Quart Heft für Kultur Tirol Nr. 10/07 E 12,–
Fotografie: Günter Richard Wett
HALOTECH L i C H T f A b r i k
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Inhalt
Hans Schabus Umschlag Briefmarkenalbum Halotech Lichtfabrik Hans Schabus hat auf allen linken Seiten sein Briefmarkenalbum neu geordnet Inhalt Auf die Nerven Philipp Mosetter hat Recht und einen Freund weniger Bauen Sie in diesem Bergwerk die unendlichen Weiten ab! Robert Woelfl geht mit Hans Schabus in die Tiefe
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Gutachten. Diesmal: Schöpfung Vier Eingriffe von Ferdinand Cap, Martin Widschwendter, Barbara Hundegger und Johannes Huber 84 – 93
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Brenner-Gespräche (1): Haben Sie ein System? Der Komponist Heiner Goebbels im Gespräch 94 –107 Eigenwerbung
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Rede des Chirurgen Raimund Margreiter über Herz und Nieren. Eine Mitschrift 34 – 39 Landvermessung No. 2, Sequenz 5 Von Wenns im Pitztal nach Nufels im Kaunertal. Urs Mannhart, Velokurier aus Bern, ist ausnahmsweise zu Fuß unterwegs 40 – 53
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Schießen Sie nicht auf den Drehbuchautor! Guten Ideen, schlechten Ideen: Clemens Aufderklamm erzählt von den Folgen 64 – 75 Peter Sandbichler Orginalbeilage Nr. 10
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Glockenmoid mit Pagenkopf Thomas Nußbaumer entdeckt Unstimmigkeiten in der Lebensgeschichte der Komponistin Maria Hofer 18 –33
Das Erbe der Einsamkeit Was machen Genforscher in Südtiroler Bergdörfern? Von Alice Riegler
„Wer hart arbeitet, hat durchhängende Betten nicht verdient.“ Ivona Jelcic ermittelt verdeckt im Tupperware-Milieu
Queen for a Day Heinz Trenczak porträtiert die Schriftstellerin, Pianistin, Malerin und Haremsdame Djavidan Hanum 110 –117 Wozu Geisteswissenschaften? Ja, das ist die Frage. Helmut Reinalter über die gar nicht gähnende Lehre
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Tirols Architekten und Ingenieurkonsulenten Swarovski Kristallwelten
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Haymon Verlag Binder Holz
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Alpina Druck col legno
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Hypo Tirol Tirol Werbung
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Besetzung, Impressum Hans Schabus Umschlag Briefmarkenalbum
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Auf die Nerven
„Das kenn’ ich schon, das hat’s ja schon gegeben!“ – Philipp Mosetter polemisiert gegen einen weit verbreiteten Stehsatz der Kunstbetrachtung. Ich hatte gestern Abend einen vernichtenden Streit zu bestehen. Nur Handgreiflichkeiten sind ausgeblieben. Jedenfalls, viel hat nicht gefehlt und es wäre dazu gekommen. Zuerst ein grauenvoller Theaterabend, dann eine Auseinandersetzung, die eine alte, tiefe Freundschaft in seinen Fundamenten erschütterte. Es war eine lange, zunehmend trunkene und entsprechend niederschmetternde Nacht. Heute Morgen schwere Kopfschmerzen. Die Bruchstelle hatte sich schon früh am Abend abgezeichnet, bereits während des ersten Aktes. Mir ging die ebenso hilflose wie verkrampfte Suche nach dem Nochniedagewesenen, dem Unverbrauchten, dem ultimativ Neuen auf die Nerven, mit der mich ein gut 45 Jahre alter, aber immer noch als jung und wild geltender Regisseur über drei Stunden belästigte. Schon im ersten Akt war die Katastrophe vollkommen. Alles war so unendlich langweilig vorhersehbar. Nach jedem Satz wusste man genau: Aha, jetzt kommt wieder eine Idee. Ständig wurde mit diesem ostentativ mutig Neuen dem Zuschauer vor der Nase herumgefuchtelt. Ich fand es fürchterlich und musste mich später dafür in die Ecke der Traditionalisten stellen lassen. Heute Morgen bin ich um einen Freund ärmer, dafür aber mit, wie gesagt, Kopfschmerzen. Um halb 10 Uhr bin ich dann von einem Anruf aus der Redaktion dieser Zeitschrift geweckt worden. So kommen die Dinge zusammen. Noch immer verärgert, dass es mir gestern nicht gelungen ist, das Etikett des Konservativen abzuschütteln, bloß weil ich dem Neuen nicht die alleinige Lufthoheit über das, was Gültigkeit haben soll, zugestehen wollte. Ich freute mich über den Anruf – und über das Ansinnen, ich möchte doch bitte einen kleinen Aufsatz, eine Polemik sogar, verfassen. Das Thema lautete: „Das kenn’ ich schon, das hat’s ja schon gegeben …“. Da ist es wieder: Das
Neue. Liegt dem Satz doch implizit die Forderung nach dem Neuen zu Grunde. Die Sache schien mir schnell abgehakt, denn ich fühlte mich durch den vergangenen Abend gut trainiert. Wäre mit der Bitte um einen Artikel nicht die Forderung nach einer bestimmten Anzahl von Anschlägen (genauer gesagt 11.200!) verbunden gewesen, hätte ich mit rund 100 Anschlägen diesen Satz in seine Schranken verwiesen. Was dann aber mit den restlichen gewünschten 11.100 Anschlägen tun? Kopfschmerzen. Immer wenn ich solche Katerkopfschmerzen habe, habe ich das dringende Bedürfnis aufzuräumen. Und in diesem Satz – „Das kenn’ ich schon, das hat’s ja schon gegeben ...“ – muss unbedingt aufgeräumt werden. Dieser Satz ist nachgerade vollgerümpelt mit muffigem Meinungsmüll und billigen Überzeugungen, die sofort zusammenbrechen, wenn man sich drauf setzen will. Also aufräumen. Zunächst: Der Satz „Das kenn’ ich schon, das hat’s ja schon gegeben …“ formuliert erstens, wie erwähnt, die Sehnsucht nach dem Neuen. Dem Neuen wird hier regelrecht heilbringende Wirkung abverlangt. Wo mich die aktuelle Kunst zuweilen hilflos (womöglich ebenso hilflos wie sie ist) zurücklässt, möge wenigstens das Nochnichtgesehene mir Orientierung dafür sein, dass es sich hier um Kunst und nicht etwa um Scharlatanerie handelt. Zweitens ist der Satz Abwertung und Ablehnung. Das Bekannte, schon Gesehene, wird deshalb abgelehnt, weil es bereits bekannt ist. Das entlarvt drittens die Erwartung an die Kunst, einen Effekt, und zwar einen dezidiert überraschenden, zu erzielen. (Genau das habe ich dem oben erwähnten, hoffnungsvollen Regisseur ja zum Vorwurf machen wollen, dass er mit dem
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Neuen nur spekuliert: Als wäre irgendwas schon deshalb bedeutend, nur weil es neu ist.) Das Neue ist aber kein Wert an sich. Neu ist leicht mal was. Meist genügt es vollkommen, den Kontext zu verändern, schon ist der älteste Käse wieder neu. Und dann ist auch wieder gar nichts neu, alles schon mal da gewesen. Neu ist keine Kategorie. Vielleicht bei einem Pudel oder einem Papagei, dann kann man Freunde einladen und sagen, schaut her, er kann was Neues. Kunststückchen. Hier wird Effekt mit Bedeutung verwechselt. Der Satz hat keinen Inhalt. Wenn aber der Inhalt fehlt, dann lohnt es sich vielleicht, auf den Tonfall zu achten. „Das kenn’ ich schon, das hat’s ja schon gegeben …“ Achten Sie auf den Unterton. Da kennt sich offensichtlich einer aus. Weniger noch, da kennt einer gerade mal das, was er soeben vor der Nase hat. Der Satz hat zwar keinerlei Inhalt, aber er demonstriert Kennerschaft. Die will mitgeteilt sein. Kennerschaft ist ja ein weit verbreitetes Phänomen. Jeder kennt sich irgendwo aus, manche mit Wein, andere mit mediterranem Kochen oder mit Bob Dylan, die Formel 1 ist derzeit vielleicht ein bisschen aus der Mode gekommen, aber alle kennen sich irgendwo aus. Alles Kenner. Die schlimmsten sind die Kunstkenner. Das Entscheidende bei der Kennerschaft ist die Distanz des Kenners zum Gegenstand seiner Kenntnis. Mein Lieblingskenner ist der Herr Horst unten in der Kneipe am Eck. Er hat nie Fußball gespielt, er war Prokurist bei einer Öl-Firma, aber er kennt noch Spielzüge von Fußball-Clubs, die es heute gar nicht mehr gibt. Und eben diese Distanz zum Gegenstand seiner Kenntnis zeichnet den wahren Kenner aus. Der Kenner ist nämlich kein Profi, er ist nur Kenner. Sommelier oder Weinbauer, das sind die Profis, der Weinkenner hingegen ist Politiker oder Unternehmensberater oder Werber. Kennerschaft ist heute ein ganz wichtiges Modeaccessoire. Kennerschaft ist Ausweis der Individualität und der Zugehörigkeit.
Wer sich mit seiner eigenen Kennerschaft zusammen tut, kommt halt über die Kennerschaft nicht hinaus. Im Kostümchen oder in genagelten Schuhen, geschmückt mit den neuesten Meinungen und Rankings, schlendert die Kennerschaft über den Kunstmarkt und kennt alles schon. Hier, auf der Suche nach dem ständig Neuen, begegnet sie dem Problem, alles schon zu kennen. Beleidigt hockt sich die Kennerschaft dann in die Lounge des Kunstmarktes und beweist sich durch Kenntnisse. Und so langweilt sich das Neue mit dem immer Neuen. Das Problem der Kennerschaft ist, dass sie sich auskennt. Sie kennt immer alles schon. Das verstellt den Blick. Die Kennerschaft ist ungeschickterweise auf Kenntnisse angewiesen, was sie naturgemäß ins Hintertreffen und in ständige Beweisnot bringt. Denn immer wird es einen noch kenntnisreicheren Kenner geben. Daher: Kenner wissen, Künstler aber sehen. Der Satz hätte mir gestern einfallen müssen. Vielleicht wäre dann noch was zu retten gewesen. Und genau dieser Unterton, in dem ansonsten nichts sagenden Satz, lässt aufhorchen. In diesem Unterton formuliert sich ein Markt und meldet Rechte an. „Das kenn’ ich schon, das hat’s ja schon gegeben …“ ist das Gegröle auf den Tribünen, das gelangweilt nach immer noch mehr weißen Elefanten verlangt. So klingt eben der Markt, egal ob es der Aktienmarkt oder der Kunstmarkt ist. Der Marktplatz ist ordinär und profan. Und hier zeigt sich das ganze Dilemma mit dem Neuen. Der Wunsch, oder besser die Forderung nach dem Neuen kommt ja nicht aus der Kunst, sondern vom Markt. Der Markt will das Neue. Die Kunst ist aber eben gerade nicht der Produzent eines Produktes namens Idee oder Das Neue. Die Kunst ist überhaupt kein Produzent. Von gar nichts. Die Kunst ist eine Auseinandersetzung. Eine fortlaufende Auseinandersetzung mit der Zeit, geführt von den verschiedensten Personen in einem immerwährenden Prozess. Die Kunstwerke sind entsprechend Einträge in ein Archiv
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der Zeit. Keine Produkte. Das muss den Markt irritieren. Die Kopfschmerzen sind heute ausgesprochen hartnäckig. Und wieder habe ich dieses eigenartige Gefühl, wie gestern Abend, mich auf der spaßabgewandten Seite der Diskussion wiederzufinden. Mit meiner versuchten Entlarvung und Entzauberung des Neuen habe ich mir wieder dieses sauertöpfische Parfüm, das so penetrant nach Höherem riecht, aufgetragen. Als wäre ich auf dem Gehsteig in den alten Satz vom Wahren, Schönen, Guten getreten. Aber manchmal muss man sich selbst aushalten. Auch die Kunst muss sich selbst aushalten. Zurück zum Marktplatz des Neuen: Die Konkurrenz schläft nicht. Trotz Kopfschmerzen wage ich einen Blick in die Zeitung: Klimakatastrophe (eines der ältesten aktuellen Themen unserer Zeit), Knut, das Berliner Eisbärbaby (Eisbären gibt es seit Millionen von Jahren), Gefängnis für ehemalige Glanzlichter wie GAK (oder war es Sturm?)-Präsident Kartnig und den Herzpatienten Elsner (an die wird man sich bei Erscheinen dieser Ausgabe nur noch dunkel erinnern können). Das ist der Marktplatz, auf dem das Neue sich bewähren muss. Hier hat das Neue seinen Wert an sich, auch ohne Inhalt. Wer sich auf den Marktplatz begibt, muss sich auch die hier herrschenden Spielregeln gefallen lassen. Ohnehin ein Ort mit strengen Regeln, alle haben gute Laune, jonglieren mit ihren Hoffnungen, spekulieren auf das Glück; ein Ort munteren Treibens. Hier wird alles gehandelt, lauter Neuigkeiten. Seit zweihundert Jahren hat die Kunst versucht, sich der Verwirtschaftlichung zu entziehen. Mit der Forderung nach dem Neuen zwingt sich die Kunst wieder unter die Dominanz der Marktgesetze. Interessant wäre allerdings ihre Antwort auf die Frage der eigenen Verwirtschaftlichung. Nein, ich habe keine Forderungen an die Kunst zu stellen, schon weil ich sie selbst nicht erfüllen könnte,
ich will der Kunst nur beim Sehen zusehen. Der Kunst sind keine Forderungen zu stellen, sie ist wie ihre Zeit. Und was der Zeit ohnehin fehlt, das lässt sich nicht von der Kunst erfüllen oder ersetzen. Ich habe von der Kunst nichts zu wollen. Warum sollte sie politisch sein, wenn das nicht einmal mehr der Politik gelingt? Warum sollte sie Spaß machen, wenn das Spaß ist, was man uns (und durchaus auch wir uns) als Spaß vorsetzen? Und warum sollte sie neu sein, wenn keiner darin Neues sieht, sondern in seiner Kennerschaft, alles schon mal gesehen zu haben, verharrt? Und letztlich, warum sollte Kunst unwirtschaftlich sein, wo doch alles wirtschaftlich ist? Die Frage ist müßig, ob Subventionen oder Spekulanten schlechte Kunst produzieren, denn – ich habe es oben glaube ich schon einmal erwähnt – Kunst ist kein Produkt, kann also auch nicht produziert werden. Das Geld jedenfalls macht die Kunst nicht schlecht, sowenig wie kein Geld die Kunst gut macht. Denn Kunst und Markt sind zwei so unterschiedliche Wirklichkeiten, dass eine Paarung nur schwer vorstellbar ist. Und doch beobachten wir gerade derzeit das genaue Gegenteil. Brunftzeit! In ihrer aus allen Poren tropfenden Potenz fällt die eine Wirklichkeit über die andere, gierig schmachtende her; Kunst-Boom ist die Schlagzeile dazu. Aber: „Halt! Das kenn’ ich schon, das hat’s ja schon gegeben.“ Und in manch seltenen Momenten begegnet einem dann doch ein Kunstwerk, das ein Fenster öffnet, den Blick frei gibt in die Welt hinaus. Ein solches Kunstwerk möchte ich dann gerne ein Stück Weges begleiten und gleich ihm ein Flaneur durch die Zeit sein. Wo ist mein Aspirin. Jetzt bin ich doch ziemlich genau bei 11.200 Anschlägen angelangt, sonst hätte ich Ihnen gerne noch das Stück und den hoffnungsvollen Regisseur verraten, die gestern Abend eine langjährige, tiefe Freundschaft vernichteten.
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Bauen Sie in diesem Bergwerk die unendlichen Weiten ab!
