Quart Heft für Kultur Tirol Nr. 6/ 05 E 12,–
HALOTECH L I C H T F A B R I K
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Fotografie: GĂźnter Richard Wett
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L I C H T F A B R I K
H A L O T E C H
Verzeichnis
Inhalt a Die linke Seite dieses Hefts erstellt ein typografisches Ranking der rechten Seite. Dieses wurde von Ludovic Balland (The Remingtons) konzipiert und gesetzt. Danke an Jonas Voegeli (The Remingtons) und Nathan Aebi (Art Director «Das Magazin»). Schriften: «Saluki-Headline» und «Jury-Regular» ©Ludovic Balland
TOTAL «QUART» NR.6 LAUFTEXTFLÄCHE: 12’698.5 CM2 ABSCHNITTE: 204 ZEILEN: 3073 WÖRTER: 22’487 ZEICHEN: 129’121 LEERZEICHEN: 22’259
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Inhalt
Ernst Trawöger Foto (2005) Halotech Lichtfabrik The Remingtons Inhalt
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Das Monument des kleinen Mannes Der Forscher Fabian Kanz liest aus Knochen, Haaren und Zähnen. Von Michael Hausenblas 7–11 Fabian Kanz Knochenarbeit
12–15
Othmar Suitner, real existierender Dirigent Was führte den gebürtigen Tiroler in die DDR? Michaela Nolte besuchte den ausdauerndsten Musikdirektor der Lindenoper Berlin 17–25 Glücksgefühle bis zum Abwinken Zum Glück gibt es Seminare. Irene Prugger ermittelt verdeckt Still Leben Thomas Trummer über die Arbeiten von Ernst Trawöger Ernst Trawöger Zeichnungen, Fotos (2005)
27–31
33–37 38–53
Zwischen den Texten Bernhard Kathan über Lois Welzenbachers Sudhaus und die Frage, wie man Architektur sehen kann 55–65
Freischwimmen in Graun Fast jeder kennt den Reschensee mit seiner Kirchturmspitze. Ulrich Ladurner geht der Sache auf den Grund 89–99 Landvermessung No. 2, Sequenz 1 Christoph Simon begegnet auf der Strecke Hoher Fricken – Hoher Kamm einem gewissen Herrn Buchwieser 100–109 Eigenwerbung
„Am Horizont die Gefahr, sich zu verlieben“ Andrea Zanzotto war Weggefährte von Fellini und Pasolini. Thomas Radigk porträtiert den Schriftsteller aus dem Veneto 113–119 Landstreicher Nächte Eine Erzählung von Andrea Zanzotto
121–127
Sammelbecken
128/129
Tirols Architekten und Ingenieurkonsulenten Pupille Optik Schwaz, Haymon Verlag
66/67
15 Fragen bis zur Million oder: Kennen Sie die Hauptstadt von Kiribati? Hans Danner hat sich bei der Millionenshow durchgefragt 69–75 Gutachten. Diesmal: Einfriedung Fünf Vorschläge, sich abzugrenzen. Von Rolf Glittenberg, Maria E. Brunner, Anton Würth, Architekten Moser Kleon und freilich landschaftsarchitektur
77–87
130 131
Binder Holz Swarowski Kristallwelten, Alpbacher Architekturgespräche
132
Alpina Druck Hypo Tirol Bank
134 135
Circus Prod. Uniqa
136 137
Besetzung, Impressum Dorit Margreiter Orginalbeilage Nr. 6
110/111
Ernst Trawöger Foto (2005)
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Körperpflege
Ranking S.7 a LAUFTEXTFLÄCHE: 278.5 CM2 ABSCHNITTE: 5 ZEILEN: 67 WÖRTER: 499 ZEICHEN: 3308 LEERZEICHEN: 493
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Das Monument des kleinen Mannes
Der Wissenschaftler Fabian Kanz liest aus Haaren, Knochen, Zähnen und kommt zu überraschenden Ergebnissen: „Der Mensch kehrt nicht zum Staub zurück; etwas bleibt immer übrig.“ Michael Hausenblas hat den in Igls aufgewachsenen Forscher am Wiener Institut für Humanbiologie besucht.
Fabian Kanz hält das Unterkiefer eines Menschen in der Hand. Es stammt von einer Ausgrabungsstätte in Salzburg. „Mittelalter“, sagt Kanz. Dutzende Unterkiefer liegen wie Dominosteine aneinander gereiht auf einem Regalbrett. Kanz beginnt zu erzählen:
Das ist eine Art selbstheilende Presspassung. Wir schneiden den Zahn mit einer Diamanttrennscheibe durch, nachdem er in Kunstharz eingebettet worden ist. Diese extrem dünnen Schnitte werden dann unter dem Mikroskop studiert.
„Wenn mir ein Archäologe einen Knochen bringt, ist das erste, was ich zu ihm sage: Welche Fragen hättest du diesem Menschen gestellt? … Also: Zu Beginn werden die so genannten Basisdaten ermittelt – Geschlecht, Körpergröße, Sterbealter. Diese Informationen sind relativ einfach zu bestimmen. Am Schädel existieren sehr viele männliche oder weibliche Merkmale. Die im Prinzip nicht sonderlich relevante Körpergröße finden wir anhand von Oberschenkel- oder Armknochen heraus. Beim Erlebensalter wird es schon schwieriger. Bis um das zwanzigste Lebensjahr ist es einfach festzustellen, weil der Knochen noch wächst. Später kann das Alter nur anhand von Abnützungsgraden geschätzt werden.
Das ist der Moment, in dem der Mensch für mich auf gewisse Weise greifbarer wird. Ich könnte mir die Frage stellen, ob ich eine Beziehung zu dem Menschen aufbaue, dessen Zahn ich da in Händen halte. Natürlich suche ich die Person hinter dem Knochen. Wenn ich den Menschen auf Grund gewisser Ergebnisse allerdings zu deutlich sehe, kann es leicht passieren, dass ich das Bedürfnis habe, immer weiter zu suchen. Da muss man vorsichtig sein! Irgendwie hat das etwas Psycho-Detektivisches an sich. Man hat schließlich ein Opfer der Zeit vor sich. Und zu einem solchen werden wir letztendlich alle.
Zum Beispiel die Zähne: Die Abreibung der Kauflächen sagt etwas aus. Der Mensch, dem dieser Kiefer hier gehört hatte, wurde relativ alt, wie man an den abgeriebenen Zähnen erkennen kann. Allerdings hängt das auch von Epochen und Nahrungsgewohnheiten ab. Zu bestimmten Zeiten etwa gab es relativ viel Mühlstein im Mehl, was die Kauflächen zusätzlich beanspruchte – das war wie Schmirgelpapier. Um präzise Auskünfte geben zu können, untersuchen wir den so genannten Zahnzement. Im oberen Drittel der Zahnwurzel bilden sich jedes Jahr zwei Schichten, eine helle und eine dunkle. Das ist ähnlich wie bei den Jahresringen von Bäumen. Der Zahnzement hat die Funktion, den Zahn, der sich durch Abrieb von der Kaufläche entfernt, wieder nach oben zu schieben.
Ich möchte, wenn es so weit ist, verbrannt werden. Kann schon sein, dass dieser Wunsch etwas mit meinem Job zu tun hat. Ich werde mich aber rechtzeitig darum kümmern, dass meine Grunddaten in eine Metallplatte eingraviert und der Urne beigegeben werden. Fragt sich nur, was rechtzeitig ist. Bei der Forschungsarbeit an den Gladiatoren-Skeletten von Ephesos hat mich eines verwundert: Das Interesse der Medien galt vor allem der Geschichte, dass Gladiatoren dicke Vegetarier waren. Das ging um die ganze Welt. Klar waren das ordentliche Pracker! Aber das Thema lediglich auf dieser Ebene in den Zeitungen wiederzufinden, hinterlässt mich auf eine gewisse Art ratlos. Die unglaubliche Brutalität dieser so genannten Wiege unserer Kultur wurde nie diskutiert. Man erheitert sich an dem Gedanken, dass Spartacus
Körperpflege
b Ranking S.7 LAUFTEXTFLÄCHE: 278.5 CM2 ABSCHNITTE: 5 ZEILEN: 67 WÖRTER: 499 ZEICHEN: 3308 LEERZEICHEN: 493 SATZZEICHEN «,/.» ,: 30 .: 37
Ranking S.9 a LAUFTEXTFLÄCHE: 329 CM2 ABSCHNITTE: 7 ZEILEN: 80 WÖRTER: 603 ZEICHEN: 3900 LEERZEICHEN: 600
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und Co als Körndlfresser durch ein meist sehr kurzes und äußerst brutales Leben gegangen sind. Das mit der Ethik ist so eine Sache. Eine Stadt ist doch im Prinzip auf Knochen gebaut. Ihr Ursprung war eine Kirche. Sobald die Stadt wächst, wächst sie auf ihren Toten. Wenn man heute im ‚Kleinen Café‘ in Wien sitzt und ein Bier trinkt, befindet man sich über einer Gruft der Franziskaner, in der 300 bis 400 Mumien aus der Zeit des Barock bestattet sind. Es liegen dort unten zum Beispiel Handwerker, die im Dienste des Klosters standen. Man könnte auch viele andere Schicksale entdecken. In der MichaelerGruft sind 800 Tote bestattet; der Platz unter dem Stephansdom – ein einziges Gräberfeld. Darauf spazieren die Touristen herum. Im Prinzip wimmelt es nur so von Toten. Für unsere Forschung bleiben von einem Menschen in der Regel so genannte Hartgewebe übrig, das sind Knochen, Zähne, Haare, auch Fingernägel. Das hängt sehr stark von den Liegebedingungen ab. Aus den Haaren könnte man rein theoretisch sehr viel ablesen. Allein die Haarlänge und die Haarmoden lassen Rückschlüsse zu. Wenn die Haare länger werden, entsteht ein Archiv, das nach außen wächst. Man liest ja oft, dass Drogenkonsum im Haar nachweisbar ist. Es geht aber auch um etwas sehr Intimes. Anthropologen verwenden für ihre Forschungen in erster Linie Haar vom Hinterhaupt. Während eines Tibet-Aufenthalts kam ich in heikle Situationen, denn für den Tibeter ist diese Stelle des Körpers die Verbindung zwischen innerer und äußerer Welt. Abgesehen von DNA-Analysen sagen uns vor allem die Haarformen etwas. Das asiatische Haar ist kreisrund im Querschnitt, das afrikanische nierenförmig. Auch Haarfarben können je nach Bodenbeschaffenheit rekonstruiert werden. Man glaubte zum Beispiel lange Zeit, dass Pharaonen rothaarig gewesen seien, dabei veränderte der Prozess der Einbalsamierung die Haarfarbe. Das Haarige am Haar ist seine Fähigkeit, Ionen tauschen zu können. Sobald es im Boden liegt, reagiert es auf die natürlichen Einflüsse. Damit wer-
den relevante Signale verfälscht. Ansonsten wäre das Haar als Quelle ideal, da man gerade die Zeiträume kurz vor dem Todeszeitpunkt untersuchen könnte. Haare und Nägel eignen sich auch einwandfrei dazu, schleichende Vergiftungen – zum Beispiel durch Arsen – nachzuweisen. Knochen an sich sind eine geniale Konstruktion! Ist alles Wasser aus einem Skelett entwichen, wiegt das gesamte Konstrukt nur mehr gute zwei Kilo. Es ist doch ein Wahnsinn, was dieses Gerüst im Stande ist zu leisten! Bis zu 30.000 Jahre nach dem Tod des betreffenden Individuums lassen sich anhand von Knochenmaterial DNA-Analysen durchführen. Aber viel interessanter ist die Frage: Warum ist der Knochen überhaupt noch da? Letztendlich ist es natürlich eine chemische Angelegenheit, man könnte aber auch sagen: Du bleibst über, weil dich der Boden nicht braucht. Oder nicht will. Wenn du Pech oder Glück hast – das ist in erster Linie eine religiöse Frage – überdauert ein Skelett Jahrmillionen. Man denke an die Dinosaurier. Ich bin natürlich froh, wenn wir liegen bleiben. Ob das so sein soll oder nicht, ist wieder eine andere Geschichte. Ich denke, der Knochen ist eine biologische Urkunde. Nicht nur für die Wissenschaft. Der Knochen ist ein Monument, das Denkmal des kleinen Mannes. Die Informationen, die in seinem Inneren stecken, sind bis heute nur zu einem sehr geringen Teil lesbar. Sie immer weiter zu entschlüsseln, darin liegt der Reiz meiner Arbeit. Ich befürchte, man wird im Rahmen der Anthropologie nie etwas über den Intellekt oder die Ausstrahlung eines Menschen herausfinden können. Leidensgeschichten sind da natürlich ein Anhaltspunkt. Wenn ich anhand der Knochen sehe, dieser Mensch hatte über viele Jahre große Schmerzen, kann ich mich, wie bereits erwähnt, ein wenig mehr seinem Gemütszustand annähern. Berühren tut mich so was je nach Alter. Wenn ich ein Skelett untersuche und weiß, der
Körperpflege
b Ranking S.7
TOTAL
LAUFTEXTFLÄCHE: 278.5 CM2 ABSCHNITTE: 5 ZEILEN: 67 WÖRTER: 499 ZEICHEN: 3308 LEERZEICHEN: 493
LAUFTEXTFLÄCHE:
19 ZEILEN: 225 WÖRTER: 1633 ZEICHEN: 10’867 LEERZEICHEN: 1617 ABSCHNITTE:
SATZZEICHEN «,/.» ,: 30 .: 37 b b Ranking S.9 LAUFTEXTFLÄCHE: 329 CM2 ABSCHNITTE: 7 ZEILEN: 80 WÖRTER: 603 ZEICHEN: 3900 LEERZEICHEN: 600 SATZZEICHEN «,/.» ,: 36 .: 47
Ranking S.11 a LAUFTEXTFLÄCHE: 323.8 CM2 ABSCHNITTE: 7 ZEILEN: 78 WÖRTER: 531 ZEICHEN: 3659 LEERZEICHEN: 524
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war bereits in der senilen Phase, also älter als 60, dann denk ich mir: Okay, der hat sein Leben gelebt. Ich schätze, ich hatte bereits mit 15.000 Individuen zu tun. Sehr gut kann ich mich an das Schambein der Prinzessin Arsinoe erinnern, deren Skelett wir vergangenen Sommer untersucht haben. Sie war Cleopatras Schwester und wurde als junges Mädchen im Auftrag von Marcus Antonius und Cleopatra in Ephesos ermordet. Das ist natürlich pikant, aber ich hab mir schon gedacht, wenn du diese Frau zu Lebzeiten berührt hättest, wärst du schnurstracks erledigt gewesen. Ich kann mir Menschengesichter im Gegensatz zu Namen über viele Jahre merken und versuche, das auch im Falle von Skeletten und Schädeln hinzukriegen. Das klappt allerdings nur bis zu einem gewissen Grad. Ich dachte immer: Irgendwann wird das wie bei Zeitgenossen funktionieren, denen ich auf der Straße begegne. Dem ist aber nicht so. Ich vermute, das hat etwas mit unserem genetisch bedingten Wahrnehmungsvermögen zu tun. Das ‚Tier‘ Mensch benötigt diese Weichteilbedeckung, um erkennen zu können. Man merkt sich ja die feinsten Mimiken – sogar unterbewusst. Was die Gesellschaft von unserer Arbeit hat? Nun, ich denke, unsere Forschungen sollten dazu beitragen, zu einer viel intensiveren Auseinandersetzung mit dem Tod zu kommen. Der Tod hat in unserer Gesellschaft viel zu wenig Raum. Man muss nur in ein Altersheim gehen und sich genauer umschauen. Und dieses Schicksal blüht vielen von uns. Was die Archäologie oder Geschichtsforschung betrifft, überkommt mich oft das Gefühl, dass in diesen Disziplinen nichts anderes geschieht, als die Spuren der eigene Eliten zu sichern. Es geht in erster Linie um Architektur, um Monumentalbauten, Denkmäler, die von vergangenen Eliten geschaffen wurden. Mir kommt vor, dass auch die Führungsschicht von heute sicher gehen will, ihre Spuren in Form von Monumenten zu hinterlassen. Der Reiz besteht für mich
darin, sich von diesem Ansatz zu distanzieren und den Knochen als etwas zu betrachten, was von jedem einzelnen bleibt. Somit können wir untersuchen, wie es den Nicht-Eliten auf ihrem Weg durch die Geschichte ergangen ist. Ich möchte mit meiner Arbeit Geschehenes rekonstruieren.“ Fabian Kanz umschreibt die Anthropologie als „Lehre der menschlichen Variabilität in Zeit und Raum“. Der Forscher, Jahrgang 1969, der am Wiener Institut für Humanbiologie studierte, arbeitet im Dienste der wissenschaftlichen Erforschung von Skeletten. Darüber hinaus will er die Methoden zur Bestimmung von Funden weiterentwickeln. Einen persönlichen Coup landete der Forscher mit der Entwicklung einer Software zur Dokumentation des Erhaltungszustandes adulter Skelettindividuen, die er auf dem Bildschirm seines Laptops vorführt wie eine computeranimierte Geisterbahn. Das Programm Bone erlaubt eine standardisierte Aufnahme von Gräberfeldern, was Zeit spart und Fehlerquellen beinahe ausschließt. Früher wurde laut Kanz jedes Knöchelchen nummeriert, aufgezeichnet und fotografiert. Mit Bone wird der zu bearbeitende Skelettteil per Mausklick aufgenommen und abgespeichert. Das Skelett wird zum Datensatz, das Gräberfeld zur Datenbank. Fabian Kanz und sein Partner Carl Großschmidt rekonstruierten auf Grundlage der 1993 auf einem Gladiatorenfriedhof gefundenen Skelette und natürlich mithilfe von Bone Kämpfertypen sowie Todes- und Verletzungsarten. Die Ergebnisse wurden unter anderem im Rahmen der Ausstellung „Tod am Nachmittag. Gladiatoren in Ephesos“ gezeigt. Ein großer Erfolg waren für das Duo Kanz und Großschmidt auch die anthropologischen Untersuchungen an Mumien für die Ausstellung „Mumien aus dem Alten Ägypten“ im Kunsthistorischen Museum Wien (1998).
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Ranking S.17 a LAUFTEXTFLÄCHE: 231.5 CM2 ABSCHNITTE: 4 ZEILEN: 55 WÖRTER: 390 ZEICHEN: 2350 LEERZEICHEN: 378
DO, RE, MI DO: 0 RE: 22 MI: 8
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Otmar Suitner, real existierender Dirigent
Gut drei Jahrzehnte lang bekleidete Otmar Suitner höchste musikalische Ämter in der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik: erst als Chefdirigent von Wagners „Wunderharfe“ in Dresden und ab 1964 als Generalmusikdirektor der Staatskapelle an der Berliner Lindenoper, wo er mit insgesamt 26 Dienstjahren einen absoluten Rekord aufgestellt hat. Was führte den gebürtigen Tiroler in die DDR? Wieso begibt sich ein bekennender Katholik freiwillig ins wohl religionsfeindlichste aller Systeme? Wie lebte es sich als Vollblutmusiker im real existierenden Sozialismus, wo die Kunst einzig als ideologische Waffe im Klassenkampf galt? Von Michaela Nolte Otmar Suitner ist eine Ausnahmeerscheinung. Als Wanderer zwischen den einstigen Machtblöcken, vor allem aber am Dirigentenhimmel. Die Bandbreite seiner Konzert- und Opern-Interpretationen passt in keine Schublade, kaum eine Epoche vom Barock bis in die jüngere Zeit, die Suitner in den rund 50 Jahren, in denen er am Pult stand, nicht durchschritten hätte. So resümiert das Magazin klassik.com, „dass es in der Vergangenheit kaum einen, in der Gegenwart keinen Dirigenten gegeben hat oder gibt, der über ein annähernd großes Repertoire bei solch hoher künstlerischer und stilistischer Qualität verfügt. Es muss als überaus bedauerlich gelten, dass seine musikalischen Fähigkeiten, auch aus politischen Gründen, einer breiten Öffentlichkeit im westlichen Teil Deutschlands so lange verborgen geblieben sind.“ Dabei hat Suitner weltweit die berühmten Konzertpodien bespielt: von Mailand bis Moskau, von Buenos Aires bis Paris, bei den Philharmonikern in Wien, Berlin und München hat er ebenso gastiert wie an der Oper in San Francisco oder beim japanischen Rundfunk-Symphonie-Orchester. Während der San Francisco Chronicle anlässlich seiner Wagner-Zyklen in den 70er-Jahren über den „neuen Superstar“ jubelt, das renommierte Tokioter Orchester, mit dem er 20 Jahre lang zusammengearbeitet hat, ihn zum Ehrendirigenten ernannte, stand Suitner hierzulande im Schatten der Mauer. Auch Dirk Stöve, dem das Ver-
dienst zukommt, vor drei Jahren die erste SuitnerMonographie geschrieben zu haben, bemerkt: „Österreich und vor allem die BRD lagen eher an der Peripherie seiner Reiserouten.“ Otmar Suitner hat seine eigenen Schwerpunkte gesetzt, mit der Musik als Generalbass. Die Klaviatur der „Geldscheinsonate“ war sein Metier nicht. In Klaus Umbachs gleichnamiger Polemik, die mit den Gold-Kehlchen und Pult-Diven des Klassik-Betriebs abrechnet, sucht man ihn darum auch vergebens. „Suitner ist völlig unterbewertet, der ist beim falschen Label“, bringt es ein Branchenkenner auf den Business-Punkt. Unweigerlich denkt man an den Salzburger Herbert von Karajan, der ja quasi parallel zu Suitners Ost-Berliner Jahren auf der anderen Seite der Mauer mit den Philharmonikern seinen Feldzug als erster Pult-Star des Medienzeitalters antrat – was der Hightech-Maestro nicht zuletzt seinem Geschick als Vermarkter seiner Selbst und seiner Tonaufnahmen verdankte. Aus Noten Banknoten zu machen verstand Karajan wie kein E-Musiker vor ihm; und Salzburg munkelte, dass ihm Sony wichtiger sei als Mozart. Wie das personifizierte Kontrastprogramm erscheint Otmar Suitner dagegen. Wenn Suitner im globalen Klassik-Rummel ein großer Unbekannter blieb, so sieht er das gelassen: „In der Kunst zu arbeiten, das meint, meiner Meinung nach, auch die Kunst des Sich-
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b Ranking S.17 LAUFTEXTFLÄCHE: 231.5 CM2 ABSCHNITTE: 4 ZEILEN: 55 WÖRTER: 390 ZEICHEN: 2350 LEERZEICHEN: 378 DO, DO: RE: MI:
RE, MI 0 22 8
Ranking S.19 a LAUFTEXTFLÄCHE: 341.1 CM2 ABSCHNITTE: 6 ZEILEN: 83 WÖRTER: 585 ZEICHEN: 3447 LEERZEICHEN: 579
DO, RE, MI DO: 5 RE: 24 MI: 9
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Zurück-Ziehens, gleichsam den Weg in die Einsiedelei einzuschlagen. Wenn man den Luxusgütern zu sehr nachjagt und versucht, alles zu bekommen, bewirkt das zunächst eine gewisse Unkonzentration in künstlerischer Hinsicht. Dann geigt man besessen für den neuen Wagen, auf den man hier beispielsweise zwanzig Jahre warten musste. Hier geigte man aber trotzdem, und das wirkte sich auf den Charakter aus.“ So mag das Insel-Dasein seinem Wesen entgegen gekommen sein, sich eben durch nichts von der Berufung ablenken zu lassen. Seine Leidenschaft galt dem Schachspiel und vor allem der Literatur der Romantik, an der Suitner „das Ganzheitliche, den Einbezug von emotionalen Erschütterungen in die Sphäre des Vernünftigen“ schätzt. Suitner, der als Generalmusikdirektor der Berliner Staatsoper zwar stets den Ensemble-Geist hochhielt, war ebenso darauf bedacht, das Haus, so weit es die Finanzen erlaubten, mit internationalen Gästen auf hohem Niveau zu halten. In San Francisco hatte er Luciano Pavarotti getroffen und um einen Auftritt an der Lindenoper angefragt. Die 20.000 Dollar, die der Star-Tenor damals nur kostete, hätten das Budget jedoch gesprengt. Als das Belcanto-Wunder einen Naturalientausch in Form eines Rennpferds anstelle der Gage vorschlug, wollte Suitner schon einwilligen. Denn dass ein solches Edelross das Vielfache selbst einer Pavarotti-Gage kosten würde, lag außerhalb seines Bewusstseins. Auch das nimmt für diese markante, eigenwillige und immer etwas geheimnisvolle Persönlichkeit ein. „Er hat etwas Nestroyartiges, diesen scharfen, doppelbödigen Humor“, sagt der Berliner Musikkritiker Karl Klebe über Otmar Suitner. „Typisch österreichisch“, findet ihn ein Exil-Tiroler: „Er hat einen Orden vom Papst genommen und zugleich vom Stalin.“ Der Orden für den Nationalpreis der DDR kam natürlich nicht von Stalin, sondern vom Staatsratsvorsitzenden Ulbricht und wurde ihm vorsichtshalber auch nur 2. Klasse verliehen; denn den Segen der po-
litischen Führung hatte der Dirigent aus dem westlichen Ausland mitnichten. Mit dem Geld für den Nationalpreis der DDR hat Suitner die katholische Kirche unterstützt. „Das war ja Teufelsgeld, das hab ich für den Wiederaufbau der Silbermann-Orgel in der Dresdener Hofkirche gestiftet und später hab ich ein weiteres Preisgeld den Sängerknaben der Hofkapelle vermacht.“ Derart geweiht, kam das Teufelsgeld auch bei Papst Paul VI. gut an, der ihn in den Stand eines „Komturs des Gregorius-Ordens“ erhob. Bei der Audienz hat ihn der Heilige Vater allerdings als Otmar Suitner aus Polen vorgestellt. „Die DDR war für ihn einfach nicht existent. Aber dann hat er mich beiseite genommen, und sich in lupenreinem Deutsch erkundigt, ob die Hörner der Dresdener immer noch so phantastisch seien.“ Derlei beeindruckt Suitner bis heute; aber insgesamt trägt er auch den päpstlichen Ritterschlag mit Humor. Auf eine Uniform, mit der die Ordensträger einmal jährlich zu Feierlichkeiten einreiten dürfen, verzichtete er: „Die sollte mehrere Tausend kosten, und reiten konnte ich eh nicht.“ Suitners Aufstieg als Musiker verlief eher ungewöhnlich; denn auf eine künstlerische Laufbahn wies 1922, als er in Innsbruck das Licht der Welt erblickte, nichts zwingend hin. Der Vater stammte aus einem Oberinntaler Bauerndorf, die Mutter aus einer italienischen Eisenbahnerfamilie. Kein großbürgerliches Ambiente, wo der Flügel zum angestammten Inventar gehörte. Auf der Hohenburg in Igls spielte Eugen d’Albert in der Villa von Rudolf Fischer. Vater und Sohn lauschten von draußen. Man gehörte nicht zu diesen Kreisen, aber am geöffneten Fenster wurden die Liszt-Rhapsodien für den Knaben zum eindringlichen Hörerlebnis. Mit sieben Jahren begegnete er Wilhelm Backhaus, und der Berufswunsch stand fortan fest: Suitner wollte Pianist werden. Die Eltern förderten ihn nach ihren Möglichkeiten, aber ohne hehre Ambitionen. „Dann hab ich das Klavierspielen angefangen und mein Vater sagte: Mein Ziel wäre es, dass du mir einmal im Leben meinen Lieblingswalzer Rosen aus dem Süden von Johann Strauß
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b b Ranking S.17 LAUFTEXTFLÄCHE: 231.5 CM2 ABSCHNITTE: 4 ZEILEN: 55 WÖRTER: 390 ZEICHEN: 2350 LEERZEICHEN: 378 DO, DO: RE: MI:
RE, MI 0 22 8
b Ranking S.19 LAUFTEXTFLÄCHE: 341.1 CM2 ABSCHNITTE: 6 ZEILEN: 83 WÖRTER: 585 ZEICHEN: 3447 LEERZEICHEN: 579 DO, DO: RE: MI:
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Ranking S.21 a LAUFTEXTFLÄCHE: 356.7 CM2 ABSCHNITTE: 3 ZEILEN: 86 WÖRTER: 641 ZEICHEN: 3660 LEERZEICHEN: 636
DO, RE, MI DO: 1 RE: 33 MI: 9
