, um ein freier Mensch zu sein und in diesem Sinne „wahrhaft“ zu wandern. Also indirekt über das Privileg, alles hinter sich lassen zu können und sich rein dem Geistigen und der Einsamkeit in der Natur hinzugeben. Ein Privileg, das die meisten Frauen seiner Zeit kaum gehabt haben dürften. Dass die Welt draußen bleiben muss, fern von mir, damit ich schreiben oder kreativ arbeiten kann, sehe ich als eine patriarchal geprägte Sicht und Vorstellung des Lebens. Kein Schreiben ist frei von Verantwortung. Manche Lebensentwürfe mögen es sein. Ich denke an die ersten Schritte meines Kindes, das mag ein Kitschbild sein, abgegriffen, erwartbar. Aber weit über die Mühe und Einschränkungen hinaus, die diese Form von Sorgearbeit mit sich bringt, ist es ein menschlich wie auch künstlerisch bereichernder Erfahrungsgewinn

mitzuerleben, wie ein Mensch sich vom ersten Tag an entwickelt und verändert, und dieses Werden im Begleiten ein Stück weit zu begreifen. Zu begreifen, dass wir alle ein Leben lang im Werden begriffen sind. Reicht es, diese ersten Schritte zu machen und immer weiter zu gehen? Was braucht es für dieses Werden? Das Wort Stamina, Ausdauer, kommt mir in den Sinn. Marina Abramović, die zu Recht Ausnahmekünstlerin genannt wird, stellt für mich fast schon ein Synonym für diese Eigenschaft dar. Es gibt unzählige Vermessungspunkte in ihrer Biografie und ihrem Werden, die ich als Beispiel dafür herausnehmen könnte, warum. Allen voran ist es die Überwindung der eigenen physischen und psychischen Grenzen, die Überwindung des Körpers in ihrer Arbeit als Performancekünstlerin. In den Achtziger Jahren, damals noch im Duo mit ihrem Partner Ulay, lebt sie – ich glaube mich zu erinnern, für ein Jahr – bei den Aborigines und sagt über ihre Zeit in der Wüste: What did we learn from the desert and the people who lived there? Not to move, not to eat, not to speak. Diese Erfahrung bringen sie in ihre folgenden Performances ein, die vergleichbar sind mit einer exzessiven Form von Schweigemeditation. Es ist Abramović, die niemals eine der gemeinsamen Performances abbricht, im Gegensatz zu ihrem Partner Ulay. Ihre Beziehung scheitert unter anderem an ihrer Ausdauer und seiner Nachgiebigkeit. Als die beiden sich künstlerisch und privat trennen, tun sie dies mit einem letzten gemeinsamen Werk. Am 30. März 1988 beginnen sie ihre Wanderung über die Chinesische Mauer jeweils von ihren entgegengesetzten Enden aus. In ihrer Autobiografie „Walk through walls“ beschreibt Abramović einerseits die Strapazen, aber vor allem die auferlegten Einschränkungen und Verbote, da die chinesische Regierung den Ablauf peinlich genau kontrolliert und unter anderem einen ganzen Marschtrupp als Begleitung vorschreibt. Besonders groß ist ihre Enttäuschung darüber, dass Ulay nicht wie vereinbart so lange weiter wandert, bis sie einander an einem zufälligen Punkt der Route wiederbegegnen, sondern stattdessen etwas früher Halt macht und auf sie wartet, an einem besonders malerischen Ort, auf einem Bergpass nahe bei Sehnmu in der Provinz Shaanxi zwischen buddhis-


Edward Beierle und Jutta Görlich arbeiten schon seit 2008

kurz vor oder nach ihrer Transformation durch die Inter-

zusammen. Für Menschen konstruierte Lebensräume, de-

ventionen des Architekten Peter Haimerl befinden. Mit den

ren Inbesitznahme oder deren Vernachlässigung durch

Inszenierungen der Kunstfigur der Schwarzen Frau erwei-

Gleichgültigkeit oder Unwissen sind Themen, für die sich

tern sie die Architekturfotografie um die Geschichten und

beierle.goerlich in ihren gemeinsamen Projekten interes-

Erzählungen der Menschen und schreiben das Narrativ der

sieren. Für ihre Arbeiten suchen sie meist Orte auf, die sich

Orte in inszenierten Fotografien weiter.

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tischen, konfuzianischen und taoistischen Tempeln. Am 27. Juni, drei Monate nachdem sie losgegangen sind. Es ist die perfect photo opportunity. Ich stelle mir Marina und Ulay vor, wie sie sich aufeinander zu bewegen, zwei Punkte auf einem Google-Maps-Screen im Satellitenmodus, in einem Netz aus Linien und Flächen. Später in ihrem Leben, als gefeierte Künstlerin, schreibt sie in ihrem künstlerischen Manifest: An artist has to understand silence. An artist has to create a space for silence to enter his work. Ich bleibe vor einem Übersichtsplan stehen. Sie befinden sich hier, sagt das Leitsystem. Was ich noch nicht erwähnt habe: Ich befinde mich auf einem sehr weitläufigen Friedhof, den ich in- und auswendig kenne, hier bin ich Stunden alleine spaziert und mit meinem Kind, habe Besprechungen im Gehen gemacht und mit Freunden flanierend Kaffee getrunken. Es ist der grünste und zugleich schönste Ort in meinem Kiez und mit dem allgegenwärtigen Tod habe ich kein Problem. Apropos Tod: Im ersten Teil des Romans „Karte und Gebiet“ von Michel Houellebecq spielen die Landkarten des französischen Reifenherstellers Michelin eine nicht unwesentliche Rolle, die Hauptfigur der Geschichte, Jed Martin, inszeniert sie künstlerisch als Reflexion über den Zustand der Welt. Die Arbeit wird sein unerwarteter Durchbruch in der Kunstszene. Am Ende seines Lebens wird sich der Künstler abgeschottet von der Welt einrichten: „… das Gefühl der Verzweiflung, das uns überkommt, wenn die Bilder der Menschen, die Jed im Laufe seines irdischen Lebens begleitet haben, verwittern, sich zersetzen, in Fetzen auflösen […] Sie versinken, scheinen sich noch einen Augenblick lang zu sträuben, ehe sie von sich überlagernden Pflanzenschichten erstickt werden. Dann wird alles ruhig, und zurück bleiben nur sich im Wind wiegende Gräser. Die Vegetation trägt den endgültigen Sieg davon.“ Ein Gebiet unterscheidet sich insofern von einer Karte, als dass es ihr Objekt ist. Die Karte erfasst das Gebiet, beschreibt einen Raum, über den sich die erlassenen Gebote, Grenzen und zugewiesenen Namen erstrecken, die Territorialgewalt.

Die Bilder in meinem Kopf verändern sich, ich denke an das Wort Fluchtbewegung, an schematische Darstellungen von Fluchtrouten in Nachrichtenbildern und die Debatte über das Wort Geflüchtete gegenüber dem Wort Flüchtling. Ich halte einen Moment inne und notiere auf meinem digitalen Notizblock, dass ich mir das Buch „Menschheit, eine Fluchtgeschichte“ bestellen will, und korrigiere mich: „Flucht, eine Menschheitsgeschichte“ von Andreas Kossert. Auf dem Friedhof beginnt die Glocke zu schlagen. Ich denke an einen Traum, den ich kürzlich hatte, ich träumte von der Beisetzung der deutschsprachigen Literatur, hier auf dem Friedrichwerderschen Friedhof zu Berlin, ich kam nur zufällig vorbei. Der Literaturbetrieb war vollzählig erschienen. Es wurde viel geweint. Dass ich für das Wandern nicht allzu viel übrighabe, sagte ich bereits, aber was ich (in der Theorie) liebe, sind postapokalyptische Welten. In der Netflix-Serie „The Walking Dead“ oder auch im Roman „The Road“ von Cormac McCarthy ist von der Welt, wie wir sie kennen, kaum noch etwas übrig. Den handelnden Figuren bleibt nichts anderes, als sich zu Fuß fortzubewegen, während sie anhaltenden Bedrohungen ausgesetzt sind und immer neue Hindernisse zu überwinden haben, die sich ihnen in den Weg stellen. Wird also Wandern das Letzte sein, was wir als Menschheit tun können und werden? Hätte ich in einer postapokalyptischen Welt das Zeug zum Überleben? Und selbst? Rebecca Solnit beschreibt in ihrem Buch „Wanderlust“ das Gehen als einen Zustand der Übereinstimmung zwischen Geist, Körper und Welt und das Wandern als etwas Vieldeutiges und unendlich Fruchtbares, es sei Mittel und Zweck, Reise und Ziel zugleich. Dennoch: Die Existenz von Zombies ist zumindest denkbar.


he und du

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„Hier ist alles ruhig.“

Im Zuge der Revolten im März 1848 verbarrikadierte sich Kaiser Ferdinand in Tirol, wo „ohne Wanken an Sitte und Gehorsam“ zu ihm gehalten wurde. Friedrich Hebbel reiste als Teil einer Schriftsteller-Delegation nach Innsbruck, um den Kaiser mit einer flammenden Rede zur Rückkehr nach Wien zu bewegen. Die Reaktion Ferdinands hat womöglich den Fortgang der Dinge entscheidend verändert. Von Klaus Zeyringer