Hans Schabus hat als Österreichs Beitrag zur Biennale 2005 in Venedig einen Berg aus Holz aufgeschichtet; das weiß man. Aber jetzt hat Hans Schabus den Umschlag sowie alle linken Seiten dieses Heftes gestaltet, der Schriftsteller Robert Woelfl hat ihn im Atelier besucht und den folgenden Beitrag geschickt: „Ein Weg durch das Werk von Hans Schabus“. Plötzlich starren wir in ein dunkles Loch. Eben sind wir auf der Währinger Straße noch in der Sonne gesessen, jetzt müssen wir in dieses Loch hinuntersteigen. Das ist der Einstieg. Das ist der Einstieg ins Werk. Das ist der Einstieg in den Text. Wer geht vor? Hans Schabus hat das Loch vor ein paar Jahren gegraben. Aus dem Loch im Boden seines Ateliers wurde der „Schacht von Babel“. Das Negativ zum Turm. So wie sich der Turm in die Höhe schraubt, so bohrt sich der Schacht in die Erde. Der Turm wurde gebaut, um den Himmel zu berühren, der Schacht wird also bis zur Hölle reichen. Eine hölzerne Leiter führt durch den Schacht. Diese Leiter müssen wir hinab. Sprosse um Sprosse. Ist ja bloß ein Schacht, ist ja bloß ganz normale Dunkelheit. Wir müssen da hinunter, sagen wir, als wir hinuntersteigen, und wiederholen dabei, was unser Therapeut jedes Mal sagt. In Horrorfilmen sagen es die Kinder an der Kellertür. Taucher sagen es. Was immer da unten ist, wir müssen nachsehen, was es ist. Uns bleibt nichts anderes übrig. Wir müssen da hinunter, um etwas herauszufinden. Der Schacht ist eng, nicht einmal 1 × 1 Meter breit, Erde rieselt herab. Da und dort liegt ein größerer Stein, manchmal ein Rohr aus Eisen, vergessene Leitungen. Sprosse um Sprosse steigen wir in dieses Unterbewusstsein hinab. Kalt ist es hier. Eine Zeit lang wird es noch kälter werden. Still ist es. Mein Tag bis jetzt war nicht so still. Die Einkaufszentren sind nicht so still und auch nicht die Erlebniswelten am Wochenende. Und so dunkel ist es auch fast nirgendwo mehr. Ein bisschen mehr Taschenlampenlicht wäre nicht schlecht. Zuhause habe ich eine alte grüne Taschen-
lampe, sie ist rechteckig mit einer rechteckigen Batterie, die hätte ich mitnehmen sollen, die hätte in meine Hosentasche gepasst und die hätte mir jetzt geholfen. Aber was will ich denn hier sehen? In einem Schacht gibt es nicht viel zu sehen. Nie können wir den Gipfel und die Aussicht vom Gipfel erwarten und wollen schon auf dem Weg alles sehen und alles gesehen haben. Oder wir hätten gern eine Abkürzung und fragen auch dauernd nach Abkürzungen. Dieser Abstieg aber kann nicht abgekürzt werden. Wir befürchten schon, dass der Schacht wirklich niemals endet, aber dann haben wir mit einem Mal wieder Boden unter den Füßen. Jetzt geht es horizontal weiter. Der Stollen ist niedrig, wir müssen uns bücken, müssen kriechen. Wir müssen uns auf allen Vieren vorwärts bewegen. Die Erde ist feucht. Meine Hände und Knie werden schmutzig von der Erde sein. Ich werde meine Hose wechseln müssen später. Jetzt sind wir drinnen im Werk. Wir haben vergessen, eine Karte mitzunehmen. Im Atelier lag eine Karte auf dem Boden, der Plan eines Bergwerks, die Namen der Stollen standen darauf, polnische und deutsche und italienische Städtenamen, die Namen von Königinnen. Warum habe ich die Karte nicht mitgenommen? Jetzt werden wir uns selbst eine Karte zeichnen müssen, an Ort und Stelle. Wir müssen eine Karte zeichnen, während wir längst dabei sind uns zu verirren. Am liebsten würden wir schon jetzt um Hilfe rufen. Ich habe ein Bedürfnis nach Hilfe zu rufen, aber das ist nicht das Café auf der Währinger Straße, wo ich nach dem Kellner rufen kann. Auf dem Boden liegen Briefmarken. Ich hebe die Marken auf. Wie sollen wir uns
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an Kirchen und Pferden und Blumen und österreichischen Burgen orientieren? Die Briefe zu den Marken fehlen natürlich. Ich müsste die Marken in irgendeine Ordnung bringen, Briefmarken verlangen danach, geordnet zu werden. Briefmarken und Ordnungssystem gehören zusammen. Ich stecke die Marken ein, ich sammle keine Briefmarken, kenne mich dabei überhaupt nicht aus, ich habe mir immer nur die Motive angesehen, aber jetzt habe ich etwas zum Tauschen. Wir müssen weiter. Weiter durch den niedrigen Stollen. Weiter durch das dämmrige Licht. Da passiert es auch schon. In dem Stollen kommt uns ein Astronaut entgegen. In seinem dicken Astronautenanzug quetscht er sich durch den engen Stollen, den Helm auf dem Kopf, durch das spiegelnde Visier ist kein Gesicht zu erkennen. Auf seinem Anzug befinden sich zahlreiche Abzeichen und Flaggen, er scheint für viele Nationen unterwegs zu sein. Wahrscheinlich ist er sogar im Auftrag der Menschheit unterwegs. Immer mehr Menschen sind ja im Auftrag der gesamten Menschheit unterwegs. Vielleicht absolviert er auch nur ein besonderes Trainingsprogramm. Oder vertreibt sich die Zeit zwischen zwei Missionen. Bis zur nächsten Mission kann es allerdings lange dauern. Missionen sind gerade nicht in Mode. Wo sind eigentlich die unendlichen Weiten, die uns versprochen worden sind? Wer holt sie für uns? Wo sind die einhundert bewohnten Welten? Da ist er auch schon wieder an uns vorbei. Winkt uns noch einmal zu wie er gewöhnlich in die Kameras winkt, um alle zu grüßen, die auf der Erde zurückgeblieben sind. Seine Bewegungen sind langsam. Die Schwerelosigkeit hat er immer bei sich. Stolz sieht er aus. Die Berufsbezeichnung Astronaut hat Hans Schabus einmal in großen Buchstaben aus Neonröhren auf das Dach der Wiener Secession geschrieben. Auf dem Heimweg in der Nacht konnten wir lesen, was aus uns auch hätte werden können. Beim Einstieg haben wir versprochen, nicht aufzugeben. Also müssen wir weiter. Mit einem Mal wird der Stollen breiter und höher, wir können aufstehen, wir können wieder aufrecht ge-
hen. Ich fühle mich besser, die Knie haben mir schon weh getan. In dem Augenblick erscheint vor uns ein Segelboot, ein kleines Boot aus braunem Holz, das Segel leuchtet weiß. Langsam treibt es auf uns zu. Ich bin weder Optimist noch Pessimist, ich bin auf meinem Weg, sagt das Boot, ich tue, was ich tun muss, ich kenne mein Ziel. Was kümmert mich, dass es hier keine Strömung gibt, was kümmert mich, dass es hier keinen Wind gibt, das brauche ich alles nicht. In den letzten Jahren habe ich viele Menschen und Güter transportiert, aber das mache ich jetzt nicht mehr, das ist vorbei. Aber zu verschenken habe ich auch nichts, wenn ihr das erwartet habt. Mehr sagt das Segelboot nicht und nimmt auch keine weitere Notiz von uns. Sondern drängt uns an die Wand, beansprucht Platz, treibt an uns vorbei. Und ist bald in der Dunkelheit verschwunden. Wieder ist es so still wie davor. Wir müssen weiter. Pfeile an den Wänden wären nicht schlecht. Piktogramme. Hinweise für uns. Wir sind so an Orientierung gewöhnt. Dabei macht Orientierung dick. Wir müssen weiter. Hinunter zum Beispiel über eine hölzerne, gewundene Treppe. Hans Schabus ist diese Treppe tausende Mal hinauf und hinunter gerannt, sie hat in seinem Elternhaus zwei Stockwerke verbunden. Später hat er sie hier eingebaut. Damit wir über die Treppe hinauf und hinunter rennen. Damit wir unsere Muskeln trainieren. Damit wir in dieser Disziplin besser werden. Damit dieses Bergwerk oder dieser Text oder dieses Unterbewusstsein für uns ein Elternhaus wird. Obwohl ein Elternhaus auf diese Weise natürlich nicht zu haben ist. Dieses Bergwerk ist eine andere Form von Elternhaus und ich muss herausfinden, welche Form. Wir müssen herausfinden, was diese Treppe hier unten mit uns macht, wir müssen in Erfahrung bringen, was das Hinaufrennen und Hinunterrennen mit uns macht. Für jede Veränderung übrigens bin ich dankbar. Eine kleine Veränderung reicht mir schon. Aus diesem Grund sind wir ja auch da. Diese Treppe muss mich verändern. Das Fernsehprogramm zwischen acht und elf Uhr abends verändert mich
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nicht. Im nächsten Stollen stehen wir vor einem Segelflugzeug, dessen Spitze nach unten zeigt. Als hätte es die fünfzig Meter Erde bis hierher im Sturzflug durchstoßen und wäre erst in diesem Stockwerk zum Stillstand gekommen. Die Enden der Flügel durchbrechen die Wände des Stollens, ragen in den nächsten Raum. Weiß glänzt der Rumpf in dem trüben Licht, ein Schriftzug verrät seinen Namen: Pirat. Keine Sorge, sagt das Flugzeug, mit mir ist alles in Ordnung. Ich habe mir nichts getan. Mein Rumpf und meine Flügel sind okay. Ich bin noch immer vollkommen flugtauglich. Normalerweise fliege ich über Almen und Gletscher und lande auf grünen Schweizer Wiesen. Aber ich wollte einmal sehen, wie es hier unten ist. Ich war neugierig. Ich kenne das Gefühl von Unendlichkeit. Ich kenne den Blick von oben. Aber auch hier unten muss es etwas Besonderes geben. Und das will ich kennen lernen. Es muss doch auch eine Übersicht von unten geben. Diese Übersicht suche ich. Beim Fliegen habe ich Schillers Wilhelm Tell gelesen, sagt das Flugzeug und zeigt ein Reclamheft. Hier unten habe ich viel Zeit. Ich muss mir überlegen, was ich als nächstes lese. Die Enden der Flügel stecken fest, dieses Segelflugzeug wird nicht mehr zu befreien sein. Dieses Flugzeug wird nicht mehr fliegen. Ich müsste ihm helfen. Ich müsste es zu befreien versuchen. Aber das wird nicht gelingen. Es muss sich auf eine andere Weise über die Almen und Gletscher erheben, es muss sich auf eine neue Weise die Schweizer Alpen von oben ansehen. Du wirst eine Möglichkeit finden. Ich muss weiter, ich habe noch lange nicht alles gesehen. Noch viele andere Fortbewegungsmittel sind in diesen Stollen unterwegs. Zum Beispiel ein alter Renault-Kastenwagen, der irgendwann in der Mitte auseinander geschnitten und dessen hinterer Teil zu einem Anhänger umgebaut wurde. Und wir begegnen einem Zug. Oben im Atelier fährt hoch über dem Kopf eine Modelleisenbahn im Kreis. Aber hier unten kommt uns ein richtiger Zug entgegen. Eine mächtige, rote Lokomotive zieht die Waggons durch den Semmering oder den Arlberg oder das un-
terirdische Wien. Aus dem Weg, brüllt die Lokomotive, ich habe es eilig, ich habe ein Rendezvous. Was für ein Rendezvous? Mit wem? Das darf ich nicht sagen. Aber von diesem Rendezvous hängt mein Schicksal ab. Ich darf mich nicht um einen Millimeter irren und darf nicht um eine Sekunde zu spät kommen, sonst habe ich das Rendezvous versäumt. Das darf auf keinen Fall passieren, denn niemand kann sagen, wann es wieder eine Gelegenheit für ein Rendezvous geben wird. Wenn ich nicht zur richtigen Zeit am richtigen Ort bin, werde ich wieder für drei Jahre allein sein. Und ich will nicht mehr allein sein. Und damit verschwindet der Zug in der Dunkelheit des Tunnels. Dieser Zug und der alte Renault und das Segelboot haben ein Rendezvous und wir haben natürlich keines. Jetzt erst fällt es uns wirklich auf. Wir haben kein Rendezvous, wir haben mit niemandem etwas ausgemacht. Nirgendwo wartet jemand auf uns. Das hätten wir uns nicht gedacht. Dass wir hier unten so eine schlechte Figur abgeben. Wir können nicht mit einem Rendezvous prahlen. Ich möchte auch erzählen können, dass jemand auf mich wartet und dass ich mich auf keinen Fall verspäten darf. Es nützt nichts. Wir haben kein Rendezvous, dabei hätten wir jemanden, der sagt, ich habe so lange auf dich gewartet, ich bin froh, dass du gekommen bist, dringend nötig. Uns bleibt nur, uns nach etwas anderem umzusehen. Irgendwo in diesem Bergwerk soll es Luken geben. Klappen im Erdreich, die sich öffnen lassen und dann einen großartigen Ausblick bieten. Zum Beispiel auf Venedig und das Meer und einen wolkenlosen Himmel im August. So eine Luke müssen wir finden. Ich habe schon lange nicht mehr an Venedig gedacht, war lange nicht mehr dort, jetzt würde ich die Stadt gern sehen. Ich renne eine Treppe hinauf, eine Treppe hinunter, ich taste die Wände ab. Ganz unten ist eine Öffnung. Eine kleine Öffnung, durch die man auf eine unendliche Weite blickt.
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Glockenmoid mit Pagenkopf
Die Komponistin Maria Hofer starb 1977 in Kitzbühel. In der Zwischenkriegszeit arbeitete sie für die legendäre Universal-Edition, lebte im Haus des Verleger-Ehepaares Hertzka und war mit der Elite der Kunstwelt auf Du und Du. Thomas Nußbaumer setzt Fragezeichen hinter die Lebensgeschichte einer Wiederentdeckten.
I. „St. Helena ist eine Insel im nördlichen Atlantik. Auf diese Insel wurde einst mit der ‚Großen Flut‘ neben vielen unwesentlichen Alt- und Neoperiöken eine Frau mit dem späteren Beinamen Magna Mater Organum Helenensis verschlagen; aber die Helenianer haben sie weder in ihrer menschlichen, noch in ihrer geistigen Bedeutung erkannt. Vielmehr blieben sie konsequent und hartnäckig in der musikalischen Finsternis des Glatt-und-Verkehrt lautstarker Blas- und verkitschter Folkloremusik …“ [Hugo Bonatti: St. Helena (Die Periöken). Eine Chronik. In Memoriam M. H. Dublin – New York – Vienna: Edition MOSAIC 1998, S. 366] In wesentlich drastischeren Worten als im eben zitierten „Resümée“ seines Romans St. Helena (Die Periöken) beschreibt Hugo Bonatti, der in Kitzbühel lebende Schriftsteller, Schüler, Freund und Nachlassverwalter der Komponistin Maria Hofer, in einem Interview die Endphase einer offenbar gescheiterten Künstlerexistenz: „Und 1977 ist sie eben dann – gestorben an Alterskrebs, ziemlich gelitten noch, und das war die Zeit, wo sie mir zweimal gesagt hat, ‚Jetzt habe ich wieder viel vernichtet!‘ und ich habe sie beschworen, Maria – , alles Dreck‘ hat sie gesagt, alles Dreck. Sie wollte von diesen komplizierten Sachen […] nichts mehr wissen. Und da sind sehr sehr wertvolle Sachen offensichtlich vernichtet worden. Es ist wirklich ein Kapitel zum Heulen! Zum Heulen, aber ihre Enttäuschungen, ihre Frustration, das war einfach so groß“. Maria Hofer, in Bonattis künstlerischer Überhöhung eine Angehörige der „Periöken“ – also jener den alten Spartanern untergeordnete, zweitklassige Bevölkerungsgruppe ohne sozialen Anschluss und politische Rechte –, wurde mit der „Großen Flut“ der vor den Nationalsozialisten Flüchtenden und Untertauchenden im August 1939 nach Kitzbühel – Bonattis „St.
Helena“ – geschwemmt. Verfolgt man ihren Lebenslauf, muss man feststellen, dass sie in Kitzbühel gestrandet ist, in jenem provinziellen Kitzbühel vor Toni Sailer, dem sie nie mehr wieder entkam – oder gar nicht entkommen wollte? –, wo sie ihre Talente weitgehend nicht entfalten konnte und wo man sie auch nicht wirklich verstand. Die Kitzbüheler verliehen ihr keineswegs den Beinamen „Magna Mater Organum Helenensis“, wie Bonattis lyrisches Ich, ein ebenfalls in der Provinz völlig unverstandener Seelenverwandter Maria Hofers (im Roman: „Maria Höfers“), behauptet, sondern verpassten ihr den Übernamen „Glockenmoid“ – anspielend auf ihre Kompositionen für Glockenspiel und ihre in der Stadt weitum hörbaren Improvisationen auf diesem skurrilen Instrumentarium. Die Verfinsterung ihres Gemütszustandes, die die 83jährige und schwerkranke Frau dazu trieb, wesentliche Teile ihres kompositorischen Nachlasses – hauptsächlich Werke ihrer bedeutenden Schaffensphase der dreißiger und vierziger Jahre – zu vernichten und ihre über weite Strecken wenig sagende, simple Gebrauchsmusik der späten Jahrzehnte zu ihrer eigentlichen Kunst zu erklären, ist eines der Rätsel in ihrer Lebensgeschichte. Was hinterlässt sie uns? Zuvorderst großartige Musik, die im Vorjahr unter der Leitung des aus Kitzbühel stammenden Dirigenten Bernhard Sieberer auf CD eingespielt wurde (Maria Hofer. Totentanz. RCR Nr. 0543): eine elegische Ballada für Violoncello mit Klavierbegleitung (Erstfassung für Cello und Orgel), eine wuchtige, architektonisch meisterhafte Toccata für Orgel (publ. 1937), einen packenden Totentanz nach Motiven von Albin Egger-Lienz für großes Orchester (UA 1947), eine von exzessiver Motorik geprägte Toccata für Klavier mit dem Titel Die Maschine (publ. 1947), Bühnenmusik und anderes mehr – alles Musik auf der stilistischen Höhe ihrer Zeit, der Avantgarde des ersten Drittels des 20. Jahrhunderts verpflichtet, in Verwandtschaft zu Schönberg, Berg,
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Reger, Strawinsky und den französischen Impressionisten, aber dennoch sehr eigengeprägt. – Dem gegenüber steht ein Torso von Hinterlassenschaft in Kitzbühel, geschmälert um etliche als „komplizierter Dreck“ abqualifizierte Werke – darunter angeblich zwei um 1940 geschriebene Akte einer Andreas Hofer-Oper, ein Violinkonzert, ein Klavierkonzert, ein Quintett und ein Quartett –, dafür hunderte Notenblätter mit einfachsten Bearbeitungen von alten und neuen geistlichen Liedern, Volksliedern und Instrumentalstücken des 16. Jahrhunderts und selbst komponierte Messen, Orgelstückchen und Lieder im Volkston. Als „Autoaggression“ deutet die Historikerin Corinna Oesch, Hofers Biografin (Die Komponistin Maria Hofer. Auto/Biografie und Fotografie, Diplomarbeit, Universität Wien, 2005) die Vernichtung möglicherweise glanzvoller Werke der Wiener Zeit, als Autoaggression würde ich allerdings auch Hofers künstlerische Selbstkasteiung und ausschließliche Hinwendung zu kirchlicher Gebrauchsmusik und Trivialitäten wie Vier Variationen über das Thema ‚O hast du noch ein Mütterlein‘ (ein einst beliebtes rührseliges Volkslied) für Trompete von 1950 bezeichnen – obwohl ich andererseits verstehe, dass der Niederösterreicherin bzw. Wienerin, die ja unbedingt eine Tirolerin werden wollte, nichts anderes übrig blieb, als sich den damaligen Kitzbüheler Verhältnissen anzupassen. Dennoch fesselt uns das ungewöhnliche Leben und Werk dieser Frau, weil sich darin die tragische Geschichte Österreichs in der ersten Hälfte des 20. Jahrhundert spiegelt: der Niedergang eines kulturoffenen Vielvölkerimperiums und sein Abstieg zur provinziellen Alpenrepublik, mündend in der Katastrophe des Nationalsozialismus. So verlief auch das Leben Maria Hofers: zunächst aufstrebend als Künstlerin in den inneren Zirkeln des Wiener Musiklebens, dann zerbrechend und schikaniert im Nationalsozialismus und schließlich aufgerieben in einem Nachkriegs-Provinzkaff. II. „Hier haben wir es mit einer großen, ernsten Künstlerin zu tun, mit einer, die nicht dem rauschenden Erfolg zustrebt, einer, die in stiller Stetigkeit Passacaglien und Tokkaten dichtet und ausgerechnet in einer Kirche konzertiert, wo dem begeisterten Publico bloß stiller Beifall ziemt. In ihren kleineren Orgelstücken
zeichnet sie Tonbilder von der Art verklärter Beuroner-Kunst, herbe Schönheit umfängt unsere verspielte Seele, archaistische Klanggebilde entrücken uns heutigen Stimmungen. Wo die Geige oder die menschliche Stimme der Orgel sich gesellt, sind auch sie, abseits von den Wegen billiger Aufgeputztheit, selbstloser Diener eines höheren Kunstzweckes.“ [Konzertrezension, Musikleben, Mai 1932, Heft 5, S. 15] Maria Hofer wurde am 6. Juli 1894 in Amstetten als Tochter des Michael Hofer, später k. k. Oberrechnungsrat in Wien, und seiner Frau Albertine, geb. Lindemann, beide aus Niederösterreich bzw. Wien stammend, geboren. In späteren Jahren, als sie gerne eine Tirolerin gewesen wäre, lancierte Hofer das Gerücht, sie sei „versippt mit dem alten Tiroler Bauerngeschlecht der Hofer“ und ein Kind „urtirolischer“ Eltern. Bald übersiedelte die Familie, der auch noch Marias um sechs Jahre älterer Bruder Stefan angehörte, nach Wien. Mit acht Jahren erhielt Hofer neben Klavierauch Orgelunterricht und leistete schon zwei Jahre später gelegentlich Organistendienst. Entweder am Wiener Konservatorium oder privat erhielt sie Unterricht von Ernst Ludwig und dem aus Deutschland stammenden Komponisten Hermann Graedener. Sie inskribierte sich an der k. k. Akademie der Tonkunst in Wien, absolvierte 1913 die Lehrbefähigungsprüfung für Klavier und verdingte sich bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs als private Klavierlehrerin in Wien und Budapest. 1916 begann sie ihre Karriere als Konzertpianistin und Organistin, und zwar mit einem „Mozart-Abend“ am renommierten Wiener Konzerthaus. Nachgewiesene 14 Auftritte absolvierte sie zwischen 1916 und 1919 am Konzerthaus. Im Januar 1917 spielte sie erstmals heute nicht mehr bekannte eigene Werke im Rahmen eines Gesang- und Klavierabends. Am 14. April 1919 begleitete sie Karl Kraus, der aus Shakespeares King Lear las, mit Werken von Bach und Reger, 1922 / 23 unternahm sie eine Benefizkonzerttournee nach Skandinavien zugunsten notleidender Kinder in Wien, und 1926 gab sie Konzerte an der Schubertorgel in der Liechtentaler Kirche, die ihr u. a. folgende schmeichelhafte Kritik einbrachten: „Bewundernswert ist die Technik der Organistin; ein tadelloses Legato mit haarscharfen Tongrenzen, volle Selbständigkeit der Stimmen, größte Präzision des Akkordspiels und des Rhythmus“.