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vorspielen könntest. Dann wär’ ich schon zufrieden.“ Bescheiden ging es bei den Suitners zu. Bescheidenheit, Klarheit, Leuchtkraft sind denn auch Worte, die im Zusammenhang mit Otmar Suitner immer wieder fallen. Attribute, die den Dirigenten wie auch den Menschen konturieren. Leitfaden durch ein Leben, in dem „das sanfte Gesetz“ den Takt vorgibt. Adalbert Stifter hat es in seiner Vorrede zu „Bunte Steine“ beschrieben, Suitner hat es sich zur persönlichen Maxime gemacht, die Kraft des Kleinen zu würdigen. Seinen Stifter liest und zitiert er mit Vorliebe – gleich ob es um den Zusammenhang von Piano und Fortissimo geht oder um Anton von Webern, über den er sagt: „Dieser Mann hat Gräser gesammelt. Das ist für mich die Quintessenz zeitgenössischer Musik“. Wenn man Weberns Konzertstücke für Orchester hört, wird deutlich, was Suitner meint. Erklingt doch hier die Musik so überaus sacht, dass sie gleichsam am Rande der Stille zu entstehen scheint. Das Stiftersche Naturidyll und dessen Bergwelt, mit all ihren Höhen und Abgründen, hallen in Suitner nach; als steter Begleiter durch sein Leben und als unsichtbare Verbindung zu seinem Herkunftsland. In Tirol allerdings glaubte man den verlorenen Sohn mit dem Teufel im Bunde. Warum lässt sich einer, der im Westen auf eine sichere Karriere blickt, weder vom Kalten Krieg noch vom Mauerbau schrecken? Im August 1961 gastierte Suitner mit der Staatskapelle Dresden bei den Salzburger Festspielen. Ganz selbstverständlich ging er in die DDR zurück und forderte das auch von seinen Musikern. Noch 40 Jahre danach spricht Suitner von dem Orchester als „hervorragendem Kollektiv“, das er einfach zusammenhalten wollte. Rückblickend kürte ihn die Welt dafür 2002 zum „Wächter mit Taktstock mitten im Kalten Krieg: ein dirigierender Treuhänder am Pult“. Während im gleichen Jahr die Frankfurter Allgemeine Zeitung monierte, dass er die Vorzüge des Musiklebens „unter der sozialistischen Käseglocke“ noch gepriesen habe, als es rundum tauwetterte. Und die Verwandten daheim fragten schon mal: „Ham die Russen dich gefoltert? Da gab es ja eine ablehnende Einstellung gegen die DDR. In dem heiligen Land Tirol speziell.“
Argumente für Vorurteile jeglicher Art hatte die Presse westlicher Provenienz seit jeher kolportiert. Der Spiegel verpflanzte Suitner 1967 kurzerhand in das „DDR-Fürstentum“ Wandlitz, das geheime Villenviertel Walter Ulbrichts. Ein „Monatseinkommen von etwa 30.000 Ostmark“ des Generalmusikdirektors wird als Beispiel für die Klassen-Unterschiede angeführt, demgegenüber eine Ost-Rentnerin mit weniger als 300 Mark auskommen müsse. Andere Quellen meinen gar zu wissen, dass Suitner sein Salär in harter West-Währung erhalten habe. Wie weit Dichtung und Wahrheit auseinander klaffen, ahnt man beim Blick auf Suitners Wohnhaus. Das ist immer noch dasselbe wie damals und auch nicht in Wandlitz; überdies nimmt es sich nicht besonders protzig aus. Die Privilegien im sozialistischen Deutschland werden Suitner kaum gelockt haben. Der Geist Richard Strauss’ war es, der ihn 1960 nach Dresden zog. Nach Stationen als Musikdirektor der Oper in Remscheid und beim Pfalzorchester Ludwigshafen kam das Angebot, der Dresdner Staatskapelle als Chefdirigent vorzustehen, dem 38-Jährigen wie ein Quantensprung vor. Unter Ernst von Schuch und Karl Böhm war der Klangkörper der einstigen Dresdner Hofoper zum Strauss-Orchester par excellence avanciert. Und noch heute schwärmt Suitner vom idealen Klangbild des traditionsreichen Orchesters. Da pocht das italienische Blut, das er von der Mutter geerbt hat: „Die haben einen südlichen Klang. Dresden war immer schon südlich orientiert. Elb-Florenz eben. Auch die Baumeister waren ja vor allem Italiener. Es wurde aber alles nach Berlin gezogen. Kaum hab ich einen Sänger entdeckt, ging er nach Berlin. Die Annelies Burmeister zum Beispiel, der Theo Adam, auch der Peter Schreier ging … Wenn das alles normal gewesen wäre, dann wär’ ich wie mein Landsmann Schuch wohl auch 40 Jahre in Dresden geblieben.“ Als 1964 auch an Suitner der Ruf an die Staatsoper Unter den Linden herangetragen wurde, schien zudem ein weiteres Lebensziel erreicht. Denn hier hatte Richard Strauss als Kapellmeister und Generalmusikdirektor gewirkt. Da verstand es sich von selbst, dass eine solide Stellung in Hannover und ei-
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b b b Ranking S.17 LAUFTEXTFLÄCHE: 231.5 CM2 ABSCHNITTE: 4 ZEILEN: 55 WÖRTER: 390 ZEICHEN: 2350 LEERZEICHEN: 378 DO, DO: RE: MI:
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b b Ranking S.19 LAUFTEXTFLÄCHE: 341.1 CM2 ABSCHNITTE: 6 ZEILEN: 83 WÖRTER: 585 ZEICHEN: 3447 LEERZEICHEN: 579 DO, DO: RE: MI:
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b Ranking S.21 LAUFTEXTFLÄCHE: 356.7 CM2 ABSCHNITTE: 3 ZEILEN: 86 WÖRTER: 641 ZEICHEN: 3660 LEERZEICHEN: 636 DO, DO: RE: MI:
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Ranking S.23 a LAUFTEXTFLÄCHE: 346.3 CM2 ABSCHNITTE: 5 ZEILEN: 84 WÖRTER: 570 ZEICHEN: 3535 LEERZEICHEN: 564
DO, RE, MI DO: 4 RE: 24 MI: 13
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ne lukrative Offerte aus Hamburg, die zeitgleich winkten, die künstlerische Ehre nicht aufwiegen konnten. Bis heute gehört Suitner, neben seinen weltweit gerühmten Wagner-Interpretationen, zu den kongenialen Strauss-Exegeten. Und wenn Ernst Krause, der Doyen der DDR-Musikkritik, über den Grandseigneur am Pult schrieb: „Hier schwimmt nicht einer im uferlosen Strom des Orchesters; und erst recht rudert hier keiner mit Armen und Händen“, so scheint dies unter anderem auf Strauss zurückführbar zu sein. Dessen Dirigat war bisweilen kaum sichtbar und in den letzten Jahren so minimalistisch, dass er die Linke höchstens eingesetzt haben soll, um auf seine Taschenuhr zu blicken. Tonangebend für Suitners sparsame und präzise Schlagtechnik war jedoch Clemens Krauss. Zwar schickte das mächtige Takt-Genie den Eleven am Mozarteum nach dem ersten Vorspiel mit den Worten: „Warum dirigieren S’ denn Schlangenlinien?“ zu seinem Stellvertreter. Doch der zweite Anlauf glückte, und Krauss wurde nicht nur Suitners Lehrer, sondern auch sein Protegé; vermittelte ihn 1941 ans Tiroler Landestheater und gab ihm Gelegenheit, den Proben zu seinen Richard Strauss-Aufführungen beizuwohnen. Zumal in Anwesenheit des Komponisten, der dem jungen Dirigenten und Korrepetitor einen außergewöhnlichen Auftrag anvertraute: In Innsbruck konnte Suitner den „Rosenkavalier“ nicht nur einstudieren; auf Grund des knapp besetzten Ensembles durfte er eine abgespeckte Variation schreiben. Nicht zuletzt diese Begebenheit erklärt Suitners Pflege und Weiterführung der Traditionslinie MozartWagner-Strauss. Die Weihen Bayreuths wurden Suitner in den Jahren 1964 bis 1967 zuteil. Auf dem Grünen Hügel dirigierte er Tannhäuser, den Fliegenden Holländer und den Ring des Nibelungen. Inszeniert hatte jeweils Wieland Wagner, dessen Neuerungen in puncto Regie Suitner aus dem Orchestergraben kongenial spiegelte. Seine „Auflichtung der Wagnerschen Tonmassen“ bedachten Rezensenten und Publikum gleichermaßen
mit Ovationen. Und die Fachzeitschrift Opernwelt betonte Suitners exemplarische Erneuerung der Oper aus dem Geiste der Musik. „Mein Ring war ja der schnellste. Richard Wagner hat einmal geschrieben, dass ein guter Kapellmeister das ‚Rheingold‘ in zwei Stunden spielen muss. Das hab ich nicht geschafft. Zwei Stunden und fünf Minuten hat’s gedauert.“ Eigentlich war das Bayreuther Engagement langfristig angelegt. „Aber der Wolfgang hat nach Wielands Tod ja alle rauskatapultiert, die vom Wieland waren. Die waren ja spinnefeind“, sagt Suitner rückblickend und untermauert das mit einer Anekdote vom Kollegen Hans Knappertsbusch, dem das Herz scheint’s sehr weit vorn auf der Zunge lag. „Der Knappertsbusch hat den Wieland und den Wolfgang genommen und hat denen gesagt: Wenn man euch beide so sieht, dann kann man ahnen, was euer Großvater für ein Arschloch war.“ Suitners eigene Diktion ist wahrlich feiner und geschliffener. Aber wenn’s passt, zitiert er eben gern einmal ein zünftiges Bonmot des geschätzten Kollegen. Hohe Kunst und Menschliches, Allzumenschliches schließen sich für den Maestro eben nicht aus. Unprätentiös und mit Sinn für Selbstironie gesteht er bei einer Orchesterprobe: „Jetzt gefällt mir dieses Forte wieder nicht. Mir passieren auch oft Sachen, das ist unglaublich.“ Seine Musiker reagieren mit spontaner Heiterkeit, um im nächsten Moment sogleich wieder konzentriert seinem Taktschlag zu Wolfgang Amadeus Mozarts Es-Dur Symphonie zu folgen. Suitner gibt nicht den allwissenden Maestro. Eine natürliche Autorität, die ohne autoritäres Gebaren auskommt und taktvoll ans Pult und durchs Leben geht. Ein Professor, der von seinen mehr als 1000 Studenten, die er an der Wiener Musikhochschule begleitet hat, immer auch lernen wollte. Gleich ob sozialistische Musikkritik oder bürgerliches Feuilleton, über den Dirigenten Otmar Suitner erklingt ein selten einstimmiger Chor: nicht selbstisch, keinerlei Allüren, erfrischende Ursprünglichkeit und Herzlichkeit. Über ein Konzert mit den Münchner Philharmonikern schrieb der Münchner Merkur 1982: „Die Philharmoniker waren denn auch frei von jenen kleinen Ner-
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vositäten, von denen sie in Celibidache-Konzerten gelegentlich mal geplagt werden.“ Bei aller Wahrung der Tradition hat Suitner nie den Bezug zur Gegenwart verloren. Legendär war seine Zusammenarbeit mit Paul Dessau, dessen Opern „Puntila“, „Einstein“ sowie „Leonce und Lena“ zwischen 1966 und 1979 unter Suitner zur Uraufführung gelangten. Kein leichtes Unterfangen. Denn neben der musikalischen Herausforderung, welche die Kompositionen für die Hörgewohnheiten des Publikums darstellten, war selbst der Sozialist Dessau den SEDHardlinern suspekt. Doch Suitner trat für den hochgeschätzten Paul Dessau ebenso beharrlich ein wie für Hans Pfitzner; mithin zwei Komponisten, deren politische Weltsicht konträrer kaum sein könnte. Pfitzner war aufgrund seines Konservatismus und seiner deutschnationalen Haltung nicht nur in der DDR umstritten. Schon Richard Strauss und Pfitzner bildeten ein Kapitel für sich: Letzterer polemisierte gegen die „Futuristengefahr“ und Strauss konterte mit einer abschätzigen Glosse auf Pfitzners „Palestrina“. Derartiger Fehden ungeachtet, führte Suitner die kunstphilosophische Legende „Palestrina“ an der Staatsoper auf. Die Beharrlichkeit des Dirigenten in solchen Dingen wird an dem Fakt augenscheinlich, dass Suitner bereits 1979 die konzertante Aufführung leitete, die szenische Premiere hingegen bis 1983 warten musste. Nachhaltig ebenfalls Suitners Engagement für Ruth Berghaus. Zunächst hatten ihn konzeptionelle Überlegungen auf die Theater-Regisseurin aufmerksam gemacht. Die Staatskapelle war unter Suitner zwar gleichsam aus Ruinen auferstanden, denn fast 200 Musiker der Lindenoper waren im Zuge des Mauerbaus in den Westen gegangen; doch dem wiedererlangten Klang und Glanz des Orchesters standen hauseigene Regisseure gegenüber, die sich bestenfalls im blassen Mittelfeld bewegten. Außerdem reüssierte die nahe gelegene Komische Oper mit Walter Felsensteins realistischem Musiktheater. „Der Felsenstein war schon eine enorme Konkurrenz. Darum habe ich überlegt, wen man als Regisseur ho-
len kann, um dem etwas entgegenzusetzen. Ich hatte damals eine Inszenierung von Ruth Berghaus am Berliner Ensemble gesehen, Berthold Brechts Coriolan. Das war großartig! Die Berghaus hatte ja ursprünglich Tanz bei Gret Palucca studiert, das hat man der Inszenierung angemerkt. Das war sehr musikalisch. Da bin ich zur Helene Weigel gegangen und habe gefragt, ob die Ruth Berghaus einmal bei mir an der Staatsoper etwas inszenieren darf. Und die Weigel hat gesagt: Natürlich, wenn sie will.“ Ruth Berghaus wollte. Insgesamt neun Opern brachten sie gemeinsam auf die Bühne, darunter Dessaus „Puntila“, den Felsenstein zuvor als unspielbar abgelehnt hatte, sowie „Einstein“ und „Leonce und Lena“. Waren die zeitgenössischen Opern noch leidlich geduldet, so polarisierten gerade die RepertoireStücke Publikum wie Rezensenten. „Beim Freischütz mussten wir die Premiere fast abbrechen. Und ein bisschen war das auch meine Schuld. Die Berghaus war unzufrieden mit den Brautjungfern und hatte mich gefragt, was sie mit denen machen könne. Da hab ich ihr vorgeschlagen, sie mit kleinen Marotten zu versehen. In der Szene mit dem Jungfernkranz hat dann eine geschielt, die andere hatte Zuckungen. Das Publikum nahm das sehr übel. Das war ja deutsches Volksliedgut. Und noch später in der Kantine kam es zu Prügeleien.“ Rossinis Barbier von Sevilla, eine Berghaus-SuitnerProduktion von 1968, steht bis heute auf dem Spielplan der Staatsoper. Otmar Suitner musste sein Amt 1990 aus gesundheitlichen Gründen vorzeitig aufgeben. Als ich ihn im Krankenhaus besuche, erkundigt er sich, ob der Barbier immer noch gut sei. Er leidet an der parkinsonschen Krankheit. Das Schicksal kann sehr ungerecht sein, finde ich, und Toscas Arie „Vissi d’arte“ kommt mir in den Sinn: „Warum mein Gott und Herr / warum / suchst du mich heim so schwer.“ Ich sage das nicht, und Otmar Suitner verabschiedet mich mit einem Handkuss.
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ARTIKEL ICH: 52
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Glück und Verstand
Wem nicht zu raten ist, dem ist auch nicht zu helfen: Irene Prugger war als verdeckte Ermittlerin bei einer Glückstrainerin. Der Weg zum Glück ist wie der Weg zur Hölle mit guten Vorsätzen gepflastert. Manchmal dürfen es aber auch Fußpflaster für den Schritt in die richtige Richtung sein. Das Fußpflaster ist nicht etwa für Blasen gedacht, die man sich auf dem hindernisreichen Weg der Glückssuche holt, es bringt ganz einfach Wohlbefinden über Nacht: „Die Intelligenz, das Geheimnis und die archaische Kraft großer Bäume in einem kleinen Fußpflaster – 40 Behandlungen nur 339,90 Euro: Kinotakara Wellness Pflaster“, lese ich in einer Anzeige, die mir Regeneration im Schlaf anpreist. Vor allem braucht man die stoische Gelassenheit eines Baumes, um für ein derart teures Pflaster seine Haut hinzuhalten. Für mich kommt es aber ohnedies nicht in Frage, denn bei der Suche nach Wohlbefinden und Glück, auf die ich mich nun endlich entschlossen begebe, muss man im Kopf ansetzen und nicht bei den Füßen, das empfehlen zumindest die meisten psychologischen und esoterischen Ratgeber, die in den letzten Jahren den Büchermarkt überschwemmt haben. Die Ratgeber haben mich bislang nicht unbedingt glücklicher gemacht, aber das liegt vor allem an meinem mangelnden Engagement. Ich kann schöne Momente durchaus genießen, meistens gebe ich mich allerdings damit zufrieden, nicht unglücklich zu sein. Das ist ein Versäumnis in einer Zeit, in der uns nahe gelegt wird, das Optimum aus unserem Leben herauszuholen. Glück, suggerieren uns die Werbefachleute, ist das oberste Ziel, das es zu erreichen gilt. Vielleicht haben sie Recht. Was würde es schon nützen, wenn man alle Bedingungen eines gelungenen Lebens erfüllt sieht, aber darüber keine Freude empfinden kann. Hierin liegt auch ein Trost für zu kurz Gekommene: Die Fähigkeit, glücklich sein und die kleinen Freuden des Lebens genießen zu können, wiegt viele Mängel auf, vielleicht sogar jenen, nicht unbedingt vom Glück begünstigt zu werden. Leider nehmen wir das Glück oft nur in seiner Vergänglichkeit wahr. Bereits das Wort im Mund hält sich nicht lange; ein schnelles Antippen am Gaumen, ein kurzer überraschender Moment und schon rutscht
es einem die Kehle hinunter. Zu Kauen hat man am Unglück weitaus mehr. Das kleine Glück, das wie eine Sternschnuppe verpufft, soll nicht Gegenstand meiner Suche sein; ebenso wenig will ich mich auf ein mir von außen zufallendes Glück verlassen. Das hieße ja im Grunde nur Warten und Hoffen. Lieber begebe ich mich auf die Suche nach einem verlässlicheren Glücksgefühl. Eines, von dem man keine Kopfschmerzen bekommt, sobald es im Abklingen ist, sonst bräuchte ich nur eine Glückspille zu schlucken. Zuviel Zeit sollte meine Glückssuche auch nicht in Anspruch nehmen, weil sie mir dann mehr Stress als Nutzen brächte. Ich gebärde mich also wie ein moderner Mensch und suche auf dem Weg zum Glück schon im ersten Teilabschnitt nach einer Abkürzung, obwohl ich ahne, dass der schnellste Weg in diesem Fall nicht der effizienteste ist. Dass die Suche nach dem Glück vor allem eine Suche nach der richtigen inneren Einstellung sein muss, hat man uns ja schon immer gepredigt. Halten uns die Religionen seit jeher dazu an, um der Seligkeit im Jenseits willen mit Geduld und Zuversicht die Jammertäler des Diesseits zu durchschreiten, so winken die weltlichen Heilsversprecher mit schnellerer Belohnung. Ihre „Glaub an dich, dann schaffst du alles im Leben“-Rhetorik wird allerdings in letzter Zeit zurückgedrängt von Empfehlungen, die sich pragmatisch an die wirtschaftlichen Gegebenheiten anpassen. „Ändere deine Sichtweise“, so heißt es jetzt, „und werde glücklich!“ Das klingt nach Gehirnwäsche, aber vielleicht hat ein auf funktionale Abläufe trainiertes Gehirn ja eine Wäsche nötig, um die wahren Werte im Leben wieder klar zu erkennen. Die Kunst des Glücklichseins zu erlernen ist nun einmal kein bescheidenes Ziel und verlangt wohl auch, über den eigenen Schatten zu springen. Ich springe also über meinen Schatten und nehme Kontakt zu einer Glückstrainerin auf. Im Verlauf meiner Recherchen bin ich auf das Angebot solcher „Glückstrainer“ gestoßen, die nach der Methode Ella Kensington arbeiten. Der Name ist ein
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ARTIKEL ICH: 66
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Pseudonym für den Deutschen Bodo Deletz, der sich mit esoterischen Bestsellern in einschlägigen Kreisen einen Namen gemacht hat. Die Glückstrainer halten gut besuchte Seminare in Spanien ab, aber sie bieten auch einzelne Trainingsstunden an. Eine Stunde kostet 80 Euro, man muss mit einer Doppelstunde beginnen. Es seien nicht unbedingt weitere Trainingsstunden erforderlich, weil das Wichtigste bereits in dieser einen Doppelstunde erlernt werden könne, beruhigt mich die Trainerin per Mail. Sie ist eine sympathische Frau um die Vierzig, die mir bei unserem Treffen gleich das Du anträgt. Auf meine Frage hin erfahre ich, dass sie früher NLP-Trainerin (NLP = Neuro-Linguistisches Programmieren) war und nun seit einem Jahr das Glückstraining nach Ella Kensington betreibt. Man stütze sich beim Glückstraining wie beim NLP auf die Erkenntnisse der Gehirnforschung, erklärt sie und fragt mich, ob ich ein Thema hätte, an dem ich arbeiten möchte. Mein Thema sei Glück, antworte ich wahrheitsgetreu. „Ich will ganz einfach glücklicher werden!“ Dann wird es spannend. Die Trainerin setzt mir einen Korb mit Bauklötzen vor, mit denen ansonsten kleine Kinder spielen. Ich soll mit den Klötzen die mir liebsten Menschen auf einen Tisch stellen, dann kommen die mir fast ebenso lieben Menschen, dann Freunde und Bekannte, dann erweitert sich der Kreis um zehn Arbeitskollegen und schließlich kommen noch fünf Menschen dazu, die ich überhaupt nicht mag. Ich gebe mir Mühe, meinen Personen die richtige Farbe, Form und Größe zuzuteilen, weil ich denke, dass es eine Bedeutung hat. Immer hat doch alles eine Bedeutung bei solchen Psycho-Spielen. Aber diesmal hat es keine Bedeutung, es geht einzig darum, fünfzig mir nahe stehende bzw. bekannte Personen vor mir auf dem Tisch zu versammeln und sie mir vorzustellen. Ich kann mir nicht fünfzig Personen zugleich vergegenwärtigen, das ist völlig unmöglich. Wenn meine Glückssuche scheitert, dann scheitert sie wohl bereits an diesem Punkt, denn die Trainerin betont, es sei wichtig, all diese Leute vor meinem inneren Auge zu sehen. Dann muss ich mir noch zwei große Tore vorstellen: Das linke ist das Tor zur Urwelt und das rechte führt in unsere heutige zivilisierte Welt. Die Trainerin bittet mich, durch das linke Tor in die Urwelt zu treten und mir die fünfzig Personen vorzu-
stellen, die mich mit den Worten: „Da bist du ja endlich!“ empfangen. Sie fragt mich, wie ich mich jetzt fühle, worauf ich antworte: „Gut, sehr gut!“, denn ich habe mir ja vor allem meine eigene Familie vorgestellt, die mich begrüßt. Der Häuptling, den ich mir erwählen musste, ist mein Vater, ich bin also die Tochter des Häuptlings und die Gefährtin meines Liebsten, unsere Kinder und Freunde sind ebenfalls da, und mit den fünf unsympathischen Leuten, die abseits an einem schon etwas dürftigen Feuer sitzen, werden wir bestimmt fertig. Ich fühle mich demnach gut aufgehoben in diesem Stamm, umgeben von Wildnis. Nun habe ich aber etwas falsch verstanden, denn der Ausruf „Da bist du ja endlich!“, hätte vorwurfsvoll klingen sollen. Mein Stamm begrüßt mich vorwurfsvoll, weil ich so lange ausgeblieben bin. Geht es mir jetzt noch immer gut? Ganz so gut vielleicht nicht mehr, aber schlecht geht es mir auch nicht. Das ist für das therapeutische Unterfangen jedoch nicht sehr nützlich, denn ich soll die existenziellen Ängste spüren, ich soll spüren, welche Bedrohung es bedeutet, von meinem eigenen Rudel ausgestoßen und in die Wildnis verbannt werden zu können. In dieses bedrohliche Gefühl muss ich mich immer wieder hineinbegeben, damit ich den Unterschied deutlich merke, wenn ich zwischendurch wieder durchs rechte Tor in die zivilisierte Welt eintrete. Den Thesen der Glückstrainer zufolge sind unsere Urinstinkte noch immer wirksam und hindern uns an einem entspannten, glücklichen Leben, indem sie in uns Ängste evozieren, die der zivilisierten Umwelt nicht mehr angepasst sind. „Was kann uns heutzutage schon passieren, wenn wir von unseren Familien oder Freunden verstoßen werden?“, fragt die Glückstrainerin. Die Lösung heißt: Dann suchen wir uns eben neue Menschen, die zu uns passen. Sie rechnet mir aus, dass es im deutschsprachigen Raum ungefähr 25.000 für mich in Frage kommende Partner gibt, sollte zum Beispiel die Beziehung zu meinem Mann in die Brüche gehen. Das wirkt auf mich überhaupt nicht beruhigend, aber ich unterlasse es, das kundzutun, die Glückstrainerin hat ohnedies schon herausgefunden, dass ich ein misstrauischer Mensch bin und mein vorrangiger Urinstinkt vermutlich die Angst ist, unterbuttert zu werden. Ein
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Machtproblem, das ich mir schenken kann. Ich brauche keine Angst zu haben, in der Hierarchie nach unten zu fallen, meint sie, weil es im Grunde gar keine Hierarchie gibt, jeder Mensch kann sich frei entscheiden, wie er leben will, und wenn ihm eine Bindung oder ein Arbeitsverhältnis nicht passt, kann er sich jederzeit daraus lösen. Ich verstehe: Fragen wie „Und wer zahlt dann meine Sozialversicherung?“ resultieren demnach ebenfalls aus diesen übertriebenen Urängsten, obwohl sich die Urmenschen solche Fragen bekanntlich nicht zu stellen brauchten. Ich bin der Meinung, dass man das Glück von grundlegenden Bedürfnissen nicht abtrennen kann, und dieser Meinung ist auch die Glückstrainerin, doch sie hält das soziale Netz für so stark, dass es auch bei einem drohenden Abstieg hält: „In unserer Gesellschaft stirbt niemand an Ausgrenzung!“, behauptet sie. Außerdem gehe es nicht darum, aus der Gesellschaft auszusteigen, sondern die mir gemäße Lebensweise herauszufinden. Sie gibt mir Tipps, wie ich die guten Gefühle noch verstärken kann: Die Tore bekommen Gitter, in denen die schlechten Gefühle und Ängste hängen bleiben. „Unser Gehirn ist so aufgebaut, dass gute Gefühle automatisch die schlechten blockieren. Wir können also tatsächlich etwas tun, um unsere schlechten Gefühle loszuwerden: … Es ist ganz einfach: Gib deinen Instinkten einen Grund, dir Belohnungsgefühle zu machen! Und den hast du jeden Tag tausendfach! All deine Grundmotive sind erfüllt. Du brauchst in deinem Alltag nur nach Bestätigungen dafür zu schauen“, lese ich später in einem Buch der Glückstrainer nach. Irgendwie kommt mir das alles bekannt vor. Die Thesen entsprechen der allgemein kursierenden „Happylogie“, die in zweckmäßig abgeänderten, manchmal vernünftigen, oft skurrilen, mitunter unverantwortlichen Ausprägungen die Runde macht, und deren Leitgedanke das positive Denken ist. Es liegt mir fern, dem positiven Denken das Positive abzusprechen, und womöglich hat der Trendforscher Matthias Horx ja Recht, wenn er behauptet, es sei noch nie so leicht gewesen wie heute, glücklich zu werden. Das ist immerhin erbauender als Freuds eher bescheidener Zugang zum Glück, der sich laut eigener Aussage darauf konzentrierte, neurotisches Elend in gemeines Elend umzuwandeln.