„Feierlich begrüßen, wie die Linzer, die uns Ehrenwache vor die Tür gaben, werden die Tyroler uns wohl nicht“, schreibt Friedrich Hebbel am 28. Mai 1848 an seine Frau Christine. Was dann aber ein paar Tage darauf in der Innsbrucker Burg geschieht, ahnt der Dramatiker und frenetische Redner gewiss nicht. Während in Wien Barrikaden stehen, fühlt sich Kaiser Ferdinand in seinem Zufluchtsort, umgeben vom Hofstaat und dem loyalen Tirolervolk, durch die Worte Hebbels so bedrängt, dass er sich schleunigst hinter eine provisorische Barrikade verfügt. Und damit ein Bild des Jammers abgibt, das – die Vorstellung erscheint verlockend – mit einem ersten, später einem zweiten Manöver der Erzherzogin Sophie, die im Hintergrund das Regiment führt, den Lauf der Geschichte der Habsburgermonarchie ändert. Im März 1848 revoltierten die Bürger in Wien. Viele Literaten machten mit; Theaterdirektor Carl Carl bewaffnete das Bühnenpersonal, dekretierte es als Kompanie der Nationalgarde und stellte derart unter Beweis, dass in der Hauptstadt der Übergang vom Theater zum Leben und umgekehrt fließend war. Den Publizisten Moritz Gottlieb Saphir wählten revolutionäre Schriftsteller an ihre militärische Spitze – und alsbald setzte er sich nach Baden ab, um aus sicherer Entfernung auf eine Beruhigung der Lage zu warten. Mitte Mai marschierten die Studenten auf die Hofburg. Der Kaiser und seine Entourage, die verhasste „Camarilla“, nahmen Reißaus ins sichere Innsbruck. Ganz ohne das Imperiale jedoch wollten viele Bürger der Haupt-, nun aber nicht mehr Residenzstadt auch nicht bleiben. Untertänigst baten sie um Rückkehr. Überbringen sollten die Worte die Männer des Wortes. An Metternich waren sie zwar zuvor gescheitert, als ein Komitee mit Grillparzer und anderen 1845 eine Petition gegen die Zensur eingebracht und der Staatskanz-

ler abgewinkt hatte: Er könne gar nicht darauf eingehen, denn er wisse nicht, was in Österreich ein Komitee sein solle. Aber Metternich hatte man ja vertrieben; und damals war der wortgewaltige Hebbel gerade erst in der Stadt angekommen. Also macht sich ein kleines, vom Schriftstellerverein Concordia gewähltes Komitee auf nach Innsbruck. Als Sprachrohr sieht sich der gebürtige Norddeutsche Friedrich Hebbel, denn er sei der bedeutendste Dichter und Redner unter ihnen (er hat sich aus bitterer Armut hochgearbeitet, mit seinem Drama Maria Magdalena reüssiert und in Wien mittels der Heirat mit der Burgschauspielerin Christine Enghaus gesicherten Wohlstand erreicht). Als Sprachrohr versteht sich allerdings auch Saphir, einer der umtriebigsten Publizisten und Herausgeber der Zeitschrift Der Humorist. An ihrer Seite reisen der Grillparzer-Freund Johann Otto Prechtler, von dem zwei Dramen mit – in dieser Situation – einschlägigen Titeln stammen, Die Kronenwächter und Die Schule des Königs, sowie der Jurist Ignaz Wildner Edler von Maithstein, der die Zeitschrift Das Panier des Fortschritts verantwortet. Vier ganz unterschiedliche Typen. Wie sie nebeneinander am Donaupier stehen, ein kleiner Dicker neben einem Schmalen, ein großer Kopf mit wehendem Haarkranz neben Löckchen über Zwicker und grimmigem Schnurrbart, ein Stimmchen neben einem Donnerbass, könnten sie gut ein schräges Figurenensemble in Nestroys Revolutionsstück Freiheit in Krähwinkel abgeben. Einen Statisten nehmen sie selbst im Gefolge mit. Saphir hat seinen Leibreporter vom Humoristen zur Berichterstattung über die bedeutende Auftragsreise abkommandiert. Mit dem Dampfschiff „Sophie“ fahren sie am 26. Mai nach Linz, die Petition der „hunderttausend friedlichen und Ordnung bürgenden Wiener“ im Gepäck. Die unruhige Hauptstadt bleibt zurück, auf die Donau


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scheint die Sonne, an den Uferhängen frisches Grün und Blühen. Die Abgesandten fühlen sich idyllisch. „Auch finden wir Deputations-Mitglieder, so verschieden wir auch gemischt sind, uns ganz gut ineinander“, schreibt Hebbel an Bord nachmittags an seine Frau. Saphir reiße Witze, gute und schlechte, Prechtler erzähle seine Reiseabenteuer von früher, Wildner erläutere „historische Merkwürdigkeiten“. Sie dampfen an Dürnstein vorbei, Saphir fällt ein Löwenherz-Gedicht ein. Sie halten in Grein, der örtliche Lehrer erhitzt sich für die Revolution. Heiter und blau spannt sich der Himmel über ihnen, notiert Prechtler, die „Gedanken drängten vorwärts! Unsere patriotischen Gefühle suchten ihr Echo in der Ferne der Martinswand“ (sein Reisebericht erscheint am 11. Juni in den Sonntagsblättern). Saphir hält es lyrisch (seine drei Gedichte kommen am 5. Juni auf der Titelseite des Humoristen): „Der Himmel, Erde, Strom und Ufer lachen / Von beiden Seiten an die Argonauten“. Der Gefühlsüberschwang reist bis Innsbruck mit, dort schwappt er in Hebbels Rede an den Kaiser über. Noch sind sie an der Donau, in Linz. Saphirs Leibreporter vermeldet empört, der Kapitän habe die Salutschüsse nicht abgefeuert, die der hohen Deputation zustünden. Abends habe sein Chef eine Rede gehalten, „feurige Worte“. Aber was Saphir betrifft: In Linz endet’s. Nachdem aus Wien „fürchterliche Nachrichten“ eintreffen – die Republik sei proklamiert, es gehe drunter und drüber, Barrikaden seien errichtet –, schwindet dem Humoristen der Mut. Durch die Reise sei Saphir „sehr unwohl geworden“, entschuldigt ihn später seine Zeitschrift. Bei seiner feurigen Rede nach der Ankunft war davon allerdings nichts zu bemerken. In Innsbruck werde sich ohnehin Hebbel in den Vordergrund stellen und das Wort führen, weiß Saphir. Und da der Herr Herausgeber den Tirolern nicht traut, kehrt auch der Reisechronist des Humoristen um. Hebbel hingegen ist von der Mission überzeugt. Je gefährlicher, umso eher müsse sie ausgeführt werden, sei sie „doch eine historische“. Wegen der unsicheren Lage beschließen die Schriftsteller, offiziell nicht als Abordnung weiter zu reisen, sondern mit ihren Pässen als drei Privatpersonen. Sie fürchten, die Tiroler würden in jedem Wiener Deputierten einen Roten vermuten. Als die Abgesandten in die Tiroler Täler kommen, nimmt „die Aufrichtigkeit und Herzlichkeit der Land-

bewohner auf eine mehr als auffallende Weise“ ab, schreibt Prechtler. Sie blicken in misstrauische, unfreundliche Gesichter, immer sehen sie Patres in der Menge, es fallen derbe Sprüche über die rebellischen Wiener. Fast wie in einem feindlichen Territorium, entsetzt sich Prechtler. Friedrich Hebbel will dem Kaiser „nicht blos die Petition überreichen, sondern ihn auch an seine Pflicht erinnern und ihm auseinandersetzen, daß die letzten Ereignisse nur die Folge seiner Abreise gewesen sind“. Wenn man den Neo-Wiener kennt, klingt das bedrohlich. Grillparzer meidet ihn, denn er rede zu heftig und sei „ein ausgeprägter norddeutscher Obergscheiter“, der alles schwer und ernst nehme. Zum Dichter fehle Hebbel „eigentlich etwas. Aber was? Vielleicht hätt er vor zehn Jahren schon zu uns kommen sollen“. Den Kaiser brauche „man nur zu sehn, um zu wissen, was man mit ihm sprechen kann“, glaubt Hebbel. Ferdinand bewegt sich geistig langsam. Zeitungen nennen ihn arm und krank. Dem derben Volksmund ist er ein „Trottel“, dem warmherzigen ist er „Ferdinand der Gütige“, dem satirischen ist er „Gütinand der Fertige“. Sie antichambrieren. Auf die Audienz müssen die drei Herren warten, der Hof lässt Erkundigungen einziehen. Erzherzog Johann, der weniger abhängige Geist der Habsburger, empfängt sie. Er wohnt nicht in der Burg, sondern – mit Distanz zum Hof – im Gasthof zur Sonne. Die Studentenschaft Wiens, sagt er, sei ein „Körper von gesundem Stoff und edler Kraft“. Er selbst wolle nur Frieden, aber gegen die Camarilla vermöge er wenig. Danach begibt sich Hebbel zum Postamt, Christine hat nicht geschrieben. Was ist in Wien los? Von ferne hört er Schüsse. Die Innsbrucker feiern den Namenstag des Kaisers. Am Vormittag hat der Fürsterzbischof von Brixen in der Stadtpfarrkirche ein Hochamt zelebriert, das Schützencorps defilierte vor der Burg, nun knallt es vom Festschießen am Bergisel. Am nächsten Morgen klagt Hebbel in einem kurzen Schreiben an die Gattin, Prechtler habe zwei Briefe von seiner Frau erhalten, er selbst jedoch keinen. Immerhin habe man von Erzherzog Johann „die beruhigendsten Zusicherungen“ empfangen. Prechtler notiert: „Hier ist alles ruhig.“


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Tags darauf werden sie zur Audienz geführt. Man schreibt den 2. Juni 1848, es ist ein Freitag. In Wien findet das Publikum des Humoristen auf der ersten Seite den Bericht von der Linzer Etappe der Schriftsteller-Deputation. In der Innsbrucker Zeitung liest Hebbel einen begeisterten Artikel über den Aufenthalt des Kaisers in der Stadt: „Ja, das tirolische Volk allein bewährt in der Mitte des aufgewühlten Europa die Ehrfurcht und Treue, den Muth und die Kraft für sein angestammtes Regentenhaus“; Tirol allein halte „ohne Wanken an Sitte und Gehorsam“. Nun fülle sich Innsbruck mit Fremden, heißt es weiter, eingetroffen seien Gesandtschaften und „die Litteraten-Deputierten aus Wien mit der Riesen-Petition um Zurückkunft des Kaisers“. Friedrich Hebbel, Johann Otto Prechtler und Ignaz Wildner Edler von Maithstein gelangen in einen Saal der Burg. Die Camarilla ist zugegen, Erzherzöge, Minister, Berater, die Erzherzogin Sophie, eine geborene Wittelsbach aus Bayern. Gedämpfte Stimmung, die Entourage ein Gesäusel und Schnarren. In der Mitte steht Ferdinand vor einem klobigen Tisch. Schmächtig, verletzlich sieht der Kaiser aus, der Kopf zu groß, das Habsburgergesicht. Er scheint zu zögern, als müsse er bedenken, was zu tun sei. Bevor er das Wort an die Bittsteller zu richten vermag, tritt schon Hebbel vor. Mit dröhnender, im Saal heftig hallender Stimme und gewaltigem Gestus beginnt er zu sprechen, hochtrabend und aufgeregt. Jeder Satz schiebt ihn Ferdinand einen halben Schritt näher. Unruhe im Hofstaat. Hebbel donnert, Ferdinand rückt zurück, Hebbel fuchtelt heran. Da eilt der Kaiser um den Tisch. Dort steht er bleich und starrt auf den Redner. Der lässt sich nicht beirren, seine Worte sind Schläge auf der größten Pauke. Ferdinand hinter der Barrikade. Da begibt sich Erzherzogin Sophie um den Tisch, reicht dem Kaiser den Arm und verlässt mit ihm gemessenen Schrittes den Saal. Im Vorzimmer teilen dann die Berater von Erzherzog Franz Carl, Sophies Gatten, den drei Schriftstellern ihre Ansicht mit, dass „eigentlich die Intelligenz die schlimme Ursache all dieser unglaublichen Bewegungen“ sei. Die Worte der Camarilla sind oft zweischneidig.