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Wohl 1926 war auch das schicksalhafte Jahr, in dem sie die um 21 Jahre ältere Yella Hertzka (1873 – 1948), Leiterin einer Gartenbauschule, Frauenrechtlerin, Präsidentin des „Neuen Wiener Frauenklubs“, führende Vertreterin der österreichischen Sektion der „Internationalen Frauenliga für Frieden und Freiheit“ (IFFF) und Ehefrau von Emil Hertzka, dem Direktor der 1901 gegründeten Universal-Edition (UE), kennen lernte. Hertzka „war eine sehr zupackende Frau“, schreibt der Komponist Ernst Krenek (1900 – 1991) in seiner Autobiographie Im Atem der Zeit, „mit gewissen männlichen Eigenschaften, geschäftstüchtig, obgleich etwas konfus, betont feministisch eingestellt und für alle fortschrittlich erscheinenden Ideen offen.“ Das Markenzeichen der Universal-Edition, die sich als selbstbewusst österreichische Konkurrenz zum deutschen Musikverlagswesen verstand, war das Verlegen zeitgenössischer Musik. Schönberg, Berg, Webern, Krenek, Milhaud, Bartók … – sie alle publizierten ihre unverstandene, später als „entartet“ diffamierte Musik bei der UE und pflegten auch teils intensive Kontakte zum Verlagsdirektor und zu seiner charismatischen Frau. In der Kaasgrabengasse 19 in Mödling besaßen die Hertzkas ihr Anwesen, und zwar inmitten einer vom Architekten Josef Hoffmann als Wohn- und Begegnungsraum konzipierten „Künstlerkolonie“, in dem neben den Hertzkas Künstler, hohe Beamte und Gelehrte lebten. In dem der Gartenbauschule Yella Hertzkas angeschlossenen Park fanden Gartenfeste statt, zu denen die führenden Persönlichkeiten des Musiklebens geladen waren. Hier lebte förmlich noch das großartige Fin de Siècle, hier besaß Wien noch etwas vom Glanz einer untergegangenen Epoche – und hier spürte man dennoch den „Atem der Zeit“. In dieses Ambiente wuchs Maria Hofer nun hinein. Nicht nur, dass sie bei der Universal-Edition ihre erste Anstellung als Lektorin erhielt, sie durfte sogar in die Hertzka-Villa einziehen und als eine Art Gesellschafterin Yella Hertzkas deren mondänes Leben teilen. „Bei den Hertzkas“, berichtet Krenek weiter, „wohnte eine große, ziemlich attraktive Frau namens Maria Hofer, die gleichfalls mit männlichen Zügen ausgestattet war. […] Diese Maria engagierte sich für katholische Angelegenheiten, spielte Orgel (man hatte im Haus ein Instrument für sie gebaut) und komponierte Musik, von der ich nichts kenne.“ In den Jahren 1926 – 1938 stand Hofer am Höhepunkt ihres Lebens. Einige Fotos aus ihrem lücken-
haften Nachlass vermitteln Eindrücke dieser bewegten, glücklichen Zeit: Maria Hofer, eine 1,83 m große, dunkelhaarige Frau in Abendgardarobe vor einem ihrer Konzertauftritte, ein andermal mit modischer Pagenkopf-Frisur, dann wieder ernsten Blicks an der laut Krenek für sie angeschafften Hausorgel der Hertzkas und dann mit modischer Haube am Steuer eines ausgeliehenen Cabriolets Marke „Horch 830 BL“ (Hofer besaß seit den zwanziger Jahren den Führerschein). Sie war nicht nur Yella Hertzkas Chauffeuse, sondern auch ihre Reitpartnerin. Für mich sinnbildhaft ist jenes Foto, auf dem die beiden Frauen hoch zu Ross über ein Hindernis springen, in einer synchronen himmelwärts stürmenden dynamischen Bewegung, die kleine Hertzka mit aufrechtem Oberkörper und den Sprung vorbildlich hoch ansetzend, die große Maria Hofer etwas vornüber gebeugt und bemüht, das Hindernis nicht zu touchieren. Hofer war laut Krenek eine Frau, die „gleichfalls“ – also wie Hertzka – „mit männlichen Zügen ausgestattet“ war, und er fügt dieser Beobachtung vielsagend den nicht zu Ende formulierten Satz hinzu: „Die Schlußfolgerung lag auf der Hand“ – nämlich jene, dass Hofer Hertzkas Geliebte war. Zwar lässt sich dies nicht beweisen, doch fällt auf, dass die beiden – besonders nach Emil Hertzkas Tod im Jahr 1932 – meist als Paar auftraten, z. B. gegenüber Friederike Zweig-Winternitz und Stefan Zweig, und Hertzka die Freundin auch in Briefen und Postkarten, z. B. an Helene und Alban Berg, durch das verbindende „Wir“ mit einschloss. Jedenfalls erfuhr die Beziehung zwischen den beiden, die zumindest als „Freundinnenschaft“ (Oesch) zu bezeichnen ist, noch dadurch Festigung, dass Hofer für die UE, deren Aufsichtsrat Yella Hertzka ab 1932 angehörte, arbeitete, in der UE publizierte und als konzertierende und komponierende Künstlerin wohl von den Kontakten der Freundin profitierte. Hofers Karriere als Komponistin ist auch im Kontext der damals sich entwickelnden Komponistinnenszene in Wien zu sehen: Immer mehr Frauen aus dem gebildeten Bürgertum versuchten, meist in diesem Bemühen wenig ernst genommen, sich auf dem bislang primär den Männern vorbehaltenen Feld des Musikschreibens zu profilieren. Bekannt ist, dass Arnold Schönberg eine „Marktlücke“ nutzte, indem er 1904 an der „Schwarzwaldschule“ und später an seinem „Seminar für Komposition“ (Vorläufer des berühm-
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ten „Vereins für musikalische Privataufführungen“) hauptsächlich Frauen in Musiktheorie und Komposition unterrichtete. Auch Maria Hofer behauptete später, von Schönberg (bzw. laut einer anderen Version ihres Curriculum Vitae von Alban Berg) unterrichtet worden zu sein. Folgt man den Wiener Rezensionen der dreißiger Jahre, so ragte Hofer unter den zeitgenössischen Komponistinnen, etwa des „Clubs der Komponistinnen“ oder des „Neuen Frauenklubs“, durchaus hervor. „Wenn Maria Hofer nur diese Passacaglia [in c-Moll] geschrieben hätte, ihr Name dürfte in der Orgelliteratur nie mehr vergessen werden“, schwärmte ein Musikkritiker 1932 im Anschluss an ein Hofer-Konzert in der Stadtpfarrkirche „St. Othmar unter den Weißgerbern“ im 3. Wiener Gemeindebezirk. Die Passacaglia zählt aber leider zu jenen Werken, die Hofer später wahrscheinlich vernichtete. Das Streben nach „edler Einfalt und stiller Größe“, einem „klassischen“ Ideal, war jedoch, ohne dass Hofer dies so deutlich ausgesprochen hätte, auch in dieser Phase der Brillanz klar zu erkennen. Hofer wollte, wie man ihren Äußerungen vor 1938 entnehmen kann, ernst genommen werden und als Komponistin kein „Circusobjekt“ darstellen. Wohl auch aus diesem Grund bediente sie sich bevorzugt der „königlichen“ Orgel und stellte sich selbstbewusst dem Publikum. III. „Kitzbühel war eines der Nazizentren Österreichs. Es heißt[,] daß nur ein halbes Dutzend bei der sogenannten Volksabstimmung 1938 mit ‚Nein‘ stimmten und die kannte man natürlich. Zu diesen gehörte der Rechtsanwalt Dr. Zimmeter. Zu diesen gehörte die Familie Sailer. Zu diesen gehörte auch meine Mutter. Daß Maria Hofer zu ihr zog, besserte den Ruf der beiden im Sinne des Naziregimes keineswegs. Sie wurden mit all den Bosheiten und Provokationen verfolgt, deren Leute fähig sind[,] die sich politisch abgesichert wähnen.“ [Kurt Welwert, „Zwei vergessene Widerstandskämpferinnen“, unpubl.] „Die Machtübernahme der NS unterbrach meine Laufbahn. Ich wurde als bekannte ‚Pazifistin‘ in Wien verfolgt. Als Komponistin der ‚Friedenshymne‘ und als ‚Judenfreundin‘ – der Verlag U. E. wurde als ‚Judenverlag‘ auf den Index gestellt – wurde auch ich
‚abgeschrieben‘.“ [Maria Hofer, „Curriculum Vitae“, unpubl.] Yella Hertzka ahnte wohl schon 1937 die Katastrophe, die sie als Jüdin treffen würde, und begann sich darauf vorzubereiten. Zunächst löste sie die Gartenbauschule am Kaasgraben auf, und bald nach dem „Anschluss“ am 13. März 1938 schenkte sie Hofer ihr Gartenhaus, um es vor der Arisierung zu schützen und die Freundin zugleich mit einer finanziellen Grundlage auszustatten (abzufertigen?). Angeblich auf Vermittlung von Hofer heiratete sie einen tschechischen Cousin namens Taussig, um sich mittels der tschechischen Staatsbürgerschaft dem Zugriff der Nazis entziehen und nach London emigrieren zu können, wo die Universal-Edition vorsorglich eine Zweigstelle gegründet hatte. Maria Hofer ging zunächst mit nach London und hielt sich dort zwischen dem 17. Dezember 1938 (Abmeldung aus Wien) und dem 5. August 1939 (Anmeldung in Kitzbühel) auf. Was in diesen Monaten zwischen den beiden vorging, ist nicht bekannt. Man kann sich vorstellen, dass Hofer wohl gerne an der Seite der Freundin geblieben wäre, doch diese konnte (oder wollte?) ihr nicht mehr helfen. Angeblich wurde Hofer 1939 aufgrund ihrer reichsdeutschen Staatsbürgerschaft des Landes verwiesen. Doch offenbar hatte auch sie schon Vorkehrungen getroffen, denn das Abtauchen nach Kitzbühel war gut eingefädelt. Warum aber gerade Kitzbühel, das „Nazizentrum“? Der Grund lag in einer anderen „Freundinnenschaft“, die auf das Jahr 1936 zurückging. Kitzbühel nahm zu jener Zeit als Tourismusort Aufschwung und lockte Prominenz und Reiche – so auch die im Luxus lebende Maria Hofer – an. Sie, die sich laut Krenek „für katholische Angelegenheiten [engagierte]“ und auch ihm dereinst „ein spanisches Kreuz“ aus dem 17. Jahrhundert geschenkt hatte, begeisterte sich für Artefakte des Volksglaubens, insbesondere des alpenländischen. Die Schwärmerei für das Alpine führte die in Kirchberg urlaubende Großstädterin ins benachbarte Kitzbühel und dort in den Antiquitätenladen der Elsa Welwart (1892 – 1962). Welwart (bis zu ihrer Namensänderung: „Welwert“) stammte aus Silberbach im heutigen Tschechien, lebte zunächst in Wien und ab 1924 mit ihrem jüdischen Mann Benjamin und ihrem Sohn Kurt in Kitzbühel. Seit der tödlichen Erkrankung ihres Mannes leitete sie sein Antiquitätengeschäft. Aus dem Verkaufsge-
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spräch entwickelte sich eine Freundschaft, die dem damals sechzehnjährigen Sohn Kurt später das Leben rettete: Aufgrund von Hofers Kontakten zur „Internationalen Frauenliga für Frieden und Freiheit“, in der Yella Hertzka, wie erwähnt, führend mitwirkte und für die Hofer eine Friedenshymne komponiert hatte, gelang es 1938, den jungen Mann, der ja als „Halbjude“ galt, außer Landes zu schaffen. Auch zu dieser Aktion wurde Hofer laut den erhaltenen Strafakten später von der Gestapo einvernommen. Aus Dankbarkeit und Hilfsbereitschaft lud die alleinstehende Elsa Welwart sie ein, in ihrer „Villa Billiter“ in Kitzbühel einzuziehen. Hofer ließ sich einen Flügel kommen und wollte zunächst wohl nur die politische Entwicklung abwarten. Wenngleich sie – im Gegensatz zu ihrer späteren Darstellung – nicht eine „Verfolgte“ im eigentlichen Sinn war, tat sie doch gut daran, Wien zu meiden. Wahrscheinlich war sie damals am Boden zerstört, denn sie hatte mit einem Schlag alle ihre Freundinnen und Freunde in Wien verloren, da bis auf eine Familie alle Bewohner der Künstlerkolonie am Kaasgraben aufgrund ihrer jüdischen Zugehörigkeit geflohen waren. Doch es kam noch schlimmer. Am 26. Juni 1941 zeigte eine gewisse Margarethe Lamplmaier, Welwarts Untermieterin, die zwei Frauen wegen Lebensmittelhamsterei, Abhören von Feindsendern und Führerbeleidigung bei der Gestapo an. Die beiden wurden verhaftet und in ihren Wohnräumen fand man „erhebliche Mengen bezugsbeschränkter Lebensmittel“. In den illegalen Lebensmittelhandel waren ca. fünfzig Personen aus Kitzbühel und Umgebung involviert. Die Funktion Hofers und Welwarts bestand darin, Verbindungen zu den Großstädten herzustellen. Gegen Geld und Gastrecht belieferten die beiden ihren Bekanntenkreis in Wien, München, Berlin und Dresden. Unter den Kunden fanden sich Juden genauso wie Personen aus dem Umfeld der NS-Prominenz. Hofer und Welwart konnten von Glück reden, dass die Anklagen wegen Feindsenderabhörens und Führerbeleidigung – zwei Vergehen, die sie unter Umständen ins Konzentrationslager oder an den Galgen gebracht hätten – nicht erhoben wurden. Doch wegen des Verstoßes gegen die „VerbrauchsregelungsstrafVerordnung“ fassten sie je acht Monate Haft sowie eine Geldstrafe von 800,– Reichsmark aus. Es erfolgte ihre Überstellung in die Haftanstalt Innsbruck. Im November 1941 wurde ihnen eine einmonatige Haftunterbrechung gewährt, um die von Welwart
gepachtete und Hofer mitbewohnte Wohnung zu räumen. Nach Kitzbühel zurückgekehrt stellten sie fest, dass Wertgegenstände abhanden gekommen waren. Hofer behauptete nach dem Krieg wiederholt: „In meiner Abwesenheit aus Kitzbühel ‚verschwanden‘ alle meine Manuskripte. Ebenso ‚verschwanden‘ wertvolle Briefe von Werfel, Zweig, Schönberg, Mahler, kurz, alles was für heute einen unersetzlichen Verlust bedeutet.“ Dem von den Rechtsanwälten beim Reichsjustizministerium eingebrachten Gnadengesuchen wegen des schlechten Gesundheitszustandes der beiden Delinquentinnen wurde am 8. April 1942 statt gegeben, doch zu diesem Zeitpunkt war die Haftstrafe bereits abgesessen. Nach dem Krieg allerdings konstruierten Hofer und Welwart eine geschönte Fassung der Geschichte der Ursachen und Umstände ihrer Haft. Den Grund der Verurteilung – Lebensmittelhamsterei – verschwiegen sie, statt dessen übermittelten sie dem nach dem Krieg aus dem Exil zurückgekehrten Sohn Kurt Welwert die Legende von der Verfolgung aus politischen Motiven und Widerstand. Nicht das Gnadengesuch ihrer Anwälte hätte ihre Strafminderung bewirkt, sondern Hermann Göring selbst, angeblich unter dem Einfluss seiner Schwester Paula Hueber, die mit Welwart und Hofer befreundet gewesen wäre. Sohn Kurt Welwert hielt diese Legende, an die er glaubte, in seinem Manuskript „Zwei vergessene Widerstandskämpferinnen“ fest. Die Realität sah anders aus. Hofer mochte aus all den Kalamitäten den Schluss gezogen haben, dass ihr das passive Zuwarten in Kitzbühel nichts brachte und dass sie nur überleben konnte, wenn sie sich als Künstlerin positionierte – und sei es selbst im nationalsozialistischen Reich. Am 28. Februar trat sie wieder im Wiener Konzerthaus auf und spielte eine Klavierfassung ihres Totentanzes, die sechs Klavierstücke aus ihrem Tiroler Tagebuch op. 11, zusammen mit einer Gesangspartnerin die sechs Orgellieder op. 17 sowie die Paraphrase für Orgel op. 27 über „Ich hatt’ einen Kameraden“ und weitere Orgelstücke. Es folgten Orgelkonzerte in Salzburg, wo sie dank ihrem einstigen Lehrer Josef Messner im kirchlichen Rahmen auftreten durfte, ferner spielte der Reichssender München nicht näher bezeichnete Kompositionen Hofers. Merkwürdig ist nur, dass fast alle Stücke, die sie in der NS-Zeit spielte, verschollen sind, vermutlich von Hofer vernichtet wurden, weshalb wir nicht in der Lage sind zu beurteilen, ob auch sie – wie viele