Ich glaube an die Macht der Gedanken, aber Aussagen der Glückstrainer wie: „Du erlebst, was du denkst“ oder „Du bist der Schöpfer deiner Realität“ verursachen mir ein leichtes Gruseln. In einem der Glückstrainer-Bücher flüstert solche Sätze ein höheres Wesen namens Ella einem NLP-Trainer ein, der in die Trance so locker hineingeht wie andere in einen Weinkeller. Ebenso locker weiß er gegenüber Ellas These seine anfänglichen Vorbehalte zu formulieren, die aber – wie könnte es auch anders sein – einer Energieblockade entspringen: „Ich war stinksauer, dass Ella mir einen derart bescheuerten Entwicklungsweg vorgeschlagen hatte.“ Na eben, aber da muss man wohl durch auf dem Weg zum Glück. Als ich zum wiederholten Mal ins Tor zur zivilisierten Welt schreiten soll, werde ich der Sache allmählich müde. Ich finde die Ansätze des Trainings ein bisschen dürftig und frage mich, ob die Angebote, die ich auf dem Weg zur Glückstrainerin in den Schaufenstern gesehen habe, eventuell attraktiver und aussagekräftiger gewesen wären: Antlitz-Analyse, Radix-Analyse, große Namensanalyse, Kombination Radix- und große Namensanalyse sowie Blütenberatung. Vielleicht sollte ich auch dem Förderverein für Engel beitreten, den ein Österreicher vor kurzem gegründet hat, in der Hoffnung, dass die Engel im Ausgleich dazu in einem Förderverein für Menschen unser aller Glück begünstigen. Ich wünschte, die Glückstrainerin hätte zur Verstärkung der Suggestion ein wenig Hokuspokus parat, etwa ein kreisendes Pendel oder ein paar Blütenblätter für mein ungläubiges Haupt. Aber sie gibt sich bis zum Schluss seriös und am Ende liegt es wieder einmal bei mir, ob ich bereit bin, der Lehre zu folgen, meine Energieblockaden zu lösen, meine negative Sichtweise zu ändern und meinem Glück nicht mehr im Weg zu stehen. In dem Ratgeber, den meine Trainerin mir empfiehlt, wird ein Buch aus der Ella-Kensington-Serie folgendermaßen angepriesen: „In diesem kleinen, aber feinen Büchlein sind die zehn effektivsten und schönsten Methoden zusammengestellt, mit denen man sich Glücksgefühle reinschrauben kann, bis einem schwarz vor Augen wird.“ Das Büchlein heißt: „Glücksgefühle bis zum Abwinken“.
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Ranking S.33 a LAUFTEXTFLÄCHE: 214.1 CM2 ABSCHNITTE: 3 ZEILEN: 50 WÖRTER: 342 ZEICHEN: 2051 LEERZEICHEN: 341
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Still Leben
Ernst Trawöger hat den Umschlag dieses Heftes und die folgende Bildstrecke (Seite 38–53) gestaltet. In seinen Arbeiten kehrt er das Blickverhältnis um: Nicht das Auge sucht und findet aktiv, das Gesehene blickt uns an. Von Thomas Trummer „In Zeitläufen, in denen die Natur dem Menschen übermächtig gegenübertritt, ist für’s Naturschöne kein Raum.“1 So klagte einst Theodor W. Adorno, dessen geheimnisvolle mittlere Initiale „Wiesengrund“ bedeutet. Wie zufällig trug Adorno schon im Namen einen Hinweis für eine besondere Sichtweise der Natur. Er meinte eine natürliche Welt, die sich dem Menschen nicht ausliefert, sondern als Grund darbietet. Was wir in den Fotografien von Ernst Trawöger vorfinden, ist ein Einfangen der Natur in diesem Sinne. Natürliches erscheint in seinen Aufnahmen nicht übermächtig und gefährlich, aber auch nicht untertan oder gefügig. Allgemein kann man sagen, dass jedes Bild, sofern es Ausschnitt, Rahmen und Geometrie ist, bereits eine Gefährdung für das Abgebildete darstellt. Jedes Bild hebt sich vom Grund ab. Es domestiziert und zwingt das Sichtbare unter seine Regeln. Nicht nur das Rechteck des Rahmens unterwirft, schon allein im Stillstehen büßt das Abgebildete Leben ein. Adorno sah deshalb in der Unbeweglichkeit des Bildes eine Gefahr, in der Starre die Ursache für mögliche Entfremdung des Menschen. Gerahmt dienen Bilder als Instrumente, sie werden Prüfinstanz,
Reflexionsmittel und Illustration. Solcherart tragen sie nicht zur Wahrnehmung bei, sondern wollen Erkenntnis und Ergebnis liefern. Es geht ihnen nicht um das Sosein des Natürlichen, sondern um einen bestimmten Zweck.
1 Theodor W(iesengrund) Adorno: Ästhetische Theorie. Frankfurt am Main 1970, S. 102.
Um dieses ästhetische Ziel, das keinen Zweck verfolgt, zu erringen und das Naturschöne von seinem
Bei Ernst Trawögers Fotos handelt es sich um Bilder ganz anderer Art. Es sind Bilder, die gegen das eigene Bildsein vorgehen. Sie verweigern Verwertung und Zurechtrückung, stattdessen bemühen sie sich um eine besondere Gegenwart. Am besten verständlich werden sie, wenn man sie nicht von ihrem Resultat her betrachtet, sondern von ihrer Entstehung. Ernst Trawögers Fotos vermitteln die Tätigkeit intensiven Schauens, weil sie sich aus Beobachtungen entwickeln. Das naturhafte Sujet wird dabei nicht aus seinem Kontext isoliert, bildhaft umfangen, eingeschweißt oder technologisch erschlossen. Vielmehr ist es Trawögers erkennbare Absicht, das Auge in der eigenen Aktivität erfahrbar zu machen. Es ist ihm ein Anliegen, dem Betrachter zu vermitteln, wie es sich um ein achtsames Vorgehen bemüht. Vorsicht, Herantasten und Empfindlichkeit scheinen die wichtigsten ästhetischen Vorgaben dieser Art der Naturschau.
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b Ranking S.33 LAUFTEXTFLÄCHE: 214.1 CM2 ABSCHNITTE: 3 ZEILEN: 50 WÖRTER: 342 ZEICHEN: 2051 LEERZEICHEN: 341 BUCHSTABE «O» O: 51
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Grund her zu zeigen, bedarf es einer Haltung jenseits der bildsuchenden Einstellung. Gefordert ist eine besonders zurückhaltende Kultur des Wahrnehmens, einem Erwarten, einem Zustand der Empfänglichkeit ähnlich. Dazu gehört vor allem die Befähigung, sich ansprechen zu lassen. Trawöger kehrt das Blickverhältnis um. Das Gesehene blickt uns an. Nicht das Auge sucht und findet aktiv, sondern die Aufmerksamkeit möge so offen gehalten sein, dass das Gesehene ihr entgegen tritt und sich so offen legt. Diese bedachtsame Weise der Annäherung wird in besonderer Qualität in den Pflanzenfotografien nachweisbar. Ein Gewächs streckt seine Verzweigungen zart und zerbrechlich dem Sehen entgegen. Es hebt sich hervor, bringt sich selbst zur Anschauung, so als könne es den fotografierenden Sucher auffordern, es zu finden. Eine solche Blickweise bedarf der Konzentration und der Schulung. Er habe viel vom Schauen selbst gelernt, sagt Trawöger, denn nur „wenn man genau und geübt beobachtet, sieht man die Dinge“2. Um diesen Umschlag des Wahrnehmens von aktivem Interesse zu passiv horchender Suche sichtbar zu machen, nutzt Trawöger das Mittel der Bildschärfe. Schärfe und Unschärfe der Fotografie geben die vorsichtige Annäherung des Auges wieder. Der Fokus der Kamera hält fest und vermittelt uns glaubhaft den Akt des Anschauens. Er kreist ein, indem er das Unbeachtete heraushebt und damit einen bestimmten Ort des Lebendigen fixiert, den Bio-Topos, der die eigentliche Kunst an diesen Werken ist.
2 Ernst Trawöger in einem Gespräch vom 19. April 2005.
Zwei Gruppen lassen sich unter diesen fotografischen Bildern unterscheiden. Die einen zeigen Verzweigungen, Verästelungen, pflanzliche Äderungen – also lebendige Natur im Dickicht. Die anderen blicken auf Steinformationen, suchen Blockhaftes, monumentale und skulpturale Formen – unlebendige Natur, jedoch in selber Nahaufnahme und Konzentration. Worin sich beide Genres ähnlich werden, ist der Versuch, das Momenthafte, Transitorische ins Bild zu bringen. Die Natur ist veränderlich und vergänglich, das wissen wir, aber auch der Blick, der sie wahrnimmt, ist von Kurzlebigkeit, Stimmung und Augenblicklichkeit geprägt. Trawöger legt besonderen Wert auf diese Bedingungen. Wahrnehmung ist für ihn Vollzug und Bildbetrachtung Zeugnis eines Geschehens. Am deutlichsten nachvollziehbar wird die Zeitlichkeit des Beobachtens an einer Fotoserie mit Vögeln. Sie bilden die dritte Gruppe. Diese Bilder zeigen höhere lebendige Natur, nämlich Tiere, und zwar solche, die mehr noch als die Menschen einen Blick von oben auf den Grund, den Wiesengrund, werfen können. So sehr sie in der Hierarchie des Lebendigen über Steinen und Pflanzen stehen, so erscheinen sie in den Bildern Trawögers aber im Zusammentreffen und in der Begegnung: Die rundlichen Singvögel sitzen wie kleine Tonskulpturen in den grafischen Verzweigungen des Geästes. Die Bilder, die dabei entstehen, wirken zufällig. Noch stärker als in den Dickichtaufnahmen des Bodens wird das Sujet von seinem Bildsein entkoppelt. Es wird weder zentriert noch platziert. Die Vögel befinden sich dort, wo sie der Blick einfängt, am Rande, zwischen den Linien, versteckt unter Zeilen, einsam und als Silhouette vor blankem Himmel. Zufälligkeit, Kontingenz und ephemerer
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b b Ranking S.33
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LAUFTEXTFLÄCHE: 214.1 CM2 ABSCHNITTE: 3 ZEILEN: 50 WÖRTER: 342 ZEICHEN: 2051 LEERZEICHEN: 341
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Ranking S.37 a LAUFTEXTFLÄCHE: 261.1 CM2 ABSCHNITTE: 3 ZEILEN: 63 WÖRTER: 438 ZEICHEN: 2685 LEERZEICHEN: 434
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9 ZEILEN: 177 WÖRTER: 1241 ZEICHEN: 7483 LEERZEICHEN: 1237 ABSCHNITTE:
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Moment sind abermals die Ursachen für diese Wirkung, in der nicht das Bild, sondern der Blick und das Sehen zum Thema werden. Um anzuzeigen, dass es sich hierbei um Forschungen handelt, in denen die Kunst zum Partner der Wissenschaft wird, vermehrt Trawöger seine Fotos um Zeichnungen. Die Natur ist erneut die Lehrmeisterin. Im Unterschied zu den Fotos sind diese Studien jedoch durchaus komponiert. Komposition bedeutet aber nicht unbedingt Nachahmung. Der legendäre Maler Zeuxis konnte in der Antike die Vögel noch täuschen, die an seinem Bild die Trauben pickten. Doch die Illusion ist Trawögers Sache nicht. Der Augentrug wäre nur die perfekte Kunst, die sich der Natur bemächtigt. Eher verhält es sich in seinen Bleistiftwerken umgekehrt, so als ob der Künstler das Unbekannte der Natur bewahren könnte, um das Bild, das aus ihr gemacht wird, zu irritieren. Das Bild täuscht sich an den Vögeln, nicht umgekehrt. Trawöger nennt diesen Vorgang „topologische Transformation“. Wie in einer seismografischen Bild-Bearbeitung wird das aus den Fotos Gefilterte in ein komprimiertes Schema übertragen. Trawöger reduziert und bereinigt, aber er bannt nicht. Er selbst bezeichnet diese Aufzeichnungen als „Strukturen“, mit Recht, denn er verwendet geometrische Motive, die – würde man sie nicht in Nachbarschaft zu den Naturfotografien sehen – man notgedrungen als Beitrag zur konstruktivistischen Bildforschung lesen würde. Tatsächlich aber sind es Untersuchungen zu visuellen Erscheinungen, welche aus der Naturbeobachtung stammen, aber auch physikalische Bestandsaufnah-
men. Manche Phänomene, die wiederkehren, machen den Eindruck, als hätten sie durch die Übersetzung in die Bleistiftzeichnung ihren Aggregatzustand gewechselt. Herausgegriffen werden überlappende Kreise, Geraden, Strichlagen, Raster und Punkte. Das, was diese Gruppe an Handzeichnungen so einprägsam macht, ist ihre sorgsame Anmutung und die Tatsache, dass sie die Poetik der fotografischen Naturbilder bewahren. Das 19. Jahrhundert liebte kleine Aquarellstudien von fliehenden Wolken. Es war die Bewunderung für das malerische Festhalten eines beweglichen Flecks am Himmel. Trawöger versucht Ähnliches, jedoch nicht um malerische Beherrschung, Handschrift und Höhenflüge zu zeigen, vielmehr um anzudeuten, dass die Bildwerdung, das Fassen von Erscheinungen der Natur, Bodenhaftung und Nähe nötig machen. Seine Zeichnungen greifen Motive auf, aber nicht in sie ein. Sie sind genauso achtsam wie die Beobachtungen, die ihnen vorausgehen. Zugleich sind sie deren Fortsetzungen und Fortschreibungen. Trawögers Strukturen erstarren nämlich nicht, sondern werden so vorgetragen, dass sie – wie die Fotografien, die ihnen beigestellt sind – durch ihre Bildwerdung nicht zur toten Natur (nature morte) herabkommen, dafür umso mehr stilles Leben darstellen, eben Stillleben im wörtlichen Sinne. Sie setzen eine Natur ins Bild, die nicht übermächtig dem Menschen gegenübertritt, aber sich auch nicht untertänig fügt, sondern greifbar wird in ihrer unantastbaren Eigenart, das heißt verständlich zum Erscheinen kommt als bescheidene Gegenwart und lebendiger Grund.
t,h;r;u;s;h;e:s are silent now .in silvery notqu -iteness dre(is)ams a the o f moon
e.e. cummings
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Zwischen den Texten
„Über Architektur schreiben bedeutet Transformation von Zeichen, welche durch die Architektur bereits vorgegeben sind.“ – Bernhard Kathan über Lois Welzenbachers Sudhaus und die Frage, wie man Architektur sehen kann.
„Über uns“, erklärte er, als der Wagen in wieder gemäßigtem Tempo durch die Brauereianlagen glitt, „befinden sich die Silos für Gerste und die Hopfenspeicher. Erstere fassen zwölf Millionen Tonnen und bedecken bei dreißig Meter Höhe ein Areal von rund siebenhundert Meter Länge und tausend Meter Breite. Dazu kommen noch eine Anzahl Silos, die als Reservoir für das Darrmalz, das in der Mälzerei hergestellte Zwischenprodukt, dienen, welches dann in der Brauerei weiterverarbeitet wird.“ Der Raum, in welchem sich die Besucher gerade befanden, war niedrig und daher, wenn auch nicht dunkel, so doch in ein gewisses Zwielicht gehüllt, obwohl auch hier Boden, Decke und Seitenwände mit der weißen Emaille bezogen waren. Über ihren Köpfen sahen die Besucher die Klappenverschlüsse der Silos, schier endlose Reihen, und auf Schienen rollte Wagen auf Wagen geräuschlos und selbsttätig, wie von unsichtbarer Hand gesteuert, einem bestimmten Ziele zu. Das nach Plänen des Architekten Lois Welzenbacher in den Jahren 1926 und 1931 auf dem AdambräuGelände errichtete Sudhaus zählt zu den bedeutendsten Industriebauten der Moderne in Tirol. Wenngleich lange zuvor in amerikanischen Schlachtbetrieben ähnliche Überlegungen verwirklicht worden waren, so war es doch ungewöhnlich, den Ablauf der Bierherstellung vertikal zu organisieren. In der oberen Hälfte des Gebäudes befanden sich Malzsilos und Wassertank, in der unteren die Einrichtungen für den eigentlichen Brauvorgang: Kupferkessel der Maischund Würzpfanne, Maisch- und Läuterbottich. Dieser Bereich war hinter einer großflächigen Eckverglasung zeichenhaft inszeniert. Mit der Stilllegung der Brauerei drohte dem Gebäude der Umbau in einen Büro-
turm. Schließlich gelang es doch, Welzenbachers Gebäude zu retten, mehr noch, als Zentrum der Tiroler Architektur zu revitalisieren. Dies ist umso bemerkenswerter, als dass das Gebäude selbst längst ausgeschlachtet war. Schreiben: „Es handelt sich darum, ein Material auf eine Oberfläche zu bringen (zum Beispiel Kreide auf eine schwarze Tafel), um Formen zu konstruieren (zum Beispiel Buchstaben). Also anscheinend um eine konstruktive Geste: Konstruktion = Verbindung unterschiedlicher Strukturen (zum Beispiel Kreide und Tafel), um eine neue Struktur zu formen (Buchstaben). Doch das ist ein Irrtum. Schreiben heißt nicht, Material auf eine Oberfläche zu bringen, sondern an einer Oberfläche zu kratzen, und das griechische Verb graphein beweist das.“ Die Bodenfläche war mit Wasser bedeckt und glich einem Teich von nicht unerheblichem Ausmaß, der durch die geringe Höhe des Raumes noch größer erschien als er war. Aus dem Wasser ragten in langen Reihen die Hälften kreisförmiger Scheiben, und ein aufmerksamer Beobachter konnte bemerken, daß sich dieselben in langsamer Rotation befanden. Als das Fahrzeug sich senkrecht über der Wasseroberfläche befand, wurden die Scheiben durch Wegfall der Spiegelung als Bestandteil eines Systems von Transportschnecken erkennbar, welche sich in der ganzen Länge durch das Becken zogen und in halbkreisförmigen Rinnen rotierten, aus denen der Boden dieses künstlichen Teiches bestand. Unschwer konnten auch die Besucher erkennen, daß diese Transportschnecken ein Material von körniger Beschaffenheit unter der Wasseroberfläche von einem Ende des Raumes nach dem anderen
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b Ranking S.55 LAUFTEXTFLÄCHE: 270.2 CM2 ABSCHNITTE: 4 ZEILEN: 67 WÖRTER: 469 ZEICHEN: 2837 LEERZEICHEN: 467 UNTERLÄNGEN F, G, J, P, Q: 128
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bewegten. „Das Weichbecken!“ bemerkte Mix erklärend. „Die Gerste wird hier im Wasser zum Quellen gebracht, also aufgeweicht, und zwar dauert es etwa drei Tage, bis sie an das andere Ende gelangt.“ Anlässlich der Eröffnung des „aut. Architektur und Tirol“ im Sudhaus sind eine Reihe sehr kluger Texte zur Revitalisierung des Gebäudes veröffentlicht worden. Sie behandeln die Geschichte des Hauses, haben formale und architektonische Lösungen zum Gegenstand. Würde man jemand, der weder das Bauwerk noch Abbildungen davon gesehen hat, einladen, ausgehend von solchen Texten das Gebäude zu zeichnen, das Ergebnis würde wohl wenig Ähnlichkeit mit dem Sudhaus aufweisen, und dies trotz vieler detailreicher Hinweise. Freilich würden Architekten darin wesentlich besser abschneiden als Laien. Ein Gebäude zu beschreiben, also mit den Mitteln der Sprache abzubilden, ist ähnlich schwierig wie die Beschreibung von Körperempfindungen. Bautechnische Details, die sich nennen lassen, erlauben letztlich nur eine rudimentäre Vorstellung zur Beschaffenheit des eigentlichen Bauwerks. Solche Vorstellungen lassen sich mit Hilfe der Fotografie besser vermitteln. Allerdings kennt auch die Fotografie ihre Unschärfen. Eindeutig überlegen ist die Fotografie jedem Text hinsichtlich des Erkennungswertes. Gebäude prägen sich durch ihre Abbildungen ein. Die Fotografie lässt keinen Zweifel, dass sich das Abbild einem bestimmten Standort verdankt, dass wir es mit Perspektiven zu tun haben, die häufig durch frühere Aufnahmen vorweggenommen sind. Fotografieren: „Ein erster Aspekt ist die Suche nach einem Standort, nach einer Position, von der aus die Situation zu betrachten ist. Einen zweiten Aspekt bildet die Manipulation der Situation, um sie dem gewählten Standort anzupassen. Der dritte Aspekt betrifft die kritische Distanz, die den Erfolg oder das Scheitern dieser Anpassung zu sehen gestattet. Ganz offensichtlich gibt es einen vierten Aspekt: die Betätigung des Auslösers.“
„In dem folgenden Raum, welchen wir sogleich passieren, wandert die Gerste durch gleiche, jedoch nicht mit Wasser gefüllte Rinnen und beginnt zu keimen. Die erforderliche Zeitdauer beträgt jedoch sieben bis neun Tage, und dementsprechend ist der zurückzulegende Weg größer, und die Anlagen ziehen sich durch zwei Stockwerke hin. Es sind die sogenannten Malztennen.“ Die einfachste Form der Beschreibung eines Gebäudes findet sich in seiner Begehung. In einem Sudhaus wird sich diese zwangsläufig am Herstellungsprozess des Bieres orientieren. So löst sich das Bauwerk erzähltechnisch in eine Abfolge unterschiedlichster Perspektiven und Funktionen auf. 1931, also in jenem Jahr, in dem Lois Welzenbachers Sudhaus fertig gestellt wurde, erschien im Wiener Amalthea Verlag Ri Tokkos technische Utopie Das Automatenzeitalter. Hinter dem Pseudonym Ri Tokko verbarg sich der technikbesessene Chemiker Ludwig Dexheimer, der unter den Autoren der frühen deutschsprachigen Science Fiction allein deshalb aus dem Rahmen fällt, da er sich mit Fragen und Möglichkeiten der Architektur beschäftigt. Ri Tokkos Roman spielt im Jahr 2500. Die Technik ist so weit entwickelt, dass menschliche Arbeit, abgesehen von Ehrenämtern weniger, überflüssig geworden ist. Ob Häuser, Produkte des alltäglichen Bedarfs, alles wird zentral und vollautomatisch produziert. Essen wird mit der Rohrpost ins Haus geliefert. In der „Zentralküche“, einer riesigen unterirdischen Fabrik, befindet sich auch eine Brauerei. Welzenbacher war wie Ri Tokko davon überzeugt, dass sich die Welt neu schreiben lässt, sei es mit Hilfe der Technik, Architektur oder Sprache. Ri Tokko – in seinem Roman finden sich viele technik- und industriegeschichtliche Exkurse – dachte sich allerdings das ganze gesellschaftliche Leben als ein einziges großes Sudhaus. Architekt und Schriftsteller, sie sind zwar Autoren, insbesondere dann, wenn sie sich wie Welzenbacher oder Ri Tokko von der Masse anderer abheben, gleichzeitig sind sie aber auch Medien ihrer Zeit.
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b b Ranking S.55 LAUFTEXTFLÄCHE: 270.2 CM2 ABSCHNITTE: 4 ZEILEN: 67 WÖRTER: 469 ZEICHEN: 2837 LEERZEICHEN: 467 UNTERLÄNGEN F, G, J, P, Q: 128 b Ranking S.57 LAUFTEXTFLÄCHE: 337.6 CM2 ABSCHNITTE: 5 ZEILEN: 81 WÖRTER: 560 ZEICHEN: 3418 LEERZEICHEN: 556 UNTERLÄNGEN F, G, J, P, Q: 189
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Werkzeuge des Schreibens: „Um schreiben zu können, benötigen wir – unter anderen die folgenden Faktoren: eine Oberfläche (Blatt, Papier), ein Werkzeug (Füllfeder), Zeichen (Buchstaben), eine Konvention (Bedeutung der Buchstaben), Regeln (Orthographie), ein System (Grammatik), ein durch das System der Sprache bezeichnetes System (semantische Kenntnis der Sprache), eine zu schreibende Botschaft (Ideen) und das Schreiben. Die Komplexität liegt nicht so sehr in der Vielzahl der unerläßlichen Faktoren als in deren Heterogenität. Die Füllfeder liegt auf einer anderen Wirklichkeitsebene als etwa die Grammatik, die Ideen oder das Motiv zum Schreiben.“ „Der eigentliche Brauereibetrieb“, erklärte Mix weiter, „beginnt mit dem Abtransport des Malzes aus dem Silo. Wieder werden trommelförmige Mühlen passiert, dann strömt das Mahlgut in einem Mischrohr, dem Maischrohr, wie man es unter Beibehaltung des alten Fachausdruckes nennen kann, mit fünfundsiebzig Grad heißem Wasser zusammen, durchfließt es im Laufe von zwei Stunden unter Beibehaltung dieser Temperatur und unter beständigem Rühren und verläßt die sich anschließende Filtertrommel als klare Maische. Diese gelangt in ein Kochrohr, der Würze- oder Braupfanne der alten periodischen Arbeitsweise entsprechend, in welchem sie zum Sieden gebracht und etwa ein bis zwei Stunden darin erhalten wird; dann wird der Hopfen in bemessenem, ununterbrochenen Strom zugeführt und eine weitere Stunde gekocht.“ Über Architektur schreiben bedeutet Transformation von Zeichen, welche durch die Architektur bereits vorgegeben sind, in eine Abfolge von Buchstaben, Wörtern und Sätzen. Welzenbachers Sudhaus ist selbst bereits Zeichen. Als Zeichen hebt es sich von seinem bebauten Umfeld wie von der Naturlandschaft ab. Die Außenflächen des Sudhauses bieten Lesarten für das, was im Inneren geschieht. Die großen Fenster dienen weniger dazu, Licht in das Innere des Sudraumes fallen zu lassen oder den Blick auf die umlie-
gende Landschaft freizugeben, sie sollen vor allem Passanten und Passagieren Einblick geben, wenngleich der Herstellungsvorgang selbst diskret bleibt. Von außen betrachtet erinnert der Blick in den Sudraum an schematische Abbildungen, die dazu dienen, die physiologischen Vorgänge im Inneren des menschlichen Körpers zu erklären. Es ist, als sei die Haut eines Körpers aufgeklappt, um einen Einblick auf die inneren Organe zu erlauben. Diese Metaphorik ist nicht abwegig, ist doch die Herstellung des Bieres durchaus mit der Verdauung in Beziehung zu setzen. Da wie dort wird zugeführt, fermentiert, filtriert und ausgeschieden. Und schließlich erinnern die blank polierten Sudkessel an überdimensionierte weibliche Brüste. Mögen die Lesarten letztlich auch indifferent bleiben, entscheidend ist, dass Passanten und Passagiere zum Lesen angehalten werden. Die Präsentation des Sudraumes stand in ihrer Exaktheit den Dioramen naturhistorischer Museen nahe, die ihre Wirkung dem Eindruck verdanken, Natur oder Wirklichkeit zu sehen, obwohl wir es mit Konstrukten zu tun haben. Wie Vitrinen und Dioramen kennt auch das Sudhaus eine Beschriftung. Sie könnte knapper nicht sein: ADAMBRÄU. Das Bezeichnende und das Bezeichnete fällt in eins. Deutlich wird, es geht nicht um die Erklärung des Herstellungsvorganges, sondern um das Produkt, die Marke und ihre Erkennbarkeit. Zweifellos hat Welzenbacher die Glasflächen dem Schaufenster des Kaufhauses entlehnt. Freilich dachte er nicht nur an Bier, sondern vor allem auch an sein Produkt. Er war wie andere Architekten bemüht, die von ihm geschaffenen Bauten mit Hilfe der Fotografie medial bestmöglich zur Geltung zu bringen. So verbrachte er nach der Fertigstellung des jeweiligen Gebäudes mit Fotografen einige Tage am Grundstück, um das Objekt umfassend zu dokumentieren. Im Interesse der Wirkung scheute er sich auch nicht, Fotos nachträglich zu bearbeiten. Die Macht der Wörter: „Ein ganzes Gesindel von Wörtern kann sich gegen mich erheben und gegen die Tasten der Maschine andrängen. Eine solche écritu-
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b b b Ranking S.55 LAUFTEXTFLÄCHE: 270.2 CM2 ABSCHNITTE: 4 ZEILEN: 67 WÖRTER: 469 ZEICHEN: 2837 LEERZEICHEN: 467 UNTERLÄNGEN F, G, J, P, Q: 128 b b Ranking S.57 LAUFTEXTFLÄCHE: 337.6 CM2 ABSCHNITTE: 5 ZEILEN: 81 WÖRTER: 560 ZEICHEN: 3418 LEERZEICHEN: 556 UNTERLÄNGEN F, G, J, P, Q: 189 b Ranking S.59 LAUFTEXTFLÄCHE: 337.6 CM2 ABSCHNITTE: 4 ZEILEN: 81 WÖRTER: 569 ZEICHEN: 3445 LEERZEICHEN: 565 UNTERLÄNGEN F, G, J, P, Q: 173
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re automatique, ein solcher ‚Bewußtseinsstrom‘ ist eine Verführung und eine abzuwehrende Gefahr. Es ist schön, in den Strom der Wörter einzutauchen, ihn von innen durch die Finger, über die Tasten der Maschine und gegen das Blatt Papier fließen zu lassen, um die ganze musikalische Schönheit der Wörter, ihren Reichtum an Konnotationen und die Weisheit der Generationen zu bewundern, die sie geprägt haben. Aber ich verliere mich in dem Strom, und die Virtualität, die darauf drängt, in die Maschine getippt zu werden, löst sich auf.“ Der Wagen der Seilbahn glitt durch ein sich bei der Annäherung automatisch öffnendes Tor in einen Raum von nicht übersehbarem Ausmaß, dessen ganze Bodenfläche fast mit gewaltigen Rohren von drei bis vier Meter Durchmesser bedeckt war. Stellenweise waren in diese bei einem Teil der Apparate Trommeln eingebaut. Mix wies mit einer Handbewegung auf diese Röhrensysteme und sagte: „Vierzehn parallele Anlagen bewältigen das Maischen und Würzekochen und bestehen aus je ebensoviel Maisch- und Kochrohren von hundert Meter Länge.“ Die Architektur in ihrer Zeichensprache steht nach wie vor der Handschrift nahe. Wie Fingerabdrücke behauptet die Handschrift die Einzigartigkeit der Person, mehr noch, sie verspricht, Ausdruck eines bestimmten Charakters, bestimmter Begabungen zu sein. Inneres wird buchstäblich nach außen gekehrt und lesbar. Bei der Schreibmaschine entspricht jeder Anschlag einem exakt festgelegten Zeichen. Auf der Schreibmaschine getippte Briefe gelten als unpersönlich. Keine Handschrift, charakterlos eben. Welzenbachers Sudhaus ist ein handschriftliches Zeichen, wenn auch aus Beton, Eisen und Glas geformt. In Ri Tokkos Automatenzeitalter stehen die Gebäude dem gedruckten Zeichen näher. Sie haben alles Handschriftliche abgestreift, werden sie doch in vorgegebene Formen gegossen. Es handelt sich um serielle Produkte, die nur noch auf Maschinen, aber auf keinen Autor oder Architekten verweisen.