Wieder in Linz schreibt Friedrich Hebbel an Christine, der Kaiser habe versichert, nach Wien zurückzukehren, „sobald Ordnung, Recht und Sicherheit wieder hergestellt sind“. Ferdinand und der Hof bleiben bis August in Innsbruck. Johann Otto Prechtler kehrt viel später nach Tirol zurück, 1881 stirbt er in Innsbruck; auf dem Westfriedhof, wo er begraben ist, erinnert ein massiger Gedenkstein an ihn. Im Oktober 1848 fliehen Kaiser und Hof erneut aus Wien, diesmal nach Olmütz. Vielleicht will Ferdinand nicht wieder nach Tirol, weil er noch den Schrecken des Stimmgewitters im Kopf hat. Im November, „während der ärgsten Tage des Bombardements“ des revolutionären Wien durch kaiserliche Truppen, beendet Friedrich Hebbel sein Trauerspiel Herodes und Mariamne. Nachdem die Revolution niedergeschlagen ist, verfügt sich Moritz Saphir auf die Seite der Sieger. Nestroy, dessen Freiheit in Krähwinkel er verreißt, erinnert ihn, „abscheuliches Saphirchen“, daran, dass ihm im März der Säbel des Nationalgardisten „zwischen den Schlotterbeinen gebaumelt“ sei. Ignaz Wildner wird für Krems in den Reichstag gewählt, bleibt aber nur vier Monate Abgeordneter. Danach beschäftigt er sich mit Fabrikrecht und publiziert ein Buch über den Eisenplattenofen. In Olmütz wird Ferdinand überredet, den Thron zu übergeben. Vielleicht ist Erzherzogin Sophie in Innsbruck bei der Rede des Literaten endgültig klar geworden, dass mit diesem geistig verbarrikadierten Kaiser kein Staat zu machen ist. So wie sie dem verschreckten Ferdinand den Arm gereicht und ihn vor Hebbels Wortdonner gerettet hat, reicht sie umgekehrt ein halbes Jahr später ihrem achtzehnjährigem Sohn Franz Joseph den Arm und setzt ihn auf den Thron der Habsburger. Gütinand der Fertige ist Kaiser im Ruhestand, er behält den Titel. 1875 stirbt er. Als er 1866 von der krachenden Niederlage in Königgrätz erfuhr, sagte er: „Das hätt ich auch zsammbracht.“


Margarethe Heubacher-Sentobe

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Marginaltext (10): „Zwölf Stunden von der Heimat“ Mit dem Wort Marginalie wird gewöhnlich Nebensächliches bezeichnet, etwas am Rande oder an der Grenze einer Sache Liegendes. In Quart werden unter diesem Titel zentrale Texte über das Leben an der Peripherie neu veröffentlicht, denen trotz ihrer herausragenden Qualität zu wenig Aufmerksamkeit beschieden ist. Sei es, dass sie schlicht zu wenig bekannt, längst vergriffen oder nur schwer zugänglich sind, sei es, dass sie an entlegenen Orten aufbewahrt oder gar in Archiven verschwunden sind. Folge 10: Ein Ausschnitt aus Franz Michael Felders Autobiografie „Aus meinem Leben“. Felder – Sozialreformer, Schriftsteller und Bauer im Bregenzerwald – starb 1869 mit nur 29 Jahren in Schoppernau. In seinem letzten Lebensjahr hatte ihn der in Leipzig ansässige Germanist Rudolf Hildebrand aufgefordert, seine Lebensgeschichte aufzuschreiben.

Im Monat Mai hatte ich jetzt nur mit meinen 10 Kühen zu tun. Ihren Weideplatz hinter dem Dorf umgab ich mit einem Hag und machte mir das Hüten leicht. Stundenlang konnte ich in dem kleinen Hüttchen sitzen, welches ich mir aus Zaunstecken gebaut und mit Tannzweigen aus dem nahen Wald gedeckt hatte. Da las ich Klopstock, Zimmermann und Wieland, während die weidenden Kühe um mich herum läuteten. Da war mir einmal wohl. Die Tiere nährten sich hier auf meiner Heuwiese und zehrten von dem Vorrate für den künftigen Winter; dennoch sehnte ich mich nicht besonders nach der Zeit, wo der Schnee auch im Vorsäß weg und so viel Gras die Heuwiese schonen konnte. Mein Etz- oder Weideplatz lag hart am Weg, der ins innerste Achtal – nach Hopfreben und Schröcken führte. Manch einer der Vorübergehenden schaute mitleidig zu mir herauf, und wenn er gerade Zeit hatte, kam er für eine Viertelstunde ins grüne Hüttchen. Ich suchte dann mein Buch zu verbergen, aber die meisten trieb gerade nur die Neugierde herauf, einmal zu sehen, was ich denn immer lese. Unwillig zog ich dann nach vielen Versuchen, ein anderes Gespräch anzufangen, mein Heft wieder aus der Tasche und las etwas recht Frommes vor. Das gefiel manchem wohl außerordentlich, so daß er ein Vertrauen zu mir faßte und mir auch aus seiner Welt des Herzens zu erzählen begann, ja, auch diese Bauern, denen ich nur noch Sinn für Erwerb und rohen Genuß zutraute, hatten so eine Welt und viele noch dazu eine recht reiche. Manche Sorge, die ein reiches, edles Gemüt verriet, religiöse und andere Fragen,

wurden bald in meinem Hüttchen durchgesprochen. Es plauderte sich recht angenehm, während die Ach draußen die letzten Reste des Winters laut scheltend aus dem Tale trug, und hier wie ein Siegeslied des Frühlings der Gesang der Vögel und das Geläute der weidenden Tiere erklang. War ich wieder allein, so eilte ich nicht mehr besonders ans Lesen, sondern blickte ins Dorf, welches mir jetzt ganz anders vorkam, seit ich mir fast jedes Haus als einen Tempel dachte. Aber um so weher tat es mir dann, Leute, die ich nicht mehr zum großen Haufen zählte, nachher wieder so gewöhnlich zu sehen, als ob sie sich schämten, auch ihre bessere Seite zu zeigen. Besonders gegen mich benahmen sie sich so kühl, als ob wir nie beisammen in der grünen Hütte gewesen wären oder sie sich jener Stunden schämten. Ich sann jetzt oft darüber nach, da ich aber billig sein wollte, fiel mir bald ein, daß ich selbst ja meine innere Welt auch sorgfältig vor dem großen Haufen verschließe und meine besten Freunde schon oft dadurch an mir irre gemacht habe. Nun begann ich zu untersuchen, warum denn das von mir geschehe. Ich kam darauf, daß alles, was man in der Gesellschaft tut, etwas Amtliches habe und daß die öffentliche Meinung nicht Ausdruck aller Einzelmeinungen oder auch nur ihrer Mehrzahl sei. In einer Hinsicht fand ich auch hier, was Zimmermann über die vornehme Gesellschaft und ihre Urteile sagte. Man urteilt strenger, als man ist, und sucht sich dabei vor allem ungemein fromm zu geben. Nun, das fand ich begreiflich, aber daß man sich dabei auch absichtlich recht herzlos, eigennützig und keinem


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menschlichen Gefühle zugänglich zu zeigen bemühe, wußte ich nicht mehr günstig auszulegen. Ein Liebespaar zum Beispiel, das mehr dem Zuge des Herzens als kalter Berechnung zu folgen scheint, hat nirgends eine freundliche Beurteilung zu erwarten, obwohl fast jeder unter vier Augen zugibt, daß das schon recht wäre, wenn sich damit durch die Welt kommen ließe. Mir wollte es zuweilen scheinen, als ob die öffentliche Meinung nur so eine Respektsperson, etwa einen gestrengen Schulmeister, spielen wolle. Schon in der Schule hatte ich etwas von dieser Unnatur empfunden. Im Aufgabenheft eines Mitschülers fand ich hundert und zwanzig Briefe, unter denen nicht einer war, der nicht mit dem Versprechen schloß: „Ich will alle Tage zu Gott beten, daß er Dich in bester Gesundheit erhalte.“ Vielleicht sah der Pfarrer einmal ins Briefbuch, und dann mußte der seine Freude haben an dem frommen Schluß. Das war sicher der einzige Grund, etwa eine Mitteilung, daß man noch eine Kuh feil habe, so zu enden. Andere hatten es ähnlich gemacht und machten es auch jetzt noch nicht besser. Hinterm Ofen hatten sie ihre Gedanken und ihren Grimm über die böse Welt so gut als ich, aber es wagte keiner gegen herrschende Unnatur und Heuchelei aufzutreten, sondern streckte und wand und krümmte sich, bis er auch auf den großen Leisten paßte, den einige Dorfgrößen vielleicht schon vor Jahrhunderten für sich selbst geschnitzt haben mochten. Mein Stolz begann sich zu regen. Was war ich mit meinen besonderen Gedanken? Nichts weiter als ein besonderer Narr, der sich einbildete, es vermöge hier herum niemand menschlich zu empfinden als er. Wie sollte es besser werden, wenn jeder sich vor dem Hergebrachten beugte und sich durch heuchlerische Verstellung in Gunst zu erhalten suchte? Auch Wieland, Klopstock und Zimmermann waren mit ihren Ansichten offen aufgetreten und hatten dafür die volle Kraft ihres reichen Geistes eingesetzt. Die Furcht, lächerlich zu werden, hielt sie nicht zurück. Sie waren so glücklich, ihre Gedanken gleich niederschreiben und veröffentlichen zu können. Wie herrlich war’s doch, zu Tausenden, die man nie sah und denen man doch geistig verwandt ist, ja noch zu kommenden Geschlechtern, reden, ihnen sein Bestes, Heiligstes mitteilen zu können! Mir war das nicht vergönnt. Schwerlich las jemals ein Mensch meine Tagebücher und Verse, die ich in schlaflosen Nächten schrieb, weil es mir an Gelegenheit, mich auszusprechen, fehlte. Aber warum