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Komponisten jener Zeit – unter großem Druck bemüht war, systemkonform zu komponieren, sprich: tonal und in Orientierung an „deutsche“ Formen des 17. bis 19. Jahrhunderts oder am Volkslied. Die Stücktitel ihres Tiroler Tagebuchs erwecken ganz den Eindruck der Anpassung: „Aufmarsch der Bauern mit der Sturmglocke“, „Wiegenlied am Spinnrad“, „Zwei Ländler“, „Bauernbegräbnis“, „Maschine“. Wer denkt hier nicht an ähnlich betitelte Produktionen Cesar Bresgens, des damals höchst erfolgreichen Hitlerjugend-Komponisten? Und was noch auffällt: In dieser Phase – und nur damals – versah Maria Hofer künstlerisch selbstbewusst ihre Werke mit Opuszahlen und enthob sie damit der Beiläufigkeit. IV. „Das hat ihr ja gefallen, wenn die Leute ‚Glockenhoferin‘ gesagt haben, oder ‚die Glockenmoid‘, das war ihr Markenzeichen da. […] Nur, wenn die Leute Glockenhoferin gesagt haben, haben sie im Hinterkopf etwas anderes gehabt, weil da gibt es so eine Erzählung, die Räuber vom Glockenhof. […] Das war bissig! […] Nur hat sie das natürlich nicht gewusst.“ [Gottfried Planer im Interview mit Corinna Oesch] Der Krieg endete und Hofer nahm ihren Schwung mit über die Wende. Noch 1945 trat sie dem „Bund der Opfer nationalsozialistischer Unterdrückung in Tirol“ bei, organisierte in Kitzbühel das Auftragskonzert des Österreichischen Amts für Kultur und Wissenschaft „Pro Austriae Mortuis“ und komponierte – leider verschollene oder vernichtete? – Kerkerlieder für den genannten Opferbund. Und nur ein Jahr später wurde sie für ihr motorisch-energetisches Werk Toccata für Klavier (Die Maschine) mit einem Preis der Innsbrucker Musikfestwochen ausgezeichnet. Und Yella Hertzka war wieder zurückgekehrt, suchte sogleich die Freundin in Tirol auf und startete ihren letztlich von Erfolglosigkeit geprägten Kampf um die Rückgabe ihrer Verlagsrechte und ihres Besitzes in Wien. Doch zu dieser Zeit begann sich Hofers Lebenskurve unmerklich zu neigen. 1946 wurde sie in Innsbruck beim Franziskanerdurchgang von einem Fahrzeug der französischen Armee angefahren und zog sich eine schwere Beinverletzung zu, die sie für den Rest
ihres Lebens behinderte. Hertzka, die nun zwischen London, Wien und Kitzbühel pendelte und wochenund monatelang bei Hofer und Welwart wohnte, öffnete ihrer Freundin noch einmal neue Perspektiven. 1947 erfolgte die Aufführung der NormandieLieder in Salzburg, 1948 im Wiener Konzerthaus die Uraufführung von Hofers bestem Werk, dem Totentanz für großes Orchester durch das Tonkünstlerorchester unter Robert Wagner, im selben Jahr die Uraufführung der Kantate Cantabilia spiritualia. Hertzka, die zur öffentlichen Verwalterin der UE bestimmt worden war, beschäftigte Hofer, fast wie in alten Zeiten, als Lektorin, unterstützte sie finanziell und setzte sich dafür ein, dass in der Universal-Edition die Toccata für Klavier (Die Maschine), der Totentanz und die Zweitauflage von Weihnacht (nach einem Text von Richard Seyß-Inquart, dem Bruder des Nazipolitikers Arthur Seyß-Inquart, dessen Name aber nun gestrichen wurde), erscheinen konnten. Vielleicht dachte Hofer daran, nach der Klärung von Hertzkas Restitutionsfragen nach Wien zurückzukehren. Dort besaß sie noch immer Hertzkas ehemaliges Gartenhaus, in dem diese nun manchmal wohnte, wenn sie im zerstörten Wien um ihre Sache kämpfte. Es gab noch einmal Momente der intensiven Kontakte mit der mittlerweile recht gealterten Hertzka und gemeinsame Fahrten nach Salzburg – und dann traf Hofer ein neuer Schicksalsschlag, der sie endgültig in die Sackgasse Kitzbühel verbannte: Yella Hertzkas plötzlicher Tod im November 1948 in Wien. „Ich lebe hier wie in Trance und kann das Geschehene immer noch nicht fassen!“, klagte Hofer. „Alles hier erinnert mich an die Tote – ja, ich fand noch Cigarettenreste, die sie noch von ihrem letzten Aufenthalt hier im Sep.[tember] zurückließ. Es ist namenlos quälend!“ 1950 verkaufte sie ihr Gartenhaus in Wien, dessen Mieteinkünfte sie im Krieg über die Runden gebracht haben, und versuchte fortan, sich in der provinziellen Enge Kitzbühels zu etablieren. Da ein Auftrag für das Tiroler Landestheater in Innsbruck – die Bühnenmusik zu Alma Holgersens Stück Wir könnten gerettet werden – zu keinen weiteren Engagements in der Landeshauptstadt führte, begann Hofer, in ihrer nun endgültigen Heimatstadt neben dem schlecht bezahlten Organistendienst verschiedene Projekte zu organisieren. Ankauf eines 18-teiligen Glockenspiels für die Kitzbüheler Liebfrauenkirche als „klingendes Kriegerdenkmal“. Für die Heimkehrer und bei Beer-
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digungen spielte sie nun das Lied vom Kameraden, ferner schrieb sie Stücke für Glockenspiel, insbesondere ihre bekannt gewordenen „Tonmonogramme“, i. e. Musikstücke auf den vertonbaren Buchstaben eines Namen, und übte sich auch im Improvisieren. „Die ist hinauf, im Advent, mindestens zweimal, dreimal in der Woche um fünf Uhr abends, stockdunkel, und den Turm, […] das ist ein Abenteuer, dort hinaufzugehen“, erzählt der Kitzbüheler Gottfried Planer in einem Interview. „Dann hat sie gespielt, so ungefähr eine Stunde, dann ist sie natürlich blau vor lauter Kälte heruntergekommen“. Ungeachtet dessen, dass man ihre originellen Klangminiaturen für Glockenspiel in Kitzbühel weder verstand noch besonders schätzte, freute sich Hofer über den Übernamen „Glockenmoid“: „Ich freue mich über diese volkslogische Anerkennung.“ Die ebenso „volkslogische“ Assoziation „Räuber vom Glockenhof“ war ihr offenbar unbekannt. Ein zweites Projekt, das allerdings nur anfänglich erfolgversprechend verlief, war die Begründung der „historischen Konzerte“ im Jahr 1951 im Hof der Kitzbüheler Bezirkshauptmannschaft. Gottfried Planer, Mitglied der Stadtmusikkapelle, erzählt im Interview mit Oesch: „Sie ist damit daher gekommen, alte Musik zu machen, und da hat sie sich ein paar Mitglieder der Stadtmusik gefangen […] was haben wir eine Ahnung gehabt, wie ein Krummhorn oder wie ein Gemshorn ausschaut oder – Posaune hat es allweil schon gegeben, aber die waren ganz anders gebaut […] und die Klarinette sollte einen Dudelsack vortäuschen […] und dann hat sie so ein Portativ gehabt.“ Hofer bearbeitete nun alte Stücke für Bläser und alte Instrumente wie Drehleier und Dudelsack und veranstaltete mit den Laienmusikern der Kapelle Sommerkonzerte. „Wenn sie schönes Wetter gesehen hat am Sonnberg“, erzählt Planer, „dann ist sie plötzlich in der Stadt gewesen und hat gesagt, ‚heute Abend ist historisches Konzert‘“. Doch die Bauern unter den Musikern waren „erschöpft von der Feldarbeit“, „die waren natürlich abends hundemüde“, und so kam das Projekt, nach zwei, drei Jahren zum Erliegen. Hofer scheiterte geradezu klassisch an den begrenzten Möglichkeiten und am mangelnden Verständnis. Freilich ließ sie eigene Kompositionen, geschrieben für ihre eifrigen, aber oft hundemüden Blasmusikanten, aufführen, doch sie kamen nicht gut an, denn sie waren – wie Planer so schön sagt – „aus der Weis“,
also nicht eingängig, melodiös, und harmonisch zu anspruchsvoll. Daher steckte Hofer mit ihren Ansprüchen sukzessive zurück. Sepp Gasteiger, der langjährige Kapellmeister, erinnert sich: „Sie hat viel komponiert, mehr so barockmäßig, und die Sachen haben wir aufgeführt.“ Und schließlich unternahm Hofer auch Versuche in Richtung touristischer Musik und komponierte Heimatlieder wie das Hahnenkamm Skilied, „Wenn in Kitzbühel die Saison beginnt“ und die Musik zum Film Melodie auf Ski (1965 / 66). Dazu berichtet Corinna Oesch: „Eine Affäre um die Komposition dieser Werbefilmmusik kann als Sinnbild für Maria Hofers Idealismus und Scheitern an der rauen Kitzbüheler Realität verstanden werden: Maria Hofer trat von ihren Urheberrechten zurück und überließ diese der Skischule Kitzbühel, die den Film produziert hatte. Als sich die AKM einschaltete und Maria Hofer darauf hinwies, dass sie vertraglich gebunden sei und ihre Rechte gar nicht an einen Dritten weitergeben könne, wurde sie von der Skischule dazu gebracht, ihr Werk zu verleugnen und auszusagen, sie sei nur ‚beratend zur Verfügung‘ gestanden. Da hiermit von der AKM keine weiteren Aufführungen ihrer Werke mehr registriert wurden, galt Maria Hofer ab 1968 nicht länger als tantiemenbezugsberechtigte Komponistin.“ 1962 verstarb Elsa Welwart, und Hofer vereinsamte und verarmte zusehends, handelte mit einfachen Messkompositionen und ihren Tonmonogrammen, die sie oft mehrfach verkaufte, alten Möbeln und Instrumenten. Zudem wuchs ihre Verbitterung. „Zeitweise hielt sie sich wochenlang in Obladis im Oberinntal, ich möchte fast sagen, verborgen“, erzählt Gottfried Planer. „Dann war sie wieder in Hopfgarten und kam nur kurz nach Kitzbühel. Sie war auf ihre alten Tage regelrecht heimatlos geworden.“ V. „Ich gebe zu, dass ich bereits glaubte, diese verschiedenen Stücke könnten nicht von ein und derselben Person geschrieben worden sein, zumal auch die von mir als Meisterwerke betrachteten Stücke mit Ausnahme der Ballada für Violoncello und Klavier alle nicht in der Handschrift Maria Hofers erhalten sind. Klavier- und Orgel-Toccata sind bei der UniversalEdition gedruckt, der Totentanz ist in einer fremden Handschrift erhalten, Eintragungen in einer zweiten
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Handschrift dürften von Maria Hofer persönlich sein.“ [Bernhard Sieberer in: Booklet zur CD Maria Hofer. Totentanz. RCR Nr. 0543, S. 29f.] Der Dirigent Bernhard Sieberer, wohl der beste Kenner des Werks von Maria Hofer, legte mir eine Liste der „Ungereimtheiten“ im Œuvre Maria Hofers vor. Die Musikwissenschafterin Milena Meller, die vor kurzem den in Kitzbühel erhaltenen Nachlass Hofers katalogisiert hat, spricht ebenso von den vielen Rätseln, die das Werk Hofers aufgibt, nicht zuletzt deshalb, weil aus den bekannten Gründen vieles fehlt. Etwas fassungslos ist Sieberer angesichts der großen Qualitätsunterschiede im Werk. Unter den vielen Belanglosigkeiten ragt besonders der Totentanz, laut Hofer 1942 im Anschluss an ihre Haftzeit komponiert, hervor, doch in der Tat ist er nur in einer Kopistenhandschrift der Universal-Edition erhalten. Die angebliche Urfassung für Klavier ist verschollen. Von den beiden Tokkaten existiert nur der Notendruck. Die UE ist derzeit nicht in der Lage zu erklären, wie die bei ihr erschienenen Partituren zustande kamen. Drängt sich der ungeheuerliche Verdacht auf, dass der Totentanz gar nicht von Hofer stammt? Denn wie war es möglich, ein derart ausgeklügeltes Werk, das durch die gekonnte Behandlung der Themen, das „versteckte“ Zitieren der gregorianischen „Dies-IraeSequenz“ in unterschiedlichen rhythmisch-metrischen Konstellationen, die Kontrapunktik und vor allem die beeindruckende Instrumentierung besticht, ohne Vorarbeiten zu komponieren? Nie vorher und nachher hat Hofer ähnliches zustande gebracht – oder wären die vernichteten Kammermusikwerke und Konzerte für Soloinstrumente und Orchester der Schlüssel zum Verständnis der Genese des Totentanzes gewesen? Man muss dem Zweifel an der Authentizität des Totentanzes ja auch entgegen halten, dass Hofers Korrektureintragungen in die fremde Handschrift nicht unerheblich, sondern, sofern es die Instrumentierung betrifft, essentiell sind. Und ferner gibt es in der Musikgeschichte genügend Beispiele für Komponisten, die nur wenige Male, manche nur ein einziges Mal, in der Lage waren, ihr kompositorisches Potential zu entfalten. Doch abgesehen von den qualitativen Unterschieden zwischen den frühen und den späten Werken verblüffen stilistische Unterschiede auch innerhalb der Gruppe der früheren Werke. Der Totentanz unterscheidet sich hinsichtlich seiner Ausarbeitung sehr von der
Orgeltoccata, die keine Toccata, sondern eine Fantasie mit Fuge darstellt (merkwürdig, dass Hofer sie mit „Toccata“ betitelte), und die berührende Ballada für Cello und Klavier weist stilistisch keine Ähnlichkeiten mit der Klaviertoccata Die Maschine auf, von der wir nicht wissen, ob Hofer sie überhaupt spielen konnte. Vom System her unterschiedliche Tempo-, Charakter- und Spielanweisungen in den einzelnen Stücken geben weitere Rätsel auf. Andererseits ist es für Komponisten und Komponistinnen jener Phase nicht ungewöhnlich, in verschiedenen Stilen zu schreiben – man ziehe als (freilich besonders extremes) Beispiel dafür Ernst Kreneks Œuvre heran –, und auch Maria Hofer schrieb in unterschiedlichen Stilen, wenn auch auf unterschiedlichem Niveau. Die Zweifel an der Authentizität mancher Werke Hofers rühren teils daher, dass sie, wahrscheinlich aus Frustration wegen mangelnder Anerkennung über einen längeren Zeitraum hindurch, wie Hugo Bonatti annimmt, zur Übertreibung und zum Flunkern neigte. Ein Ausdruck ihres Geltungsbedürfnisses ist der von ihr angefertigte Stempel mit der FantasieAmtsbezeichnung „Kulturreferentin des Bezirkes Kitzbühel“, und manche ihrer Flunkereien sind legendär. Erst spät erhielt sie zu ihrer großen Genugtuung den Titel „Professor h. c.“. Auf der Suche nach den Bindegliedern ihres unterschiedlichen Werks – ich kann mich hier in keiner Weise über ihre Sakralwerk, ihre vielen Messen, ihre unterschiedlichen Lieder äußern, weil sie noch im Archiv schlummern – darf eines nicht vergessen werden: Maria Hofer war in erster Linie „eine Improvisatrice“, wie Bonatti sagt, „wenn die mittendrin im Improvisieren war, die Augen habm gebrannt!“ Vieles, was sie „komponierte“, erfolgte also nur für den Augenblick. Ein Beispiel dafür ist ihr Quasi-„Tonmonogramm“ für Glockenspiel über „Wolfgang Amadeus Mozart“, ihr großes Ideal: Es enthält keine einzige Note, sondern nur eine für die Nachwelt nicht brauchbare Verbalbeschreibung: „Diejenigen Buchstaben dieses Namens, die im Tonalphabet aufscheinen, also die Töne: f, g, a, g, a, d, e, a, werden verschiedentlich kompositorisch verarbeitet.“ Tonbandaufnahmen derartiger Improvisationen existieren und werden derzeit von Milena Meller digitalisiert. Die zur Lösung einer Reihe offener Fragen erforderliche detektivische Recherche wäre eine echte musikwissenschaftliche Herausforderung.