Wie heutige Architekten dachte Welzenbacher seine Gebäude im Sinne möglicher Lektüren. Sein Sudhaus ist diesbezüglich ein beredtes Beispiel: Schriftzug, Schaufenster, Vitrine, Diorama – die weiße Kinoleinwand. Mögen die Benutzer eines Zuges, deren Blick auf das Sudhaus mit den Braupfannen fällt, auch in Bewegung sein, das Präsentierte ist unbeweglich, geradezu stabil. Mit Hilfe der Nanotechnik wird es womöglich bald Glasflächen geben, die sich dem menschlichen Auge je nach Lichteinfall anzupassen vermögen. Auch hier dachte Ri Tokko weiter als Welzenbacher. Ri Tokkos Architektur bringt selbständig neue Lesarten hervor. Ist das Essen beendet, verschwinden Tische und Stühle im Boden, der sich wiederum zu einer Couch formen kann, damit sich Liebende darauf räkeln. In der Grundposition sind alle Räume leer wie ein unbeschriebenes Blatt, ein wesentlicher Grund, warum die Wände bei Ri Tokko keine Unebenheiten kennen. Wie der Film sich einer Abfolge von Bildern verdankt, so produzieren die Räume ständig neue Bilder. Bei Ri Tokko wechseln die Menschen weniger zwischen unterschiedlichen Orten als ständig sich ändernden Texturen. Wahrnehmung und Verhalten der Menschen sind denn auch radikaler Ausdruck der Architektur und ihrer Technik. Formt sich die Wand zur Liege, dann soll sie auch benutzt werden. Was aber, wenn sich die Wunschmaschine irrt, die Liebenden sich an andere Orte wünschen? Die Schreibmaschine: „Ein verbreiteter Irrtum ist der Glaube, daß die Maschine die Freiheit der Geste ‚einschränkt‘. Man ist freier, wenn man tippt, als wenn man mit einem Füller schreibt: nicht nur weil man schneller und mit geringerer Anstrengung schreibt; sondern weil die Maschine besser als der Füller das Überschreiten der Regeln der Geste gestattet, und zwar genau deshalb, weil sie die Regeln augenfällig macht.“ Der subtile und überzeugende „Umbau“ des Sudhauses durch die Architekten Rainer Köberl, Thomas
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b b b b Ranking S.55 LAUFTEXTFLÄCHE: 270.2 CM2 ABSCHNITTE: 4 ZEILEN: 67 WÖRTER: 469 ZEICHEN: 2837 LEERZEICHEN: 467 UNTERLÄNGEN F, G, J, P, Q: 128 b b b Ranking S.57 LAUFTEXTFLÄCHE: 337.6 CM2 ABSCHNITTE: 5 ZEILEN: 81 WÖRTER: 560 ZEICHEN: 3418 LEERZEICHEN: 556 UNTERLÄNGEN F, G, J, P, Q: 189 b b Ranking S.59 LAUFTEXTFLÄCHE: 337.6 CM2 ABSCHNITTE: 4 ZEILEN: 81 WÖRTER: 569 ZEICHEN: 3445 LEERZEICHEN: 565 UNTERLÄNGEN F, G, J, P, Q: 173 b Ranking S.61 LAUFTEXTFLÄCHE: 332.4 CM2 ABSCHNITTE: 6 ZEILEN: 80 WÖRTER: 560 ZEICHEN: 3308 LEERZEICHEN: 554 UNTERLÄNGEN F, G, J, P, Q: 156
Ranking S.63 a LAUFTEXTFLÄCHE: 337.6 CM2 ABSCHNITTE: 5 ZEILEN: 81 WÖRTER: 551 ZEICHEN: 3415 LEERZEICHEN: 548
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Giner, Erich Wucherer und Andreas Pfeifer ist gleichermaßen Ergebnis der Lektüre wie der Zeichenproduktion. An die Sudkessel von einst erinnern heute nur noch große Kreise in der Bodenfläche – die ehemaligen Öffnungen wurden durch Holzbohlen verschlossen. Vermutlich ist es ein großes Glück, dass die Diskussion um den Erhalt des Sudhauses erst begann, als die Kessel bereits demontiert waren. Dies zwang, das Gebäude neu zu denken, und bewahrte es vor seiner Musealisierung. In einer Zeit, in der nur noch wenige Konzerne den Biermarkt kontrollieren, wäre es nicht abwegig gewesen, daraus ein Brauerei- oder Biermuseum zu machen. Zum Glück war dies nicht mehr möglich. Das teilweise demolierte Gebäude erlaubte Eingriffe in die bestehende Substanz, etwa Silos und Wasserbecken zu öffnen, um diese Behälter zu Räumen mit neuen Funktionen zu machen, wenn auch unter strikter Bezugnahme auf ursprüngliche Intentionen. Das Ergebnis ist auf eine architektonische Hermeneutik zurückzuführen, die nicht der Versuchung verfällt, das heutige Bauwerk mit dem Original gleichzusetzen. Das Ideal liegt nicht in einem „wiederhergestellten“ Original, sondern in einer Annäherung an dieses, und sei es mit Hilfe von Zeichen oder Metaphern. Das Sudhaus in seinem heutigen Zustand kennt zwar eine neue Nutzung, verweist aber in vielfältigster Weise auf seine ursprünglichen Funktionen; – dies auch in einem metaphorischen Sinn: Die ehemaligen Malzsilos dienen auch heute als Speicher. Überzeugenderweise sind die sich überlagernden Texturen für Rezipienten vielfach erkennbar und dechiffrierbar. Wenn Rainer Köberl und Erich Wucherer in einem Text zu den Umbauarbeiten „die sieben wichtigsten Entscheidungen“ nennen, dann machen sie deutlich, dass durchaus auch andere Lektüren denkbar gewesen wären: „Die vier großen runden Öffnungen wurden im Laufe des Planungsprozesses unterschiedlich geschlossen – komplett mit Gittern, Glas usw. – bis die Entscheidung fiel, einfach Holzbohlen zu verwenden, die auch fallweise entfernt werden können und das Provisorische der Bausituation veredelt nachstellen.“
Schreiben: „Die Geste des Schreibens gehorcht einer spezifischen Linearität. Dem abendländischen Programm entsprechend beginnt sie in der linken oberen Ecke einer Oberfläche; sie rückt bis zur rechten oberen Ecke vor; um auf die linke Seite zurückzukehren, springt sie genau unter die bereits geschriebene Linie und fährt fort, auf diese Weise vorzurücken und zu springen, bis sie die rechte untere Ecke der Oberfläche erreicht hat.“ „Wie man aber bei Trinkwasser die Abwesenheit von Eisenverbindungen fordert, um die Entwicklung von Algen zu verhindern, so ist bei unseren Kochanlagen vollkommene Sterilität aller verwendeten Materialien wie der damit in Berührung kommenden Luft Bedingung. Zudem gibt es Röhrenreinigungsapparate schon lange. Sie bestehen aus mehreren miteinander verbundenen Einzelteilen, Schabern, Messern und Bürsten, welche mittels Wasserdruck durch die Röhren hindurchgetrieben und gleichzeitig durch eine turbinenähnliche Vorrichtung in Rotation versetzt werden.“ Das Ergebnis des Umbaus ist ein Bedeutungswerk – zumal sich die Architekten ausgehend von vorgegebenen Texturen grundlegend mit deren Lektüre und Interpretation befasst haben. In einer landläufigen Vorstellung schafft der Architekt nicht allein einen Baukörper, sondern ein Bedeutungswerk. Bereits Juan Pablo Bonta, er verfasste eines der wenigen Standardwerke zur Interpretation von Architektur, weist dem Architekten diesbezüglich eine untergeordnete Rolle zu: „Sie schaffen zwar die Dinge, doch ist es der Interpret, der sie klassifiziert und deutet. […] Die Wirkung eines Gebäudes [hängt …] weniger vom Entwurf als von seiner Interpretation ab.“ Bedeutungen von Architektur verdanken sich ihren Rezipienten, vor allem jenen, die sie fotografisch in Szene setzen oder über sie schreiben. Texte von Architekturjournalisten sind in dem Sinn oft enttäuschend konservativ, als sie eine Narration
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b b b b b Ranking S.55
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LAUFTEXTFLÄCHE: 270.2 CM2 ABSCHNITTE: 4 ZEILEN: 67 WÖRTER: 469 ZEICHEN: 2837 LEERZEICHEN: 467
LAUFTEXTFLÄCHE:
28 ZEILEN: 464 WÖRTER: 3207 ZEICHEN: 19’626 LEERZEICHEN: 3184 ABSCHNITTE:
UNTERLÄNGEN F, G, J, P, Q: 128 b b b b Ranking S.57 LAUFTEXTFLÄCHE: 337.6 CM2 ABSCHNITTE: 5 ZEILEN: 81 WÖRTER: 560 ZEICHEN: 3418 LEERZEICHEN: 556 UNTERLÄNGEN F, G, J, P, Q: 189 b b b Ranking S.59 LAUFTEXTFLÄCHE: 337.6 CM2 ABSCHNITTE: 4 ZEILEN: 81 WÖRTER: 569 ZEICHEN: 3445 LEERZEICHEN: 565
UNTERLÄNGEN
UNTERLÄNGEN F, G, J, P, Q: 173
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b b Ranking S.61 LAUFTEXTFLÄCHE: 332.4 CM2 ABSCHNITTE: 6 ZEILEN: 80 WÖRTER: 560 ZEICHEN: 3308 LEERZEICHEN: 554 UNTERLÄNGEN F, G, J, P, Q: 156 b Ranking S.63 LAUFTEXTFLÄCHE: 337.6 CM2 ABSCHNITTE: 5 ZEILEN: 81 WÖRTER: 551 ZEICHEN: 3415 LEERZEICHEN: 548 UNTERLÄNGEN F, G, J, P, Q: 170
Ranking S.65 a LAUFTEXTFLÄCHE: 301.2 CM2 ABSCHNITTE: 4 ZEILEN: 74 WÖRTER: 498 ZEICHEN: 3203 LEERZEICHEN: 494
UNTERLÄNGEN F, G, J, P, Q: 163
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und Geschlossenheit behaupten, welche die Moderne und mit ihr die Architektur längst verworfen hat. Texte, die in unterschiedlichen Feuilletons zum selben Objekt geschrieben werden, wirken oft austauschbar. Tatsächlich ließen sich auch viele andere Perspektiven erschließen, etwa die von Nutzern, deren Erfahrungen im Widerspruch zu den Behauptungen der Architektur stehen können. Aber es wäre ungerecht, dies allein den Architekturjournalisten zum Vorwurf zu machen. Damit ein Text in der Neuen Zürcher Zeitung etc. abgedruckt wird, bedarf es eines Anlasses (etwa die Eröffnung des aut), eines medienrelevanten Projekts oder eines bedeutenden Architekten (etwa Welzenbacher). Persönliche Kontakte sind von Vorteil. Sind solche Kriterien nicht oder nur ungenügend gegeben, ist es in der Regel schwierig, einen Text unterzubringen, und dies selbst dann, wenn es sich um ein höchst interessantes Bauwerk oder Bauprojekt handelt. Es ist müßig, hier die Frage zu stellen, ob Architektur interpretiert werden soll oder nicht, Susan Sontag zu zitieren, die jede Hermeneutik verwirft und für eine „Erotik der Kunst“ plädiert. Schreiben ist immer ein Interpretationsvorgang, der bereits dort ansetzt, wo man Einzelnes festhält, anderes negiert oder wieder verwirft. Wichtiger erscheint mir, auf die ökonomischen Bedingungen des Schreibens zu verweisen. Ob Architektur oder Architekturjournalismus, da wie dort haben wir es mit Abhängigkeiten und spezifischen ökonomischen Bedingungen zu tun. Dies beginnt bereits dort, wo Architekturjournalisten auf Unterlagen, vor allem auf Bildmaterial angewiesen sind. Meist werden sie mit Material bedient, welches zu Werbezwecken aufbereitet wurde. Guter Architekturjournalismus lebt vom Begehen, Beschreiten, kennt Neugier und Fragen, scheut sich nicht, vorgegebene Behauptungen außer acht zu lassen. Er kann sich sogar programmatisch geben, die Welt also noch einmal erfinden, das Gebäude noch einmal bauen, selbst über Gebäude schreiben, die nie gebaut werden. Er mag sich Paul Scheerbarts Glas-
architektur, die geradezu programmatisch-leichtfüßig daherkommt, zum Vorbild nehmen. Ohne alle Hierarchisierung entwirft Scheerbart darin ein heiteres Paragraphenwerk künftigen architekturgeleiteten Lebens. Seine Neugier leitet ihn, nicht das, was Redaktionen von ihm erwarten. So kann er denn auch die Pyrotechnik getrost Pyrotechnikern, die Gartenbaukunst Gartenbaukünstlern überlassen. Scheerbarts Glasarchitektur erschien bereits 1914, liest sich aber heute noch erfrischend. Scheerbart war übrigens ein großer Biertrinker. Zweifellos hätte ihm Welzenbachers Sudhaus gefallen, hätte er es gekannt. Scheerbart starb leider bereits 1915, nicht zuletzt am Ekel an einer Welt, die sich der Technik einzig bediente, um Europa destruktiv zu beschriften. Geflüsterte Wörter: „Meine Arbeit beginnt erst nach meiner Entscheidung, geflüsterte Wörter in Form von Buchstaben der Schreibmaschine zu artikulieren. Zunächst muß ich die Wörter so ordnen, daß das erst nur verschwommen Gedachte zum Ausdruck kommt. Verschiedene Ordnungen zwingen sich auf. Die logische Ordnung: und ich überzeuge mich davon, daß das Auszudrückende sich dagegen wehrt, logisch geordnet zu werden. Man muß das Auszudrückende zurechtschneiden. Sodann ...“
Die Brauereizitate sind Ri Tokkos Das Automatenzeitalter (1931) entnommen. Das Buch wurde 2004 vom Shayol Verlag neu aufgelegt, ergänzt um jene Passagen, die in der Erstausgabe vom Lektor gestrichen wurden. Also auch eine Leerstellengeschichte. Die Zitate zu Schreiben und Fotografie finden sich in: Vilém Flusser, Gesten. Versuch einer Phänomenologie, Bollmann Verlag 1991. Beide Bücher empfehlen sich als Begleitlektüre für Architekturbegeisterte.
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Dorit Margreiter Originalbeilage Nr. 6
Wahrheitsgehalt
Ranking S.69 a LAUFTEXTFLÄCHE: 297.6 CM2 ABSCHNITTE: 5 ZEILEN: 73 WÖRTER: 506 ZEICHEN: 2878 LEERZEICHEN: 497
WORT «WISSEN» WISSEN: 2
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15 Fragen bis zur Million oder: Kennen Sie die Hauptstadt von Kiribati?
Hans Danner fuhr nach Köln und holte sich Geld. Jetzt gesteht er: „Ich war bei der Millionenshow!“ – Ein Reisebericht mit Rampenlicht. Frage eins: Wie viel Geld möchten Sie besitzen? In der Kalscheurenerstraße 89 im Kölner Vorort Hürth/Effern hängen im ersten Stock am Gang hinter großformatigen Wechselrahmen Kinderzeichnungen. Sie alle stellen das gleiche Motiv dar: einen Pfeilschwanzlöwen. Ich kann nicht mit Sicherheit sagen, ob dieses Tier wirklich existiert. Während mir die Geschichte dieser vermeintlichen Raubkatze erzählt wird, bin ich nicht ganz bei der Sache. Mein Gesprächspartner im Übrigen auch nicht. Ich kenne noch nicht einmal seinen Namen. Wenige Herzschläge später werden er und ich gemeinsam mit acht anderen Frauen und Männern abgeholt und ein Stockwerk tiefer ins Studio 7 gebracht, zum ehemaligen Gendarmen und Schifahrer Armin Assinger und zur Aufzeichnung der 348. Ausgabe der Quizsendung „Millionenshow“. Frage zwei: Wenn Sie in der Lage sein sollten, von Zinsen leben zu können: halten Sie sich deswegen nicht für einen Ausbeuter, weil Sie, obschon Sie von den Zinsen leben könnten, selber auch arbeiten? Zu diesem Zeitpunkt lag bereits einiges hinter mir, eineinhalb Tage war ich schon unterwegs: von Innsbruck mit dem Zug nach Wien, dort mit dem Taxi nach Schwechat, Abendessen am Flughafen, Übernachtung im Hotel, am nächsten Morgen Flug nach Düsseldorf, Bustransfer nach Köln, Check-In im Hotel vor Ort, Bustransfer zu den Studios der Produktionsfirma NOB, Briefing durch eine Mitarbeiterin des ORF, Jause, Briefing durch eine Mitarbeiterin von Endemol, Probe im Studio, Abendessen. Und da stand ich nun vor den Pfeilschwanzlöwen. Und wartete. Seit Armin Assinger Barbara Stöckl als Moderator der „Millionenshow“ abgelöst hat, entwickelte sich die Sendung zum Straßenfeger. Mehr als eine Million Menschen sitzen in Hochzeiten hierzulande je-
den Montag, Freitag und Samstag vor den Geräten und fiebern mit. Meine Mutter gehört auch dazu. Sie war es auch, die mich so lange gedrängt hat, bis ich es getan habe. Ja, ich habe es getan: Ich war bei der „Millionenshow“. Frage drei: Haben Sie schon gestohlen: a. Bargeld? b. Gegenstände (ein Taschenbuch am Kiosk, Blumen aus einem fremden Garten, Kugelschreiber, die umherliegen, Handtücher im Hotel usw.)? c. Eine Idee? Am Tag nach der Ausstrahlung der Sendung werden die Kandidaten, ihre Antworten (ihr Wissen oder Nichtwissen) in Kantinen, Trafiken und an Wirtshaustischen bewertet. Es geht darum, „was man selber gewusst“ hätte, was „doch ganz logisch gewesen“ sei, oder wo „man falsch geraten“ hätte. Eine Fernsehsendung als roter Faden für den Gesprächsstoff des Alltags. Das erinnert an frühere Rundfunkzeiten, FS1 und FS2: Montagmorgen, widerwillig nehme ich meine Volksschultasche auf den Rücken und trotte los. Schon von fern sehe ich meine Mitschüler im Schulhof in Gruppen zusammenstehen und diskutieren. Auch wenn ich nicht hören kann, was sie reden, weiß ich, worum es geht: „Wetten, dass …?“ mit Frank Elstner. Ich schleiche mich still vorbei. Ich habe am Samstag zuvor wieder einmal bei meinen Großeltern übernachtet und da war Sendeschluss um 20.15 Uhr, nach der ARD-Tagesschau, die wir nur aufgrund der geographischen Nähe zur deutschen Grenze via Antenne empfangen konnten. Heute stellt sich die Situation anders dar. In aufgeklärten Erwachsenenkreisen ist man oft sogar darauf bedacht, den abendlichen Fernsehkonsum zu verleugnen. Anlässlich meiner Teilnahme an der „Millionenshow“, hörte ich nach der Ausstrahlung der Sen-
Wahrheitsgehalt
b Ranking S.69 LAUFTEXTFLÄCHE: 297.6 CM2 ABSCHNITTE: 5 ZEILEN: 73 WÖRTER: 506 ZEICHEN: 2878 LEERZEICHEN: 497 WORT «WISSEN» WISSEN: 2
Ranking S.71 a LAUFTEXTFLÄCHE: 330.8 CM2 ABSCHNITTE: 6 ZEILEN: 81 WÖRTER: 584 ZEICHEN: 3278 LEERZEICHEN: 572
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dung oft Ausflüchte in der Art von „Ich schaue ja sonst nie, aber zufällig …“. Man will doch nicht zu denen gehören, die abends nichts Besseres zu tun haben, als fern zu sehen. Frage vier: Was kostet zur Zeit ein Pfund Butter? Nach der Beantwortung der insgesamt sieben telefonischen Fragen (darunter die Schätzfrage: Wie viele Kinder wurden im vergangenen Jahr in Österreich auf den Namen Katharina getauft?) will die angenehme, aber bestimmte Frauenstimme am anderen Ende der Leitung noch „mehr über mich erfahren“. Was ich für ein Mensch sei. Wie meine Freizeit so aussehe. Wie ich mein Äußeres einem Blinden beschreiben würde. Ich zögere. Was bin ich für ein Mensch? Und dann soll ich noch einen „Schwank aus meinem Leben“ erzählen, eine bemerkenswerte Begebenheit, „die das Fernsehpublikum interessieren könnte“. Und da ich nicht wage, wieder zu zögern, fabuliere ich einfach drauflos und variiere eine wüste Geschichte, bei der ich jedes Mal, wenn ich sie erzähle, nur ungläubig fragende Blicke ernte. „Haben Sie schon einmal mit einem Arzt darüber gesprochen?“ Die Ernsthaftigkeit der Frage bringt mich nun doch aus dem Konzept. Frage fünf: Möchten Sie eine reiche Frau? Spaß, Spannung und Schokolade. Die „Millionenshow“ funktioniert wie ein riesiges Überraschungsei, für jeden hat sie etwas parat. Die Fragen sind so verschieden, dass ein abgeschlossenes Universitätsstudium nicht unbedingt über jahrelange Sportnachmittagserfahrung zu stellen ist. Profanes Wissen jenseits des Bildungsolymps lässt Intellektuelle straucheln. Und irgendwie hat man dann doch ein schlechtes Gewissen, wenn man nicht weiß, dass Gwyneth Paltrows Tochter Apple heißt. Die Frage nach der Notwendigkeit oder Wichtigkeit von Bildung lässt sich auch angesichts der „Millionenshow“ nicht zwingend beantworten. Das ist wie mit der Pfeilschwanzlöwensache. Ganz Deutschland, sofern diese Formulierung überhaupt
zulässig ist, weiß um die Existenz oder Nichtexistenz des seltsamen Tiers, seit der Moderator Günther Jauch im Rahmen von „Wer wird Millionär?“, der deutschen Ausgabe der „Millionenshow“, danach gefragt hat. Und ganz Österreich kennt inzwischen den bürgerlichen Namen von Tony Curtis. Aber wem nützt das? Es ist nun einmal eher nicht wichtig zu wissen, wer bei den olympischen Winterspielen in Innsbruck 1976 im Abfahrtsrennen der Herren den dritten Rang belegt hat. Es sei denn, man sitzt in Studio 7, steht bei einer Gewinnsumme von 150.000 Euro und Armin Assinger fragt danach. Frage sechs: Haben Sie einmal eine Banknote mit dem Porträt eines großen Dichters oder eines großen Feldherrn, dessen Würde von Hand zu Hand geht, angezündet mit einem Feuerzeug und sich angesichts der Asche gefragt, wo jetzt der verbürgte Wert bleibt? Ich muss ein wenig lächeln, als ich auf der Hinfahrt am Wiener Westbahnhof von einem Taxler abgeholt werde, der ein Schild mit meinem Namen in die kühle Februarluft hält. „Liegt in Innsbruck mehr Schnee als hier?“ Ich antworte knapp, und auch die restliche Fahrt durch die Nacht verläuft von meiner Seite aus einsilbig, mir ist nicht nach Reden zumute nach fünfeinhalb Zugstunden im stickigen Abteil. „Is eh ein gutes Hotel …“ meint mein Chauffeur gerade, als die Dunkelheit von einem gleißenden Lichtermeer zerrissen wird: das OMV-Gelände. Ich staune, wie eindrucksvoll der nächtliche Blick auf ein stinkendes Industriegebiet sein kann, und denke mir eine Quizfrage zur Erdölverarbeitung aus. Frage sieben: Fürchten Sie sich vor den Armen? Der Taxler hat nicht zu viel versprochen. Vom Dreimannzelt in die Businesslounge: Eigentlich bin ich es gewohnt, auf Campingplätzen oder in Jugendherbergen zu übernachten. Mein schäbiger Mantel spiegelt sich im roten Glas der Wandverkleidung. „Die zwei neben mir an der zehn Meter langen Rezeption … Könnten die nicht auch?“ Woran erkennt man einen Kandidaten? Unsicher nehme ich die Keycard für
Wahrheitsgehalt
b b Ranking S.69 LAUFTEXTFLÄCHE: 297.6 CM2 ABSCHNITTE: 5 ZEILEN: 73 WÖRTER: 506 ZEICHEN: 2878 LEERZEICHEN: 497 WORT «WISSEN» WISSEN: 2 b Ranking S.71 LAUFTEXTFLÄCHE: 330.8 CM2 ABSCHNITTE: 6 ZEILEN: 81 WÖRTER: 584 ZEICHEN: 3278 LEERZEICHEN: 572 WORT «WISSEN» WISSEN: 3
Ranking S.73 LAUFTEXTFLÄCHE: 336 CM2 ABSCHNITTE: 7 ZEILEN: 82 WÖRTER: 591 ZEICHEN: 3230 LEERZEICHEN: 580
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das Hotelzimmer entgegen, bedanke mich und werfe den beiden, die jetzt ihrerseits mit der Rezeptionistin sprechen, auf dem Weg zum Lift noch einen letzten Blick zu. Lost in translation. Die Zimmertür fällt hinter mir ins Schloss. „Was machst du eigentlich hier?“, frage ich mich laut von außen und trotz der guten Matratze liege ich noch lange wach. Frage acht: Warum nicht? „Hallo erst mal. Ich bin Murat und darf Sie im Namen von Endemol hier in Düsseldorf sehr herzlich willkommen heißen. Ich habe hier eine Liste mit Ihren Namen, die werde ich jetzt vorlesen …“ Zugig ist es am Vorplatz des Flughafens Düsseldorf International, Nieselregen. Die Anzeigetafel in der Halle ist voll gefüllt mit Destinationen, die Sonne und Sand versprechen. Ich tauche kurz ab in einen Tagtraum. „War ich schon dran …?!“ Hin und wieder Gelächter in der Gruppe, wenn Österreichisches falsch ausgesprochen wird: „Frau Musiel?“ So heißen also meine Mitstreiter. Im Bus auf dem Weg ins Hotel erläutert Heiko, unser Fahrer, sehr routiniert die Unterschiede zwischen Düsseldorf und Köln: „Altbier gehört, wie der Name schon sagt, auf den Sondermüll!“ Viele lachen, manche hören Musik oder dösen. Der Student in der Reihe neben mir schmökert in einem kleinen roten Büchlein, einem Wissenskompendium, wie mir ein nicht ganz unauffälliger Blick eröffnet. Im Übrigen wird kaum gelesen, vielleicht will man sich nicht verraten durch seine Lektüre. Ich schaue durchs Busfenster, auf dem der Regen seine Gesichter malt, ins Grau des späten Vormittags. Da, irgendwo hinter den Autobahnwällen, muss das Filmgelände der „Lindenstraße“ liegen. Heiko zeigt uns, wo die Stars wohnen. Die Kneipe der Hella von Sinnen, die Metzgerei der Eltern von Stefan Raab. Frage neun: Kennen Sie ein freies Land, wo die Reichen nicht in der Minderheit sind, und wie erklären Sie sich, dass die Mehrheit in solchen Ländern glaubt, sie sei an der Macht?