fehlte es mir daran? Hatte ich je einen Versuch gewagt? Was nutzte mein Klagen im Tagebuch und mein stiller Spott über dies oder das? So fragte ich mich und zankte mit mir selbst und verschloß meine Schriften und begann herzhaft zu reden, was ich früher nur niedergeschrieben hatte. Der Widerspruch, den ich überall erregte, überwand den letzten Rest von Schüchternheit, den ich mit allen Vernunftgründen nicht erfolgreich zu bekämpfen vermocht hatte. Bald begann man den Kopf über mich zu schütteln und von mir so viel zu reden, daß ich gerne wieder zurückgetreten wäre, doch das ging nicht mehr so leicht. Dem Gespött der Leute konnte ich vielleicht noch am ehesten entrinnen, wenn ich meine Ansichten herzhaft verfocht. Ich konnte bald mit keinem Menschen mehr nur bis zur Kirche gehen, ohne in einen kleinen Wortwechsel zu geraten. Ich stritt über Glaubenssachen, über die ungleiche Verteilung der Gemeindelasten und über alles. Da es mir darum zu tun war, etwas auszurichten, verkehrte Ansichten und verjährte Übelstände wegzubringen, brachte ich die Rede immer gerade auf das, was der andere nicht gern hörte, weil er sich selber getroffen fühlte. Es suchte mich daher jeder zu necken und zu demütigen, und ich mußte immer gleichsam nach allen Seiten bewaffnet sein, wenn ich mich unter die Leute wagte, und kam aus der Aufregung fast gar nie mehr recht heraus. Auch für den ruhigsten Menschen ist es gefährlich, für etwas Besonderes zu gelten. (…) Ich kannte selbst einen Menschen, dem es so erging. Er war ein talentvoller Schüler gewesen, und auch später hatte man nur an ihm zu tadeln, daß er lieber las als arbeitete. Seine Mittel erlaubten ihm, sich einige Bücher von Bregenz hereinkommen zu lassen. Vorzüglich waren es Liebesgeschichten. Natürlich kam er bald in Konflikt mit der nüchternen, berechnenden Auffassungsweise seiner Landsleute und ward der Prediger der reinen, idealen Liebe. Als solcher wurde er überall bekannt, und jedermann redete mit ihm von Liebe und Ehe. Nun kam er sich ungemein wichtig vor und glaubte sich von allen Mädchen, die ihn neckten und ausfragten, verstanden und geliebt. Es war ja so natürlich, daß er mit seinen Ansichten den rohen Bauernburschen überall vorgezogen wurde, daß es ihm niemand auszureden vermochte, es wurde aber auch von niemand versucht, bis man ihn vollends verrückt gemacht hatte und aller Widerspruch verge-


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bens war. Zu meiner Zeit meinte er, aus vernünftigsten Zusprüchen ernster Männer nur die Sprache des Neides und der Eifersucht zu hören. Er hieß Bischofberger, welchen Namen man in „Bischer“ abkürzte und der auch mir zuweilen beigelegt wurde, daß ich mich mehr als bisher um den Unglücklichen zu kümmern begann. Meine Stellung zu meiner Umgebung kam mir selbst zuweilen so unnatürlich vor, daß ich ängstlich zu untersuchen begann, was etwa Wahres an dem Vergleiche sei. Bischer, obwohl schon mehr als vierzig Jahre alt, kam damals häufig zu einem Mädchen in meiner Nachbarschaft, wo ich ihn zu beobachten Gelegenheit hatte. Es wurde mir ordentlich bang, wenn ich ihn ganze Viertelstunden so vernünftig sprechen hörte. Gewiß, er hätte allenfalls mit seiner Beredsamkeit auch für Wahrheit und Recht einstehen können, so gut als ich. Das Aufsehen, welches ich machte, und die Aufmerksamkeit, die man mir schenkte, begann mir immer peinlicher zu werden. Ich nahm mir vor, so wenig als möglich zu reden, aber man ließ mich nicht mehr gehen, und da ich unverteidigt keinem Angreifer gleich weichen wollte, blieb alles beim alten, nur daß ich stets unzufrieden mit mir selbst und mit den anderen heimging. Die Gesellschaft, das Lesen, ja selbst das Leben, wurden mir zur Last. Seufzend stand ich jeden Morgen auf, erschrak den Tag über, wenn jemand mich anredete, und ging abends mit dem Wunsche zu Bett, nun gleich einschlafen und nie mehr erwachen zu müssen. Ich fürchtete allen Ernstes, verrückt zu werden. Ja zuweilen glaubte ich es schon zu sein, denn alles kam mir anders vor als den anderen Leuten, und es war mir unmöglich, mich noch in ihre Anschauungsweise hineinzuleben, sosehr ich mir auch Mühe gab. So sehnlich wie jetzt wünschte ich noch nie, zwischen diesen Bergen, die alle auf mir zu liegen schienen, hinauszukommen ins Freie. Ich mußte weg von hier und unter Menschen, die mich nicht kannten und nicht immer als Sonderling behandelten. Ich wünschte das so lebhaft, daß ich mich trotz der drängenden Frühlingsarbeit einer armen Nachbarin selbst antrug, ihrem Söhnchen im Allgäu einen Hirtendienst für den Sommer zu suchen. Meine Mutter wollte mich durchaus nicht gehen lassen, aber diesmal war ich so eigensinnig wie noch nie. Wie ein Flüchtling wanderte ich eines Morgens in aller Frühe durchs Achtal hinaus. Wie mich auch hungern oder dürsten mochte, ich kehrte in keinem Wirtshause

des Innerbregenzerwaldes ein, um keinem bekannten Menschen mehr zu begegnen. (…) In Alberschwende kehrte ich in der Taube ein. Der Anblick des mit Zeitungen belegten Tisches weckte gleich ein günstiges Vorurteil für dieses Dorf, denn ich wußte natürlich nicht, daß die Taube hauptsächlich den Fremden gehört, die hier durchreisen. Mir kam es da schon ganz großstädtisch vor, denn Zeitungen fand ich in unseren Wirtshäusern damals nie. Ich begann zu lesen und las noch, während mein hungriger Begleiter mit Schmerzen das für uns aufgetragene Mittagessen verdampfen und kalt werden sah. Der Arme mußte lange husten und mit dem Löffel klappern, bis ich wieder an ihn und den eigentlichen Zweck meines Hierseins dachte. Unter dem Essen redeten der freundliche Wirt und ein Gast mit mir vom Zeitungslesen. Letzterer bedauerte, daß nur wenige für so etwas Sinn hätten, und meinte, die schlechten Schulen wären an den Rückschritten der Bevölkerung schuld. Von Rückschritten hatte ich nun freilich nie gehört, er aber wies nach, wie der frühere Gemeinsinn abhanden und schäbiger Geiz und elende Kriecherei an seinen Platz gekommen seien, seit Recht und Gesetz nicht mehr aus dem Wesen der Bevölkerung und ihrem Bedürfnis heraus wachse. Es sei ein Fehler, selbst etwas zu wissen und eigenen Willen zu haben, seit dem Ehrgeize des Talentvollen keine andere Bahn mehr offen sei, als zu erwerben und sich im Genusse des Erworbenen beneiden zu lassen. Jetzt ging mir das Herz auf und ich konnte einmal reden. Wir kamen auf die alte freie Verfassung des Innerbregenzerwaldes, der ältesten deutschen Republik, zu sprechen, und meinem Begleiter mag wohl die Zeit zum Sterben lang geworden sein, bis ich endlich daran dachte, daß wir heute wenigstens noch nach Bregenz kommen sollten. Als wir wieder ins Freie traten, kam mir die Welt ganz wunderbar weit und frei vor, obwohl wir auch hier noch Berge in der Nähe hatten. Ich wünschte jedem, den ich traf, einen guten Tag und ließ mich wenn möglich in irgend ein Gespräch mit ihm ein. O, es tat mir so wohl, daß hier mir keiner gleichsam bewaffnet und als Angreifer entgegenkam. Sonst ging ich auf dem Wege, ohne mich nach rechts noch nach links zu wenden, jetzt aber hatte ich für alles einen offenen Blick, und an der Schwarzach besuchte ich mehrere Steinschleifereien, deren eigentümliches Knarren eine wehmütige Stimmung in mir geweckt hatte. Auch den Arbeitern im