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Rede des Chirurgen
Über Transplantation – eine Transkription. Raimund Margreiter, als Chirurg bekannt geworden für seine Aufsehen erregenden Organtransplantationen an der Innsbrucker Universitätsklinik, zu Gast bei den Rauriser Literaturtagen: Auszüge aus seinen Redebeiträgen im Rahmen einer Diskussion. „Ich glaube, über die Wertigkeit des Hirntodes sollten keine Zweifel im Raum bleiben. Er wird heute eigentlich von der gesamten wissenschaftlichen Welt mit dem Herztod gleichgesetzt. Nun, die Problematik ist einem auch nach 30 Jahren Transplantationschirurgie immer wieder präsent: Das Leben von zwei, drei, vier Menschen ist unweigerlich mit dem Tod eines anderen Menschen verbunden (abgesehen von der Lebendspende, aber das wird ja viel seltener gemacht). Das eine ist ohne das andere nicht möglich. Das ist, glaube ich, den meisten Organempfängern durchaus bewusst. Obwohl ich auch sagen muss, dass viele Empfänger gar nicht mehr an diese Problematik denken, da die Transplantationsmedizin heute schon so zur Normalität geworden ist. Manche gestehen mir, dass sie sogar gewartet haben, wenn es Frühjahr wird und wieder mehr Motorrad gefahren wird … das kommt vor und sie schämen sich für diese Gedanken, aber das ist eben die Tatsache. […] Wir sind vom Gesetzgeber her gezwungen, die Anonymität des Organspenders zu bewahren. Nur ist das in vielen Fällen gar nicht möglich! Alle Verstorbenen stehen in der Zeitung und die Organe müssen ja in-
nerhalb kürzester Zeit transplantiert werden: Beim Herz beträgt diese Zeitspanne, die ein Organ außerhalb des Körpers verbleiben kann, ohne dass es größeren Schaden nimmt, drei bis maximal vier Stunden. Bei der Lunge sechs bis sieben, bei der Leber zwölf Stunden. Also weiß man ja genau das Datum, an dem der Spender gestorben sein muss. Und wenn dann in den Todesanzeigen steht, gestorben mit 98 Jahren, gestorben mit 104 und einer mit 36 – dann weiß natürlich jeder, wer der Organspender war. Es ist aber eigentlich ganz selten der Fall, dass der Organempfänger wissen will, wer sein Spender war. Interessanterweise passiert es öfter, dass Verwandte und Eltern von Organspendern großes Interesse haben zu erfahren, in welchen Personen die Organe weiterleben. Das passiert immer wieder. Aber wir dürfen nichts bekannt geben […] Natürlich sollte man sich mehr mit dem Einzelschicksal beschäftigen. Aber irgendwo stößt jedes Gesundheitssystem an seine Grenzen. Auf der einen Seite haben wir Stundenbeschränkungen bei den Arbeitszeiten, auf der anderen Seite sollten wir in dieser Zeit mit jedem einzelnen Patienten stundenlang diskutie-
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ren. Wir bemühen uns schon, dem gerecht zu werden. Und ich für mich kann behaupten, dass mir heute, nach 40 Jahren Doktorspielen, diese Dinge immer noch sehr präsent sind. Aber ich darf schon bei dieser Gelegenheit auch sagen, dass wir oftmals an einem Tag zwei Lebertransplantationen und zwei Herzverpflanzungen durchführen, dann noch eine Lunge transplantieren und vier Nieren – das alles innerhalb von 24 Stunden und von einem relativ kleinen Team. Und da, das muss ich zugeben, kann es passieren, dass der operierende Chirurg unter Umständen gar nicht Zeit hat, dem einmal Grüß Gott zu sagen oder sich vorzustellen, weil die Leute sich eben so in der Routine verlieren. Allerdings wird, bevor der Patient überhaupt auf die Warteliste kommt, ein ausführliches Aufklärungsgespräch geführt. Und dann wird immer wieder im Laufe der Zeit Kontakt mit dem Patienten aufgenommen, je nachdem, wie lang die Leute auf das Organ warten […] Was den Verwandtschaftsgrad bei einer Lebendspende anbelangt, so habe ich persönlich immer am liebsten die Kombination Mutter – Tochter oder Mutter – Sohn. Das ist die einzige Konstellation, bei der man wirklich davon ausgehen kann, dass die Spende aus rein altruistischen Gründen erfolgt. In allen anderen Situationen und Kombinationen bin ich mir da schon gar nicht mehr so sicher. Da kann es durchaus sein, dass auf der einen Seite die Niere, auf der anderen Seite irgendein Hausanteil oder so etwas steht! Seit einigen Jahren führen wir auch Verpflanzungen zwi-
schen emotional Verwandten, also zwischen Ehe- oder Lebenspartnern durch. Und ich muss ganz ehrlich sagen: Neben den sehr guten Ergebnissen hat uns vor allem beeindruckt, dass diese Organspende ausnahmslos in allen Fällen zu einer Intensivierung der Beziehung geführt hat. Wir haben uns schon die schlimmsten Szenarien ausgemalt: Da gibt’s eine Scheidung – und einer der Partner verlangt seine Niere zurück … Aber das ist nie der Fall gewesen! Der Empfänger entwickelt ein sehr großes Gefühl der Dankbarkeit und für den Spender ist es ein enormes Gefühl der Befriedigung. Mehr kann ich ja nicht tun, als jemandem anderen ein lebendes Organ zu schenken. Früher habe ich das abgelehnt: Ich habe gesagt, man sollte auf das Organ eines Lebenden nur dann zurückgreifen, wenn man wirklich alle anderen Möglichkeiten ausgeschöpft hat. Davon bin ich abgewichen, weil ich draufgekommen bin, dass unser Berufsstand das aus eigener Kraft nicht zustande bringt. Per Dekret verordnen können Sie die Organspende nicht. Also können Sie nur die Lebendspende forcieren. Wir tun das vor allem gerne, wenn wir bei Kleinkindern die Leber transplantieren: Die sind oft ganz klein, ein halbes, dreiviertel Jahr alt und wiegen vier, fünf Kilogramm. Und da ist es sehr schwer – die Leber muss ja nicht nur blutgruppenverträglich sein, sondern auch größenverträglich. Meine Leber geht wahrscheinlich in so ein kleines Wutzele nicht hinein. Da müssen wir sowieso immer nur einen kleinen Teil transplantieren und da ist es das Beste, wir nehmen’s von der Mutter […]
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Die Lebendspende muss auf Freiwilligkeit basieren! Die Freiwilligkeit ist eine absolute Voraussetzung. Wir lassen das immer von zwei unterschiedlichen Psychiatern oder Psychologen beurteilen, wobei auch darauf nicht immer hundertprozentiger Verlass ist. In meinen Augen sollte der behandelnde Arzt die wichtigste Rolle spielen! Im Falle einer Nierentransplantation – die sind ja am häufigsten – ist das der behandelnde Nephrologe, der Nierenarzt. Der sollte die Möglichkeit einer Lebendtransplantation ins Spiel bringen und auf die Vorteile aufmerksam machen, ohne Druck auf die Angehörigen auszuüben. Und sollte dann ein Angehöriger im Einzelgespräch irgendwelche Bedenken haben, kann man irgendein medizinisches Kriterium vorschieben und sagen, es geht gar nicht. Sodass der Betreffende in der Familie nicht als derjenige dasteht, der die Niere nicht spenden will […]“ Die Transplantationschirurgie in Österreich ist untrennbar mit dem Namen Raimund Margreiter verbunden. Er zählt zu den Pionieren der Organverpflanzungen. Unter Margreiter entwickelte sich die Universitätsklinik Innsbruck zum Zentrum der österreichischen Organtransplantation mit weltweiter Reputation. Seit 1999 ist Margreiter Vorstand der Universitätsklinik für Chirurgie an der Medizinischen Fakultät der Universität Innsbruck. Margreiters internationale Karriere als Chirurg begann schon früh. Das Wissen, welches für Transplantationen wichtig ist, eignete er sich im Selbststudium an. Unter schwie-
rigen Bedingungen begann er 1974 mit den Transplantationen. Erst im Jahre 1983 wurde in Innsbruck eine eigene Abteilung Transplantationschirurgie errichtet, 1995 erhielt die Abteilung dann eine eigene Krankenabteilung, 1998 zwei Operationssäle und eigenes Personal. Damit waren ideale Voraussetzungen für die Transplantationschirurgie geschaffen. Chronologie: 1974 erste Nierentransplantation, 1977 erste Lebertransplantation, 1979 führte Margreiter erstmals in Österreich die gleichzeitige Transplantation einer Bauchspeicheldrüse und einer Niere durch, 1983 verpflanzte er erstmalig in Österreich ein Herz, im selben Jahr eine Leber-Nieren-Transplantation, die er weltweit als erster durchgeführt hat. Die gleichzeitige Transplantation eines Herzens und einer Lunge im Jahre 1985 sowie die Doppellungentransplantation ein Jahr später erregte Aufsehen, 1990 gelang ihm die erste Darmtransplantation in Österreich, 1995 erstmalig in Österreich eine Inselzelltransplantation. Margreiters prominentester Patient ist Theo Kelz, der beim Entschärfen einer Briefbombe beide Hände verlor; Kelz kontaktierte Margreiter und bat ihn um eine Handtransplantation, was schließlich im März 2000 gelang. Abdruck mit freundlicher Genehmigung des ORF Salzburg sowie der Rauriser Literaturtage, die im März 2007 unter dem Motto „Über-Leben. Literatur trifft Wissenschaft“ stattgefunden haben.
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Der Schattentourist in der Zwischensaisonmulde Landvermessung No. 2, Sequenz 5 Von Wenns nach Nufels Geschichten kann man auch durch geometrische Operationen auf der Landkarte generieren: In Quart folgen unterschiedliche Autoren mit unterschiedlicher Kondition unterschiedlichen Linien (s. Übersichtskarte auf der vorhergehenden Doppelseite). Derzeit befinden wir uns auf einer Geraden, die von Garmisch-Partenkirchen Richtung Oberes Vinschgau führt. In der aktuellen Folge ist der Schweizer Schriftsteller und Velokurier Urs Mannhart zu Fuß von Wenns im Pitztal nach Nufels im Kaunertal gewandert. Dann ist er wieder nach Bern gefahren – und hat die folgende Erzählung geschrieben: In einer dürren Hecke hinter dem leeren Parkplatz einer geschlossenen Sportartikelhandlung in Wenns, einem Dorf ohne Eigenschaften in den Ötztaler Alpen, übersetzen ein paar setzkastenähnlich in dieses Zweiggeflecht eingefügte Vogelwesen die Bedeutung der talfüllenden Sonntagsstille in ihre vokalbeherrschte Sprache. M., nahe an der Hecke vor dem Schaufenster am Boden kniend, schickt seinen Blick durchs Glas auf eine im Laden aufgefaltete Wanderkarte. M. trägt einen Rucksack, zu groß für einen Tagesausflug, aber Schuhwerk und Kleidung weisen ihn nicht als Bergsteiger aus, auch erweckt er nicht den Eindruck, einer ehrgeizigen Expedition, etwa einer transtirolischen Fußreise, anzugehören. Weit über dem Dorfkern, kurz bevor Wenns mit dem Dorfsein aufhört und übergeht in einen dem Wald nahestehenden Feldweg, auf dem zuweilen Ornithologen und andere Naturneurotiker vermutet werden dürfen, bemerkt M. eine am Wegweiserpfosten angebrachte Tüte. Darin verbirgt sich die Kronenzeitung. Derart peripher noch mit den neuesten Nachrichten versorgt zu werden, überrascht M. Danke für ihre Ehrlichkeit, steht auf der Tüte. Ja, ich werde die Zeitung ehrlich lesen, denkt M., und steckt ein Exemplar ein. Es ist ungebührlich warm für einen Apriltag. M., Wanderungen im Gebirg zwar gewohnt, aber nicht immun gegen die Unbill des Alters, trägt die Wangen rot und die Stirn schweißglänzend. In der Nähe einer Weggabelung zwischen Larchach und Piller verlässt M. den Feldweg und marschiert auf eine Scheune zu,
wie sie zahlreich auf den aufgeräumten und wie poliert glänzenden Feldern zu sehen ist. Die meisten dieser Hütten scheinen intakt und genutzt, aber jene, die M. für seine Rast auswählt, besteht aus behelfsmäßig zusammengefügten, vorhandenen und fehlenden Brettern. M. ruht sich aus, isst Brot, Käse, Birnenkompott, greift zur Kronenzeitung. Es ärgert ihn zu sehen, dass schon wieder ein Zitat von Peter Sloterdijk die Titelseite schmückt: Die Welt stirbt in etwas Unbekanntes hinüber, lautet die Schlagzeile, rot auf schwarz in mächtigen Lettern. Die Kronenzeitung druckt schon wieder solch fehlformulierten und scheinbegrifflichen, hinterstichig weltschmerzsüßen Philosophenbrunz, weil sie weiß, dass die Massen scharf sind auf das Hirnschmalz von Provokationstheoretikern dieser Prägung, weil sie weiß, wie hoch sich damit die Auflage ihres liederlich redigierten Gratisblatts halten lässt und wahrscheinlich, so denkt M. weiter, werde ich diesen Artikel allein deshalb zu lesen mich genötigt fühlen, um mich danach umso schöner ärgern und abschätzig darüber denken zu können. M., umständlich Birnenkompott auf eine Käsescheibe streichend, weiß um das Mangelerlebnis, das sich einstellt, wenn der Mensch seinen Unmut mit Dingen nährt, die er lediglich vom Hörensagen kennt. Später – der Artikel von Sloterdijk zum Verschwinden der Wirklichkeit und der Wirklichkeit des Verschwindens ist lange gelesen, verlacht und vergessen – begegnet M. dem Starkstrommast Nr. 62. Die Rückseite eines am Fuß des Masts angebrachten, mit technischen Angaben und Todeswarnungen beschrifteten
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Schildes ist leer. Das bewegt M. dazu, mit seinem Caran d’Ache etwas auf das kühle Metall zu schreiben: „Für Ihre Notizen:“ M. wünscht sich mehr notizwillige Landschaftskritiker. Auf einem wurzeldurchwachsenem Pfad, der weder mit Aussichten noch mit Passagen durch engstehendes Nadelholz geizt, erreicht M. am frühen Abend wenige kleine Häuser, die einem Dorf zuliebe etwas enger beisammen stehen. Eine ältere Frau, die satt und zufrieden an einer von später Sonne erhellten Hauswand lehnt und in die wenigen und sich langsam wie das Landleben verändernden Wolken späht, bestätigt M., dass dies Piller sei. M., der sich auf eine Unterkunft freut, findet das Gasthaus Hirschen verschlossen vor. Der Gasthof zur Sonne gegenüber aber scheint geöffnet. Im Eingang trifft M. auf eine Fenstersimspflanze, neben deren Topf ein Kamm liegt. Wahnsinn, denkt M., im Tirol werden sogar die Blumen gekämmt. Im Innern des Gasthofes sind einzig zwei Männer zugegen, die Schwermut des Sonntags liegt gerecht auf ihren Schultern verteilt. Einer steht vor, einer hinter dem Schanktisch. Während Letztgenannter kaum ein Nicken über den Tresen zu heben vermag, bekommt M. vom anderen sofort eine Lawine von Schicksalen zugeschaufelt, über die der Mann biographisch zu verfügen vorgibt. Alle gründen sie in historisch-geographischen Verwerfungen Tirols. Unehelich geboren und auf der falschen Seite der Grenze aufgewachsen, reimten sich die Dinge seines Lebens wie Fasnacht auf Karfreitag. Bei seinem Vater im Südtirol sei ihm der Mund zugehalten worden, noch ehe er das Sprechen gelernt habe. Schließlich sei er aus dem Südtirol herauskontrolliert worden. M. fragt den Wirt nach einem Zimmer. Der Wirt aber reagiert nicht. Hört er nichts? M. dreht sich wieder zum Trinker und bemerkt jetzt dessen Hemd: Es ist mit einem Bildnis Arnold Schwarzeneggers in dessen Rolle als Terminator bedruckt und verleiht der Bar ein kalifornisches Flair, jedenfalls glaubt M., einer subtilen Kalifornikation beizuwohnen. Der Trinker stellt sich breitschultrig vor M. auf und sagt: Ich bin nicht Terminator, sondern Termin-Autor. Die ernste Mine kann er zwei drei Sekunden halten, dann bricht er in bierschaumspeiendes Gelächter aus. M. nutzt diesen Lachanfall, um den völlig ungerührten
Wirt nochmals nach einem Zimmer zu fragen. Der Wirt spült weiter und stumm ein Glas. Der Trinker klopft M. auf die Schulter. Er sei berühmt geworden mit diesem Spruch, mit dem er sich vor der dauernden Verwechslung mit Schwarzenegger entgültig und auch auf eine dem Volksmund einprägsame Art zu verabschieden vermocht habe. Sei doch sehr klug, der Spruch. Jedenfalls habe er vor 20 Jahren ein Gedicht geschrieben, das zu einem bestimmten Termin habe fertig werden müssen, um es bei einem Wettbewerb einzusenden. Seither gelte er in Piller als Termin-Autor. Er wisse nicht, ob ein Zimmer frei sei, sagt der Wirt, nachdem er literweise Wasser über das eine Glas gegossen und dieses sorgfältig auf dem Tropfbrett abgestellt hat. Der Wirt komme innerhalb der nächsten Stunde. M. nimmt zur Kenntnis, dass er den Wirt zu Unrecht als Wirt angesehen hat, und setzt sich an einen der Schenke möglichst weit entfernten Tisch, um von den biographischen Unausbleiblichkeiten des unehelichen Ex-Verwechslungsopfers verschont zu bleiben, und trinkt eine Limonade. Dabei sieht er sich an einen Bekannten erinnert, der ihm einst erzählte, manche Menschen könnten die Kohlensäurebläschen, wie sie sich in diesen Getränken millionenfach fänden, nicht verarbeiten, weshalb sie bis in den Urin hinein nachweisbar blieben. Weil M. schon lange wissen möchte, ob er auch zu jenen Menschen gehört, achtet er jetzt darauf, nicht alle Kohlensäurebläschen in der Mundhöhle versprudeln zu lassen, sondern diese ganz und unverletzt zu schlucken, damit sie den Körper unbeschädigt durchwandern könnten. M. ist unschlüssig, ob er wartend nun wieder in der Kronenzeitung blättern soll. Die Angst aber, dabei erneut mit ästhetisch aufbereitetem Philosophenpopel konfrontiert zu werden, hält ihn davon ab. Ablenkung findet er in der Beobachtung, dass sich in der kleinen Flasche vor ihm überraschenderweise 35 cl Limonade befinden, wobei er sowohl rätselt, was diese Überraschung verursacht hat, wie auch bezweifelt, ob er zu dieser Überraschung berechtig sei. Sie könnte auf einer Fehlerinnerung beruhen oder einer Wahrnehmung entstammen, die sich täuscht in der Meinung, gewöhnlicherweise seien solche Flaschen mit 33 cl gefüllt, in den letzten Jahren seien aber ver-