Eine Frau an einer Supermarkt-Kasse braucht rund 800 Jahre, um das Jahreseinkommen des Leiters der Deutschen Bank zu erarbeiten, ein Sozialhilfeempfänger muss dafür rund 1400 Jahre Sozialhilfe beziehen. „Das hier ist die einzige Chance in meinem Leben, reich zu werden“, wird die spätere Millionengewinnerin Elfriede Awadalla im Zuge der Show erklären. Für eine Million Euro, soviel verdient Herr Ackermann ungefähr im Monat, lassen sich in Anlehnung an das Supermarktprospekt, das neben mir am Küchentisch liegt, 1.449.275 Liter Milch kaufen. Oder 3.875.969 Kilogramm speckige Kartoffeln. Frage zehn: Was tun Sie für Geld nicht? Studio 7 ist nicht so geräumig, wie es uns das Fernsehbild glauben macht. Die Stühle abgewetzt, die High-Tech-Monitore aus gebürstetem Aluminium in Wahrheit nur Bildschirme hinter einer Plastikverkleidung. Bei der Probe am Nachmittag geht der „Einheizer“, ein Mann um die vierzig mit gelb-schwarzgestreiften Hosen, mit uns noch einmal den Ablauf der Sendung durch, schärft uns die Kamerapositionen ein und ermuntert zu einem Lächeln. „Dies hier ist nicht Ihre Hinrichtung!“ Am Ende wird eine Auswahlaufgabe gestellt, jeder darf mitmachen und die Spielkonsole ausprobieren. „Ordnen Sie folgende Währungen den jeweiligen Ländern zu …“ Ein Kandidat schafft das in 3,2 Sekunden. Nachher im Stiegenhaus erklärt er seine ungeheuerliche Geschwindigkeit mit einer Kopie der Originalkonsole, die er zu Trainingszwecken selbst entwickelt und gebaut hat. Er zieht das Ding aus der Tasche und wird sogleich von den anderen Kandidaten umringt. Frage elf: Was missfällt Ihnen an einem Neureichen? a. dass er ohne Heraldik auskommt? b. dass er vom Geld spricht? c. dass er nicht von Ihnen abhängig ist? Das verspätete Mittagessen wird zum Stehimbiss am Gang, es ist nicht genug Platz für alle im Aufenthaltsraum. Ich bin trotzdem hungrig, und als Herr Assinger kurz darauf durch den Gang huscht, sehe
Wahrheitsgehalt
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LAUFTEXTFLÄCHE: 297.6 CM2 ABSCHNITTE: 5 ZEILEN: 73 WÖRTER: 506 ZEICHEN: 2878 LEERZEICHEN: 497
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WORT «WISSEN» WISSEN: 2 b b Ranking S.71 LAUFTEXTFLÄCHE: 330.8 CM2 ABSCHNITTE: 6 ZEILEN: 81 WÖRTER: 584 ZEICHEN: 3278 LEERZEICHEN: 572 WORT «WISSEN» WISSEN: 3 b Ranking S.73 LAUFTEXTFLÄCHE: 336 CM2 ABSCHNITTE: 7 ZEILEN: 82 WÖRTER: 591 ZEICHEN: 3230 LEERZEICHEN: 580
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Ranking S.75 LAUFTEXTFLÄCHE: 315.2 CM2 ABSCHNITTE: 8 ZEILEN: 78 WÖRTER: 549 ZEICHEN: 3043 LEERZEICHEN: 538
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ich ihn nur von hinten. Ich nehme einen Schluck Orangensaft und lasse mir das Gespräch, dessen Zeuge ich vor der Generalprobe in der Garderobe war, noch einmal durch den Kopf gehen. „Hauptstädte kenne ich alle, die habe ich gelernt …“ „Und die Hauptstadt von Kiribati?“ „Ist Vaiaku!“ „Nein, Bairiki!“ „Oder Tuarabu?“ So oder umgekehrt war das. Und ich bin daneben gestanden. Inzwischen kenne ich die richtige Antwort und weiß noch viel mehr. Dass die Hauptstadt von Kiritimati London heißt, zum Beispiel. Frage zwölf: Haben Sie schon ohne Bargeld leben müssen? Nach dem Essen bringe ich das schmutzige Geschirr zurück und schlendere unschlüssig durch den Gang, bis ich vor einer Anzahl von Kinderzeichnungen stehen bleibe. Pfeilschwanzlöwen, genau. Der Einlauf ins Studio erinnert dann auch an antike Vorbilder, der Weg führt unter den Tribünen vorbei, Klatschen und Gejohle der vom Einheizer präparierten Zuschauer inklusive. Morituri te salutant. Und dann wird alles plötzlich ganz unspektakulär. Armin Assinger begrüßt die Kandidaten, stellt die erste Auswahlaufgabe und mit kaum vier Sekunden ist der Konsolenbastler wirklich am schnellsten mit seiner Antwort. Frage dreizehn: Wissen Sie in der Regel, was Sie hoffen? Ich bin dann später auch noch „in die Mitte“ gekommen, viel langsamer, freilich. Dort war ich überrascht, wie schnell aus der großen Aufregung ein Spiel werden kann, bei dem der Geldbetrag, der zur Debatte steht, in den Hintergrund tritt. Das war es dann. Und schon saß ich wieder hinter der Bühne auf dem Sofa und sah mir die Aufzeichnung der nächsten Show im Fernsehen an. Im Bus zwischen Studio und Hotel war die Stimmung gelöst, Elfriede Awadalla hatte in der Show nach mir die Millionenfrage richtig beantwortet. Ich ließ die
feiernde Menge an der Hotelbar zurück und versuchte mich noch einmal am nächtlichen Köln. Das Türkis der Kölnisch-Wasser-Reklame in den schwarzen Pfützen; nach vier Kölsch fiel ich müde ins Bett. Frage vierzehn: Sind sie ein Sparer? Am nächsten Morgen, am Flughafen Schwechat, gab es Probleme mit der ORF-Taxireservierung, ein Wagen fehlte, und so fuhr ich gemeinsam mit einem anderen Kandidaten zurück in die Stadt. Unglücklich über sein Abschneiden bei der Show, führte er mehrere Telefongespräche, in denen er ein geplantes Fest absagte und sich schließlich lautstark über eine der siegreichen Kandidatinnen beschwerte, die nichts gewusst und ihm seinen Platz weggenommen hätte und außerdem … Und dann, nach einem Blick auf mich, hielt er inne. Die Situation erinnerte mich unwillkürlich an eine Episode aus der amerikanischen Fernsehserie „Friends“. Der angehende TV-Star Joey bereitet sich auf die Verleihung eines Fernsehpreises vor: Vor dem Spiegel übt er überraschte Blicke und sucht nach dem richtigen Ausdruck für seine Dankesrede. Rachel, die inzwischen unbemerkt den Raum betreten hat, weist ihn nach einem kurzen Moment der Peinlichkeit darauf hin, dass er sich auch für den Fall einer möglichen Niederlage etwas überlegen müsse. Widerwillig probiert Joey zurückhaltend gönnerhaftes Klatschen. Bei der tatsächlichen Verleihung bekommt den Preis jemand anderer, Joey wird ausfällig, beschimpft den Ausgezeichneten und merkt zu spät, dass die Kamera auf ihn gerichtet ist. Als er endlich seine eingeübte Pose einnimmt, ist bereits alles vorbei. Inzwischen hatte sich mein Mitreisender wieder in der Hand: „Ist ja wahr, oder?“ Frage fünfzehn: Was fehlt Ihnen zum Glück? Während ich mir die drei Tage „Millionenshow“ ins Gedächtnis rufe, blättere ich in Max Frischs zweitem Tagebuch und ordne anhand seiner Fragebögen mein Leben.
Gutachten
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Hier die Fortsetzung der Serie „Gutachten“: In dieser Rubrik werden Vertreter verschiedener Berufsgruppen eingeladen, auf einer einzigen Heftseite kompakte Bestimmungen einer zeittypischen Erscheinung zu entwerfen.
Diesmal: Einfriedung
Zeittypische Erscheinung: Abgrenzung Reizwörter: Schnittstelle, Flexibilität, Außengrenze, Container, Puritanismus, Leistungslimit, Altersgrenze, Ich-AG, Naturgewalt Aufgabenstellung: 1 Quartseite ist die Ihnen zur Verfügung stehende Fläche. Schaffen Sie eine Einfriedung! Fünf Beiträge von Rolf Glittenberg (Bühnenbildner), Maria E. Brunner (Schriftstellerin), Anton Würth (Bildender Künstler), Architekten Moser Kleon und freilich landschaftsarchitektur.
Gutachten
Rolf Glittenberg 78/79
Gutachten
Maria E. Brunner 80/81
Einfrieden von althochdeutsch gifridon hieß einen Streit beilegen – damals meist zwischen dem König und seinen potentiellen, oft zahlreichen Widersachern. Später hieß es dann Sachen oder gar Zustände in Schutz und Schirm nehmen. Neuhochdeutsch bedeutete es sogar, Aufruhr stillen und richten, wo es nötig schien. Früher haben allerdings die Bergbauern, als es wohl im Gebirge immer schlechtere Ernten gab, als der Zehnte wuchs und die Abgabenlasten stiegen, angefangen einzufrieden – was man heute noch allenthalben beobachten kann, am besten dort, wo die Felder in seltsamen Quadraten und Rechtecken mitten in die Wälder hineinreichen. Da hat man den Wald einfach gerodet und seinen kargen Boden in Besitz genommen als Weideund Ackerland. Doch es brauchte Schutz durch Zäune oder Sträucher und Hecken, die das neue Feld einfriedeten. Gern hat in dieser finsteren Zeit auch mancher Klausner in gewissen Abständen von den Dörfern in Wäldern Einsiedlungen sich zubereitet und eingefriedet, darin er sicher und ruhig ein Jahr zu wohnen gedachte. Davon ist uns heute wohl nur mehr die Unart geblieben, unsere Schrebergärten und Gartengrundstücke mit meterhohen Hecken zu umgeben, damit kein fremder Blick eindringen möge in den letzten Rest von Privatleben, der uns geblieben ist an den Wochenenden. Bis wir endlich die letzte maßgebliche Einfriedung unseres Daseins, die Altersgrenze erreicht haben. Da können wir dann die winterharte Einfriedung, diesen neuen Wald, unsere Gartenhecke, selber schneiden und in unserem grünen eingefriedeten Hain darauf achten, dass die Hecke immer dichter wachsen möge, damit kein störendes Detail von der Straße mehr unseren Blickradius stört und von außen her besehen nur mehr immergrüne Einfriedungen die Gehwege säumen. Manchmal unterbrochen von bombastischen Klingelanlagen, an denen die neuen Bürger, herkommend aus den Gegenden jenseits der EU-Außengrenze, klingeln. Denen aber ein gut abgerichteter Wachhund nur ungern Einlass gewähren würde. So gleichen wir nun doch wieder den Einsiedlern und Klausnern vergangener Jahrhunderte, die als Waldbrüder ein bescheidenes Leben im Geiste fristen wollten, dankbar nur für die grüne Einsamkeit rundherum. In unserer eingeborenen Altheit ähneln wir jenen klassischen Greisen, die ihre blühende Jugend eingetauscht haben gegen ein eingefriedetes Einsiedlerleben. Ob nun der Mensch von Natur aus ein einsiedlerisches oder geselliges Wesen sei, bleibt für immer dahingestellt. Der Staat ist eben auch eine Art von organisierter Einfriedung. Er ist eine Gemeinschaft gleichberechtigter Bürger zum Zweck der Ermöglichung der besten Lebensführung. Der soziale Friede ist jede Anstrengung wert. Der Staat ist eine kluge Veranstaltung zum Schutze der Individuen gegeneinander. Der Staat ist immer – welche auch seine Verfassung sei, ob primitiv, mittelalterlich oder modern – die Einladung, die eine Gruppe von Menschen an andere menschliche Gruppen zur gemeinsamen Ausführung eines Unternehmens ergehen lässt. Dieses Unternehmen besteht letzten Endes (wie immer seine Zwischenstufen auch sein mögen) darin, eine gewisse Art des Gemeinschaftslebens durch Einfriedung – hier Synonym für Trennung – zu schaffen. Die verschiedenen Staatsformen entstehen aus den verschiedenen Arten, nach denen eine Unternehmensgruppe die Zusammenarbeit mit den anderen einrichten möchte oder nicht – eben indem man sich total einfriedet. Wusste es doch schon Lessing, dass es trotz aller Ringparabeln und Toleranzdebatten auf dieser Welt Einfriedungen dringend braucht. In den Gesprächen für Freimaurer fragt sich Falk, inwieweit ein Staat sich ohne Verschiedenheit von Ständen denken lässt? „Er sei gut oder schlecht, der Vollkommenheit mehr oder weniger nahe: unmöglich können alle Glieder desselben unter sich das nämliche Verhältnis haben. Wenn sie auch alle an der Gesetzgebung Anteil haben: so können sie doch nicht gleichen Anteil haben, wenigstens nicht gleich unmittelbaren Anteil. Es wird also vornehmere und geringere Glieder geben. Wenn anfangs auch alle Besitzungen des Staats unter sie gleich verteilt wurden, so kann diese gleiche Verteilung doch keine zwei Menschenalter bestehen. Einer wird sein Eigentum besser zu nutzen wissen als der andere. Einer wird sein schlechter genutztes Eigentum gleichwohl unter mehrere Nachkommen zu verteilen haben als der andere. Es wird also reichere und ärmere Glieder geben. Wieviel Übel es in der Welt wohl gibt, das nicht in dieser Verschiedenheit der Stände seinen Grund hat (…)“ Worauf Ernst, Falks Widerpart in dieser Debatte, den bedeutungsschwangeren Satz spricht, „die Menschen sind nur durch Trennung zu vereinigen! Nur durch unaufhörliche Trennung in Vereinigung zu erhalten!“
Gutachten
Anton Würth 82/83
Gutachten
Architekten Moser Kleon 84/85
Gutachten
freilich landschaftsarchitektur 86/87
Spitzensache
Ranking S.89 a LAUFTEXTFLÄCHE: 236.8 CM2 ABSCHNITTE: 7 ZEILEN: 58 WÖRTER: 392 ZEICHEN: 2232 LEERZEICHEN: 374
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Freischwimmen in Graun
Den Reschensee erkennt man an der Kirchturmspitze, die aus dem Wasser ragt. Ulrich Ladurner erzählt die Geschichte eines Kalenderblattbildes, das es wirklich gibt. Graun ist 1950 untergegangen. Das Wasser stieg und stieg planmäßig, bis das gesamte Dorf in dem neuen Stausee verschwunden war. Nur der Kirchturm ragte noch aus dem Wasser hervor. Jeder, der je über den Reschenpass gefahren ist, kennt diesen Turm. Er ist eine touristische Attraktion, kein Bildband über das Vinschgau kommt ohne ihn aus. Der Stausee, der Kirchturm und im Hintergrund das Ortlermassiv. Ein bizarrer Anblick, der in Form von Postkarten schon zehntausende Male verschickt worden ist. Das versunkene Dorf ist eine weltweite Berühmtheit.
verhoffte Sehenswürdigkeit, mit der ordentlich gewuchert wird; für das neue Dorf Graun ist die Stauung das Identität stiftende Merkmal.
Die Umstände seines Untergangs sind bekannt. Warum und wie Graun geflutet wurde, dass die Bevölkerung sich dagegen bis zum Schluss wehrte, dass der Stromkonzern Montecatini keine Rücksicht nahm, dass er nicht einmal die vertriebenen Bewohner angemessen entschädigte. All dies ist bis ins Detail beschrieben, beklagt und beweint worden.
Die Sonne scheint übers Tal. Ein Bauer spaziert übers Feld ein letztes Mal. Am Dorfbrunnen ist es still weil kein Kind mehr spielen will. Die Menschen müssen verlassen Hof und Haus und sollen in die fremde Welt hinaus. Sie verstehen die Welt nicht mehr dort wo ihre Heimat ist, soll ein Stausee her. Traurig blicken sie zurück langsam versinkt ihr Dorf Stück für Stück. Nur eines blieb bestehen der Kirchturm ist heute noch zu sehen.
Bis heute wird die Erinnerung an die Seestauung mit großem Aufwand am Leben erhalten. Alle sind daran beteiligt. Politiker, Priester, Journalisten, Künstler, Werbefachleute, Lehrer, Schüler – sie alle haben im Laufe der Jahre in der einen oder anderen Weise ihren Teil dazu beigetragen, dass die „Katastrophe“ nicht vergessen wird. Jeder hat etwas davon, jeder nimmt sich daraus, was er braucht. Für Südtirol ist die Seestauung eine von vielen Geschichten, in denen die schuldlosen Südtiroler Opfer einer fremden, größeren, gnadenlosen Macht werden; für Tirolbewerber ist der Grauner Kirchturm eine un-
Im Jahr 2000 veranstaltete die Grundschule Graun zur fünfzigsten Wiederkehr des Untergangs allerlei Initiativen, unter anderem wurde ein Theaterstück aufgeführt und ein Gedichtwettbewerb abgehalten. Die Schülerin Tamara schrieb: Das versunkene Dorf
Wenn sich schon Schulaufsätze damit befassen, warum soll hier noch einmal eine Geschichte über Graun erzählt werden? Das ist eine durchaus berechtigte Frage. Südtirol gehört gewiss zu den besterschlossenen Berggegenden der Welt. Kein Gipfel, der nicht bestiegen worden ist, kein Tal, das nicht beschrieben ist, keine
Spitzensache
b Ranking S.89 LAUFTEXTFLÄCHE: 236.8 CM2 ABSCHNITTE: 7 ZEILEN: 58 WÖRTER: 392 ZEICHEN: 2232 LEERZEICHEN: 374 BUCHSTABE «W» W: 41
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BUCHSTABE «A» A: 107
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Bergwand, kein Wasserfall, kein Acker und keine Wiese, die nicht Erwähnung finden. In unzähligen Büchern beschreibt sich Südtirol permanent selbst, in den Buchhandlungen stöhnen die Regale unter dem Gewicht der Tirolensien. Alles ist besetzt durch die Selbstdarstellungswut des Landes, alles eingenommen von dem Willen, noch jedem Stein eine Sehenswürdigkeit abzupressen. Und so ist es auch mit Graun und seinem Kirchturm. Dagegen ist nichts einzuwenden, denn kann es Schöneres geben als ein Land, das sich dauernd selber neu erzählt und auch im kleinsten Detail noch etwas Einmaliges finden will, um sich seiner Existenz zu vergewissern? Kann es Ehrenvolleres geben, als Menschen, die ihre Ahnen ehren und vor dem Gewesenen sich in Respekt verneigen? Gewiss nicht. Aber es bleibt die Frage nach der Freiheit, die Landschaft wahrzunehmen wie er es möchte, sie nicht verstellt vorzufinden durch einen Hinweisschilderwald. Es bleibt der allzumenschliche Wunsch, die Oberfläche zu genießen – und nichts weiter. Für Graun hieße das: Man möchte gerne am Ufer eine Pause einlegen und den Turm betrachten, ohne gleich die schweren Worte ins Ohr geflüstert zu bekommen: „… solange hast du deine Heimat nicht gesehen, noch nie hast du deine alte Heimat gesehen, noch nie in Wirklichkeit, durch den Untergang von 50 Jahren …“1
Der Bernhardiner heulte mit zu den Sternen erhobenem Schwanz, mit Bissen verjagend, die ihn wegzuschleppen versuchten. Und das „Schwarz Trinali“, uralt, weigerte sich, aus ihrer Wohnung zu gehen. Mit Gewalt – mit Fußtritten wehrte sie sich – musste sie weggeschleppt werden. Und das letzte Mal hörte ich vom Turm die Glocken wimmern und dröhnen. Ach – o Jammer – unser Herz blutete.“2 Und man möchte durch die klare Luft das weiße Ortlermassiv betrachten, ohne dass einem der Blick vernebelt wird durch Sätze wie: „… Grauner Turm wacht als Augenzeuge über dem See bis in unsere Tage. Hart wie ein Stein in der Brust Einsam in sich – der Verlust Der Heimat, nach der ich nun frage.“3 Es geht also darum sich freizumachen. Das gilt für Graun, aber das gilt auch für alle anderen Tiroler Attraktionen, die solange beschrieben, fotografiert, besungen, gepriesen sind, bis sie keiner mehr erkennen kann. Wie kann die Freiheit wieder gewonnen werden? Für Graun, für den Reisenden, für den, der hier lebt? Ein Weg besteht darin, die Trümmer des untergegangenen Dorfes anders zusammenzufügen, freier und
Man möchte über die Wasserfläche des Sees blicken können, ohne dass man Zeilen hören muss wie: „O gibt es größeres Leid? Und für immer seh’ ich alte Leute mit Tränen in den Augen ihr Haus verlassen.
1 In: Erinnerungen an die alte Heimat, Gemeinde Graun, 2000 2 Josef Mall, ebenda, S. 72 3 Christian Lutz, ebenda, S. 107
Spitzensache
b b Ranking S.89 LAUFTEXTFLÄCHE: 236.8 CM2 ABSCHNITTE: 7 ZEILEN: 58 WÖRTER: 392 ZEICHEN: 2232 LEERZEICHEN: 374 BUCHSTABE «W» W: 41 b Ranking S.91 LAUFTEXTFLÄCHE: 261.2 CM2 ABSCHNITTE: 9 ZEILEN: 65 WÖRTER: 416 ZEICHEN: 2196 LEERZEICHEN: 398 BUCHSTABE «A» A: 107
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leichter – jedenfalls so, dass das Gebilde, das daraus entsteht, einem noch die Luft zum Atmen lässt. Über das Versunkene ließe sich mit guten Gründen eine Geschichte erzählen, die einen weiten Bogen schlägt vom Pioniergeist des 19. Jahrhunderts über Wirkungsmacht vorsokratischer Philosophen bis zu großen Taten im alten Ägypten. Diese Geschichte geht so: 1967 schlugen die Israelis die arabischen Armeen in weniger als sechs Tagen vernichtend. Sie stießen dabei tief nach Ägypten vor. Der Suezkanal wurde geschlossen. Es war eine wirre, eine dramatische Zeit. In diesem Durcheinander fiel es gar nicht auf, dass Diebe sich an einem Denkmal zu schaffen machten, das am Suezkanal stand. Sie rissen es vom Sockel und verluden es auf einen Lastwagen. Seither gilt es als verschwunden. In Wahrheit aber steht es in dem Garten eines steinreichen arabischen Sammlers, der ein begeisterter Liebhaber europäischer Technik des 19. Jahrhunderts ist. Dieser Prinz ist verrückt nach allem, was irgendwie mit den Pionieren dieser Zeit zu tun hat. Wer ihn fragt, wie denn ein arabischer Prinz solch seltsame Leidenschaft entwickeln kann, bekommt immer dieselbe Antwort. Sie besteht nur aus einem einzigen Satz: „Ich bin einmal mit der Semmering-Bahn gefahren!“ Mehr sagt der Prinz dazu niemals. Danach führt er einen gerne durch seine Sammlung. Er hat den Raub des Denkmals in Auftrag gegeben, weil er ein großer Bewunderer des dargestellten Mannes ist: Alois Negrelli, 1799 in Primör/Primiero, Trentino, geboren. Eine Wasser- und Straßenbauingenieur und vor allem Eisenbahnpionier. Der Fachmann seiner Zeit. Negrelli hat sich aber deshalb unsterblich gemacht, weil er der Planer des Suezkanals war. Ja, genau. Suezkanal. Nicht der Franzose Lesseps hat den
Kanal entworfen, wie bis heute fälschlicherweise immer noch behauptet wird. Es war dieser Österreicher Alois Negrelli. Der Kaiser verlieh ihm wegen seiner Verdienste um das Transportwesen den Titel Alois Negrelli von Moldelbe. „Lesseps, dieser Franzose“, sagt der sammelwütige arabische Prinz mit verächtlichem Ton, „war nicht nur ein Bankrotteur, sondern eine eitle Persönlichkeit. Er wollte, dass die Welt ihn für den Planer des Suezkanals hielte! Aber da hat er sich getäuscht“, sagt der Prinz mit einem zufriedenen Lächeln auf den Lippen, „die Wahrheit kommt immer raus!“ Negrellis Tochter, Josefine, führte nach dem Tode ihres Vaters in Paris einen Prozess gegen Lesseps. Sie gewann, und seitdem ist Negrelli als alleiniger Urheber des Suezkanals gerichtlich anerkannt. „Ja, die Wahrheit findet immer einen Weg“, wiederholt der Prinz. Fast immer müsste er sagen. Er selbst nämlich befürchtet keineswegs, irgendjemand könnte entdecken, dass er während des Sechs-Tage-Krieges den Denkmalraub in Auftrag gegeben hatte. Der Prinz hält es für ausgeschlossen, dass diese Missetat je ans Licht kommen sollte. Wie das alles mit Graun zusammenhängt? Das ist einfach. Der arabische Prinz hätte niemals sein Negrelli-Denkmal im Garten stehen, wenn in einer kalten Märznacht des Jahres 1776 in Graun nicht der Josef Duile geboren worden wäre. Ein kluges Kind war dieser Josef. Das fiel bald schon auf. Der Pfarrer rechnete damit, dass der kleine Duile eine blendende Karriere innerhalb der Kirche einschlagen würde. Das waren allerdings Hoffnungen ohne jede Grundlage, jedenfalls soweit es das Kind selbst betraf. Denn Josef interessierte sich nicht über die Maßen für die Bibel. Auch Gott und die Erforschung
Spitzensache
b b b Ranking S.89 LAUFTEXTFLÄCHE: 236.8 CM2 ABSCHNITTE: 7 ZEILEN: 58 WÖRTER: 392 ZEICHEN: 2232 LEERZEICHEN: 374 BUCHSTABE «W» W: 41 b b Ranking S.91 LAUFTEXTFLÄCHE: 261.2 CM2 ABSCHNITTE: 9 ZEILEN: 65 WÖRTER: 416 ZEICHEN: 2196 LEERZEICHEN: 398 BUCHSTABE «A» A: 107 b Ranking S.93 LAUFTEXTFLÄCHE: 287.2 CM2 ABSCHNITTE: 6 ZEILEN: 68 WÖRTER: 519 ZEICHEN: 2933 LEERZEICHEN: 518 BUCHSTABE «S» S: 227
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seines Willens weckten in ihm keine besondere Lust. Er hatte ganz andere Leidenschaften. Er war vom Wasser in all seinen Formen besessen, ganz gleich ob Fluss oder Wildbach, ob See oder Quelle, ob Regen oder Sumpf; er war davon fasziniert. Als Knabe streunte er viel in den Grauner Angern herum, auf den Äckern rund um das Dorf. Das Moor des Oberlandes verfolgte ihn in seinen Träumen, der durchdringende Geruch und der Nebel, der lautlos aufstieg. Für ihn war es wie der Atem des Teufels. Er ging zum Reschensee und zum Mittersee, er näherte sich mit Ehrfurcht der wuchtigen Etsch und er fürchtete sich vor dem wilden, unberechenbaren Karlinbach. Josef Duile aus Graun machte das Wasser zu seinem Schicksal. Selbstverständlich war das freilich nicht. Der Pfarrer nämlich ließ nicht locker und die Familie Duile war geradezu darauf erpicht, die Schar der Grauner Priester um die schmächtige Gestalt des jungen Josef zu erweitern. „Du bist doch so ein aufgeweckter Bub!“, sagte der Pfarrer und tätschelte ihm freundschaftlich den Hinterkopf. Der Vater Josefs war da schon etwas derber: „Jetzt werd halt endlich Pfarrer!“, sagte der und schlug Josef auf den Rücken, dass es ihm fast den Atem nahm. Das Ansinnen des Vaters war für Grauner Väter völlig normal, es war sogar die Regel. Die Gemeinde hatte nämlich im Laufe seiner gesamten Geschichte einen beträchtlichen Ehrgeiz an den Tag gelegt, so viele Pfarrer wie möglich hervorzubringen. Der örtlichen Kirche war es gelungen, zwischen den Familien des Dorfes regelrechte Konkurrenz zu entfachen. Welche Familie mehr Pfarrer hervorbrachte, dies war zu einem beliebten Wettbewerb geworden so wie an-
derswo Diskuswerfen oder Ringen. Tatsächlich war Graun bei seinem Untergang im Jahr 1950 die Gemeinde Tirols, die am meisten Pfarrer von allen hervorgebracht hatte. Über 90 waren es im Laufe von 200 Jahren gewesen – bei einer Einwohnerzahl, die 1950 mit 2400 Menschen ihren Höhepunkt erreicht haben dürfte. Statistisch gesehen brachte Graun alle zwei Jahre einen Pfarrer hervor, und das über 200 Jahre lang. Josef aber ließ sich nicht überzeugen. Er war stur, aber Sturheit allein hätte diesem Zwölfjährigen nicht geholfen, um dem gemeinsamen Druck des Pfarrers und des Vaters zu widerstehen. Er bekam Hilfe von außen. Sie kam von unerwarteter Seite, vom Wirt des Gasthauses zur Post. Dieser Wirt war ein sonderbarer Mensch. Er war im Dorfe sehr beliebt, daran besteht kein Zweifel, aber doch umgab ihn eine Aura der Wunderlichkeit, die manche Dorfbewohner von ihm fernhielt. Er hatte nämlich allerlei wirre Ideen im Kopf, über die Welt und den Kosmos, über Gott und die Menschen. Der Priester hielt den Wirt unter strenger Beobachtung. Er hatte ihn im Verdacht, ein Ketzer zu sein. Einen Beweis dafür konnte er aber nie finden. Im Gegenteil, der Wirt besuchte wie alle anderen die Kirche. Er betete fromm und spendete reichlich. Zu Ostern nahm er mit Begeisterung am Teatrum Sacrum teil. Das ganze Dorf strömte an diesem Tag in die Kirche und verfolgte mit großen Augen das Schauspiel von der Wiederauferstehung Jesu Christi, die mit Hilfe einer Kulissenschieberei nachgestellt wurde. Die vielen hellen Lämpchen, die bewegten Fassaden, der Tod und die Auferstehung. Das war für Graun eine der wenigen Vergnügungen des Jahres, ein Schauspiel, das Geist, Körper und Seele erfrischte. Der Wirt war immer dabei, er kam sogar früher als die anderen in die Kirche, nur um einen der vorderen Plätze einzunehmen und das Teatrum Sa-
Spitzensache
b b b b Ranking S.89 LAUFTEXTFLÄCHE: 236.8 CM2 ABSCHNITTE: 7 ZEILEN: 58 WÖRTER: 392 ZEICHEN: 2232 LEERZEICHEN: 374 BUCHSTABE «W» W: 41 b b b Ranking S.91 LAUFTEXTFLÄCHE: 261.2 CM2 ABSCHNITTE: 9 ZEILEN: 65 WÖRTER: 416 ZEICHEN: 2196 LEERZEICHEN: 398 BUCHSTABE «A» A: 107 b b Ranking S.93 LAUFTEXTFLÄCHE: 287.2 CM2 ABSCHNITTE: 6 ZEILEN: 68 WÖRTER: 519 ZEICHEN: 2933 LEERZEICHEN: 518 BUCHSTABE «S» S: 227 b Ranking S.95 LAUFTEXTFLÄCHE: 297.6 CM2 ABSCHNITTE: 5 ZEILEN: 70 WÖRTER: 554 ZEICHEN: 2917 LEERZEICHEN: 552 BUCHSTABE «S» S: 169
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crum aus nächster Nähe beobachten zu können. Nein, er war kein Ungläubiger.
stube zu sehen, inmitten von Bauern, Pferdehändlern, Handwerkern, Pilgern und Handelsreisenden.