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Steinbruch sah ich so lange zu, bis mein Reisegefährte zum Gehen drängte und auf die sinkende Sonne wies. Trotzdem kehrte ich im Dorfe Schwarzach schon wieder ein. Ich hatte weder Hunger noch Durst, aber es tat mir so wohl, Zeitungen auf einem Wirtstische zu sehen und ein friedliches Gespräch von etwas anderem als Kühen und Düngen oder den kleinen Fehlern des Nebenmenschen führen zu können. So kam ich denn erst mit einbrechender Dunkelheit nach Bregenz und sah die Sonne golden und herrlich in den Bodensee hinabsinken. Im Städtchen war noch etwas Leben. Ich sah junge Herren mit einem Buch in der Hand vom Abendspaziergange heimkehren. Eine Gesellschaft hörte ich gar von Wieland reden. Dabei ward mir zumute wie einem, der in fremdem Lande, weit, weit von den Seinigen, plötzlich ein heimatliches Lied singen hört. Ich sagte mir, daß man mich hier für keinen „Bischer“ hielte und ich auch keiner werden müßte. Wir gingen in eine Herberge im ersten Haus, an dem ich gerade ein Schild heraushängen sah. Herzhaft trat ich ein mit dem Sack voll alter Kleider meines Gefährten auf dem Rücken, den ich meinem ermüdeten Begleiter schon in Alberschwende abgenommen hatte. Man musterte bedenklich unsere Anzüge, die uns freilich nicht besonders empfahlen, und wir wurden geradezu unfreundlich begrüßt. Als ich ein Glas Bier verlangte, frug man, ob ich’s auch bezahlen könne, und als ich gar noch um Nachtherberge bat, wurde ich zum Löwenwirt gewiesen, der als Herbergsvater der Zünftler alles aufnehmen müsse, was sonst nirgends ein Unterkommen finde. Ich zog hungrig, durstig und beschämt ab, um das Löwenwirtshaus zu suchen. Dort fand ich denn aber alles viel besser, als ich nach den erhaltenen Andeutungen erwartet hatte. Aber meine Stimmung war verdorben. Ich ging gleich nach dem Nachtessen zu Bette, obwohl ich nichts weniger als schläfrig war. Am anderen Morgen in aller Frühe schon verließ ich das Bett und das Zimmer, in welchem mein Begleiter noch wie eine Holzsäge schnarchte. Ich lief in dem ganzen Städtchen herum und entdeckte nun an mir selbst, daß ich jeden Begegnenden nach seinen Kleidern und seinem Aussehen schätzte. Das hatte ich daheim nie getan, da ich dort die Verhältnisse eines jeden genau kannte. Nun begann ich – wohl zum ersten Male im Leben – meinen Anzug zu mustern. Der kurze Spenser, die engen Hosen, die man mir schon als Schulbube

angemessen und die später nur wieder durch Flikken der Zunahme meines Körpers gemäß erweitert wurden, kurz alles, außer den Stiefeln, kam mir recht elend und einfältig vor. Ich suchte den Laden eines Kleiderhändlers auf und gab den größten Teil meiner Barschaft für einen neuen Anzug aus, in dem ich nun wieder zu meinem Reisegefährten zurückeilte. Dieser war erstaunt über die mit mir vorgegangene Veränderung und versicherte wiederholt, daß man mich in dem langen Städterröcklein unmöglich noch für einen Schoppernauer halten könne. Das schmeichelte mir, denn ich war böse auf die Bewohner meiner Heimat und wollte künftig nicht mehr mit ihnen gemein haben, als ich mußte. Ich kann nicht leugnen, daß mich nicht gerade Stolz, aber doch ein gewisses Selbstgefühl mit dem knappen Röcklein zu umgeben begann. Hastig tranken wir unseren Kaffee und machten uns dann über die bayerische Grenze. Ich fragte vor jedem stattlichen Hof, ob man keinen Hirten brauche, aber es währte lange, bis ich ihm – schon wieder auf dem Heimwege – ein Plätzlein fand. Nun ging ich noch nach Lindau, obwohl ich dort eigentlich nichts zu tun hatte. Den kleinen Umweg konnte ich auf der Rückreise leicht wieder einbringen. Wieder warf die scheidende Sonne ihre letzten Strahlen in den See, als ich über die lange Brücke der freundlichen Inselstadt zuschritt. Ich hörte das Pfeifen und Schnauben des Dampfrosses und eilte sogleich auf den Bahnhof, während ich wieder einmal recht lebhaft an meinen guten Seppel denken mußte. Der hatte uns oft von der Eisenbahn erzählt, aber wir konnten ihm nie recht glauben. Es war zu traumhaft, zu wunderbar. Und nun sah ich die eisernen Stränge vor mir, die Leipzig und Paris und ganz Europa mit dieser Inselstadt verbanden. Mir war’s wunderbar weit und frei, als ich die glänzenden Schienen sah. Es war also doch kein Traum, was man von dem Siege des Menschengeistes über Raum und Zeit sagte. Wir in unserem Tale mußten uns freilich den Naturkräften beugen, und fast alle waren uns als Feinde bekannt. Feuer, Wasser und Luft, alle dienten nur dem einzelnen und blieben uns furchtbar, hier aber sah ich sie zum Arbeiten für das Menschengeschlecht, zur Vermittlung des geistigen und materiellen Verkehrs gezwungen. Und den Erfinder des Dampfrosses hatte man seinerzeit auch für einen „Bischer“ gehalten. Mir war das ein rechter Trost, nicht weil ich mich etwa neben ihn stellte, aber


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ich sah daraus, daß nicht jeder ein „Bischer“ war, den man, um schnell mit ihm fertig zu sein, dafür halten oder doch ausgeben wollte. Ja, es war kein Traum, was man von den Wundern des neunzehnten Jahrhunderts sagte. Hier lag etwas ganz anderes in der Luft als zwischen unseren Bergen, und zwar etwas, das ich wie das Rauschen und Wehen eines Unendlichen empfand, dem ich mich verwandt fühlte wie ein Glied dem ganzen Körper. Mit unbeschreiblichem Behagen schaute ich dem bunten Treiben im Bahnhofe zu. Gewiß hätten das meine Landsleute ebensowenig begriffen als ich, und doch war es so und war recht für die Welt und nur zu groß für sie in den engen Tälern mit den engen Begriffen. (…) Aufrechter, sicherer als ich sonst durch mein Dorf ging, schritt ich jetzt durch die Stadt und suchte die Riegersche Buchhandlung auf. Beim Betreten dachte ich an den Fuhrmann, der mir, als ich den Kalender von 1849 bei ihm holte, die Buchhandlung beschrieb. Aber wie großartig ich mir es auch gedacht hatte, vor den vielen Büchern hier ward mir denn doch so bang, daß nur Herrn Stettners gewinnende Freundlichkeit den Mut zum Reden wieder geben konnte. Die Mundart meiner Heimat vermied ich, so gut als es einer kann, der nur im Dialekt zu denken und zu reden gewohnt ist. Jeder Bregenzerwälder lernt zwar als Schüler jedes Wort ins Hochdeutsche übersetzen, so gut es die vielbedeutenden Bezeichnungen erlauben, da er aber später entweder die gewohnte Wortfolge beibehält oder ein etwas unnatürliches Bücherdeutsch mit endlosen Sätzen redet, so nimmt sich’s etwas wunderlich aus, wenn er einem Fremden zu Ehre seinen Gedanken ein Festkleid anziehen will. Ich hatte das schmerzlich empfunden, so oft ich mit jemandem reden wollte, dem ich kein Verständnis meiner Mundart zutrauen durfte. Wie war ich nun beschämt, sogar die kleinen Kinder des Buchhändlers ein Deutsch reden zu hören, wie ich’s nur einem Gelehrten zugetraut hätte. Ich sollte ihnen von meiner Heimat, ihren Schönheiten und den Sitten ihrer Bewohner erzählen, aber ich brach die Unterhaltung schnell ab und ging. Auch im Gasthofe, wo ich übernachtete, erschrak ich, so oft jemand ein Wort an mich richtete. Im Bette machte ich mir darum Vorwürfe. So lang schon hatte ich mich da herausgesehnt, und nun verdarb ich mir alles aus Furcht, mich bei weiß Gott wem lächerlich zu machen. Jetzt sah ich, daß wir Bregenzerwälder nicht nur durch unsere Berge, sondern vielmehr noch durch Erziehung und

Gewohnheit von der Welt abgeschlossen waren. Nicht einmal so viel hatten wir in der Schule gelernt, daß wir zwölf Stunden von der Heimat noch ordentlich mit den Leuten reden konnten. Auch ich war noch nicht soweit, obwohl ich mich für die Heimat fast zu gut wähnte. Nur zwischen Tür und Angel vermochte ich mich zu bringen. Am anderen Morgen ging ich in aller Frühe wieder Bregenz zu. Ich hätte auf einem Dampfschiffe fahren können; aber ich wollte nichts mehr, was ich nicht auch daheim haben konnte. Das Schicksal verdammte mich zum mühevollen Gehen und schloß mich ab von den Errungenschaften unserer Zeit. Nun – es sollte seinen Willen haben. Lange haderte ich mit der Glocke, die drüben am Hafen die Abfahrt eines Dampfers verkündete. Das Geld zum Fahren hätte ich schon noch gehabt, aber ich glaubte der Glocke einen rechten Possen zu spielen, wenn ich so schnell als möglich weglief. Mancher Bregenzerwälder will aus Furcht vor dem großen Wasser auf kein Schiff. Diese Furcht kannte ich nicht. Wenn ein Schiff mit mir unterginge, was wäre daran gelegen? Ich stand still und suchte mir’s auszumalen, bis ich schon das Zischen und Tosen zu hören meinte. Es ließe sich wohl herrlich ruhen da unten in der blauen Tiefe. Meine Landsleute hätten dann gesagt: Da hat er’s nun! Immer wollte er weiter als andere – nun tröst’ ihn Gott und lasse dem Ruhelosen auf der Welt die ewige Ruhe! Es ist ihm leicht wohler als bei uns. – Ja, so hätten sie gesagt, und mit Recht. Mein Gut wäre von anderen leicht wieder so geschickt als durch mich verwaltet worden, und mit allem Träumen und allem Unfriede wär’s aus gewesen für immer. Die Mutter – nun, sie hätte kummerfrei gelebt – vielleicht – und neben mir konnte sie das nicht. Warum aber nicht? War ich denn gar nichts, überall zu allem unfähig? Nein, ich konnte arbeiten so gut als andere, wenn ich meine Kräfte recht zusammen nahm. Es erfaßte mich ein rechtes Heimweh, das mich nicht mehr ermüden ließ, bis abends spät unsere Haustür hinter mir ins Schloß fiel.