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schiedenste Limonadenhersteller dazu übergegangen, den Flascheninhalt sukzessive auf 30 cl herunterzuschummeln, so dass eine Steigerung auf 35 cl doch ein ganz anderes Wirtschafts- und Konsumsignal darstellen würde. M. nimmt sich vor, zu diesem Sachverhalt zu recherchieren und allenfalls für die Erwähnung im Rapport zuhanden der Stiftung vorzusehen. M. entdeckt ein abgegriffenes Papier, das auf einem Nachbartisch liegt. Dreisprachig wird erklärt, wie man sich bei Feuer verhalten soll: auf deutsch, deutsch-türkisch und deutsch-jugoslawisch: Wenn krass heiß, du bleiben ruhig, rufen konkret Mann in rotes Auto mit großes Schlauch. Zwei Männer treten ein, bestellen Bier, unterhalten sich in einer Sprache nordischen Klangs. Das restliche Tirol bleibt ruhig. Als nach einer Stunde und drei Limonaden endlich der Wirt kommt, zieht er M. gegenüber die Brauen in die Stirn: Mit den Zimmern habe er nichts zu tun, der Chef komme jeden Augenblick. Nach einer weiteren halben Stunde kommt zwar der Chef nicht, aber der Wirt erklärt, er habe mit ihm telefoniert. Er lasse ausrichten, dass die Betten nicht gemacht seien, weswegen zur Zeit kein Zimmer frei sei. Verunsichert sitzt M. hinter dem Tisch. Er hat nicht damit gerechnet, jetzt noch eine Unterkunft suchen zu müssen, dazu in einem von der Zwischensaison ausgedörrten Piller. Die biertrinkenden Belgier, Dänen oder Niederländer erkennen sein Unglück und laden M. zu sich nach Hause ein. Wenig später isst M. im Haus der beiden Nordländer Joghurt und Weißbrot mit ungarischem Waldhonig. Als sie verstehen, dass M. morgen nach Nufels wandern will, erstellen sie ihm eine Kopie der Wanderkarte. Kaum handflächengroß ist das Stück, das sich in der fotomechanischen Wiedergabe nicht verschwommen zeigt. Mit Hilfe der Originalkarte zeichnet M., als er alleine auf dem Zimmer ist, im verschwommenen Grau die Wanderwege ein. M. duscht heiß und legt sich, da kein Tuch zur Verfügung steht, nass ins Bett. Er schläft unruhig, träumt einmal von der Suche nach dem unheiligen Gral Tirols, dann wieder von einer Gerichtsverhandlung. Die Anklage lautet auf unterlassene Hilfeleistung an einem seinen Verletzungen
inzwischen erlegenen Redakteur der Kronenzeitung. M. fühlt sich sehr unschuldig. Verschiebungen Vor Tau und Tag bricht M. auf. Nach einer halben Stunde erreicht er den Dorfladen von Piller, der aber noch nicht geöffnet hat. Als um 8 Uhr die Kirchenglocken bimmeln, tritt er ein. Angesichts der beinahe leeren Regale fühlt sich M. sofort ausgehungert. Wo Platz ist für frisches Brot, liegen alte Brosamen. Ganze vier Semmeln sind im Angebot. M. steht hinten bei der Schokolade, als ein Herr in den Laden tritt, rasch zwei Semmeln kauft und geht. M. ist in Eile, sich die restlichen zwei Semmeln zu sichern. Drei Minuten nach Ladenöffnung ist das Brotregal leergekauft. Verblüfft, wie viel Schnee noch liegt in höheren und schattigen Lagen, entscheidet sich M. nach zweistündiger Wanderung, das Ersteigen des Gipfels bleiben zu lassen und direkt nach Nufels zu wandern. Beim Pinkeln hinter einer mächtigen Fichte stellt M. fest, dass er gestern Abend vergessen hat, seinen Urin auf allenfalls vorhandene Kohlensäurebläschen hin zu untersuchen. Am Fuß der Kleinen Aifner Spitze trifft M. auf einen jungen Mann, der den schweren Bergschuhen und dem Helm nach willens ist, in ganz andere Höhenlagen vorzudringen. Nach einem kurzen Gespräch schließt sich M. dem jungen Mann an. Er heißt Robert, wohnt in Prutz, arbeitet sommers als Zimmermann und winters bei der Pistenrettung. 600 Verletzte in der vergangenen Saison, viel Arbeit, erklärt er. Es ist ein schweigsamer Aufstieg. Als es eine exponierte Flanke zu queren gilt und M. Bedenken äußert, erklärt Robert, dass nicht im Wasser umkommen könne, wer für den Strick geboren sei, und geht weiter, ohne auf M. zu warten. Dieser achtet darauf, die Schuhe gut im Schnee zu verankern und die Furcht über die Wahrscheinlichkeit, allaugenblicklich abzustürzen, zu ignorieren. Heil, Heil, spricht Robert laut, als der Gipfel der Kleinen Aifner Spitze erreicht ist. Er drückt M. kräftig die Hand. Die beiden setzen sich auf einen schneefreien Felsvorsprung. Robert wechselt das Unterhemd. M. nimmt die Kronenzeitung hervor und be-
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ginnt zu lesen. Mit seinem Caran d’Ache markiert er wohlformulierte Passagen. Robert mustert ihn argwöhnisch. Um Zeitung zu lesen, hätte er diesen Berg nicht erklettern müssen. Ob ihm denn die Aussicht nicht gefalle. Sie gefalle ihm durchaus, erwidert M., er habe sie bereits angeschaut. Dann wird es still. Hin und wieder rascheln die Zeitungsseiten im leichten Wind. Er lese also lieber die Zeitung, als die Aussicht zu genießen, beginnt Robert. Aussichten sähen immer so aus, erwidert M. Schon vor 700.000 Jahren, als die Spatzen noch Felle und Stosszähne getragen hätten, habe die Aussicht so ausgesehen. Ob er das immer so mache, fragt Robert, ungenügend ausgerüstet am Fuß eines Berges auf jemanden zu warten, mit dem er mitgehen könne. M., der sich angefeindet fühlt, antwortet nicht. Ob er überhaupt wisse, wo er sich befinde, will Robert wissen. Ob das wirklich so wichtig sei, fragt M. Robert schüttelt den Kopf. Er hätte ihn, M., nie mitnehmen dürfen. Kartenlesen sei doch unergiebig, sagt M., man sehe bloß, was das Gelände ohnehin zeige. Ja, ja, sagt Robert, er sehe schon, er lese lieber die Kronenzeitung. Dann wird es still. Robert beißt in einen Getreideriegel und trinkt Wasser, ohne M. etwas anzubieten. Am Berg fasziniere ihn das Hochkommen, beginnt M., um die unangenehme Stille zu beenden, in der er wiederholt die beiden Worte ehrliche Lektüre gedacht hatte. Das Erreichen des Gipfels fasziniere, fährt er fort, nicht das Obensein. Je näher der Gipfel, desto kleiner der Berg. Schritt für Schritt, Höhenmeter für Höhenmeter schwinde seine Macht, bis sie schließlich, auf dem Gipfel angekommen, ganz verschwunden sei. Falls dem so sei, sagt Robert, sei er, M., aber in der falschen Richtung unterwegs. Besser würde er ein tiefes Loch schaufeln, am Fuß eines Berges einen Schacht in den Grund treiben, damit er hinabsteigen könne und von dort unten den Berg so groß wie nur irgend möglich zu Gesicht bekomme. M. starrt in die Zeitung. Dieser Typ neben ihm lese also wirklich auf dem Gipfel oben die Zeitung, spricht wenig später Robert wie zu sich selbst. Erst habe er ja gedacht, M. würde nach alter Schule die Zeitung unter das Hemd stopfen, damit der Schweiß ihn nicht auskühle. Weil M. kein zweites Hemd und weil er es von seinem
Bergsteigeronkel in den 50er-Jahren so gelernt habe. Aber nein, er lese die Zeitung. Ob er denn die Kronenzeitung nie lese, fragt M. Oder wenigstens das Feuilleton? Nein, er lese weder die Kronenzeitung im Allgemeinen noch dessen Feuilleton im Speziellen, antwortet Robert. Dann steht er auf, wünscht M. einen sicheren Abstieg und schreitet von dannen. Verwünschungen M. ist froh, sich beim Abstieg immerhin auf die bereits in den Schnee gehauenen Tritte verlassen zu können. Zu seiner Überraschung findet er, am Fuß der Kleinen Aifner Spitze angekommen, den im verschwommenen Teil seiner Karte eingezeichneten Panoramaweg auf Anhieb. Dieser wird ihn, großteils 2000 Meter über einem fernen Meer gelegen, nach Nufels ins Kaunertal bringen. Bei einem freistehenden, überraschenderweise auf dieser Höhe noch kräftig gewachsenen Baum, der sonderbarerweise eingezäunt und mit dem Namen Wetterkreuzbichl beschriftet ist, macht M. die Begegnung mit Florian Waldstein, der diesen wunderwüchsigen Baum abzuzeichnen Vorbereitungen zu treffen scheint. M. kennt Waldstein aus dem Roman „Schule der Geläufigkeit“ von Gert Jonke als berühmten Maler und Blickkünstler. Waldstein freut sich, erkannt zu werden. Allerdings zürnt er, kaum hat M. dessen Name ausgesprochen, augenblicklich gegen Jonke und erwähnt die zahllosen noch hängigen, multiplen und wirr miteinander verknüpften, einander sowohl ausschließenden wie auch gegenseitig bedingenden und von der pomadigen Justiz äußerst schlampig behandelten und aller Voraussicht nach noch über Jahre hin verschleppten oder wahrscheinlich überhaupt erst posthum eröffneten Verfahren gegen diesen phantasieerkrankten Silbenwürger von einem Schriftsteller, gegen den er wegen verleumderischer Falschdarstellung sowie wegen Verletzung von Persönlichkeitsrechten und erheblicher, für einen freischaffenden Maler wie ihn existenzgefährdender Rufschädigung eine Schadenersatzforderung von einer wohl eher zu tief gewählten Summe zu erheben wie auch vom Verlag die sofortige Zurücknahme, wenn nicht die teilöffentliche
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Einstampfung oder festlich umflorte Plattwalzung dieses Romans zu erreichen versuche. M., irritiert durch den aufgebrachten Waldstein, ringt sich ein Nicken ab. Um abzulenken, will M. wissen, ob er noch immer vornehmlich Veduten male. Da beginnen die Pupillen Waldsteins zu glühen. Von Veduten könne überhaupt nicht und von Veduten war überhaupt auch früher nie und von Veduten werde auch überhaupt niemals die Rede sein. Er habe kein einziges Mal und noch nie eine Vedute gemalt. Wahrscheinlich sei er, M., auch so ein Opfer jonkscher Prosa und komme nun für seine Bilder überhaupt nicht mehr in Frage, als Betrachter meine er, weil er die Bilder nur und ausschließlich so anschauen werde, wie sie im Roman beschrieben worden seien, der unvoreingenommene Blick gehe ihm wahrscheinlich vollends ab, aber alles an diesem Roman sei Niedertracht und Übertreibung, es sei ja nur ein kleines Gartenfest gewesen, wie es jedes Jahr stattzufinden pflege, auch wenn es in den Jahren nach dem Zwischenfall nicht mehr zustande gekommen sei, aber das habe andere, vielschichtige Gründe und mit seiner Person nicht entfernt etwas zu tun, und so, wie dieser Todesfall beschrieben sei, werde das Augenmerk mit jeder Zeile mehr und mehr weg vom Unfall, um den es sich gehandelt habe und um nichts anderes, werde das Augenmerk hingeführt auf ein zwischen den Zeilen schlummerndes Gefühl, das dem Leser ganz unterbewusst und in unbegründeten Ahnungen Recht zu geben versuche, da sei in diesem Unfall und in den nebensächlichen, aber wirklich nebensächlichsten Begleitumständen eine gewisse Mutwilligkeit im Spiel gewesen, wenn es doch in Wahrheit und zwar in der beweisbaren Wahrheit und tatsächlich bloß der Alkohol und ein bisschen fehlende Sympathie gewesen seien, nichts, was nicht menschlich wäre und nichts, weswegen sich jemand je hätte schuldig fühlen sollen oder hinkünftig schuldig zu fühlen brauche. M., leicht verzweifelt auf dem schmalen Bergpfad diesem sich in Rage sprechenden Maler und Blickkünstler gegenüber, blickt an einem kleinen Fleck, wo der Schnee ganz geschmolzen ist, ins blonde Gras. Danke für ihre Ehrlichkeit, denkt M. Als Waldstein fertig ist, sagt M., dass es traurig sei, aber die Welt
sterbe in etwas Unbekanntes hinüber. Er drückt Waldstein die Hand, sagt, es habe ihn gefreut, ihn kennen zu lernen, und verabschiedet sich. Verfälschungen M. wünscht sich einen Starkstrommasten, wo er mit seinem Caran d’Ache etwas auf die Rückseite des Schildes mit der Todeswarnung notieren könnte. Beispielsweise: „Heimatliches Fernweh“. Oder: „Ich lerne, Tirol ist eine Ausstellung von und über Tirol“. Das Tal scheint nun mehr und mehr mit sich selbst und mit seinem Landschaft-Sein beschäftigt. Der Abstieg vom Panoramaweg nach Nufels schlägt M. in die Knie. Auch schmerzen die Hüftgelenke. Erschöpft und hungrig erreicht er ein kleines Hotel, das eigentlich ein Bauernhof ist. Die Übernachtung ist mit 25 Euro wirklich preiswert. Nach dem Abendessen begegnet er im Treppenhaus einem Schild, auf dem geschrieben steht, Nufels sei ein einzigartiger Kraftort auf 1273 Metern Höhe. Kraftort bedeute, dass sowohl die Nufels umgebenden Berge als auch der Gletscher den Ort mit ihrer Kraft speisten. Ein universelles Gesetz besage, dass Gleiches immer auch Gleiches anziehe. Deswegen würden in Nufels Menschen mit besonderen Potentialen wohnen. Die Nufler seien geprägt von der Kraft des Ortes, die es ihnen ermöglicht habe, ihre Fähigkeiten zu entfalten. Zu müde, diese Information zu verarbeiten, legt sich M. ins Bett, wo er raschen und bergstollentiefen Schlaf findet. Frühmorgens duftet ihm – M. ist der einzige Gast – ein Frühstücksbuffet entgegen, das keine Wünsche offen lässt. Kurz vor dem Aufbruch spricht M. gegenüber der Gastgeberin davon, nicht aus eigenem Antrieb nach Nufels gelangt zu sein, sondern im Auftrag einer Stiftung, die sich unter dem Titel „Tirol schön, wenn die Touristen weg sind“ dafür einsetze, den Tiroler Tourismus in der Zwischensaison nicht gänzlich absterben zu lassen. Falls sie richtig verstehe, sagt die Gastgeberin, falls er im eigentlichen Sinn gar kein Tourist sei, so könne er aber auch keine Kurtaxe bezahlen, nein, dann könne er im Grunde überhaupt nichts bezahlen, er dürfe, wenn sie sich das genau überlege, unter keinen Um-
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ständen auch nur das Geringste bezahlen, sonst verfälsche er die touristischen Erhebungen, sonst zeichne er ein falsches Bild, sie werde den von ihm soeben ausgefüllten Nächtigungsschein vernichten müssen, sonst werde der Anschein erweckt, es gäbe in der Zwischensaison Touristen im Tirol, und es ginge nicht an, dass seinetwegen, sie habe ja ausdrücklich nichts gegen ihn, er solle sie bloß nicht falsch verstehen, es sei ihr ja das größte Vergnügen, ihn als Gast begrüßen zu dürfen, und er solle unbedingt wiederkommen, es wäre ihr eine Freude, aber, und diese Bitte müsse sie jetzt wohl wirklich vortragen, er solle doch kommen, wenn Saison sei im Tirol, also natürlich könne er ihretwegen auch in der Zwischensaison kommen, sie wolle ihm da überhaupt keine Vorschriften machen, könne das ja auch gar nicht und das Hotel stehe ja das ganze Jahr über da, aber falls er in der Zwischensaison komme, dann müsse dies ganz auf freiwilliger Basis geschehen, dann dürfe da auch nicht der entfernteste Auftrag dahinterstecken, ob er das verstehe, es sei ja nicht nur der Statistik wegen, denn im Tirol richte man sich als Gasthof eben darauf ein, man erwarte in diesen Wochen überhaupt niemanden, es gebe schlichtweg niemanden, der in diesen Wochen ins Tirol finde, vielleicht mache auch niemand Ferien, wahrscheinlich würde überall gearbeitet, also wahrscheinlich werde nicht überall gearbeitet, es gebe ja immer welche, die faulenzten, aber falls zu Zeiten der Zwischensaison gefaulenzt werde, dann werde das bestimmt nicht im Tirol getan, und falls er also wieder zu kommen erwäge und der Zufall wolle es, dass es in der Zwischensaison geschehe, dann dürfe er ihr es nicht übel nehmen, wenn sie an seiner Auskunft, er sei gänzlich aus freien Stücken und allein zu seiner Erholung da, nicht beim ersten Mal und sofort Glauben schenken werde, sie wisse doch jetzt, dass er, wenn auch teilzeitlich, als Schattentourist für eine Stiftung arbeite, und wer garantiere ihr denn, dass diese Tätigkeit nicht auf ihn privat abgefärbt habe oder noch abfärben werde dereinst, sie wisse ja nicht, wie lange er diese Arbeit schon ausführe und noch auszuführen gedenke, aber egal, er werde ihr vielleicht versprechen können, dass er ganz privat und ohne Auftrag nach Nufels gekommen sei, aber falls er in der Zwischensaison komme,
habe sie dennoch Grund anzunehmen, er sei doch nur hier, weil er wisse, dass in dieser und jener Woche Zwischensaison sei und dass es keine Touristen gebe und er sich nicht ärgern müsse, mit einer Horde Unbekannter das Frühstücksbuffet zu teilen oder schon ein fast leer gegessenes Frühstücksbuffet vorzufinden, falls er ein bisschen länger zu schlafen sich erlauben werde, und dann sei er ja doch nur der Zwischensaison und nicht dem Tirol wegen im Tirol und verfälsche also immer noch, wenn auch nicht mehr so deutlich, die Statistik, so dass sie ihm nur raten könne, in der Zwischensaison immer nur mit Auftrag, in der Saison allerdings ganz privat und sonst aber gar nicht hier aufzutauchen, wobei er aber nicht vergessen dürfe, dass sie wirklich alle Sympathien für ihn als Gast empfinde und dass es ihr eine Freude bereite, ihm trotz dem Umstand, dass er der alleinige Bettgänger gewesen sei diese Nacht, die ganze Palette ihres Buffets anzubieten, ja, auf Gastfreundschaft sei man stolz hier im Haus und richte aber auch Einiges, damit sich dieser Stolz nicht mit leeren Phrasen zu rechtfertigen brauche, das Führen eines Gasthauses sei selbstredend mehr als eine Arbeit wie jede andere, das könne er ihr getrost glauben, wenn es ihnen ums Geldverdienen ginge, dann hätten sie sich längst etwas anders einfallen lassen müssen, nein, es sei ihnen eine große Freude, aber vielleicht verstehe er die Vorliebe für Gäste, die aus freien Stücken sich für einen Besuch in Nufels hätten entscheiden können und diese Freiheit scheine ihr bei ihm, und das habe nichts mit seiner Person zu tun, sondern allein mit der Funktion, die er bekleide, nicht gänzlich gewährleistet, und hier, er solle das Geld zurücknehmen bitteschön und als Zeichen ihrer Zuneigung und ihres Respekts schenke sie ihm noch einen selbstgebackenen Zopf, der gehe aufs Haus. M., nickend und sprachverloren, nimmt Geld und Zopf entgegen, trägt letzteren säuglingsgleich im Arm, verabschiedet sich herzlich, vollführt angesichts der Kapelle der Schmerzhaften Mutter eine nervöse Bekreuzigung und stellt sich im Tal unten an den staubigen Rand der Straße, hebt den Daumen und wartet auf die Lieferanten, die, wie er sich hat sagen lassen, doch hin und wieder anhalten würden, um jemandem zum Talausgang hin mitzunehmen.