Der Wirt verschlang jedes Buch, dessen er habhaft werden konnte. Eines Tages fielen ihm zufällig Schriften der Vorsokratiker Heraklit und Demokrit in die Hände. Ein durchreisender Pilger hatte sie zurückgelassen, im Tausch für das Essen, das er nicht mit Bargeld hatte bezahlen können. Der Wirt nahm sie nur zu gerne an. Noch am selben Abend begann er zu lesen, manches verstand er, vieles begriff er nicht. Aber was er da las, gefiel ihm. Er begeisterte sich sogar so sehr darüber, dass er bald den Dorfmaler kommen ließ und Demokrit und Heraklit, so wie sie in den Büchern abgebildet waren, an die Holzwand der Gasthausstube malen ließ. Es waren seine neuen Heiligen.
Nun gut. Der Wirt der Post bestärkte Josef darin, nicht Priester zu werden, sondern seiner Leidenschaft nachzugehen, dem Wasser. Er schärfte ihm dabei ein: „Heraklit hat gelehrt, dass die Welt aus Gegensätzen besteht. Sie bewegt sich nur fort, wenn diese Gegensätze aufeinander prallen. Sonst gibt es Stillstand. Tod! Verstehst du?“
Wenn es regnete, dann flüchtete der kleine Josef zum Wirt. Er mochte diesen Mann, der so freundlich und anders war als die anderen. Während Josef in der Stube saß, gab der Wirt seine neuesten Erkenntnisse preis. „Demokrit sagt, dass wir alle aus Atomen bestehen. Wir sind Seelenatome, und wenn wir sterben, dann kommen die Seelenatome mit dem letzten Atemzug aus uns heraus!“ So etwas mochte weder der Wirt noch Josef verstehen können, aber darum ging es auch gar nicht, sie spürten und verstanden, dass es noch eine große weite Welt gab, die mit der Kirche nichts zu tun haben musste, die Welt des Geistes. „Pantha rei, pantha rei! – Alles fließt, alles fließt!“, wiederholte der Wirt immer wieder, wenn er Josef berichtete, was er von Heraklit verstanden hatte. „Pantha rei, pantha rei!“ entgegnete er mit einem verschmitzten Lächeln allen, die ihn auf die Vorsokratiker in seiner Stube ansprachen. Viele fragten danach, denn es war durchaus ein befremdlicher Anblick, Heraklit und Demokrit in einer Obervinschgauer Wirtshaus-
Josef leitete für sich daraus ab, dass er gegenüber dem Vorhaben des Pfarrers und seines Vaters stur bleiben müsse. „Davon hängt das Schicksal der Welt ab!“, das glaubte er mit dem Ernst, zu dem nur ein Zwölfjähriger fähig sein kann. Diese neu gefundene Überzeugung schleuderte er dem Pfarrer und Vater entgegen: „Es hängt die Welt davon ab! Es hängt die Welt davon ab!“, rief er so lange, bis beide kopfschüttelnd aufgaben. Da sie weiter an sein Talent glaubten, schickten sie ihn zum Studieren des Ingenieurwesens nach Innsbruck. Bald wurde er, wie es im „Österreichischen Biographischen Lexikon“ vermerkt wird, „zum theoretischen Begründer und praktischen Bahnbrecher der Wildbachverbauung“. Josef Duile hatte seine Bestimmung gefunden. Er war zum Wasserbändiger geworden. In Innsbruck lehrte Duile auch, und unter seinen Schülern befand sich jener Alois Negrelli, der später den Suezkanal entwerfen sollte. Begierig nahm er alles auf, was Duile über das Wasser wusste. Er war einer seiner besten Schüler. Ist das verrückt oder alles nur Lüge? Es empfiehlt sich ein Besuch im Museum Neu-Grauns, um das zu prüfen. „Naja, Museum, das wird es vielleicht mal“, sagt der Lehrer Peter Pircher, der jeden Gast durch die Räume führt und kenntnisreich und mit großer Wärme berichten kann. Alles, was in die-
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ser Geschichte erzählt worden ist, lässt sich in dem Museum finden: Demokrit und Heraklit in der Stube, das Teatrum Sacrum, die Priester in so großer Zahl, Josef Duile, Alois Negrelli, selbst die Geschichte vom Verschwinden seines Denkmals ist wahr – nur der arabische Prinz, vom dem hört man nichts in dem Museum. Das ist allerdings ein Detail, und es muss hier jetzt nicht unbedingt erforscht werden muss. Diese eine Geschichte über Graun ist jetzt erzählt. Lässt sich behaupten, dass ein Betrachter des Turms im Stausee nun etwas mehr Freiheit genießt? Das könnte man behaupten. Zumindest war nicht schon wieder die Rede vom Leid, welches das Dorf erfahren musste. Es wird allerdings jedem einzelnen überlassen, es letztgültig für sich zu entscheiden, ob er diese Geschichte annehmen will. Sicher ist, dass Graun etwas weniger düster wirkt, weniger schwer, dass es auf einem nicht lasten muss wie ein träger, fetter, uralter Alb. Wer jetzt an Graun denkt, darf an den Orient denken. Wer jetzt an Graun denkt, kann den Suezkanal sehen, Demokrit, Heraklit und ihre weit und hoch fliegenden Gedanken. Ist das nicht erleichternd? Wer sich überhaupt nicht überzeugen lassen will, sollte ein wahrlich erschütterndes Bild betrachten. Es zeigt die Bürger Grauns am 26. Juli 1949. In einer langen Prozession zieht die gesamte Gemeinde noch einmal über die Äcker, durchquert die rund 500 Hektar, die bald unter Wasser gesetzt werden, sie zieht vorbei an der Kirche, die gesprengt werden wird, an den Häusern, die geflutet werden. Die Menschen tragen ihr eigenes Dorf zu Grabe. Die Trauer ist auf dieses Foto gebannt, ganz gegenwärtig ist sie. Wuchtig stellt sie sich dem Betrachter in den Weg. Der Zug der Men-
schen ist so lange, dass der Fotograf ihn nicht auf einem einzigen Bild unterbringen kann. Das verstärkt nur die Vorstellung, dass hier unendlicher Schmerz sich zeigt. Leicht könnte man erstarren bei der Betrachtung dieses Bildes. Es ist gesünder auszubrechen, zum Beispiel mit einer weiteren, ganz und gar wahren Geschichte. Nämlich die, wie es dem Josef Duile im Vinschgau gelang, sich auf dem Höhepunkt seiner Karriere doch noch unbeliebt zu machen. 1855 ging er daran, einen alten Traum zu verwirklichen, indem er einen Teil des Gebietes zwischen Reschensee und Mittersee entwässerte. Er wollte sich wahrscheinlich am Moor rächen, weil es ihm, als er noch ein Kind war, solchen Schrecken eingejagt hatte. Das gelang ihm auch. Er legte das Moor trocken. Aber völlig unerwartet brach der Mittersee aus seinem Wasserbett. Er ergoss sich ins untere Vinschgau. Die Flut richtete weiträumige Zerstörung an. Noch heute ist an der Stadtmauer von Glurns ein blauer Strich zu sehen, als Zeichen dafür, wie hoch das Wasser stand – höher als jeder Mensch wachsen kann. Natürlich haben die Leute geschimpft über diesen Duile, diesen ehrgeizigen, hochnäsigen Ingenieur, der glaubte, die Natur herausfordern zu können. Manche sagten: „Er hätte doch besser Pfarrer werden sollen. Die in Graun werden doch alle Pfarrer. Warum nicht auch der Duile?“ Darauf könnte man nur antworten: Dann gäbe es sehr wahrscheinlich keinen Suezkanal.
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© Freytag-Berndt u. Artaria, 1231 Wien
Stippvisite
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Landvermessung No. 2, Sequenz 1 Reisen auf Linie Hoher Fricken bis Hoher Kamm, Samstag, 16. April 2005
Geschichten kann man auch durch geometrische Operationen auf der Landkarte generieren: Die Linie südlich des Alpenhauptkammes (Heft 1 bis 5) wird um eine neue Erzählroute ergänzt – ein Quadrat, dessen obere Spitze in der Nähe von Garmisch-Partenkirchen liegt. Von dort aus startet Christoph Simon Richtung Oberes Vinschgau und gelangt an einem einzigen Tag bis knapp hinter die Tiroler Landesgrenze, wo die Reintalangerhütte aber leider geschlossen ist. In brusthohem Schnee blickt Buchwieser vom Gipfel des Hohen Fricken auf das Wettersteingebirge. Dahinter vermutet er Triest, Venedig, das Meer. / Smith demonstriert die vielseitige Verwendbarkeit seines Taschenmessers. Er klappt es auf, klappt es zu, scherzt und lässt die Augen über die Gesichter seiner Familie schweifen. / Hundekot für Kälber eine tödliche Gefahr. / Leicht bergauf bis Wildfütterung. Höhe verlieren durch abwärts führende Forststraße. Alsbald 1,3 km langer Anstieg und 4 km bergab, bis Smiths die Wirtschaft im Talgrund erreichen. / Wirtschaft geschlossen. / Dankeschön! Für saubere Wiesen. / Schwerer Anstieg zum Gschwandtnerbauer – Anne Smith auf dem Kettler-Alu-Rad sehnt sich nach den geteerten Flächen des Landes. / Mountainbikes in Garmisch-Partenkirchen bei: Ostler, Trek-Pro-Shop, Bike Verleih Center, Sport Total, Sport-Neuner. / Wankbahn außer Betrieb. Heilklimatischer Kurort. / In der Empfangshalle im Bahnhof Garmisch-Partenkirchen wechselt Salamun slowenische Tolar gegen Euros und sieht sich um. Buchwieser – „unübersehbare 130 Kilo“, wie er ihm gemailt hat – müsste ihn abholen, aber niemand ist zu sehen. Salamun verlässt die Halle und geht zur sonnenüberfluteten Bushaltestelle. Nirgendwo 130 Kilo, er geht in die Halle zurück. / Aus der Zigarette steigt ein weißer Rauchfaden auf, als Jürgen an dem Schild mit der Aufschrift Rauchen verboten vorbeigeht. Er tritt an den Schalter und lässt die Zigarette in die Vase mit Nelken fallen. / Krawattenklammern der
Bayerischen Oberlandbahn für 3,90 Euro. / Jürgen glaubt, wenn er erst einmal in Indien sei, könne er ohne einen roten Heller in der Tasche herumvagabundieren. / Salamun wartet insgesamt eine Stunde, mal in, mal vor der Halle, immer mit seinem blauen Hartschalenkoffer in der Hand und dem Laptop über der Schulter. / Bahnhofstraße: Paul Klöck blickt die Reihe seiner Kinder entlang, bis er zu dem Fenster kommt, wo der leere Stuhl steht. Plötzlich spähen alle in dieselbe Richtung, auf den leeren Stuhl. Es ist ein einfacher Stuhl aus schwarz lackiertem Holz, nicht anders als die übrigen, auf der Sitzfläche liegt ein blaues Kissen. „Wo ist er, wo ist Jürgen?“, fragt Klöck. / Achtung! Scharfer Hund! / Leitenbauer am Taxistand verbringt den Tag mit großartigen Plänen, die über einen komplizierten Investitionsplan geradewegs in ein märchenhaftes französisches Landhaus mit drei Dobermann-Zwingern führen. / Scholz und Bartl am Taxistand diskutieren über gebärende Jungfrauen und Dreieinigkeit und Handauflegen der Apostel, Scholz meint, wer es auf die Linke bekomme, solle noch die Rechte hinhalten. Nun ja, sagt Bartl, da werde wenigstens das Gesicht nicht schief. Aber zu versichern, wie Scholz es sich von ihm wünscht, er glaube an eine unsterbliche Seele, das ist zuviel von ihm verlangt. / Jürgen bleibt verschwunden. Klöcks haben alle angerufen: Nachbarn, Schulfreunde, Straßen, Spitäler. Jürgen bleibt verschwunden. / Hölzlweg: Cindy (6) schleicht sich auf den Estrich und teilt den Tauben unter dem Balken mit, dass aus der Hochzeit mit Kevin (8) nichts wird. / Dies ist ein Garagentor. Nur
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b Ranking S.103 LAUFTEXTFLÄCHE: 261 CM2 ABSCHNITTE: 2 ZEILEN: 61 WÖRTER: 468 ZEICHEN: 2628 LEERZEICHEN: 467 GEWICHT: 30KG
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ein Trottel parkt davor. / Seniorenheim St. Vinzenz: Frau Hagl stirbt langsam und anspruchsvoll, dem Personal lässt sie keine ruhige Minute. / Burak weiß nicht, ob Yurdakos noch am Leben ist, während er jetzt an ihn denkt. Wenn, dann wäre dieser jetzt zweiundneunzig, Burak selbst ist vierundachtzig, und es gibt ihn noch. / Es wird noch die ganze Woche dauern, ehe man Jürgen in München aufspürt. Vorsicht Dachlawine. / St.-Anton-Straße: Heinrichs Meinung nach fingert Anja völlig uneffektiv im trüben Spülwasser herum. / Echte Eltern brauchen keinen Schlaf. / Faukenstraße: In der Badewanne betrachtet Heinzinger selbstgefällig seinen Penis, der in den kleinen Wellen hin und her pendelt. / Hohenreiter denkt daran, die geerbten Möbel zu verkaufen und das Rückzugshäuschen ein wenig behaglicher zu gestalten. / Haseidl hat mehr Energie als üblich und führt dies darauf zurück, dass er die Bewerbungsunterlagen gerade noch rechtzeitig fertig gestellt und abgeschickt hat. / GAP-AH 229 steht an der Ampel und wartet auf grünes Licht. / Pfüat Gott. / Der Drang, ein Schicksal zu haben, ein möglichst schweres, der ist bei Jaqueline besonders groß. / Im Ortsbus: Bitte nach hinten durchgehen. Rollstühle Bremsen anziehen. / Es sei auch nicht so, dass er, Rainer, das, was sie, Gisela, sage, beim ersten Mal kapiere, sie müsse das gleiche immer und immer wieder sagen. / Wolf gibt das Autofahren auf, um sich dem Stress am Steuer nicht mehr auszusetzen, und wird auf einen Schlag ein ängstlicher Beifahrer. Heute Bavarian Food. / Im Goldenen Engel bestellt Grasegger Wildhasenkeule in Wacholder-Rahmsoße, Knödel und Rotkohl. / Das Wenige, das sie esse, könne sie auch trinken, denkt Frau Grasegger. / Bitte im Sitzen pinkeln! / Wenn er nicht bald heirate, prophezeit Steffi ihrem Bruder, werde er einsam sterben, abgesehen von ein paar bedeutungslosen Affären mit einem bestimmten Typ Frau: „Holländische Snowboarderinnen, die dich anhimmeln und sich benutzen lassen.“ Sie hat den Eindruck, sein Gesicht helle sich
auf. / „Du bist der letzte Mensch, der sich mit einem Stofftaschentuch schneuzt“, sagt Margreiter anerkennend zu sich selbst. / Im Saigon City Restaurant im Stüberl bestellen Rösslers Schweinefleisch süß-sauer. WC-Anlage: 2 x 10 Cent. / Joechel gräbt einen Tunnel zur Commerzbank. Er hat seine Arbeit bereits im Jahr 1996 aufgenommen und ist immer noch dabei, ohne dass irgendjemand von dem Projekt weiß. / Pfeiffer hat all sein Erspartes von der Bank abgehoben. Nur um es übers Wochenende zu Hause zu haben, wo er es ansehen und in die Hände nehmen kann. / Für Bier würden wir sogar arbeiten! / Waliczek steht vor Lautenbachers Trachtenstube – bezaubernde Trachtenmode – und wundert sich, dass es so etwas noch gibt: Joppen und Lodenmäntel, die Leinenweberei. / Uwe holt mit einem Firmenlieferwagen seine restlichen Sachen ab. Seiner Mutter bricht es das Herz, als sie ihn die Habseligkeiten einladen sieht – den Fußball, die Kamera, die Angel, sogar sein erstes Rennrad. / Feuerwehrzufahrt. / Mit ihrer Arthritis kommt Frau Hibler kaum noch ins Erdgeschoß des Hauses. / Daniela ruft Klaus an und erfährt, dass die Frau eine Amerikanerin sei, die in den letzten Tagen einige Male an Dieters Arm gesehen worden ist. Mit dieser Information bewaffnet ruft Daniela Dieter an, der erst einmal versucht, alles zu leugnen. / Pfeiffer wünscht sich, er müsste nicht immer an das Geld denken. Celine sollte ihm mehr bedeuten, das Geld weniger. / Was kann man bei Mc Donald’s eigentlich werden? Zum Beispiel Fachfrau/Fachmann für Systemgastronomie. / Celine Pfeiffer träumt davon, auf eine griechische oder italienische Insel zu flüchten. Kreta, denkt sie, oder Lipari. Sie könnte es mit fünfzig schaffen, wenn diese Informatik-Aktien was einbringen. Na ja, spätestens mit fünfundfünfzig. Mit einem kleinen Stich im Herzen merkt sie, dass dieser Traum ihren Mann ausschließt, dass sie sich ohne ihn auf Kreta gesehen hat. / Mc Coy verfolgt das Geplänkel der Jugend vor dem Mc Donald’s am Marienplatz mit dem unbeteiligten Interesse des Soziologen, der Sitten und Gebräuche eines fremden
Stippvisite
b b Ranking S.103 LAUFTEXTFLÄCHE: 261 CM2 ABSCHNITTE: 2 ZEILEN: 61 WÖRTER: 468 ZEICHEN: 2628 LEERZEICHEN: 467 GEWICHT: 6KG b Ranking S.105 LAUFTEXTFLÄCHE: 335.8 CM2 ABSCHNITTE: 4 ZEILEN: 81 WÖRTER: 645 ZEICHEN: 3444 LEERZEICHEN: 645 GEWICHT: 12KG
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Stammes studiert. / Dieter nickt und himmelt Angelica aus liebeskranken Augen an. / Die Spielbank am Michael-Ende-Platz: „Passt ja net zusammen“, sagt Heiß. / Der Roulettesaal versprühe jenen Hauch von Luxus, der über dem Alltag schwebe, meint Aigner. / Dietrich trinkt den Prosecco und füttert den Automaten mit Münzen. Die Trommel bleibt bei drei Äpfeln stehen, und der Apparat spuckt zwanzig Eurostücke aus. Er sieht sich um, aber Barbara ist immer noch nicht da. Also lässt er sich noch einen Prosecco geben und verliert, bis sie auftaucht, alle Münzen, die er gewonnen hat. / Wiesengelände, gestapeltes Holz, fensterlose Schuppen. Wunderlich wärmt sich auf. Dehnübungen, Kniebeugen. Als er losrennt, flattern ein paar Meisen auf. / Man müsse ihn nehmen wie ein Kind, sagt Paula, immer ja sagen zu allem, was er wolle, und es dann einfach nicht tun. / Naturfreibad. / Sommerlattes leeren Oehmes Briefkasten, füttern die Katze, gießen die Pflanzen, denn Oehmes sind in Thailand, in einem himmlischen Hotel, direkt am Meer, mit einem fantastischen Strand, tollem Essen, Wasserski. Es sei so schön, dass sie noch eine Woche dranhängen würden, mailt Edith Oehme, seit einer Woche habe sie keinen Finger gerührt. / Holger fände es besser, wenn der Film kein Happy-End gehabt hätte. Er wisse, dass das Leben traurig sei und fühle sich nun manipuliert. Martha hingegen meint, sie habe ein bisschen Glückseligkeit verdient, wenn das Saallicht angehe. / Dorit hält ihrem Vater die Hand hin. Darauf sitzt ein großer schwarzer Mistkäfer. / Hausbergbahn außer Betrieb. / Sebastian ist kein netter Mensch, sagt Frau Hansmann am Telefon. Sie habe das immer gewusst, und dürfe das sagen, weil sie seine Mutter sei und naturgemäß eher geneigt, ihn zu lieben, als irgend jemand sonst. / Hornschlitten außer Betrieb. / Heute gibt Sepp das Autofahren auf, um sich dem Stress am Steuer nicht weiter auszusetzen – und wird auf einen Schlag ein ängstlicher Beifahrer. / Rollhut. / Wenn eine Fee käme und Franco könnte einen Wunsch äußern, so würde er Rasen von der Rolle wollen, per Meter und zum Staubsaugen. / Wenn eine Fee käme und Lucia könnte einen Wunsch äu-
ßern, so würde sie wollen, dass sie die Hälfte von dem auch erlebt hätte, was man ihr andichtet. / Martin ersetzt das Rauchen durch einen Teekult. / Mikes erste erwachsene Handlung ist die Ersteigerung einer Flasche Single Malt bei Ebay. / Der Pizzakurier rührt sich nicht vom Fleck, während der Hund ihn umkreist und von allen Seiten beschnüffelt. „Sitz, Cora“, ruft Elke über die Schulter zurück, während sie die Pizza in die Küche trägt. Der Hund kommt dem Befehl nach, steht aber gleich wieder auf. Um sich von der Gefahr abzulenken, denkt der Kurier an den nächsten Auftrag. / Wenn Elke wegfährt und der Hund allein zurückbleibt, bellt er sich die Kehle heiser. / Zigaretten aus dem Automaten, Big Pack: fünf Euro. / Hier geht’s rein zum Führerschein. / Gästehaus Hohenzollern, Plan-Quadrat C5, Bus-Haltestelle: Marienplatz. Einzelzimmer, WC und Dusche, Frühstück: 34 Euro. Binggeli lässt den Kugelschreiber über das Anmeldeformular gleiten. „Scheint nicht zu wollen.“ – „Probieren Sie mal mit Pusten“, schlägt der Rezeptionist vor, „manchmal hilft das.“ Binggeli versucht es. „Nein, nichts zu wollen.“ / Die Italienerin, sie gefällt Robson. Er lässt eine Bemerkung fallen, aber sie kichert nur. Na ja, denkt er, andere würden sich freuen. Andererseits scheint sie schwanger zu sein und ihr Ehemann mit dem fettleibigen Cocker Spaniel ist auch in der Nähe. Olympiastützpunkt Bayern. / Ihr Mann habe endlich gelernt, mehr mit dem Mikrowellenherd anzufangen als nur Fertiggerichte darin zu erhitzen, sagt Frau Löchel. / Michi tauscht die Lautsprecher seiner Stereoanlage gegen größere aus. / Raßbichler spielt mit ein paar Büroklammern, hakt sie ineinander. / Markus überlässt es Maria, den Braten anzuschneiden. / Anschließend geht Täubner ins Bad, um sich den Penis zu waschen. / Raßbichler tut absolut nichts, was er an einem früheren Sonntag nicht auch getan hat, und er sagt nichts, was er nicht zu jeder Zeit sagen könnte. / Sie seien zwar füreinander bestimmt, sagt Robson, aber wenn sie nicht wolle, ziehe er weiter und suche sich eine andere.