Felders Autobiographie ist vor Kurzem auch auf Englisch erschienen: „A Life in the Making“, London, Pushkin Press 2021. Translated by David Henry Wilson


Architekten Scharfetter_Rier

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Das Sprechen der Bilder

Die folgenden Seiten zeigen Arbeiten der Künstlerin Beatrix Sunkovsky, auf Lindenholz gemalte abstrakte Figuren oder abstrahierte Formen, mit denen der Schriftsteller Ferdinand Schmatz im nachfolgenden Text korrespondiert:

Das Wasser ist alles, was der Fall ist. Der Fall ist alles, was das Wasser ist. Schichten, Tafeln, Wasser (Fälle) – oder sind es Körper, unbestimmt, ohne Namen? Der Name oder der Begriff geben einer Sache oder einem Gegenstand Sinn. Sinn ist Finden der richtigen Zusammenhänge, aber: Im Werk von Beatrix Sunkovsky ist diese Findung nicht auf einen Zweck hin gedacht. Der übliche Forschungsweg, und ihre Arbeit ist künstlerische Forschung, der da geht von der Frage zum Problem hin zur Lösung – der stellt sich so nicht ein: Ihre Arbeit am Bild zeigt in ständigem Fluss, paradoxerweise aber bildlich fixiert, etwas anderes auf, das wir nicht benennen wollen – sie will einen: kleinen Einblick geben in den Grund, diesen schauen. Das Schauen in den Grund, der unsichtbar bleibt, ist es, das den Grund, die Ursache, seinen Zweck ständig aufhebt und in Bewegung setzt, dies metasprachlichlogisch wie auch gegenständlich-malerisch gesehen. Ein Schauen möglicherweise im Stehen, im Sitzen, im Gehen – und dennoch ist keine Unterbrechung angesagt in ihrem malerischen Zeigen. Oder: angezeigt in ihrem malerischen Sagen: In ihm, wo sonst das laute Wort regiert, herrscht machtuntaugliche Stille. Diese ist: Das (= Ereignis). (Wir setzen es in Klammern, das Ereignis ist sich selbst eine Ergänzung oder eine Fortsetzung oder nur einen Hinweis wert.) Das Ereignis als Idee kommt während des Sprechens, also des Malens, während der Zeichen-Setzung – eine Flut der Stille. Diese ist klar, allem wunderbaren Rauschen darin zum Trotz ist es ein harmonischer Dialog der Bilder, der Gegenstände, der Linien, der Fälle untereinander und mit uns:

Ihre Quasi-Objekte definieren Zeit, die Dinge schweben oder hängen (auch zusammen in sich und mit uns): Sie werde(n) ununterbrochen auch gebrochen durch eine Art umgekehrter Perspektive. Wenn sie das Bild ergibt, dann liegen wir „richtig“. Zeichen mit oder ohne Zusammenhang sind bewusst als Bild gedacht, damit es gilt: Das Alte (die Welt ist alles, was der Fall ist) löst sich auf, die Emotion wird zum Denken, die Tatsachen entwickeln sich aus Konzepten heraus, die sich im Affekt selbst über Bord werfen. Das Wasser fällt. Der Fall ist Wasser. Die Größenverhältnisse sind anders als jene, die durch Nähe und Ferne bestimmt werden, aber sie bilden neue Verhältnisse von Sehen und Denken als Grund (sichtbar unsichtbar) aus. Der Grund beschattet die Möglichkeiten der Ferne. Eine Ferne erweist sich als das andere Ent-Fernen, eines, das anders als die Nähe der Gegebenheit zum Üblichen ist. Das Bild und das Denken dazu. Es dabei geht hin und her, der Bilder Denken bringt Beatrix Sunkovsky ins Spiel, ins Leben. Darin ist der Schein – ja, es scheint! – die Möglichkeit der Gegebenheit. Die anhand der Gegenstände und ihrer Konturen sich einstellenden Weichenstellungen im Auge werden der Härte und teilweisen Klarheit der Bilder zum Trotz gerade durch ihre ungerade Stellung im Bild weich. Das gezeigte Rauschen ersetzt den Blick. Mit gutem Grund heißt es, das alte und fix Bestehende befreiend aus den Augen zu verlieren und trotzdem Einschau zu halten, besser: diese Ein-Schau zu sein.

ferdinand schmatz für beatrix sunkovsky, wien 2021










stifter + bachmann

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Solange der Vorrat reicht

Vor mehr als 40 Jahren erschien das legendäre Buch „Die Erben der Einsamkeit“, in dem Aldo Gorfer (Text) und Flavio Faganello (Bild) die abgelegensten Bergbauernhöfe Südtirols porträtierten. Quart unternimmt in einer Artikelserie den Versuch, an diesen Orten wieder einmal Nachschau zu halten. – Folge 3: ein Streifzug durch das Vinschgau und das Ultental unter besonderer Berücksichtigung der Speisekammer. Von Simone Mair / Lisa Mazza (Text) und Nicolò Degiorgis (Bild)

Wir sind nun zum dritten Mal den „Erben der Einsamkeit“ auf der Spur, suchen nach den gefüllten Vorratskammern der Bergbauernhöfe und gehen der Frage nach, wie die sich ursprünglich selbst versorgenden Bergbauern zu Unternehmern geworden sind. Es geht nicht nur um den konkreten physischen Ort der Vorratskammer – ein Raum, in dem Lebensmittel aufbewahrt werden, meist in der Nähe der Küche –, vielmehr interessiert uns die Tatsache, dass am Bauernhof nicht nur für den unmittelbaren Gebrauch der Hofbewohner produziert wird, sondern neue nachhaltige Wege gesucht werden, Produkte zu erzeugen und diese in Kooperation mit anderen über neue Distributionskanäle zu verkaufen oder Gästen anzubieten. In unserer kollektiven Vorstellung mangelt es an genau diesen Bildern von einem umfassenden Produktionssystem. Wir kennen Bilder mit den Kühen am Hof und Gästen beim Essen, aber uns fehlen die großen und komplexen Zwischenschritte, die Teil der Nahrungsmittelproduktion sind. Hermann Wopfner, Innsbrucker Historiker und Volkskundler, hat seit den 1920er Jahren die Lebensformen der Tiroler Bergbauern im Norden, Süden und Osten des Landes erforscht. Seine Aufzeichnungen sind im dreibändigen „Bergbauernbuch“ festgehalten. Darin schreibt er u. a. über die fehlenden Infrastrukturen, die dazu geführt haben, dass Bergbauern sehr lange ausschließlich Selbstversorger blieben und erst spät ihre Produkte in wirtschaftliche Kreisläufe einspeisen konnten, um mit ihrem Angebot regelmäßig auf Märkten präsent zu sein. Der Inhalt der Vorratskammer war historisch betrachtet ein Abbild des Wohlstandes, er sorgte für wirtschaftliche Unabhängigkeit und Freiheit. Der Begriff Vorratskammer hat aber auch mit Verwundbarkeit zu tun. Als Bauer war man ständig dem Risiko ausgesetzt, dass ein Erntejahr durch unkontrollierbare Außenwirkungen ausfallen könnte, das

Lagern der Produkte gab Sicherheit. Außerdem müssen die Lebensmittel, die angebaut werden, natürlich auch an den Ort gelangen, an dem sie konsumiert werden. Der Einblick in die Vorratskammer – als Speicher von Produkten, aber auch von Wissen und Verbindungen sowie als Spiegel der Natur und eines Ökosystems um den Bergbauernhof – ermöglicht es, ein Bild nachzuzeichnen und verschiedene Entwürfe von (nachhaltigem) Leben zu beobachten. Der am niedrigsten gelegene von den beschriebenen Höfen liegt auf 1.250 m ü. d. M., der höchste auf 1.689 m. Straßen, zum Großteil asphaltiert, sind überall vorhanden, auch wenn diese freilich nicht vor Naturgewalten wie etwa zerstörerischen Lawinen schützen. Es handelt sich durchwegs um Bergbauernhöfe: im Vinschgau der Linthof und der Grubhof, beide am Sonnenberg oberhalb von Naturns, sowie der Forrahof und der Egghof in Sankt Martin im Kofl. Alle diese Höfe waren Teil der in den 1970er Jahren durchgeführten Enquete von Aldo Gorfer und Flavio Faganello und werden im Buch „Die Erben der Einsamkeit“ beschrieben. Wir haben aber auch drei Bergbauernhöfe besucht, deren Besitzer dabei sind, eigene Wege in der Distribution ihrer Produkte auszutreten, in Zusammenschluss mit Gleichgesinnten: den Psegghof am Tschengelsberg, den Faslarhof in Stilfs (beide im Vinschgau) und den Unterschweighof in St. Nikolaus im Ultental. Linthof Dienten im 15. Jahrhundert die landwirtschaftlichen Produkte vom Linthof (1.464 m) noch dazu, die Mönche im nahe gelegenen Kloster Kartause zu sättigen, so werden sie heute fast ausschließlich für die Gäste – es sind vor allem deutsche Touristen – verkocht. Die


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Vorratskammer besteht aus mehreren Kühlzellen, in denen das hofeigene Fleisch (hauptsächlich vom Schaf) sowie das Gemüse aus dem Garten gelagert werden. Sie befindet sich in der modern ausgestatteten Küche, in der der Bauer Albert Fliri für die Gäste kocht. Seit den 1980er Jahren wurde der Hof, auf dem die Familie Fliri lebt, laufend modernisiert, zuerst als Jausenstation ausgebaut, dann als Berggasthof mit Zimmervermietung. Die Spuren jener Zeit, in der sich die Hofbewohner noch mit Anbau von Korn und dem hofeigenen Mehl selbst versorgten, sind nur mehr in Form der noch erhaltenen Mühle zu erkennen. Die Stube ist immer noch die Stube, nur der Herrgott hat den Winkel gewechselt und die Täfelung ist moderneren Materialien gewichen. Die Verbindung ins Tal ist über eine kurvenreiche geteerte Straße, die nahe gelegene Seilbahn und tägliche verkehrende Busse gewährleistet. Grubhof Auch die Ökonomie des Grubhofs, ehemaliger Standort einer „Zwergenschule“, basiert zu einem großen Teil auf dem Tourismus. Der kleine Schulraum, in dem noch bis Mitte der 1990er Jahre der Grundschulunterricht abgehalten wurde und der für den einzigen Lehrer bei schlechter Witterung auch eine Übernachtungsmöglichkeit bot, ist mittlerweile eine der drei Ferienwohnungen für Gäste, die vor allem aus Deutschland kommen. Im Dachboden des Bauernhauses sind weitere zwei Wohnungen untergebracht, den Rest bewohnt die Familie Weithaler. Die große Stube wird mit den Gästen als Aufenthaltsraum geteilt. Die Milchwirtschaft ist ein weiteres wirtschaftliches Standbein des Hofes. Aus dem Stall hat man eine schöne Aussicht ins weite Tal, wohin auch die Milch täglich transportiert wird. Der Blick gleitet über eine Landschaft, die kleinere und größere Narben aufweist, Wiesenstücke sind abgerutscht, unzählige kleine orange Bagger sind damit beschäftigt, Wiesen zu planieren, die Schäden der unberechenbaren klimatischen Bedingungen aus dem Weg zu räumen. Die Milch ist ein Produkt, das in eine erweiterte Vorratskammer – einen nahe gelegenen Milchhof – einfließt, alle anderen Erzeugnisse werden für die Familie in der privaten Speisekammer gelagert. Forrahof und Egghof Dort, wo (immer noch) keine asphaltierte Straße hin-