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Das Erbe der Einsamkeit
Im Südtiroler Vinschgau gibt es Dörfer, die sind das perfekte Labor für Genforscher: Bis vor 30, 40 Jahren hat hier niemand hinaus- oder hineingeheiratet. Von Alice Riegler Stilfs, Martell, Langtaufers, das sind entlegene Bergdörfer im Vinschgau, auf steilen Hängen hingeklebt und schwer zu erreichen, bewohnt von Bergbauern, die der rauen Umwelt seit Jahrhunderten ihren Lebensunterhalt abtrotzen. Heimatfilmdörfer, bis vor wenige Jahrzehnte jedenfalls. Dann wurden Straßen gebaut, Strom- und Telefonleitungen verlegt, die Höfe angeschlossen an die Fernsehnetze. Die Bewohner, deren Vorfahren über Jahrhunderte hier aushielten, wurden mobil, gingen in die Städte, einige, nicht viele, kamen auch wieder zurück. Die Einsamkeit ging zu Ende. Ihr Erbe aber, das Erbgut der Nachkommen von Generationen von Bergbauern und -bäuerinnen, bildet nun einen vielversprechenden Gegenstand der Wissenschaft. Die Abschottung nämlich, der fehlende Austausch mit der Außenwelt hat eine hohe Homogenität der Gene bewirkt; die wiederum erleichtert die Arbeit der Genforscher erheblich. Dabei ist es die Abwesenheit von Vielfalt, die Ausschaltung von störender Varianz, die von Interesse ist, da sie eine Eingrenzung der Unterschiede auf relativ wenige Genregionen erleichtert. Deshalb wird nun bereits seit einigen Jahren das Erbe der Abgeschiedenheit, das „genetische Material“ der Stilfser, Marteller und Langtauferer Bevölkerung in einer Studie der Europäischen Akademie (Eurac) in Bozen untersucht. Untersuchungen, die das Erbgut abgeschiedener oder isolierter Bevölkerungen erforschen, haben sich während der letzten Jahre und besonders seit der Entschlüsselung des menschlichen Genoms im Jahr 2000 rasch verbreitet. Den Anfang in Europa machte eine Untersuchung namens Finnish disease heritage, die zur Identifizierung fast 40 monogener Erkrankungen,
die in der Bevölkerung Finnlands gehäuft auftreten, geführt hat. Diese Entdeckung verdankt sich den besonderen demographischen Eigenschaften der skandinavischen Bevölkerung: eine kleine Anzahl an Gründern, lang dauernde Isolation, rasches Wachstum und mehrere genetische Flaschenhälse, die sich auf das Erbgut der Finnen ausgewirkt haben. Aus ähnlichen Gründen zog kurz darauf Island die Aufmerksamkeit der Genforscher auf sich. Die genealogischen Daten aller Inselbewohner wurden von dem biopharmazeutischen Unternehmen deCode Genetics käuflich erworben, was zu Unbehagen und wütenden Protesten führte. Nach einiger Zeit begann man auch in Italien mit dem genetischen Studium von Isolatbevölkerungen. Seit den 90er Jahren wird etwa in Sardinien das Erbgut der Bewohner der entlegenen Region Ogliastra untersucht. Einige süditalienischen Gebiete in Apulien und Kampanien und mehrere alpine Täler der Lombardei, des Veneto und Südtirols gehören zum 2004 gegründeten Consorzio isolati genetici italiani. Das in Bozen angesiedelte Forschungsprojekt ist seit 2006 auch Mitglied des European research network on special populations (Eurospan), in dessen Rahmen die geographischen Isolate der schottischen und kroatischen Inseln, die linguistische Minderheit der Saami in Skandinavien und einige religiöse Isolate Südhollands untersucht werden. Abgeschiedenheit im Blickfeld Überall auf der Welt wurden also in den letzten Jahren isolierte Bevölkerungen entdeckt, die das Studium der menschlichen Gene und der Ursachen von Krankheiten vereinfachen. Da sollte es nicht wunderneh-
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men, dass auch die sprichwörtliche Abgeschiedenheit Südtiroler Bergbauerndörfer ins Blickfeld der Forscher gerückt ist. Ausgangspunkt für die Erforschung genetisch bedingter Krankheiten in Südtirol war das 1996 durchgeführte Neuro Epidemiologic Project South Tyrol (NEPT). Eine Gruppe aus 15 Allgemeinmedizinern untersuchte die Häufigkeit und Verteilung des Parkinson-Syndroms in der Region und fand heraus, dass im Westen Südtirols eine besondere Form, die durch einen frühzeitigen Krankheitsbeginn gekennzeichnet ist, vorherrschend war. Diese Art von Parkinson, bei der genetische Ursachen relevant sind, trat außerdem in bestimmten Großfamilien, deren Genealogien sorgfältig rekonstruiert wurden, gehäuft auf. Als 1997 in Amerika das erste Parkinson-Gen ausfindig gemacht wurde, wurde sich der Neurologe Peter Paul Pramstaller, der das Projekt NEPT ins Leben gerufen hatte, des Forschungspotentials in Südtirol bewusst. Ähnlich wie Parkinson konnte man, wenn die Bevölkerung isoliert war, auch andere Erkrankungen erforschen. Was aber sind die Kriterien, die eine „isolierte“ Bevölkerung ausmachen? Südtirol als deutschsprachige Region Italiens ist zunächst einmal ein linguistisches Isolat. Dass die Sprachgrenzen auch den Austausch von Genen verhindern, wurde durch mehrere Studien belegt, die im Falle Südtirols durch die verschiedene Zusammensetzung des Erbguts der Ladiner bestätigt werden. Die Mobilität – und infolgedessen der Genaustausch – wurden hierzulande noch dazu durch die geographischen Gegebenheiten des Territoriums eingeschränkt. In zweifacher Hinsicht entsprachen die Südtiroler also den Voraussetzungen, um als Isolatbevölkerung in Frage zu kommen. In einem nächsten Schritt musste diese Hypothese allerdings in komplizierten genetischen Forschungen bestätigt werden. Die Untersuchung der genetischen Marker, die aus den DNA-Proben der Bewohner verschiedener Süd-
tiroler Täler stammten, hat für alle Täler einen zumindest moderaten Grad an Isolierung bestätigt. Diese Isolierung erreicht allerdings in einigen entlegenen Seitentälern bedeutend höhere Werte: Durch historische und genealogische Forschungen konnten mehrere Bergsiedlungen identifiziert werden, die im Rahmen des mittelalterlichen Siedlungsausbaus und der Höhenkolonisation von wenigen Familien gegründet worden waren und deren Bevölkerungen keinen oder nur sehr geringen Genaustausch mit anderen Bevölkerungen gehabt hatten. Diese Eigenschaften machten zusammen mit dem langsamen Bevölkerungswachstum und dem hohen Grad an Blutsverwandtschaft diese kleinen Siedlungen zum idealen Forschungsgebiet. Dazu gehören die bisher untersuchten Dörfer Stilfs, Langtaufers und Martell, die sich alle im Vinschgau befinden. Keine Vermischung Über Jahrhunderte hinweg waren viele Einwohner dieser Siedlungen notgedrungen ausgewandert, aber nur wenige kamen in die Gemeinschaft neu dazu. Die letzte nennenswerte Einwanderungsbewegung hat sich z. B. in Martell während der kurzen Belebung des Bergbaus um 1700 zugetragen. Und sogar in diesem Fall vermischten sich sehr wenige der angereisten Nordtiroler Knappen mit der lokalen Bevölkerung. Eheschließungen waren nämlich fast immer endogam, blieben also innerhalb der Dorfgemeinschaft. Die Männer waren als Bauern ortsverbunden; sie mussten im Dorf bleiben und hatten wenig Gelegenheit, jemanden von außerhalb kennen zu lernen. Dazu kamen wirtschaftliche und soziale Überlegungen. Eine einheimische Frau zu ehelichen brachte in vielerlei Hinsicht Vorteile mit sich, auswärtige Frauen – selbst wenn sie aus dem Nachbarsdorf stammten – wurden innerhalb der Dorfgemeinschaft nur schwer akzeptiert. Sie wurden beschuldigt, die Hochzeitschancen der ortsansässigen Frauen zu mindern. Der-
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artige Ausfälle ereigneten sich laut Zeitzeugen bis in die Nachkriegszeit hinein. Besitzlose Taglöhner, die saisonelle Migrationen unternahmen, hatten noch am ehesten Aussichten auf eine exogame Ehe, aber auch in diesen Fällen blieben die Eheschließungen meistens innerhalb des Vinschgaus. Trotz der wirtschaftlichen Kontakte und der geographischen Nähe Martells zum angrenzenden italienischsprachigen Rabbi wurde z. B. keine einzige Eheverbindung zwischen den beiden Dörfern eingegangen. In einem Dorf, in dem alle Einwohner in einem großen Verwandtschaftsnetz miteinander verbunden waren, waren häufige Ehen zwischen Blutsverwandten die unvermeidbare Folge. So wurden im Laufe des 19. Jahrhunderts in Stilfs ca. ein Viertel, in Martell sogar ein Drittel aller Ehen innerhalb der Großfamilie geschlossen. Nachdem in den Dörfern des Vinschgaus die sogenannte Realteilung praktiziert wird, war die Ehe zwischen Verwandten zudem eine wirksame Strategie, um die Zerstückelung des Familienbesitzes zu verhindern. Allerdings waren Ehen zwischen Verwandten nicht unbedenklich, weswegen sie der Genehmigung durch die Kirche oblagen. Um eine solche Genehmigung zu erlangen, musste ein gültiger Beweggrund angegeben werden. Am häufigsten wurde dabei in den Dispensansuchen die angustia loci, die Enge des Ortes, genannt, die es erschwerte, einen nicht verwandten Partner zu finden. Weiters wurde auch die aetas superadulta oratricis, das fortgeschrittene Alter der Antragstellerin, als Anlass akzeptiert: Eine Frau, die älter als 24 Jahre alt war und deshalb nur noch wenig Chancen hatte, einen Ehemann zu finden, musste sich mit einem Familienangehörigen zufrieden geben. Ehen zwischen Vettern und Cousinen ersten Grades stellten in den Vinschgauer Dörfern jedoch eine Ausnahme dar. Die Haltung der örtlichen Geistlichen war es auch, davon abzuraten. Nachdem jede Dispens bezahlt werden musste und der Preis mit dem Verwandtschaftsgrad anstieg, war
es noch dazu wirtschaftlich günstiger, einen Cousin zweiten oder dritten Grades zu ehelichen. 1845 kostete innerhalb des Bistums Trient die Ehe mit einem Erstcousin mehr als ein zweijähriger Ochse in Stilfs! Hintergrundgeräusche Die Bozner Wissenschaftler sind nicht die ersten, die sich dieser demographischen Eigenschaften entlegener Bergdörfer bewusst sind. Anfang der dreißiger Jahre des letzten Jahrhunderts wurde vom Comitato italiano per lo studio dei problemi della popolazione eine umfangreiche Feldstudie zur Blutsverwandtschaft im Vinschgau und ihren Auswirkungen auf die Gesundheit der Bevölkerung durchgeführt. Abgesehen von den ideologischen Obertönen der Forschungsarbeit – die Demographie und die Genetik als Wissenschaften wurden in Italien unter dem faschistischen Regime eingeführt – kann die damalige Untersuchung als fortschrittlich betrachtet werden: Bereits 1937 mahnten die Forscher zur Eile bei dieser Art von Studie, weil die Isolierung der Dörfer bald zu Ende gehe. Natürlich hat sich mit dem Ende der reinen Agrarwirtschaft und der Verbesserung der Transportwege und -möglichkeiten in den untersuchten Dörfern einiges verändert. Die Isolierung der Vergangenheit, das Jahrhunderte lange Beharren auf die fast gleichen Lebensgewohnheiten und die gleiche Umwelt haben aber dazu geführt, dass die Gene der Dorfbewohner heute noch relativ homogen sind und so die Suche nach genetisch bedingten Krankheiten vereinfachen. Die Homogenität der Gene erlaubt es den Wissenschaftlern, ihren Gegenstand einzugrenzen und „Hintergrundgeräusche“ auszublenden. Die Humangenetik hat es an sich, dass man den Forschungsgegenstand erst überzeugen muss, sich zur Untersuchung bereit zu stellen. Der „Dreh“ der Studien der Vinschger Gene liegt darin, dass individuelle
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Krankengeschichten, genetisches Material und rekonstruierte Stammbäume kombiniert werden, um Ursachen von wiederkehrenden Krankheiten zu erforschen. Man musste also die Dorfbewohner selbst überzeugen. Das erste Dorf, das für die Untersuchung ausgewählt wurde, war Stilfs, ein Bergdorf wo „selbst die Hühner Steigeisen tragen“. Die Unterstützung der wichtigsten Dorfinstitutionen war dafür unentbehrlich und erfolgte prompt. Die für die Dörfer zuständigen Allgemeinmediziner hatten bereits vor Projektbeginn einer Mitarbeit zugestimmt. Der Stilfser Bürgermeister freute sich über die möglichen Schlagzeilen in den Medien, derjenige von Martell spekulierte über die potentielle Entdeckung eines Marteller Gens. Doch noch wichtiger war die Unterstützung durch die Kirche, die – für manche überraschend – den Forschungen ihren Segen gab. Es heißt, der Pfarrer von Stilfs habe selbst von der Kanzel aus zur Projektteilnahme aufgerufen. Das Einverständnis der Kurie war denn auch notwendig, um Einsicht in die Pfarrarchive und die genealogischen Daten aus den Kirchenmatrikeln zu bekommen. Bei einer Informationsveranstaltung wurde der Bevölkerung daraufhin das Forschungsprojekt vorgestellt und mehr als die Hälfte der Dorfbewohner meldete sich zur freiwilligen Teilnahme. Dabei mag die Möglichkeit, vor Ort in den Genuss einer kostenlosen Gesundheitskontrolle samt EKG sowie Urinund Bluttest zu kommen, in manchen Fällen den Ausschlag gegeben haben; in anderen die Unterstützung durch Pfarrer und Bürgermeister – oder der Umstand, dass die Leiter des Projekts selbst gebürtige Südtiroler sind. Parallel zur Blutabnahme, den ärztlichen Visiten und dem Sammeln von Informationen und Krankengeschichten, die durch Fragebögen erhoben wurden, wurde mit der genealogischen Rekonstruktion begonnen. Die Kirchenbücher sind vom Konzil von Trient (1545 – 1563) eingeführt worden,
sie ermöglichen die Erstellung von Stammbäumen über rund 400 Jahre oder ca. zwölf Generationen hinweg. Die verschiedenen Familienstammbäume wurden schließlich in einem einzigen großen Dorfstammbaum miteinander verbunden. Diese meterlangen Genealogien umfassen ca. 13.500 Personen für Stilfs, 23.000 für die Gemeinde Graun (zu der Langtaufers gehört) und 11.000 für Martell – und bestätigten die Hypothese der Gründerpopulation: Fast alle Dorfbewohner konnten auf wenige Paare zurückgeführt werden, die bis zu 1200 Nachfahren zählen. Unruhige Beine In einem nächsten Schritt wurde untersucht, wie genetische Faktoren, Umwelt und Lebensgewohnheiten in Bezug auf komplexe Erkrankungen etwa des HerzKreislauf-Systems, des Magen-Darm-Traktes oder neurologische Krankheiten zusammenwirken. Den Ausgangspunkt der Forschung stellen die Genealogien dar. Durch eine systematische Analyse der Stammbäume und ihrer Verästelungen werden Familien ausgesucht, in denen bestimmte Erkrankungen gehäuft auftreten. Bisher konnten z. B. mehrere Großfamilien gefunden werden, deren Mitglieder vom Syndrom der unruhigen Beine (restless legs syndrom, RLS), einer ziemlich weit verbreiteten neurologischen Erkrankung, betroffen sind. Diese Krankheit, die bereits 1685 von einem englischen Arzt beschrieben wurde, äußert sich durch einen unbändigen Bewegungsdrang in den Beinen und kann die Lebensqualität der Betroffenen erheblich beeinträchtigen. Das Erbgut der ausgesuchten Familien wurde anschließend molekulargenetisch durch eine Kopplungsanalyse (linkage analysis) untersucht. Diese Technik ermöglichte es, in Bozen die weltweit vierte und gleichzeitig kleinste Chromosomenregion, die für das RLS-Syndrom verantwortlich ist, ausfindig zu machen.
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Die Resultate der Untersuchung wurden vergangenen Oktober im American Journal of Human Genetics veröffentlicht und stellen den ersten konkreten Erfolg des Forschungsprojektes in Südtirol dar. Das Fortbestehen der Studie ist somit für die nächsten Jahre gesichert. Zugleich treten mit dem Fortschreiten der Untersuchung aber auch die damit verbundenen ethischen Probleme klarer zu Tage. Die Lokalisierung einer genetischen Region, die zu dem Syndrom unruhiger Beine beiträgt, mag unspektaktulär klingen. Sollten die Ergebnisse der Forschungen aber irgendwann dazu führen, dass ein Medikament zur Prävention oder Linderung des RLS entwickelt werden kann, wäre dies ein großer Schritt für die Medizin – und die Gewinnmöglichkeiten enorm. Dieses Gedankenspiel veranschaulicht denn auch die ethischen Implikationen eines Projekts wie jenem der Südtiroler Bergdörfer. Deshalb arbeitet seit 2005 in Bozen auch eine Bioethikerin, die sich neben der Überwachung des Datenschutzes vor allem mit der Frage beschäftigt, welchen Nutzen die teilnehmende Bevölkerung, deren Gene der Wissenschaft als Gegenstand dienen, aus den Ergebnissen der Forschung ziehen kann. Der wirtschaftliche Aspekt der Forschung wurde bereits zu Projektbeginn durch eine Vereinbarung mit den finanzierenden Institutionen geklärt: Falls sich die Ergebnisse irgendwann vermarkten ließen, würden die Erträge ausschließlich dem lokalen Sanitätswesen zugutekommen. Eine solche Entwicklung würde allerdings noch jahrzehntelange Forschung voraussetzen. Als Beispiel hierzu bietet sich das am Gardasee gelegene Dorf Limone. Einige Bewohner dort verfügen nämlich über ein erstaunliches Apolipo-Protein, das eine rasche Beseitigung der Fette in den Arterien bewirkt und somit eine Verunreinigung der Blutgefäße verhindert. Dies verdankt sich einer genetischen Mutation, die auf einen Dorfbewohner aus dem 18. Jahrhundert zurückgeführt werden kann. Dieses Apolipo-Protein „A-1 Milano“ wurde durch
Zufall Ende der 70er Jahre entdeckt und seitdem erforscht. Ein amerikanischer Pharmakonzern hat nun auf Basis der Untersuchungen ein Medikament entwickelt, das demnächst vermarktet werden soll. Was gefunden? Ein weiterer Nebeneffekt der Studienteilnahme ist ein erhöhtes Gesundheitsbewusstsein und die Möglichkeit zur Prävention und Früherkennung häufiger Erkrankungen. So wurde das RLS, das gemeinhin schwer erkannt wird, bei manchen Teilnehmern erst im Laufe der Studie diagnostiziert; die erste Südtiroler RLS-Selbsthilfegruppe wurde 2006 gegründet. Dazu hat das Bewusstsein, als Gemeinschaft zu wissenschaftlichem Fortschritt beizutragen, bei der hohen Teilnahme wahrscheinlich ebenfalls eine Rolle gespielt. Und es scheint, als seien die meisten Dorfbewohner mit ihrer Entscheidung bis jetzt zufrieden. Doch wird ihre Geduld auf die Probe gestellt, da derartige Forschung nicht zu unmittelbaren Ergebnissen führt. Die am häufigsten gestellt Frage an die Forscher ist denn auch: „Und, hobs schun epps gfunden?“. Schwer zu verstehen ist für die meisten Teilnehmer auch, warum sie die für sie hochinteressanten Familienstammbäume nicht einsehen dürfen: Das italienische Datenschutzgesetz, eines der strengsten in Europa, erlaubt dies nicht. Der Zugang zu Daten, die dritte Personen, selbst wenn sie Familienangehörige sind, betreffen, ist nicht gestattet und der Wissbegier wird somit ein Riegel vorgeschoben. Der Ausgang und weitere Ergebnisse der Forschungen sind noch nicht abzusehen, und weitere Studien befinden sich bereits im Planungszustand. Auch diese werden aber als Bedingung des Erfolgs die Teilnahmebereitschaft der Untersuchten gewinnen müssen. Und wer weiß, vielleicht steht am Ende ja doch noch die Entdeckung eines Vinschger Gens?