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LAUFTEXTFLÄCHE:
11 ZEILEN: 300 WÖRTER: 2357 ZEICHEN: 12’808 LEERZEICHEN: 2353 ABSCHNITTE:
GEWICHT: 6KG b b Ranking S.105 LAUFTEXTFLÄCHE: 335.8 CM ABSCHNITTE: 4 ZEILEN: 81 WÖRTER: 645 ZEICHEN: 3444 LEERZEICHEN: 645
2
GEWICHT: 12KG b Ranking S.107 LAUFTEXTFLÄCHE: 348 CM2 ABSCHNITTE: 2 ZEILEN: 83 WÖRTER: 674 ZEICHEN: 3526 LEERZEICHEN: 672 GEWICHT: 11KG
Ranking S.109 a LAUFTEXTFLÄCHE: 306.4 CM2 ABSCHNITTE: 3 ZEILEN: 75 WÖRTER: 570 ZEICHEN: 3210 LEERZEICHEN: 569
GEWICHT: 10KG
108/109
1251.2
GEWICHT:
39KG
Bio Family. / Kaffeehaus Krönner: Wellness-Salat für 6,80 Euro. Rossini möchte von der Bedienung wieder erkannt werden, er sei doch schon zweimal da gewesen, ob sie sich denn nicht an ihn erinnere. Sie tut es nicht, aber mit professionellem Charme sagt sie: „Das nächste Mal vielleicht.“ / Diana begutachtet das Ergebnis ihres Stuhlgangs. / Alpspitz-Wellenbad: Kurgäste bezahlen 5,30 Euro, Sonstige 6 Euro. Kinder unter 16 Jahren und Schwerbeschädigte 70%. / Achberger (Sonstige) rechnet nach, wie viel Druckerpapier im Materiallager verschwunden ist, allein in den letzten vier Wochen. Nicht verkopiert oder verdruckt, sondern ganz einfach weg: dreizehn Packungen zu 500 Blatt. Illuminated ceramic houses. / Billasch schlendert die Schaufensterreihe am Kurpark entlang, prüft im Vorübergehen gewissenhaft die Türklinken. Er beeilt sich nicht, er hat den schwingenden Gang des Polizisten längst gelernt. Er muss zugeben, dass es manchmal Zeiten gibt, in denen ihn die Gesetzestreue der Garmisch-Partenkirchner bedrückt. / Rockmusikerin, denkt Sarina, warum nicht? Man wird reich und bekannt, kann spät aufstehen und viel reisen. / Lohnkutscherei Sailer. Exclusive Hochzeitskutsche. Parkverbot, Droschken frei. / Binggeli wünscht sich ein Leben ohne Filter, ohne soziale Maske, die Essenz auch an der Oberfläche. / Disco Evergreen im Alpspitz-Wellenbad: Dance, Fun and Action. Party, bis die Sonne aufgeht!!! Die Bedienung ist berechtigt, sofort zu kassieren. / Joachim, der sich darauf spezialisiert hat, sich selbst starke Stromschläge zu versetzen. / Im Holiday Event findet Sebastian einen Gutschein für kostenlos 1 Woche probiotischen Joghurt essen. / Grüaß di, Servus. / Billasch träumt von einer Ruhestörung in einem Wirtshaus, bei der er erfolgreich einschreiten könnte. / Dörflinger geht spazieren, um der Familie für einen kurzen Augenblick zu entkommen. / Der Natur- und Tierliebhaber räumt alle Rückstände seines Hundes von Äckern und Wiesen wieder weg! / Sie löse ein Problem und schaffe zwei neue, meint Martina, was lasse sich da schon machen. / Wester-
maier ignoriert die Tatsache, dass Kondome biologisch nicht abbaubar sind und spült. / Florian wagt nicht, die E-Mail von Renate noch einmal durchzulesen, aus Angst, beim zweiten Mal könnte etwas anderes darin stehen als vorher. / Carlos hat Frau und vier Kinder in Argentinien. Niemand weiß, warum er sie nicht zu sich herüberholt. / „Ist dies das Gefühl“, fragt Florian sein Tagebuch, „das Menschen haben, die unter einem Zauberbann stehen?“ / Sarina gehört nicht zu denen, die Schlafen als verschwendetes Leben betrachten. / Billasch erwischt ihn und René bereut, dass er sich nie die Zeit genommen hat, seine Talente als Taschendieb zu vervollkommnen. Die Partnachklamm ist zurzeit geschlossen, closed. / Im Fernsehen sieht Dengg eine Artistin sich damit produzieren, dicke eiserne Stangen auf ihrem straffgestreckten linken nackten Arm krumm zu schlagen. / Bockhütte geschlossen. / Das Reintal: Steil aufragende Felswände, die in der Eiszeit vom Inngletscher aus dem Wettersteingebirge herausgeschabt wurden, „vor über 600.000 Jahren, als“, wie Ane meint, „die Spatzen noch Felle und Stoßzähne hatten.“ / Hunde bitte an die Leine! / Schnee ab 600 m, nicht nur im Schatten. / Im Fernsehen sieht Dengg gleichzeitig 50 Jahre ORF, Band of Brothers, Harald Schmidt und Silvester Stallone. / Hannover-Bayern 0:1, Bayern so gut wie Meister. / Wunderlich löst Steinchenschlag aus. / Smiths haben keine Ahnung, ob der längste Teil des Waldes hinter ihnen oder noch vor ihnen liegt. / Nichts trinken ist auch keine Lösung, denkt Frau Grasegger. / Reintalangerhütte geschlossen. / In brusthohem Schnee blickt Buchwieser vom Gipfel des Hohen Kamms auf die Mieminger Kette. Dahinter vermutet er Triest, Venedig, das Meer.
Foto: Günter Richard Wett
Spitzmarke Warentest
01 Lois Weinberger: Perfekt provisorische Gebiete. Ein Kellner hört sich Cage an. Bert Breit und die Tonart der Würde. Die Nudelsuppe und der Aktienmarkt. Marina Abramovic in Franzensfeste. Tod eines Begräbnisses. Walter Niedermayr defloriert Ben van Berkels Gelben Raum. Blasmusikarchive, quergelesen. Originalbeilage von Wolfgang Mitterer und Erdem Tunakan. 02 Über die Frau, die einen Tag lang berühmt war. Johannes Maria Staud über Schall und Rauch. Zentrale Vomperberg, eine Durchleuchtung. Egyd Gstättners Spritzfahrt in die Besamungsanstalt. Pergine: Gschichte eines Narrenhauses. Kipferl, Krapfen, Wunder. Max Reinhardt stinkt ab. Originalbeilage von Richard Hoeck. Joseph von Westphalen ist dagegen. 03 Freiwillig wohnen bei 130 km / h. Martin Gostners fiktive Spurensuche nach John Steinbeck. Kleines Lexikon geläufiger Wörter. Paul Albert Leitner folgt W. G. Sebald. Die Taube im 5/4-Takt. Erika Wimmer in der Eifersuchtsambulanz. Ein Buchbinder aus Reutte in Lima. Händl Klaus schreibt Hundertpfundgedichte. Der Komponist Peter Zwetkoff redet nicht. Landvermessung, Anleitung zur Blutnudelzubereitung inklusive. Reinhold Messner monologisiert. Reise durch die Gedankenwelt des Bruno Taut. Originalbeilage von Julia Bornefeld. Ferdinand Schmatz weit weit vorn. Andrea van der Straeten beweist: Das Medium Ölbild lügt! 04 Candida Höfer fotografiert Innsbruck. Der Moralist und die Tänzerin. Ferdinand Schmatz schreibt linke Seiten. Radio Horeb und andere Tatsachen. Ruedi Baur an der Grenze zum Glück. Wer schrieb das Kufsteiner Lied? Sabine Gruber über leere Räume. Fünf Architekturbüros entwerfen Schutzhütten. Andreas Maier fährt nach Galtür. Kirche als Krankheitserreger. Alfred Komarek und das Diktat der Masse. Kultursäle im Breitbildformat. Hören Sie Castiglioni! 05 Walter Obholzer: Fragezeichen, Rufezeichen. Ulrich Ladurner und die Fünf vom Brunnenplatz. Der Komponist (Beat Furrer), sein Interpret (Gerald Preinfalk), ein Gespräch. Musil als Schriftführer der Soldatenzeitung. Hans Platzgumer über Ornamente und Otakus. Nikolaus Schletterer fotografiert Wasserspeicher. Die Ton-Architektur des Bernhard Leitner. Paul Thuile zeichnet im Zollhaus am Brenner. Heinz D. Heisl über das Wörtereinatmen an Abrißbaustellen. Stefanie Holzer und Walter Klier auf Landvermessung. Originalbeilage von Martin Walde. Augenblick: Gutachten von Gebhard Grübl, the next ENTERprise, Rudolf Taschner und Bernhard Lang. 110/ 110/111
Eine typische Quart-Strategie: Die Spannung zwischen einer abstrakten, formalen Vorgabe und den Inhalten, die sich daraus ergeben, in Bilder und Texte umzusetzen. Radio Ö1, „Diagonal“, Johann Kneihs, 4. Dezember 2004
Quart Heft für Kultur Tirol Nr. 2/ 03 E 12,–
Quart Heft für Kultur Tirol Nr. 1/ 03 E 12,–
Quart Heft für Kultur Tirol Nr. 3/ 04 E 12,–
Über die Frau, die einen Tag lang berühmt war. Johannes Maria Staud über Schall und Rauch. Zentrale Vomperberg, eine Durchleuchtung. Egyd Gstättners Spritzfahrt in die Besamungsanstalt. Pergine: Geschichte eines Narrenhauses. Kipferl, Krapfen, Wunder. Max Reinhardt stinkt ab. Originalbeilage als Überraschung. Joseph von Westphalen ist dagegen. Die neue Kulturzeitschrift
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03 Quart Heft für Kultur Tirol Nr. 6/ 05 E 12,–
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Arbeitsweise
Ranking S.113 a LAUFTEXTFLÄCHE: 262.8 CM2 ABSCHNITTE: 6 ZEILEN: 64 WÖRTER: 498 ZEICHEN: 2687 LEERZEICHEN: 493
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„Am Horizont die Gefahr, sich zu verlieben“
Seine Gedichte werden in Fellini-Filmen rezitiert, dennoch ist Andrea Zanzotto, der Schriftsteller aus dem Veneto, im deutschsprachigen Raum ein nahezu Unbekannter. Porträt eines Dichters am Küchentisch, hinter dem Fenster die Alpen. Von Thomas Radigk Topinambur, Helianthus tuberosus, Erdbirne. Gelbe Blüten am Straßenrand. Hier muss es sein. An der Hecke entlang, dahinter ein Garten. Aruffato – zerzaust, verwildert. Schattige Winkel, dunkle Ecken. Ein Tisch, ein Stuhl. Vielleicht arbeitet er manchmal hier. Gibt es eine Klingel? Es gibt eine Klingel. Ohne Namen, ohne Knopf. Sie hängt an einem Draht. Die Einfahrt steht offen. Andrea Zanzotto wartet schon. Die Hände hinterm Rücken verschränkt. „Wenn wir denken, dass wir überhaupt nicht wissen, woher wir kommen, wer wir sind und wohin wir gehen … hinter unseren Schultern, da gibt es etwas Heiliges. Etwas worüber wir zwar sprechen und nachdenken können … aber dieses Heilige hat immer das letzte Wort. Was uns gegeben wird, kommt von irgendwoher, und wir spüren, dass es sich jenseits von uns selbst befindet.“ Früher ist er mit dem Rad gefahren, einfach so, durch die Landschaft. Allein oder mit Freunden. Auch in die Trattoria ist er gegangen und hat beim Kartenspielen zugeschaut. Oder er ist hinunter zum Fluss. An die Piave. Auenlandschaft, Handschmeichler, faustgroß, glatt geschliffen, Pfützen mit Kaulquappen. Keine Menschen. Ein roter Punkt, Lack auf einem Grenzstein, ein Fetzen Plastik, im Gestrüpp verheddert. Spuren von schweren Baumaschinen im Flussbett. Scheu sei er geworden, lebe zurückgezogen in Pieve di Soligo, einem Nest zwischen Treviso und Vittorio Veneto. Seine Gegend, die er kaum verlassen hat. 1921, am 10. Oktober ist er hier geboren. Sein Vater war Zeichenlehrer, Maler und Sozialist, einer der wenigen, die 1929 bei der Volksabstimmung nicht für
den Faschismus gestimmt hatten. Giovanni Zanzotto nahm Andrea immer mit zum Malen. Landschaften, Berge, Wälder und Hügel. „Ohne Distanz, die immer auch eine Distanz des Exils ist, könnte sich der perspektivische Blick nicht formen. Vielleicht habe ich zu lange nur hier, in Pieve geschrieben. Als ich weg war, fühlte ich, dass mir bestimmte geheimnisvolle Impulse fehlten, die von der Landschaft und von den Dialekten kommen – und natürlich auch von den Menschen, die es so nur hier geben konnte. Ein Beispiel: ein schönes Mädchen, wenn ich es in Venedig sah, na ja … aber wenn ich dann hier ein Mädchen sah, vielleicht sogar weniger schön als die in Venedig, hier, auf unseren Hügeln, dann war sie für mich einfach bellissima.“ Andrea Zanzotto lacht. Seine Augen blitzen, wenn er an die Bäckerstöchter denkt, die nach der Schule im Laden bedienten. Endlich konnte man mit ihnen mehr als nur einen Blick wechseln. Die kleinen Zettel, eng beschrieben, unter der Bank weitergereicht. Aber wurde man erwischt, dann hieß es, die Prüfungen im Oktober wiederholen. Die Geographie-Galerie der Schönheiten: Tizia aus Miane oder Caia aus Refrontolo. Wer war die schönste? Wie zu Zeiten Dantes, als Beatrice auf Platz neun unter den dreißig schönsten von Florenz zu finden war. Wussten Sie das? Wir sitzen am Küchentisch. Hinter dem Fenster die Alpen. „Diese Gegend war für mich immer ein Katalysator. Diese Heimat (er sagt es auf Deutsch), in der etwas ‚Heimliches‘ steckt, an ihren Grenzen gleichzeitig aber auch etwas ‚Unheimliches‘, diese Gegenwart des ‚Unheimlichen‘ lässt den Strom der Poesie fließen, auch
Arbeitsweise
b Ranking S.113 LAUFTEXTFLÄCHE: 262.8 CM2 ABSCHNITTE: 6 ZEILEN: 64 WÖRTER: 498 ZEICHEN: 2687 LEERZEICHEN: 493 ZITATE «”/’» “: 5 ‘: 6
Ranking S.115 a LAUFTEXTFLÄCHE: 330.6 CM2 ABSCHNITTE: 5 ZEILEN: 80 WÖRTER: 619 ZEICHEN: 3392 LEERZEICHEN: 613
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wenn es ein Strom von nur wenigen Volt ist. Fast wie das Schicksal, das in uns ist und immer vorwärts schreitet. Und so kommt es, dass sich die Poesie in Momentaufnahmen mit wenigen Versen zeigt. Das sind dann Gedichte, die ich ‚poetiche lampo‘, Blitzpoetik nenne. ‚Mai MaNcate NeVe di Maggio, chi Vuoi salVare?‘ – ‚Mai MaNcate NeVe di Maggio‘, das ist der Schnee im Mai, das sind unsere Voralpen, mit diesen Buchstaben, die in die Landschaft eingeschrieben sind. Sie zwingen fast dazu, die Landschaft zu lesen, als ob die Worte schon in der Landschaft geschrieben wären. Und dann kommt die Aussage, dieses Beharren der Natur, immer sie selbst zu bleiben: ‚chi Vuoi salVare‘, wen willst du retten?“ Einmal waren Dichter Helden. Auch Priester. Sie hatten eine präzise Aufgabe. Sie sollten Ordnung ins Chaos der Welt bringen. Sie haben besondere Gaben. Andrea Zanzotto ist einer dieser Dichter. Und er ist ein Reisender, ein Forscher, der Worte erst zum Schweigen bringt und sie dann befreit. Schon als Kind hörte Andrea den Klang, das Singen, das in der Sprache wohnt. Er las viel, den Corriere dei Piccoli, und erfand mit sieben die erste Reime. Seine Großmutter war eine wunderbar aufmerksame Zuhörerin. Mit sechzehn begann er als Aushilfslehrer zu unterrichten, um die Familie zu unterstützen. Mit siebzehn, an der Universität in Padua, lernte er Gedichte auswendig. Auf Französisch, Deutsch und Englisch. Vor allem Rimbaud, Baudelaire und Hölderlin. Sich in einer Sprache zu unterhalten interessierte ihn weniger, ihn faszinierten der Klang, der Gesang, der versteckte Sinn der Sprache, der in Gedichten deutlich wird. Vokabeln und Grammatik kommen dann wie von selbst. 1942 schließt er sein Literatur- und Philosophiestudium mit einer Dissertation über Grazia Deledda ab. Bis 1975 arbeitet er als Lehrer. Er ist Übersetzer (Balzac, Bataille, Michaux) und Literaturkritiker. Mit einer präzisen Aufgabe: anderen die vielschichtigen Beobachtungen und Erfahrungen auf der Reise ins Innere mitzuteilen.
„Alle, selbst die Bauern wussten damals, dass es Leute gab, die Verse schrieben: Dichter. Und dass die verrückt seien. Und auch schlau, gelang es ihnen doch, ohne Arbeit zu leben. Zum Beispiel D’Annunzio in seinem Vittoriale am Gardasee. Alle wussten, dass er reich war, dass der Staat ihn bezahlte, nur damit er dort sein Alter verbringen konnte. In unserem Dorf hatte es eine Contessa gegeben, die am Wiener Hof die Geliebte eines Schriftstellers gewesen sein soll … Pietro Metastasio. Maria Nina D’Altan, so hieß die Dame. Vielleicht war sie auch nur Metastasios Freundin und vielleicht hieß sie Marianna, denn Metastasio ist doch bekannt für die drei Mariannen, die sein Leben beeinflusst haben. Und eine war also die Maria Nina D’Altan. Meine Großmutter hatte sie noch gekannt, diese verrückte Contessa, die bei der Kommunion in der Kirche die anderen immer einfach wegdrängte. Sie wollte die erste sein. Es gab also diese Geschichte eines Dichters in Wien, am Hof des Kaisers, eine Geschichte von einem Dichter, der gratis gegessen hat.“ Seine Augen werden ernst. Er sitzt kerzengerade auf dem Stuhl. Helles Hemd, graue Hose, breite lederne Hosenträger. Seine Gedanken springen, bauen Brücken zwischen Erinnerungen, Erlebnissen und Beobachtungen. Der letzte heiße Sommer und die Anzeichen einer tief greifenden Klimaveränderung, das Grand Hotel am Abgrund, in dem alle so weitermachen, als sei nichts geschehen, die Staatsmänner, deren Eitelkeit er am liebsten zensieren würde. Langsam blättert er in seinem Buch. Beltà, Schönheit. Nicht bellezza oder Miss Italia. Beltà, fast archaisch, metaphysisch, eher eine Idee, die vielleicht auch im Himmel wohnen könnte. Wie bei Dante, Petrarca oder Leopardi. Nachdenkliches Streichen über die Seiten. „Es heißt, Beltà sei ein schwieriges Buch. Aber das ist es nicht wirklich. Die einzelnen Kapitel sind Landschaften, die von einem tieferen Licht als andere durchdrungen werden. Dinge, Personen – einfach alles kann schön sein. Aber nur für eine Person, für ei-
Arbeitsweise
b b Ranking S.113 LAUFTEXTFLÄCHE: 262.8 CM2 ABSCHNITTE: 6 ZEILEN: 64 WÖRTER: 498 ZEICHEN: 2687 LEERZEICHEN: 493 ZITATE «”/’» “: 5 ‘: 6 b Ranking S.115 LAUFTEXTFLÄCHE: 330.6 CM2 ABSCHNITTE: 5 ZEILEN: 80 WÖRTER: 619 ZEICHEN: 3392 LEERZEICHEN: 613 ZITATE «”/’» “: 4 ‘: 8
Ranking S.117 a LAUFTEXTFLÄCHE: 332.4 CM2 ABSCHNITTE: 4 ZEILEN: 80 WÖRTER: 609 ZEICHEN: 3343 LEERZEICHEN: 605
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ne andere schon nicht mehr, und nur unter einem einzigen Gesichtspunkt. Wenn wir den verändern, verliert sich die Schönheit. Schönheit ist also ein Trugbild, das sich in der Wirklichkeit festsetzt, wie und wo sie will. Wir wissen nicht, wann eine Person, ein Ding oder eine Landschaft schön sind, sind sie es doch nur für einen Moment, unter bestimmten, zufälligen Bedingungen, für wenige Minuten, für einen Augenblick, für eine Jahrmillion vielleicht. Wir benutzen ein- und dieselbe Sprache, um in einer Bar einen Kaffee zu bestellen und um ganz sublime Dinge auszudrücken. Und wie immer ergibt sich eine Art Treffpunkt im linguistischen System aus Gewichten, Gegengewichten und den Wundern der Sprache.“ Worte werden Abfall. Sie werden abgenützt, oft nur oberflächlich gebraucht. Das Telefon klingelt. Ein Glas Wasser. Längst sind wir über die vereinbarte Zeit hinaus. Auf dem Weg in den Garten einen Augenblick lang im Arbeitszimmer verweilen. Bücherregale, ein Schreibtisch, ein Sessel, ein Sofa, Wäschekörbe, alles voller Bücher, Zeitungsausschnitte, Notizen und Briefe. Er folgt meinen Blicken. Keine Fotografien an den Wänden. Weder von den Freunden Pier Paolo Pasolini, Luigi Nono oder Federico Fellini, noch von den Begegnungen mit Tristan Tzara oder Ernst Bloch. Kein Hinweis auf die zahlreichen Literaturpreise, die ihm verliehen wurden. Nicht einmal der Doktorhut. Andrea Zanzotto ist der erste Dichter, den die Universität Bologna mit einer „laurea ad honorem“ ehrt. Und kein Filmplakat. Zanzottos Gedichte werden in Fellinis Filmen „Casanova“, „Die Stadt der Frauen“ und „Schiff der Träume“ rezitiert. „Ich habe einen unbekannten Leser vor mir, fast einen Bruder, würde ich sagen. Wenn ich daran denke, dass sich unter meinen Lesern ein ‚du‘ befindet, dann kann dieses ‚du‘ von einem ‚du‘, das mit Liebe zu tun hat, zum freundschaftlichen ‚du‘ werden und sich schließlich auf das grammatikalische ‚du‘ redu-
zieren. Dahinter liegt ein Weg der Enttäuschung, der manchmal wieder ganz andere Richtungen nimmt, ich bin immer auf der Suche nach einem Ohr, das zuhört, nach einer Stimme, die wiederkehrt. Auch wenn ich sie nicht finde, geht es trotzdem weiter. Ein Dichter ist also in einer Situation, in der er die Realität durchbohrt. Er ist einer, der hinter den Erscheinungen den Nicht-Sinn sucht – als Ansporn, immer weiter zu gehen, um den Sinn im Un-Sinn zu suchen. Man könnte sagen, Sinn suchen bedeutet: sich im Unendlichen, im Undefinierbaren, im Nicht-Sagbaren zu verlieren. Und da erscheint dann auf einmal das Fantasma der Mathematik, der Wissenschaften insgesamt, die mit ihrer Anwesenheit immer wieder meine Arbeit mitbestimmen – auch wenn ich nie Wissenschaftler oder Mathematiker war. Viele wissenschaftliche Wörter, vor allem die, die in den allgemeinen Sprachgebrauch eingetreten sind und oft falsch verstanden werden, die habe ich benutzt, um ihre verschiedenen Bedeutungsschichten wieder freizulegen. Diese Worte sollten zu einem lebendigen Wesen werden. Jedes Wort hat eine Geschichte und trägt in seinem Innern die Spuren der Geschichte. Wenn ich jetzt, hier in Italien zum Beispiel das Wort ‚Sonne‘ auf Deutsch sage, dann beginne ich sofort zu denken, die Sonne, weiblich … die Sonne des Nordens, vielleicht ist sie mehr wie ein Löwe, also männlich? Der Mond. Das genaue Gegenteil: la luna im Italienischen, die Freundin luna der mediterranen Tradition. Aber in dem Wort ‚Mond‘ steckt auch mondo, die ‚Welt‘, es kehrt also in die neulateinische Sprache zurück: il mondo. Die Bedeutungen kommen und gehen, wenn man sich von einer Sprache in eine andere begibt.“ Geschichten. Aus dem ersten Weltkrieg. Bauern, die beim Pflügen die Knochen von Soldaten finden. Der Fluss, die Piave, la Isola dei Morti, die Toteninsel. Einmal war das Wasser rot vom Blut. Dahinter Hügel, Wälder und die Berge. Nur kurze Zeit später noch ein Krieg. Er hätte sich bei den deutschen Besatzern melden müssen. Aber, obwohl er krank war und eigent-
Arbeitsweise
b b b Ranking S.113
TOTAL
LAUFTEXTFLÄCHE: 262.8 CM2 ABSCHNITTE: 6 ZEILEN: 64 WÖRTER: 498 ZEICHEN: 2687 LEERZEICHEN: 493
LAUFTEXTFLÄCHE:
22 ZEILEN: 300 WÖRTER: 2299 ZEICHEN: 12’596 LEERZEICHEN: 2275 ABSCHNITTE:
ZITATE «”/’» “: 5 ‘: 6 b b Ranking S.115 LAUFTEXTFLÄCHE: 330.6 CM2 ABSCHNITTE: 5 ZEILEN: 80 WÖRTER: 619 ZEICHEN: 3392 LEERZEICHEN: 613 ZITATE «”/’» “: 4 ‘: 8 b Ranking S.117 LAUFTEXTFLÄCHE: 332.4 CM2 ABSCHNITTE: 4 ZEILEN: 80 WÖRTER: 609 ZEICHEN: 3343 LEERZEICHEN: 605
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Ranking S.119 a LAUFTEXTFLÄCHE: 311.6 CM2 ABSCHNITTE: 7 ZEILEN: 76 WÖRTER: 573 ZEICHEN: 3174 LEERZEICHEN: 564
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lich immer gedacht hatte, nie 20 Jahre alt zu werden, schloss er sich den Partisanen an. „Wir verteilten Flugblätter und überbrachten Nachrichten. Das war nicht ungefährlich. Aber dass ich nicht wirklich kämpfen konnte, machte mich traurig, denn ich glaubte an etwas Höheres. Gleichzeitig hatte ich Schuldgefühle, konnten doch jüngere als ich, die vielleicht weniger nachdachten, Großes vollbringen … Schuldgefühle, vor allem dann, wenn einer sterben musste. Ich dachte an diese Toten immer als vorausgeeilte Genossen, die das Maximum erreicht hatten. Uns blieb nichts, als die Erinnerung an sie zu bewahren. Gern denke ich nicht an diese Zeit … In der Zeit der deutschen Vergeltungsmaßnahmen war ich in den Bergen beim Kommando der Partisanen, um neue Befehle entgegen zu nehmen. Unten sah man die Dörfer in Flammen. Eine ununterbrochene Linie von Bränden, von Pieve di Soligo das ganze Tal entlang.“ Nach dem Krieg findet Andrea Zanzotto keine Arbeit. Er muss emigrieren, seine Landschaft verlassen. Er findet in der Schweiz Anstellung als Kellner, Barkeeper und Lehrer in einem internationalen Internat. Er unterrichtet alle Fächer, auch Mathematik (in französischer Sprache). Mit dem ersten selbst verdienten Geld kauft er sich zwei Anzüge und einen Mantel. 1947 kehrt er nach Pieve zurück. Viel hat sich seitdem verändert. Seine Landschaft ist zerstört. Fabrikshallen, Supermärkte, Mega-Diskotheken. Gestrandete Flugzeugträger zwischen ville, villette, villone, Häuser mitten in den Weinbergen. „Wenn ich nachdenke, dann … es ist, als ob sich langsam alles auflösen würde. Ich denke also wie der Überlebende einer vergangenen Zeit. Ich sehe eine Blume und vergesse, dass es auch fleischfressende Pflanzen gibt. Einen Augenblick lang denke ich nur an die Blume, denke ich aber weiter, bin ich mit Bösartigem konfrontiert. Trotzdem. Ich schreibe. Ich
kann einfach nicht anders. Die Worte singen in meinem Ohr, sie veranlassen mich zu imitieren. Es kommt vor, dass ich ein Gedicht wieder finde, das ich vielleicht vor fünf Jahren begonnen habe … es ist wahr, manchmal kann ein Gedicht bereits ‚fertig‘ entstehen, manchmal kommt es aber auch später, in Wellen. Vielleicht fehlte nur ein bestimmtes Wort, das nach Jahren wie von selbst auftaucht. Ich habe also diesen unbesonnenen, unüberlegten Akt begangen, Gedichte zu schreiben.“ Ein kurzes Lächeln auf die Frage, wann ein Gedicht ein gutes Gedicht sei. Die Meinung eines Dichters zähle nicht mehr als die eines Kritikers oder irgendeines anderen. Eine Einladung, sich und seinen Assoziationen zu vertrauen. „Es ist schwierig zu beschreiben, da sind die Realitäten des Lebens, Krankheit, ein Trauerfall … und am Horizont, da droht immer die Gefahr sich zu verlieben, (er lacht) die ja manchmal auch … ich will sagen, dass es nichts Schlimmeres als eine platonische Liebe gibt. Es ist wahr, es gibt sie. Ich zum Beispiel habe mich oft und schnell in Mädchen verliebt, die etwas kränklich waren, und mein Verliebtsein war nützlich, um ihnen zu helfen, sie aufzurichten. Diese Liebe empfand ich nicht als körperliche Anziehung, eher als platonische Liebe. Aber diese Art von Liebe ist nicht weniger zerstörerisch als die anderen …“ Er lächelt. Wir stehen auf der Terrasse, schauen in den Garten. Hinter der Hecke die Straße, dazwischen Topinambur. Schade, dass die Pflanze so gern auf Müllhalden wächst. Gegenlicht. Dann, auswendig, ein Gedicht, ein Geschenk: „Über allen Gipfeln ist Ruh“, fast wie ein Gebet, das Grenzen und Barrieren überschreitet. Andrea Zanzottos Gesamtwerk erscheint auf Deutsch im FolioVerlag (Wien, Bozen). Bisher: La Beltà/Pracht. Gedichte (Bd. I); Gli Sguardi i Fatti e Senhal/Signale, Senhal. Gedichte (Bd. II); Auf der Hochebene und andere Orte. Erzählungen (Bd. III)
Rahmenerzählung
Ranking S.121 a LAUFTEXTFLÄCHE: 248.9 CM2 ABSCHNITTE: 3 ZEILEN: 60 WÖRTER: 481 ZEICHEN: 2502 LEERZEICHEN: 478
WORT «SIGNORA» SIGNORA: 3
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Landstreicher Nächte
Von Andrea Zanzotto Ich denke mit Wehmut an die Jahre, als ich Kutschenund Pferdeverleiher war. Jetzt mache ich anderes, bin vielleicht aufgestiegen, wie man sagt; doch wo ist der riesige Hof geblieben, mit dem Pferdestall, dem Brunnen, aus dem der Stallknecht und ich in Eimern Wasser schöpften, um sauber zu machen? Mir scheint, dass damals fast immer die Sonne leuchtete. Dabei waren die Winter lang, vielleicht länger als heute, und ebenso die Regen. Ich hatte Kutsche, Wagen, eigene Pferde, ich fuhr aus auf dem Kutschbock, zu den verschiedensten Tages- und Nachtzeiten, um Personen oder Güter zu befördern, die mir Geld einbrachten, das ich, im Falle von Kreditwürdigkeit, gegen gute Zinsen verlieh, und davon lebte ich. Meine Pferde waren alle sehr gepflegt, gestriegelt, dass sie wie geölt aussahen, stattlich und schlank; aber nie ist es mir gelungen, jenen Geruch von Leder, von Schweiß, von Stallmist ganz aus dem Inneren der Kutsche zu entfernen, obgleich sie angestrichen war. Es war mein Geruch, aber ich mochte ihn nicht. Ich hatte gerade geheiratet, und meine Frau, ein wenig älter als ich, ich werde nicht sagen, dass sie besonders schön war, aber sie kam aus einer guten Familie; ihre Mitgift hatte ich für meinen Betrieb verwendet, für die Pferde. Und Alba war zufrieden, dass ihr Geld Früchte getragen hatte; sie verstand schnell, war voller Neugier, hatte kastanienbraunes und gelocktes Haar, einen ganzen Berg, zwei graue, äußerst wache Augen; groß und hager.