führt, nur ein holpriger Forstweg, ist die Küche die Selchkammer und der Speck schwebt an der rußigen Decke oberhalb eines hochmodernen Kühlschranks. Der Forrahof auf 1.689 m in Sankt Martin im Kofl wirkt wie festgeklammert am Hang, die Zeit scheint stehengeblieben. Drei Milchkühe stehen im Stall und ermöglichen ein Zubrot. Die erwachsenen Kinder des Ehepaars Holzknecht haben geheiratet und leben auf benachbarten Höfen oder im Tal. Sie sind es, die die Eltern mit einem Großteil der Lebensmittel versorgen. Geheizt und gekocht wird mit Holz. Der Kaktus, der sich neben einer Geranie eng ans Innenfenster der Stube schmiegt, wirkt wie ein Exot in der kargen Umgebung. Am nahe gelegenen Egghof wird die Gastwirtschaft seit Kurzem nicht mehr betrieben. Auch hier wird die Vorratskammer vorerst wohl ausschließlich den Eigenbedarf abdecken. Unterschweighof Schon früh wusste der mittlerweile 22-jährige Thomas Berger vom Unterschweighof (1.750 m) in Sankt Nikolaus, dass er einmal den komplett biologisch geführten Hof übernehmen möchte. Auch wenn er noch nicht der Bauer ist und einem Nebenerwerb im nahegelegenen Skigebiet nachgeht, ist er bereits jetzt maßgeblich in die Entscheidungen am Hof eingebunden und war die treibende Kraft bei der Umstellung der Nahrung der Kühe weg vom Kraftfutter. Am Hof gibt es eine eigene Käserei, in der fast täglich Kuhmilch zu Käse, Joghurt und Butter verarbeitet wird, es werden die verschiedensten Kräuter angepflanzt und getrocknet, um in Tee oder Kräutersalz Verwendung zu finden, Rind- und Schweinefleisch wird verarbeitet und es gibt Eier. Daneben bilden die Ferienwohnungen am Hof eine regelmäßige Einnahmequelle. Als es im März 2020 aufgrund der sich verbreitenden Corona-Pandemie und der damit einhergehenden Einschränkungen nicht mehr möglich war, auf Märkten die eigenen Produkte zu verkaufen, wurde man erfinderisch. Gemeinsam mit drei anderen Höfen hat man beschlossen, online zu gehen und die Verkaufsplattform „Der Bauer bringt’s“ zu lancieren. Wenn der Kunde nicht zum Bauern kommen kann, um direkt aus der Vorratskammer zu schöpfen, bringt der Bauer seine Produkte in regelmäßigen Abständen mit dem Lieferwagen zum Kunden. Mittlerweile be-


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stellen um die 30 Familien regelmäßig per WhatsApp ihre Produkte. Der logistische Aufwand ist groß, doch ist es ein zukunftsweisendes Vertriebsmodell, das zum regionalen Denken beim täglichen Konsum motiviert und den persönlichen Austausch zwischen Produzenten und Verbrauchern stärkt. Faslarhof Manuel Haas lebt auf 1.486 m oberhalb von Stilfs. Er hat mit fünfzehn sein erstes Stück Wiese gekauft und führt mittlerweile mit seiner Frau Petra Gerstl den Faslarhof, auf dem neben einigen anderen Tieren seit dreieinhalb Jahren auch Ziegen leben. Nebenbei arbeitet der gelernte Elektriker noch im Tal, früher oder später möchte er sich aber ganz der Bauernschaft widmen. Die Milch der 71 biologisch gehaltenen Ziegen wird seit 2019 jeden zweiten Tag an die Prader Dorfkäserei geliefert, wo sie gemeinsam mit der Ziegenmilch von drei anderen Bauern aus der Umgebung zu verschiedenen Käsesorten verarbeitet wird. Bei der Tierhaltung und der Verarbeitung wird Wert darauf gelegt, alles so natürlich wie möglich zu halten: Kräutersalben statt Antibiotika, Heu statt Kraftfutter, thermisierte statt pasteurisierter Milch. Ziegenkäse ist aber nur eines von vielen Produkten vom Faslarhof: Es wird Brot gebacken, Fleisch verarbeitet, es werden Salben gemischt, Sirupe und Schnäpse angelegt und es gibt natürlich Eier. Die Schätze der Vorratskammer dienen der Versorgung der eigenen Familie – aber nicht nur. Die tiefe Überzeugung für das Bauer-Sein und die Verbundenheit zum eigenen Grund und Boden haben auch dazu geführt, im eigenen Dorf aktiv zu werden mit der Gründung einer Bauernjugend-Gruppe sowie der Initiative „Leidenschaft für Grund und Boden“. Begriffe, die historisch betrachtet eine politische Konnotation haben, werden hier eingesetzt, um nahe an der Natur Landwirtschaft zukunftsfähig zu machen und vor allem lokale Kreisläufe aktiv lebendig zu halten. Psegghof Philipp Thoma und seine Frau Alexandra Zöggeler haben vor fünf Jahren ihren Traum realisiert und sich oberhalb von Tschengels den Psegghof gekauft, auf dem sie mittlerweile über 500 Hühner halten. Ihre Absicht war es, in und mit der Natur zu leben, außerhalb der Zivilisation der Südtiroler Kleinstädte ein nachhaltiges, selbstbestimmtes Leben mit ihren beiden

Kindern zu führen. Smartphone und Misthaufen leben hier in Symbiose und stehen nicht im Widerspruch. Um dieses Leben in Bescheidenheit und Abgeschiedenheit – aber auch mit großer Autonomie – zu ermöglichen, fließt ein Großteil der Zeit und Energie am Hof in die Haltung von Hühnern und den Vertrieb der Bioeier. Gemeinsam mit drei anderen Bauern wurde eine Genossenschaft gegründet, die mittlerweile täglich 2.000 Eier produziert. Da ein Ei laut Vorschrift nicht länger als 28 Tage hält und der Absatz coronabedingt stark abgenommen hat – die Hühner haben keinen Produktionsstopp eingelegt –, ist man erfinderisch geworden. Demnächst kommt der erste biologische Südtiroler Eierlikör auf den Markt, auch die Produktion einer Biomayonnaise steht schon in den Startlöchern. So wird ein Produkt, das eine nur sehr kurze Verweilzeit in der Vorratskammer hat, durch die Weiterverarbeitung haltbarer gemacht. Ähnlich wie auf den meisten anderen Höfen sind es die Frauen, die mit Kräutern experimentieren oder (wie am Psegghof) auch mit Permakultur arbeiten. Was bei den Bergbauern-Quereinsteigern jedoch fehlt, ist die ältere Generation für eine Entlastung im Alltag. Für diese Lücke hat man eine zeitgenössische Lösung und damit eine teilweise Entlastung gefunden: das Wwoofing, ein Netzwerk für freiwillige Helfer. Ohne diese Idee wäre es nicht möglich, über die Sommermonate die Arbeit am Hof zu bestreiten. Längerfristig möchten Philipp und Alexandra ihren Hof noch stärker als Teil eines sozialen Gefüges begreifen. Indem die Familien am Unterschweighof, am Faslarhof und am Psegghof ihre Produkte gemeinsam mit anderen vertreiben, setzen sie ein Zeichen. Die individuelle oder familiäre Vorratskammer wird zu einer gemeinschaftlichen, da sie nur durch Kollaboration mit anderen gefüllt werden kann. Könnte das die heutige Antwort auf die Einsamkeit am Berg sein – die Kollaboration? Können visionäre Bäuerinnen und Bauern, die auch in der Zukunft nachhaltige Spuren hinterlassen und diesen Weg gemeinsam mit anderen bestreiten wollen, durch Verflechtungen, Verbindungen und Austausch der gegenwärtigen ökologischen Krise entgegenwirken?








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Besetzung

Florian Aigner, Linz Wien: Physiker und Wissenschaftspublizist, schreibt unter anderem die Kolumne „Wissenschaft und Blödsinn“ für futurezone.at bzw. die Tageszeitung Kurier sowie die Radiokolumne „Aigners Universum“ für Ö1. Sein jüngstes Buch Die Schwerkraft ist kein Bauchgefühl ist im Brandstätter Verlag erschienen. Marie de Brugerolle, Lyon: Kuratorin und Autorin. Sie hat an Institutionen wie dem Centre Pompidou Paris, am MoMA New York und dem Le Magasin in Grenoble gearbeitet. Zuletzt kuratierte sie Ausstellungen von Julie Béna an der Villa Arson Nizza, von Than Hussein Clark & Luigi Serafini im CRAC Sète und Post Performance Video, Prospective 1: Los Angeles im Carré d’Art Nîmes. Sie ist die Gründerin von Post Performance Future, einem Rechercheprojekt, welches den Einfluss von Performance auf die visuelle Kunst in einem postmedialen Kontext untersucht. Texte von ihr sind u. a. in MOUSSE, Flash Art und Artforum erschienen. Nicolò Degiorgis, Bozen Bozen: Fotograf. Studium der orientalischen Sprachen in Venedig und Peking. Bekannt ist er vor allem für seine Künstlerbücher, die sich mit sozialpolitischen Thematiken befassen. Sie wurden mit mehreren Preisen ausgezeichnet und sind Teil der Sammlungen bedeutender Museen, u. a. Albertina und MUMOK in Wien, Metropolitan Museum und MoMA in New York, Tate Modern in London und Bibliothèque Kandinsky im Centre Pompidou in Paris. Installationen der Bücher wurden in verschiedenen Ausstellungen im In- und Ausland gezeigt. Er ist Teil des künstlerischen Beirats des foto-forums Bozen und Gründer des Rorhof-Verlags. Franz Michael Felder, Schoppernau Schoppernau: Bauer, Schriftsteller, Sozialreformer. Geb. 1839, wuchs im Bregenzerwald in einfachsten bäuerlichen Verhältnissen auf. Gründete 1866 die „Vorarlberg’sche Partei der Gleichberechtigung“ sowie einen Käsehandelsverein und eine Viehversicherungsgesellschaft. 1861 Heirat mit Anna Katherina Moosbrugger, die 7 Jahre später überraschend verstarb und 5 gemeinsame Kinder hinterließ. Nur 7 Monate später starb auch Franz Michael Felder im Alter von 29 Jahren an Lungentuberkulose. Sein umfangreiches schriftstellerisches Werk wird im Franz-Michael-Felder-Archiv der Vorarlberger Landesbibliothek aufbewahrt. Wien: Autorin. Zuletzt erschieLaura Freudenthaler, Salzburg nen: Geistergeschichte (Roman, Droschl, 2019). Bernhard Fuchs, Haslach a. d. Mühl / Oberösterreich Düsseldorf: Fotograf. 1993–1997 Studium an der Kunstakademie Düsseldorf, 1997–1999 an der Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig. 2017 Österreichischer Kunstpreis für Medienkunst im Bereich Künstlerische Fotografie. Zahlreiche Ausstellungen. Publikationen (Auswahl): Waldungen (2014), Lot (2018), Mühl (2020), alle Koenig Books, London. Berlin: Autorin. Zuletzt erschienen: Zorn Sandra Gugić, Wien und Stille (Roman, Hoffmann und Campe, 2020). www.sandragugic.com Oliver Laric, Innsbruck Berlin: Bildender Künstler. Studierte an der Universität für angewandte Kunst Wien. Skulptur, Video, Multimediale Arbeiten. www.oliverlaric.com Simone Mair, Meran Algund bei Meran: Kuratorin und Kunstvermittlerin. MA in Curating der Goldsmiths University of London. Mair ist Mitbegründerin und Ko-Kuratorin der Kulturorgani130 / 131

sation BAU (seit 2015). Der Fokus von BAU liegt auf Kunstprojekten, bei denen zeitgenössische Kunst auf Fragen unserer Gegenwart reagiert, Natur und Kultur verbunden gedacht werden und der Mensch mit seiner Umgebung in einem ökologischen Kreislauf verstanden wird. 2013–2018 kuratierte sie „The Walking Reading Group“ in Zusammenarbeit mit verschiedenen Kunstinstitutionen in London (Gasworks, Iniva, Open School East, The Showroom). Bozen: Kuratorin und Kulturproduzentin. Lisa Mazza, Meran MA in Contemporary Art Theory der Goldsmiths University of London. Mazza ist seit 2015 Mitbegründerin und Ko-Kuratorin der Kulturorganisation BAU. (Zu deren Anliegen und Zielen siehe Biographie Simone Mair.) Mazza ist Mitglied des künstlerischen Leitungsteams von Lungomare. 2007–2012 hat sie als Projektkoordinatorin an der europäischen Biennale Manifesta gearbeitet und war 2009–2012 Managing Editor des Manifesta Journals. 2018 leitete sie das Publikationsdepartment der Manifesta 12 in Palermo. Wien: Bildender Künstler. Er stuNick Oberthaler, Bad Ischl dierte an der Akademie der bildenden Künste Wien und der École Supérieure des Beaux-Arts Genève und war Artist in Residence im WIELS, Center for Contemporary Art in Brüssel. Seine Arbeiten wurden international gezeigt, unter anderem im KIOSK Gent, im Museo Andersen / GNAM Rom, am Institut d’Art Contemporain Villeurbanne und im Museum Boijmans van Beuningen in Rotterdam. Seit 2020 ist er Professor für Malerei im MA an der Ecole nationale supérieure des beaux-arts in Lyon. Er wird von den Galerien LAYR, Wien und Thaddaeus Ropac, Paris / Salzburg / London vertreten. Ferdinand Schmatz, Korneuburg Wien: Schreibt Gedichte, Prosa, Essays und Hörspiele, lebt in Wien. 2012–2020 Leitung des Instituts für Sprachkunst an der Universität für angewandte Kunst in Wien. 2004 Georg-Trakl-Preis. 2006 H. C. Artmann-Preis. 2009 Ernst-Jandl-Preis. Veröffentlichungen (Auswahl): das grosse babel,n. gedicht (2000); portierisch. roman (2001); Durchleuchtung. Ein wilder Roman aus Danja und Franz (2007); quellen. gedichte (2010). Zuletzt: das gehörte feuer. orphische skizzen (prosa gedicht, 2016); alle Haymon Verlag; auf SÄTZE. Essays zur Poetik, Literatur und Kunst (De Gruyter, 2016) Berthold Seliger, Orsoy (Kreis Moers) Berlin: Konzertagent, Autor. Buchveröffentlichungen u. a. Das Geschäft mit der Musik (Edition Tiamat, 2013), Klassikkampf (Matthes & Seitz, 2017), Vom Imperiengeschäft (Edition Tiamat, 2019). www.bseliger.de Beatrix Sunkovsky, Innsbruck Wien: Bildende Künstlerin, zahlreiche Ausstellungen im In- und Ausland. Theatralische Projekte in Zusammenarbeit mit Alfons Egger, gemeinsame Ausstellungen in der Galerie Johann Widauer. Lehrtätigkeit an der Universität für angewandte Kunst Wien. Zahlreiche Publikationen. Seit 2018 Musikvideos in Zusammenarbeit mit dem Countertenor Alois Mühlbacher.

Florian Waldvogel, Offenburg Innsbruck: Kurator, Kunstvermittler. Studierte Kunstvermittlung an der Städelschule in Frankfurt am Main und war dort Assistent und Meisterschüler von Kasper König. 2001–2003 künstlerischer Leiter der Kokerei Zollverein Essen. 2006–2008 Kurator am Witte de With in Rotterdam und 2009–2013 Direktor des Kunstvereins in Hamburg. Seit Juni 2019 Leiter der Modernen Sammlungen an den Tiroler Landesmuseen. Waldvogel schreibt regelmäßig zu Themen der Gegenwartskunst.


Nicola Weber, Hall in Tirol Innsbruck: Studierte in Innsbruck, Wien und den USA Architektur (Diplom 2002) und arbeitet seitdem als Kuratorin und Kulturvermittlerin an der Schnittstelle von Architektur, Design, Grafik und Stadtraum, sowohl in freien Projekten als auch in Kulturinstitutionen. Als freie Journalistin schreibt sie über Kultur- und Architekturthemen und produzierte zahlreiche Radiosendungen. Seit 2019 leitet sie das Designforum Tirol WEI SRAUM.

Klaus Zeyringer, Graz Pöllau / Stmk. und München: war Univ.Prof. für Germanistik in Frankreich und Literaturkritiker. Ist Kulturwissenschaftler und Publizist, moderiert in Österreich, Deutschland und der Schweiz. Bücher u. a.: Eine Literaturgeschichte: Österreich seit 1650 (2012); Fußball. Eine Kulturgeschichte (2014, erw. Tb 2016), Olympische Spiele. Eine Kulturgeschichte (2 Bde. 2016, 2018), Das wunde Leder (2018), Schwarzbuch Sport (2021).

Quart Heft für Kultur Tirol

Herausgeber: Markus Hatzer, Andreas Schett Chefredaktion: Heidi Hackl, Andreas Schett Anschrift der Redaktion: Circus, Kochstraße 10, 6020 Innsbruck (A), office@circus.at Anschrift des Verlags: Haymon Verlag, Erlerstraße 10, 6020 Innsbruck (A) T 0043 (0)512 576300, order@haymonverlag.at, www.haymonverlag.at Geschäftsführer / Verleger: Markus Hatzer Aboservice: T 0043 (0)512 576300, aboservice@haymonverlag.at Bezugsbedingungen: Quart Heft für Kultur Tirol erscheint zweimal jährlich. Jahresabonnement: € 22,– · Einzelheft: € 16,– · Preise inkl. MwSt., zzgl. Versand Die Bezugspreise unterliegen der Preisbindung. Abonnement-Abbestellungen müssen spätestens 3 Monate vor Ende des Kalenderjahres schriftlich erfolgen. Mitarbeiter dieser Ausgabe: Florian Aigner, Marie de Brugerolle, Nicolò Degiorgis, Franz Michael Felder, Laura Freudenthaler, Bernhard Fuchs, Sandra Gugić, Oliver Laric, Simone Mair, Lisa Mazza, Nick Oberthaler, Ferdinand Schmatz, Berthold Seliger, Beatrix Sunkovsky, Florian Waldvogel, Nicola Weber, Klaus Zeyringer Linke Seiten: Walter Angonese, Cukrowicz Nachbaur Architekten, fasch&fuchs.architekten | werkraum ingenieure, Peter Haimerl featuring beierle.goerlich, he und du, Margarethe Heubacher-Sentobe, Rainer Köberl, LAAC Architekten, Architekten Scharfetter_Rier, stifter + bachmann Visuell-editorisches Basiskonzept: Walter Pamminger Farbkonzept: Peter Sandbichler Grafische Realisation: Circus, Büro für Kommunikation und Gestaltung, Innsbruck / Wien, www.circus.at Druck: Lanarepro, Lana, Italien Papier: Luxo Samt 135 g / m2 Schriften: Sabon LT Std, Gill Sans Std, Neutral BP Verwendung der Karte „Tirol-Vorarlberg 1 : 200.000“ auf den Seiten 78 / 79 mit freundlicher Genehmigung von Freytag-Berndt und Artaria KG, Kartographische Anstalt, Brunner Straße 69, 1231 Wien (A) Sämtliche inhaltlichen Beiträge dieses Heftes sind Ersterscheinungen, Auftragswerke, Uraufführungen. ISBN 978-3-7099-8137-5 · © Haymon Verlag, Innsbruck-Wien 2021 · Alle Rechte vorbehalten. Die Drucklegung erfolgte mit freundlicher Unterstützung der Abteilung Kultur der Tiroler Landesregierung und der Abteilung Deutsche Kultur der Südtiroler Landesregierung.



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