Mir gefiel sie, ich dachte nicht an andere. Ich schnaubte, wenn ich mitten in der Nacht aus dem Bett musste, weil ein Kunde einen Dienst verlangte; aber das gehörte zum Geschäft. Manch einen habe ich zuweilen abgewiesen; doch nie hätte ich mir ein solches Verhalten der Signora Zuanil gegenüber erlaubt, auch wenn ich gerade ihr die meisten meiner nächtlichen Störungen zu verdanken hatte, im Sommer meinetwegen, aber auch im schlimmsten Winter. Sie war so rücksichtsvoll, mich durch ihre Diener verständigen zu lassen, dass sie, sagen wir, um ein Uhr nachts vor ihrem Haustor stehen würde, bereit zur üblichen Rundfahrt. Aber öfter noch weckte sie mich; riss mich aus dem Schlaf mit ihrem Läuten, das lang aber schüchtern war, immer wieder einsetzend. Für gewöhnlich wollte sie, dass wir mit dem besten zur Verfügung stehenden Gespann das Tal bis zur Weggabelung hinauffuhren, wo sie sich, nicht ohne langes Abwägen, für die Straße nach Valne oder jene nach Risena entschied. An regnerischen Abenden, oder verschneiten, wenn ich erreicht hatte, woran ich den ganzen Tag gedacht, nämlich mich mit Alba zurückzuziehen, und mich gerade tief im Schlaf befand, da hörte ich nach mir rufen, vernahm die Glocke, fast flehentlich, im Dunkel. Alba rüttelte mich wach. „Es ist die Signora. Die Signora!“ „Glaubst du?“, entgegnete ich fügsam und hörte, über die Leere des Hauses, das Prasseln des Regens oder das Pfeifen des Windes. „Man muss sich beeilen, wer weiß, wie nass sie schon ist, vom Warten.“ Alba war mitfühlend, in solchen Momenten, sie dachte nicht ans Geld. Sie wusste, dass
Rahmenerzählung
b Ranking S.121 LAUFTEXTFLÄCHE: 248.9 CM2 ABSCHNITTE: 3 ZEILEN: 60 WÖRTER: 481 ZEICHEN: 2502 LEERZEICHEN: 478 WORT «SIGNORA» SIGNORA: 3
Ranking S.123 a LAUFTEXTFLÄCHE: 259.2 CM2 ABSCHNITTE: 1 ZEILEN: 62 WÖRTER: 465 ZEICHEN: 2563 LEERZEICHEN: 461
WORT «SIGNORA» SIGNORA: 5
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die Signora in jungen Jahren Witwe geworden war. Sie hatte eine einzige Tochter, und die war ihr gestorben, wie dazu bestimmt, der „Engel“ des Dorfes zu werden, den Himmeln in seiner lilienweißesten Tugend besonders lieb, und die Himmel, gierig, hatten sie mit sich genommen. Seit damals hatte die Signora ohne Ende geweint, sagte man. Und es schien unvorstellbar, dass dieser Reichtum mit Tränen befleckt, dieses stabile Haus, die Fußböden, die Möbel, der Goldschmuck (aber wer hatte ihn je gesehen?), dass dies alles in schändlicher Weise von Schmerz befleckt wurde. Und die Signora hatte die Trauer nie abgelegt. Allerdings klein: mit riesigen schwarzen Augen und einem harten gebieterischen Gesicht; ein großer Kopf, fast unverhältnismäßig für den Leib; und sie tat einem fast Leid bereits vor dem Unglück, wegen dieser besonderen Unverhältnismäßigkeit, dieses Gegensatzes zwischen Körper und Kopf: der einen starken Willen anzeigte, welcher dann zu nichts führte, sich gegen nichts durchsetzte. Es war traurig, an sie zu denken, dort im Regen und Wind. Alba zündete mir die Lampe an, ich kleidete mich an und ging hinunter, lief fast, während es, in immer kürzeren Abständen, immer weiter klingelte. Ich öffnete und sie trat in die Küche, dankte mir, durchnässt, mit tropfendem Regenschirm. Oder ganz bestäubt von Schneekristallen. Ich bat sie, einen Augenblick zu warten, und bald waren Pferd und Landauer bereit, schwarze Schatten, stolz beinahe, in der Einfahrt des Schuppens. Wir nahmen unsere Reiseroute. Ich durfte nie schnell fahren; Schritttempo musste es sein, bei jedem Wet-
ter. Ich weiß eigentlich nicht, was die Signora tat. Schaute sie aus dem Fenster? Überließ sie sich dem Schlaf auf den roten Samtkissen, auf der Polsterung der Kutsche? Ich, gehüllt in einen Umhang, der mich wahrlich schützte vor allen Unbilden des Wetters, oder befreit, in der guten Jahreszeit, die ganze Frische der Morgenstunden für mich zu haben, ließ mich fallen in den Genuss der Nacht, vergaß auf meinen Fahrgast, stellte mir nicht mehr vor, was sie fühlte, was sie dachte. Das Murmeln des Flusses, das bei Lichte der Unaufmerksamkeit aller monoton erscheinen mochte, trat hervor aus der Einebnung, in die der Tag es verbannte, trat hervor mit all seinen Stimmen, hatte feine, überraschende Hebungen. Bei jeder Kehre, jedem neuen Bergsporn, bei jedem Seitentälchen wechselte der Gesang, bald plötzlich, bald allmählich, wandelte sich ab, verwandelte sich dem Sommer oder Winter an. Es zogen hohe und schwarze Wolken zwischen den Sternen, oder Windstöße schnitten mir ins Gesicht, aus den Dunkelheiten hervorstürzend, oder Duftschleier aus dem Wald berührten meine Nasenlöcher, strömten in mich. Hinunter nach Risena oder hinauf nach Valne: An der Gabelung musste ich vom Kutschbock springen, mich neben die Kutsche stellen, ans Fenster, und die Entscheidung der Signora abwarten. Manchmal verging eine halbe Stunde, bevor mir die Anweisung gegeben wurde, mit einem Handzeichen. Die ganze Nacht verging, im Schritt, so dass die Schellen kaum geschüttelt wurden; wir kamen in der Dämmerung oder am frühen Morgen an, wenn der erste
Rahmenerzählung
b b Ranking S.121 LAUFTEXTFLÄCHE: 248.9 CM2 ABSCHNITTE: 3 ZEILEN: 60 WÖRTER: 481 ZEICHEN: 2502 LEERZEICHEN: 478 WORT «SIGNORA» SIGNORA: 3 b Ranking S.123 LAUFTEXTFLÄCHE: 259.2 CM2 ABSCHNITTE: 1 ZEILEN: 62 WÖRTER: 465 ZEICHEN: 2563 LEERZEICHEN: 461 WORT «SIGNORA» SIGNORA: 5
Ranking S.125 a LAUFTEXTFLÄCHE: 254 CM2 ABSCHNITTE: 2 ZEILEN: 61 WÖRTER: 485 ZEICHEN: 2584 LEERZEICHEN: 483
WORT «SIGNORA» SIGNORA: 3
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Schimmer (der von der Signora vielleicht immer aufs Neue gefürchtete, verwunschene) auf meine müden Lider schlug. Kaum am Ziel – fast immer wählte sie Risena – ließ sie mich vor dem Hotel Zur Giraffe halten. Und der Wirt, der in der Tür stand, als er meine Kutsche hoch droben auf dem letzten Hang, der zum Dorf hinunterführte, abbiegen sah, lief hastig, um der ganzen Dienerschaft Anordnungen zu erteilen. Die Signora, ehrerbietigst begrüßt, stieg aus, wies die jedes Mal angetragenen Hilfen von sich, hatte immer großen Hunger. Sie wollte ein großes Mahl, entschuldigte sich wegen der wenig angemessenen Uhrzeit und verlangte die Zusicherung, dass für sie keine außergewöhnlichen Anstalten getroffen würden. Aber sie ließ sich ablenken vom Duft des Bratens, der sich schon drehte, auf dem Spieß. Welch vorzügliche, feine Speisen nahm die Signora Zuanil zu sich, bedient von zwei Kellnern in Jackett und Handschuhen! Und auch mir ließ sie es an nichts fehlen. An einem anderen Tisch, aber nicht weit entfernt von ihr, ließ sie mir eine Speisekarte vorlegen, die in einigen wenigen Gerichten von der ihrigen abwich; vielleicht wollte sie mir die ausgefallenen Speisen nicht servieren lassen, weil sie glaubte, sie würden mir nicht schmecken. Sie blickte mich nie an, während ihrer Mahlzeit. Sie aß mit ehrlichem Appetit, ohne zu übertreiben. Am Schluss aber packte sie sorgsam die Reste ein, in verschiedene Tüten, dann sammelte sie mit verstohlener Miene und mir komplizenhaft zublinzelnd, worauf ich schon gefasst war, alle Zahnstocher, leerte die Salz- und Pfefferschälchen, füllte weitere Tütchen damit und steckte sie ein,
das schöne schwarze Kleid bauschte sich, während sie versuchte, die Sachen zu verstecken, indem sie drückte und glättete und glättete mit den Händen. Im nächsten Augenblick lud sie mich ein, gleiches zu tun, sie fühlte sich besser, wenn sie sah, dass auch ich ihr folgte, ihre Tat nachahmte. Der Gastwirt, von ihr nicht bemerkt, wohl aber von mir bemerkt, beobachtete erheitert jenes Treiben, das ihrer Überzeugung nach im Verborgenen geschah. Im Übrigen stritt sie um keinen Groschen bei der Rechnung, die ihr vorgelegt wurde, vergaß auch nicht den Zehner für jeden Kellner und bestand darauf, ihn jedem in die Hand zu drücken, seine Hand um das Geld zu schließen. Zurück gings im Trab, am Abend wurde ich mit wundersamer Pünktlichkeit entlohnt. Der Diener brachte mir, in einem Beutelchen, eine Goldmünze, und fast immer einen Korb mit Äpfeln oder Nüssen, bisweilen ein Täubchen: Zuwendung einer Dame, die auf diese Weise vielleicht ihre vornehme Stellung unterstreichen wollte und treu blieb den edlen Gewohnheiten ihrer Vorfahren; aber Zeichen auch einer gewissen Dankbarkeit und, möchte ich sagen, einer gewissen Zuneigung. Einmal aber, bei der Rückkehr, bat sie mich, sie in ihrem Haus zu besuchen, um ihr meine Frau vorzustellen, die sie nur flüchtig gesehen hatte, kaum wahrgenommen. Alba war nicht aus unserem Dorf, und sie wünschte, so sagte sie mir, sich persönlich ein Urteil zu bilden über den mit Alba getanen Erwerb seitens der örtlichen Bevölkerung: vielleicht empfand sie
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b b b Ranking S.121
TOTAL
LAUFTEXTFLÄCHE: 248.9 CM2 ABSCHNITTE: 3 ZEILEN: 60 WÖRTER: 481 ZEICHEN: 2502 LEERZEICHEN: 478
LAUFTEXTFLÄCHE:
7 ZEILEN: 240 WÖRTER: 1864 ZEICHEN: 9998 LEERZEICHEN: 1848 ABSCHNITTE:
WORT «SIGNORA» SIGNORA: 3 b b Ranking S.123 LAUFTEXTFLÄCHE: 259.2 CM2 ABSCHNITTE: 1 ZEILEN: 62 WÖRTER: 465 ZEICHEN: 2563 LEERZEICHEN: 461 WORT «SIGNORA» SIGNORA: 5 b Ranking S.125 LAUFTEXTFLÄCHE: 254 CM2 ABSCHNITTE: 2 ZEILEN: 61 WÖRTER: 485 ZEICHEN: 2584 LEERZEICHEN: 483
WORT «SIGNORA»:
WORT «SIGNORA» SIGNORA: 3
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WORT «SIGNORA» SIGNORA: 6
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es, aufgrund ihrer Stellung, wie ihre Ahnen als Pflicht, über alle zu wachen, alle zu kennen. Ich war geschmeichelt von dieser Aufmerksamkeit, bereitete mich auf den Besuch vor, und insbesondere versuchte ich, meine Frau vorzubereiten, und brachte ihr in Erinnerung, wer die Signora war und aus welchem Geschlecht, und ihre Gewohnheiten. Als wir uns zu ihrem Anwesen begaben, war es die Signora, die uns öffnete, wir schritten durch die zwei Salons und wurden in der Küche empfangen. Dort ließ sie uns, im Stehen, zwei Glas Wein servieren, ohne sich zu beteiligen, und beobachtete Alba, ohne das Gespräch allzu sehr anzuregen; aber man wusste, dass die Signora die Worte nicht besonders liebte. Das Schweigen erlaubte uns, uns umzuschauen, einen so intimen Ort im Hause meiner Kundin näher kennen zu lernen, einen Ort, zu dem nur wenige im Dorf behaupten konnten, vorgedrungen zu sein. Die Küche hatte nichts Außergewöhnliches an sich, aber hinter einer angelehnten Türe erschien das Innere einer Waschküche; meine Frau starrte unverwandt in jene Richtung, und da entdeckte auch ich, dass eine ganze Wand der Waschküche eingenommen wurde von langen, übereinander hängenden Reihen von Schöpflöffeln, Schöpflöffeln aller Art, aus Holz und Metall, in den wunderlichsten Formen und Größen. Sicher Hunderte. „Aber Signora, was machen Sie mit all diesen Schöpfern?“, wollte Alba wissen. Und es war, als ob ein riesiger Tropfen sich langsam gebildet hätte und plötzlich, durch sein Eigengewicht, herabgefallen und am Boden zerplatzt wäre. Oder mir zwischen meinen Hals
und Kragen gefallen wäre, eisig. Die Signora schien nicht verstanden zu haben, ihr Gesicht zeigte keine Regung, die Frage blieb ohne Antwort. Augenblicke später wurden wir verabschiedet, mit weniger offenkundiger Herzlichkeit als bei unserer Ankunft. Ich wollte mich noch einen Moment aufhalten und deutete meiner Frau, vorauszugehen. „Signora, ich hoffe, Sie mögen entschuldigen … Meine Frau … Sehen Sie …“ „Ich wüsste nicht, Giuseppe, was ich Euch entschuldigen müsste. Auf Wiedersehn, auf Wiedersehn“, machte sie, mich beinahe zur Tür hinausstoßend. Es gab kein Wiedersehen, ich wurde nicht mehr ins Haus Zuanil gerufen, hörte nicht mehr die Glocke, die von der Hand der ehrenwerten Dame gezogen wurde, in Sturmesnächten. Man sagte mir, viel später, dass sie immer trauriger und böser wurde. Sie zürnte den Bauern, zieh sie des Betrugs, versuchte sie zu kränken, und einmal, als sie sich in das Haus eines ihrer Pächter begeben hatte wegen eines Streits um die Ernte, hatte sie in einen Kochtopf uriniert.
Sammelbecken
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Besetzung
Nathan Aebi, Sierre/VS → Zürich: Art Director „Das Magazin“ Maria E. Brunner, Pflersch → Schondorf am Ammersee: Professorin für Deutsche Literaturwissenschaft an der Pädagogischen Hochschule Schwäbisch Gmünd. Buchveröffentlichungen: „Berge, Meere, Menschen“ (Roman, Folio Verlag, Wien–Bozen 2004). Übersetzungen aus dem Italienischen und Publikationen in verschiedenen Zeitschriften, u.a. in „Wespennest“, „Literatur und Kritik“, „Merian“. Hans Danner, Kufstein → Innsbruck: Freischaffender Schauspieler. Studium der Germanistik, Politikwissenschaft und Theologie. 1999–2003 Schauspieler an der Elisabethbühne Salzburg. freilich landschaftsarchitektur Meran; Veronika Reiner, Bozen → Meran; Sebastian Gretzer, Bozen → Meran; Karin Elzenbaumer, Bozen → Meran: 1992–2002 Studium der Landschaftsplanung und Landschaftsarchitektur an der BOKU und der TU Wien, ETSAB Barcelona und ESAB Barcelona. Bürogründung 2002. Projekte: Flusserlebnisbereiche Untere Ahr (2004), Betriebspark Dr.-Schär-GmbH / Burgstall (2003), Hotelgarten Vigilius Montain Resort / Lana (2002). Wettbewerbe: Hotelgarten Penta Renaissance Hotel / Wien, 1. Preis (2005); Garten für Verliebte/Gärten von Schloss Trauttmannsdorff /Meran, 3. Preis (2005); Stadtpark Hardau /Zürich, 2. Preis (2004). Rolf Glittenberg, Melle → Hamburg: Bühnenbildner. Ausstattungen an wichtigen Opernhäusern, Theatern und Festivals: Thalia Theater Hamburg, Zürcher Schauspielhaus, Wiener Burgtheater, Wiener Staatsoper, Edinburgh Festival, Nederlandse Opera Amsterdam, Deutsche Oper Berlin, Staatsoper Stuttgart, Salzburger Festspiele. Zusammenarbeit mit Regisseuren wie George Tabori, Luc Bondy, Claus Peymann, Götz Friedrich und Peter Mussbach. Letzte Arbeiten (alle Opernhaus Zürich): „Elektra“ (Regie: Martin Kušej), „Lulu“, „Otello“, „Die tote Stadt“, „Der Rosenkavalier“ und „Pelléas et Mélisande“ (Regie bei allen Inszenierungen: Sven-Eric Bechtolf). Michael Hausenblas, Bregenz → Wien: Journalist. Mitarbeiter der Tageszeitung „Der Standard“. Betreuer des Bereiches Design im Magazin „Rondo“ sowie der „MQ-Site“, dem Magazin des Museumsquartiers. Bernhard Kathan, Fraxern → Innsbruck: Kulturhistoriker, Autor und Künstler. Arbeitsschwerpunkt: Geschichte der Wahrnehmung unter Beachtung technikgeschichtlicher Entwicklungen. Betreiber des „Hidden Museum“ (www.hiddenmuseum.net). Ulrich Ladurner, Meran → Hamburg: Journalist. Arbeitet als Auslandsreporter für die Wochenzeitung „Die Zeit“. Sein Buch „Tausendundein Krieg. Begegnungen am Persischen Golf“ ist im NPBuchverlag/ St. Pölten erschienen. Werner Kleon, Bozen → Innsbruck: Architekt. Studium und Abschluss an der technischen Universität Innsbruck, Staatsprüfung an der Universität Venedig. Mitarbeit im Büro Architekt Johann Obermoser. Seit 2000 Bürogemeinschaft mit Thomas Moser. Teilnahme an der Architekturbiennale in Venedig 2004 (Gruppenausstellung im Österreichpavillon). Letzte Bauten: M-Preis Kirchbichl, Archäologiemuseum Aguntum/Osttirol (Eröffnung: 3. Juni 2005). Thomas Moser, Birgitz → Innsbruck: Architekt. Studium und Abschluss an der technischen Universität Innsbruck. Seit 2000 Bürogemeinschaft mit Werner Kleon. Kulturpreisträger für Architektur des Landes Oberösterreich (gemeinsam mit Architekt Pe138/139
ter Riepl, Linz). Teilnahme an der Architekturbiennale in Venedig 2004 (Gruppenausstellung im Österreichpavillon). Letzte Bauten: M-Preis Kirchbichl, Archäologiemuseum Aguntum/Osttirol (Eröffnung: 3. Juni 2005). Dorit Margreiter, Wien → Wien und Los Angeles: Bildende Künstlerin. Projekte und Ausstellungen (Auswahl): „Everyday Life“, Galerie im Taxispalais, Innsbruck, 2001/2002; „the air is blue“, Museo Casa Barragan, Mexico City, 2003; „10104 Angelo View Drive“, Museum Moderner Kunst Stiftung Ludwig Wien, 2004; „International“, Liverpool Biennial 2004, Tate Liverpool. Zahlreiche Videoarbeiten und Publikationen. Auszeichnungen (Auswahl): Otto Mauer Preis (2002), Preis der Stadt Wien (2003), Preis der Telekom Austria (2004). Michaela Nolte, Witten/Ruhr → Berlin: Freie Autorin (u.a. für die Tageszeitungen „Die Welt“, „Der Tagesspiegel“). Diverse Katalogbeiträge u.a. zu Stefan Balkenhol, FLAP, Eva Hesse, Wolf Vostell. Ausstellungskuratorin von „sic!projects“, Berlin. Irene Prugger, Hall in Tirol → Mils bei Hall i.T.: Schriftstellerin und freie Journalistin. Zuletzt erschien ihr Erzählband „Nackte Helden und andere Geschichten von Frauen“ (Skarabæus-Verlag, Innsbruck 2003). Kulturpreis der Stadt Innsbruck für literarisches Schaffen (2002). Thomas Radigk, Mühlhausen/Sulz → Rom: Autor. Studium an der Akademie der Bildenden Künste in München. Seit 1994 freier Autor für Rundfunk und Fernsehen. The Remingtons; Ludovic Balland, Genf → Basel; Jonas Voegeli, Zürich → Basel: Grafikatelier in Basel (gegründet 2002). Visuelle Gestalter. Ihre Tätigkeit konzentriert sich auf die Bereiche Buchgestaltung, Typographie und Fotografie und wurde mit diversen Preisen ausgezeichnet. Seit 2003 Lehrtätigkeit an der Ecole Cantonale d’Art Lausanne sowie an der Hochschule für Gestaltung und Kunst Zürich. Zahlreiche Ausstellungsbeteiligungen und Publikationen. Christoph Simon, Langnau → Bern: Autor. Verreist häufig (der letzte interessante Zug ist der Intercity nach Zürich Flughafen, 23.02 Uhr, Gleis 8). Diverse Angestelltenverhältnisse, bis ihm zwei Romane ein Auskommen als freier Autor ermöglicht haben. Der erste Roman heißt „Franz oder Warum Antilopen nebeneinander laufen“ und spielt in Thun. Der zweite Roman heißt „Luna Llena“ und spielt in Bern. Der nächste Roman, der im Herbst erscheint, spielt in der weiten Welt. Ernst Trawöger: geboren 1955. Thomas Trummer, Bruck an der Mur → Wien: Kurator für moderne und zeitgenössische Kunst an der Österreichischen Galerie Belvedere, Wien. Studium der Musik, Kunstgeschichte und Philosophie. Zahlreiche Veröffentlichungen zur Geschichte der Ästhetik und der Gegenwartskunst, zuletzt: „Trauer“ (Wien 2003); „Ulysses. Die unausweichliche Modalität des Sichtbaren“, (Wien 2004); „Stimmenbilder“ (Frankfurt/Main 2004); „Valie Export: Serien“ (Frankfurt/Main 2004); „22 Interviews“ (Frankfurt/Main 2005). Anton Würth, Oberstdorf/Allgäu → Berlin: Bildender Künstler. Studium für Grafik-Design an der Fachhochschule Augsburg. Seit 1985 freiberuflicher Maler und Grafiker, hauptsächlich als Buchkünstler tätig. Ausstellungen im In- und Ausland. Ausgestellte Arbeiten u.a. in der Wiener Albertina, in der Grafischen Sammlung der Staatsgalerie Stuttgart und im Museum of Modern Art, New York.
Andrea Zanzotto, Pieve di Soligo (Treviso) → Pieve di Soligo: Schriftsteller. 1942 Abschluss des Literaturstudiums in Padua. Aufenthalte in Frankreich und der Schweiz. Nach der Rückkehr in seinen Heimatort arbeitete Zanzotto als Lehrer. Er unterhält enge Kontakte zu den kulturellen Kreisen in Venedig, Mailand und Rom. Werkauswahl: „La Beltà“ (1968); „Pasque“ (1973);
„Filò“ (1976); „Il Galateo in Bosco“ (1978); „Fosfeni“ (1983); „Idioma“ (1986). Preise: Premio Viareggio (1979); Premio Librex-Montale (1983); Premio Feltrinelli der Accademia dei Lincei (1987); Preis der Stadt Münster für Europäische Poesie (1993) u. a.
Quart Heft für Kultur Tirol
Herausgeber: Kulturabteilung des Landes Tirol Anschrift der Redaktion: Circus, Kochstraße 10, A-6020 Innsbruck, office@circus.at Abobestellungen und Anzeigen: Skarabaeus c /o Studienverlag, A-6020 Innsbruck, Amraser Straße 118 T 0043 (0) 512 / 39 50 45, F 0043 (0) 512 / 39 50 45-15, order@studienverlag.at, www.skarabaeus.at oder Skarabaeus c/o Studienverlag, I-39010 Frangart, Pillhof 25, T 0039 0471 / 63 39 29, e.simeaner@studienverlag.at Chefredakteur: Andreas Schett Stv. Chefredakteurin: Heidi Hackl Geschäftsführer / Verleger: Markus Hatzer Redaktionssekretariat: Carmen Ferrada Mitarbeiter dieser Ausgabe: Maria E. Brunner, Hans Danner, freilich landschaftsarchitektur, Rolf Glittenberg, Michael Hausenblas, Fabian Kanz, Bernhard Kathan, Werner Kleon, Ulrich Ladurner, Dorit Margreiter, Thomas Moser, Michaela Nolte, Irene Prugger, Thomas Radigk, Christoph Simon, Ernst Trawöger, Thomas Trummer, Anton Würth, Andrea Zanzotto Kuratoren: Ruedi Baur, Othmar Costa, Karin Dalla Torre, Eduard Demetz, Georg Diez, William Engelen, Martin Gostner, Helmut Groschup, Franz Hackl, Hans Heiss, Stefanie Holzer, Sebastian Huber, Gabriele Kaiser, Otto Kapfinger, Walter Klier, Martin Kofler, Gustav Kuhn, Christoph Mayr-Fingerle, Milena Meller, Walter Methlagl, Wolfgang Mitterer, Walter Niedermayr, Thomas Nußbaumer, Ludwig Paulmichl, Dominque Perrault, Wolfgang Pöschl, Robert Renk, Arno Ritter, Helmut Reinalter, Benedikt Sauer, Benno Simma, Gerhard Steixner, Vitus H. Weh, Lois Weinberger, Maria Welzig u.a. Konzeption und Gestaltung der linken Seiten: Ludovic Balland & Jonas Voegeli (The Remingtons, Basel) und Nathan Aebi („Das Magazin“, Zürich) Visuell-editorisches Basiskonzept: Walter Pamminger Farbkonzept: Peter Sandbichler Grafische Realisation: Werner Deutsch, Michaela Wurzer /Circus Druckvorstufe und Druck: Alpina Druck GmbH, Innsbruck Andrea Zanzotto: „Landstreicher Nächte“, in: Andrea Zanzotto: Auf der Hochebene und andere Orte. Erzählungen. Planet Beltà. Band 3. Hg. u. übers. von Donatella Capaldi, Maria Fehringer, Ludwig Paulmichl und Peter Waterhouse. S. 12–18. © Folio Verlag / Urs Engeler Editor 2004 Verwendung der Karte „Tirol – Vorarlberg 1:200.000“ auf den Seiten 100/101 mit freundlicher Genehmigung von Freytag-Berndt u. Artaria KG, Kartografische Anstalt. Sämtliche inhaltlichen Beiträge dieses Heftes sind Ersterscheinungen, Auftragswerke, Uraufführungen.