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Schießen Sie nicht auf den Drehbuchautor!
Was bisher geschah: Clemens Aufderklamm schreibt seit sieben Jahren für Geld; GZSZ zuerst, jetzt MIA. Nein, das ist kein Dialektwort, sondern die Abkürzung für die neue ORF-Vorabendserie „Mitten im Achten“. Eine Abrechnung aus der Schreibstube. Schreiben fürs Theater Am Anfang war das Theater. Zumindest in meinem Leben als Schreiber. Eine kleine Bühne in Innsbruck, provinz genannt. Zirka 80 Sitzplätze und die Möglichkeit, beinahe ungehemmt für diese Bühne zu schreiben. Schreiben, was Spaß macht. Schreiben, um wunde Stellen der Provinz zu treffen. Schreiben, um Zuschauer zu ärgern UND ihnen zu gefallen. Nicht gefallen hat es der offiziellen Provinz: zu viel Ärger. Wir wurden ausgehungert. Das Schreiben fürs Theater war für mich zu Ende. Die Provinz auch. Der Arschtritt der Innsbrucker Kulturpolitik war heftig und beförderte mich bis heute weit weg. Ich bin dankbar dafür und habe keine Sehnsucht zurück. Weder zum Theater noch in die Provinz. Schreiben für den Film Mein zweiter Schritt als Schreiber. Gelandet mit genesenem Hintern in Los Angeles, wo mir eine völlig neue Sicht auf die Schreiberei offenbart wurde. Schreiben als Handwerk und anerkannte Profession. Wow! Es gibt Regeln. Die natürlich wie alle Regeln immer gebrochen werden müssen. Aber es war gut, sie zu lernen. Und zweimal Wow! Schreiben ist nicht nur für kreative Spinner, die dafür beim Kulturamt
um einen Hungerlohn betteln müssen. Nein! Schreiben ist ein Beruf. Nützlich, anerkannt und bezahlt. Mir wurde endgültig klar: Als Bittsteller zurück in die Provinz wollte ich nicht mehr. Schreiben fürs Fernsehen Da ich weiterhin in meiner Muttersprache schreiben wollte, ging ich wieder zurück nach Europa. Österreich kam für mich nicht mehr in Frage. Die Schweiz kannte ich kaum, und was sollte ich auch dort? Also Deutschland. Aber keine Provinz mehr! Also Berlin. Hier wollte ich große Filme schreiben, einen nach dem anderen. Da ich aber nur mit Schulden in Berlin ankam und wider Erwarten der deutsche Film nicht auf mich gewartet hatte, machte ich einen Schritt in eine andere Richtung. Einen Schritt, den ich bis heute nicht bereut habe … na ja, nur selten … na ja, es ist schon manchmal zum Verzweifeln … natürlich könnte ich jederzeit meine Schritte wieder umlenken. Nur, warum mache ich das nicht? Jetzt schreibe ich seit fünf Jahren fürs Fernsehen. Anfangs nebenbei. Dann immer mehr. Heute viel zu zuviel. Fürs Fernsehen schreiben heißt, auf Auftrag schreiben. Heißt, jemand will etwas von mir! Heißt aber auch, jemand bestimmt, was er will. Wer zahlt,
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schafft an. Schreiben fürs Fernsehen heißt nicht mehr nur schreiben, sondern auch verkaufen. Willkommen im Schreibkapitalismus! Der mir allerdings beim Arsch lieber ist, als irgendeinem Kulturpolitiker in denselben zu kriechen. Im Unterschied zur Kulturpolitik liebt das Fernsehen nämlich keine angepassten und schleimenden Schreiber. Sondern gute und effiziente Schreiber. Kein Sender dieser Welt will Geschichten, die niemanden interessieren. Und Geschichten, die den Zuseher interessieren, sind gute Geschichten. Nur, wer weiß, was die Zuseher interessiert? Die Senderchefs? Selten. Zu abgeschottet. Fernsehredakteure? Kaum. Zu ängstlich. Marktforscher? Bitte nicht. Zu rückwärtsgewandt. Wir Schreiber? Schön wär’s. Niemand? Genau. Also geht es darum, Geschichten zu suchen. Und dafür sind doch wieder die Schreiber am besten geeignet. Immer wieder werden neue Formen von Fernsehgeschichten gefunden, die hungrig von den Zuschauern aufgesogen werden. Vor einigen Jahren hierzulande die Telenovela. Die Marktforscher erforschen, dass die Zuseher Freude an Telenovelas haben. Die ängstlichen Redakteure berufen sich auf die Untersuchungen der Marktforscher. Und die abgeschotteten Senderchefs geben grünes Licht für weitere Telenovelas. Solange, bis sie keinen mehr interessieren. Währenddessen haben die Schreiber schon lange das Interesse daran verloren. Denn Schreiber wollen neue Geschichten erzählen. Doch für neue Geschichten gibt es noch keine Marktforschungen. Neue Geschichten
heißen unbekanntes Risiko. Also für Redakteure ein rotes Tuch, das sie den Senderchefs um die Augen binden, um sie gut abzuschotten. Und dabei haben sie nicht nur Unrecht. Neue Geschichten gefallen den Autoren, aber es kann zu leicht sein, dass sie in den Wohnzimmern vor den Fernsehern keine Sau interessieren. Soweit die Theorie. Nun zur Praxis. Schreiben für Geld Wenn man einen Autorenvertrag beim Fernsehen unterschreibt, steht auf einer der ersten Seiten das Honorar. Das ist auch der Grund, warum man den Vertrag ohne viel nachzudenken unterschreibt. Besonders, wenn man vom Theater kommt. Als ich mein erstes Honorar angeboten bekam, erwiderte ich baff, dass ich hier nicht Intendant werden wolle. Dabei unterschrieb ich nur einen Vertrag als einfacher Storyliner. Seit ich vor fünf Jahren meinen ersten Vertrag als TV-Autor unterschrieben habe, kann ich vom Schreiben leben. Geiles Gefühl. Besonders, wenn man vom Theater kommt. Schreiben für die Masse Der Grund, warum man beim Fernsehen ungleich viel mehr Geld verdient als im Theater, ist die Masse, für die man schreibt. Wir hatten mit Schluiferer*, unserer ersten Theaterproduktion in der provinz, ungefähr 40 ausverkaufte Abende. Insgesamt sahen das * Theaterabend nach Sepp Schluiferer (Carl Techet): Fern von Europa, dem erstmals 1909 erschienenen Klassiker der TirolVerunglimpfung.
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Stück also – mit Gastspielen – knapp 4.000 Menschen. Das war ein Riesenerfolg. Als ich vor drei Jahren für die deutsche Daily-Soap Gute Zeiten Schlechte Zeiten (GZSZ) eine Jubiläumsfolge schrieb, sahen meine Geschichte knapp sieben Millionen (7.000.000) Menschen. Aber selbst eine Serie wie Mitten Im Achten, bei der sich der gewünschte Erfolg noch nicht eingestellt hat, sehen zurzeit durchschnittlich 150.000 Menschen – pro Tag. Das ist in etwa die Gesamtbesucheranzahl des Tiroler Landestheaters – pro Jahr. Schreiben für die Masse hat Vor- und Nachteile. Für mich als Geschichtenerzähler war immer klar, dass ich meine Geschichten möglichst vielen Menschen erzählen will. Ich wollte nie elitär erzählen, habe mich immer gefreut, wenn sich Menschen im Theater unterhalten haben. Und unterhalten muss man, wenn man für die Masse erzählen will. Aber genau das kann auch zu einem großen Nachteil werden. Woher zum Teufel soll man wissen, was Millionen Menschen unterhalten könnte? Das einfachste: Man greift auf Bewährtes zurück. Nicht sonderlich originell, aber viele Menschen wollen nicht überfordert werden und wollen sehen – wie essen, hören und lesen –, was sie kennen. Das ist auch nicht zu verurteilen. Wir alle brauchen in jeder Geschichte Anhaltspunkte, die wir kennen, um uns orientieren zu können. Nur, wenn man für die Masse schreibt, sollte man sehr viele dieser Anhaltspunkte verwenden. Andererseits will niemand immer dasselbe sehen – wie essen, hören und lesen. So muss man das Bewährte immer mit dem Neuen aufpeppen. Mit welcher Mischung man die Masse erreicht, weiß
niemand. Deshalb gibt es immer wieder grandiose Flops. Vielleicht gibt es eine kleine Grundregel: Je mehr Bewährtes, desto größer die erreichbare Masse. Aber wenn man zuviel erwischt, kann die Geschichte ganz schnell kippen. Das Neue ist also für die Masse notwendig. Subversion muss auch beim Erzählen für die Masse stattfinden – aber in kleinen Dosen. In den USA erklärt man diesen Mix gerne mit dem Ausdruck to meet. Etwa: Twin Peaks meets Bergdoktor – so habe ich einmal eine angedachte SchluifererVerfilmung bezeichnet. Oder: Friends meets GZSZ – so könnte man vielleicht Mitten Im Achten beschreiben. Oder: Die Klavierspielerin meets Friday The 13th – klingt nach einem interessanten Austrohorror. Der Vorteil bei einer solchen Verbindung ist, dass man sofort weiß, was gemeint ist, und man trotzdem etwas Neues daraus erahnen kann. Schreiben für die Masse bedeutet noch etwas: Verantwortung. Menschen glauben, was man erzählt. Zumindest wenn man gut erzählt. Das heißt nicht, dass sie gleich Fiktion mit Realität verwechseln müssen, aber Geschichten und Charaktere sind tendenziell Vorbilder – abschreckende und bewundernswerte. Nachdem Verliebt In Berlin zu einem großen Erfolg wurde, gab es bei einigen Zahnärzten in Deutschland einen richtigen Run auf Zahnspangen. Alle wollten so aussehen wie Lisa Plenske, das hässliche zahnspangentragende Entlein aus Verliebt In Berlin. So oft ich mich auch gegen übertriebene Political Correctness in Serien wehre, ich kann sie leider auch verstehen. Hel-
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den hatten es schon immer an sich, dass man ihnen nacheiferte. Gute Helden wie böse. Also: Schreiben für die Masse ist ein Balanceakt, oft weniger innovativ und braver, als man gerne wäre, aber es ist nichts Verwerfliches an sich. Trotzdem gebe ich zu: Ich hätte den 7 Millionen GZSZ-Sehern lieber den Schluiferer erzählt. Aber wie viele von denen verstehen schon Tarrolarisch? Schreiben für Serien Eine Unterkategorie der TV-Unterhaltung ist die Serie. Die Serie hat mich gefangen. Als Autor wie als Konsument. Die Serie ist eine einzigartige Form zu erzählen. Kein Film kann episch so in die Breite oder psychologisch so in die Tiefe gehen. Kein Film kann Zuseher so begleiten wie eine Serie. Wer kann sich nicht an seine Kindheit erinnern, als man nicht wollte, dass die Gutenachtgeschichte aufhört? Und wie spannend – vorausgesetzt man hatte gute Erzähler als Eltern – war es, wenn die Geschichte endete mit den Worten „Wie es weitergeht, erzähl’ ich dir morgen …“. Das war der Moment, den TVProfis irgendwann als Cliffhanger bezeichneten und kurz vor die Werbung setzten. Mit dem Wissen – vorausgesetzt es waren gute Autoren am Werk –, dass die Zuschauer dranbleiben, um zu erfahren, wie es weitergeht. Die Serie kann beim Geschichtenerzählen übergreifende Bögen spannen. Es ist faszinierend, die Entwicklung von Charakteren über Jahre zu verfolgen:
die Beziehung von Ross und Rachel (Friends), den Kampf von Nate Fisher gegen seine Familiendramen (Six Feet Under), die Entwicklung der Neurosen von Tony Soprano (Sopranos), das Heranwachsen und das Erwachsenwerden von John Bachman (GZSZ). Für einen Autor ist die Arbeit ähnlich faszinierend. Tag für Tag, Woche für Woche sitzt man mit anderen Autoren an einem Tisch und plaudert über seine virtuellen Freunde. Was soll ihnen diese Woche passieren? Verlieben, zerstreiten, in eine Krise geraten, zu Geld kommen, Pleite gehen, betrügen, belügen, verzweifeln, jubeln, lachen, heulen, an einer Verstopfung erkranken oder religiös werden. Alles ist möglich. Wie im Leben. Als ich einmal am Flughafen Schwechat mit einem anderen Autor telefonierte, um noch eine Geschichte zu besprechen, ging das Gespräch um einen missglückten flotten Dreier. Wir erörterten ausführlich den Grund, warum unser Held sich den beiden Frauen verweigerte. Was ich vergaß, waren die vielen Geschäftsleute um mich, die mich bald mit offenem Mund anstarrten. Sie dachten sicher, ich würde über einen Freund sprechen. Und sie hatten Recht. Schreiben für jeden Tag Eine Unterkategorie der TV-Serie ist die tägliche Serie. Sie hat einen großen Vorteil, der gleichzeitig ein großer Nachteil ist. Sie erzählt tägliche Geschichten. Der Vorteil: Der Zuseher kann jeden Tag in eine fremde Welt eintauchen. Wie bei den täglichen zehn Seiten aus einem Roman vor dem Einschlafen.
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Der Nachteil ist ein produktionstechnischer und hat viel damit zu tun, warum tägliche Serien ein so schlechtes Ansehen genießen. Eine Serienepisode dauert in der Regel um die 25 Minuten. Das heißt, es müssen täglich 25 Minuten lang Geschichten erzählt werden. Das heißt – 125 Minuten pro Woche. Das ist mehr als ein abendfüllender Spielfilm pro Woche. Oft wird an einem Spielfilm ein knappes Jahr gearbeitet. Oft auch länger. Im Produktionsprozess einer täglichen Serie entsteht in diesem Zeitraum die Menge von über 50 Spielfilmen. Als Chefautor von Mitten im Achten habe ich pro Woche ungefähr 30 Folgen zu betreuen. Während fünf Folgen geplottet werden, kommen die nächsten fünf in der Erstfassung herein, die nächsten fünf in der Zweitfassung, die nächsten fünf in der Editfassung, die nächsten fünf werden mit dem ORF besprochen und wieder fünf weitere Folgen mit dem Regisseur der jeweiligen Woche. Das heißt, über 12 Stunden Geschichtenmaterial pro Woche. Das nur, um zu verdeutlichen, mit welcher Masse an Geschichten man zu tun hat, wenn man für eine tägliche Serie schreibt. Mit gebeugtem Haupt gebe ich zu: Das kann sich schon mal auf die Qualität auswirken. Nicht jeder Dialog ist bis ins Letzte durchdacht, nicht jeder Erzählstrang ausgefeilt, wie man es gerne möchte. Dasselbe gilt auch für die restliche Produktion. Jeder Regisseur könnte die Szenen gefinkelter auflösen, wenn er die Zeit hätte. Jeder Kameramann würde subtiler ausleuchten, wenn er die Zeit hätte. Und je-
der Schauspieler hätte gerne noch ein paar Takes mehr, wenn er die Zeit hätte. Im Arbeitsprozess einer täglichen Serie werden pro Tag 25 Minuten gedreht. Im Arbeitsprozess eines Spielfilms meist um die drei Minuten. Schreiben für Österreich Vor sieben Jahren habe ich den Tiroler Arschtritt bekommen, der mich aus Österreich befördert hat. Seit Anfang des Jahres bin ich wieder im Lande. Und zurzeit bekomme ich einen weiteren, der mich wieder aus diesem Land befördert. Und mich wahrscheinlich lange nicht mehr zurückkehren lässt. Ich schreibe seit fünf Jahren fürs deutsche Fernsehen. Gute Sachen, schlechte Sachen. Für Privatsender. Für Öffentlich-Rechtliche. Manchmal hat es gefallen. Manchmal nicht. Manchmal war es ein Erfolg. Manchmal nicht. Manchmal war es intelligenter. Manchmal weniger. Aber was soll’s? Es sind Geschichten zur Unterhaltung. Nicht mehr und nicht weniger. Das wunderbare an unserer Wohlstandsgesellschaft ist, dass wir uns mit verschiedensten Geschichten beschäftigen können, da unser Leben Raum dafür lässt. Man schaltet den Fernseher ein oder aus. Auf diesen oder einen anderen Sender. Oder man liest ein Buch, geht ins Theater, ins Kino. Unterhaltung ist gut und wichtig, aber es gibt definitiv Wichtigeres. Zumindest in Deutschland. Hierzulande scheint es anders zu sein. Seit fünf Monaten schreibe ich fürs österreichische Fernsehen. Und ich bin baff. Was ich hier derzeit
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erlebe, kann ich nicht nachvollziehen. Und ich kann viel nachvollziehen, immerhin schreibe ich für Serien. Als ich Ende letzten Jahres den Titel Mitten Im Achten auf ein Blatt Papier schrieb, war ich ahnungslos, dass diese Wörter in Österreich ein paar Monate später eine kleine Staatsaffäre auslösen würden. Eine kleine Staatsaffäre?
tungsflut gelesen. Dass hierzulande selbst vermeintliche Qualitätszeitungen mit Freude über uns herfallen, schon immer gewusst haben, dass das ein Schaß wird, und angeblich kompetente Kommentatoren mit Wissen aus Drehbuchlehrbüchern erklären, wie es zu gehen habe, ist nur destruktiv und als Kritik unbrauchbar.
Kaum waren wir mit MIA auf Sendung, meldeten sich hochrangige Politiker, Parteisprecher, Presse, Intellektuelle, Promis, Leserbriefschreiber und Internetposter zu Wort: „Niveaulos und primitiv“, „Animation zum Joint-Rauchen“, „Vulgärer Umgangston“, „grenzdebiler Witz“, „Ohnmachtserklärung aus der geistigen Provinz“. Wir seien zu „derb“ und gleichzeitig zu „clean“. Voller „Klischees“ und gleichzeitig „zu skurril“. Zu „wienerisch“ und gleichzeitig „so wie in Wien keiner spricht“. Ein Internetposting auf Vorarlberg-Online verbreitete die Meinung, wir würden den ORF mit „linker Propaganda“ unterwandern. Während ein Posting auf derstandard.at verlautete, wir seien „rassistisch, sexistisch und homophob“ – und das alles in der ersten Folge! Viele erklärten uns zum „größten Schwachsinn aller Zeiten“ und berichteten gleichzeitig stolz „nur ein paar Minuten“ drangeblieben zu sein. Der Vizekanzler bezeichnete uns als „Zumutung für die Intelligenz“ und meinte im gleichen Satz, die Sendung überhaupt noch nie gesehen zu haben! – Was passiert hier?
Man stelle sich vor, in Deutschland würde die FAZ in dieser Geballtheit eine Kampagne gegen Marienhof betreiben. Eine absurde Vorstellung. Man stelle sich vor, in Deutschland würde Angela Merkel versuchen, mit Verliebt In Berlin Politik zu machen! Eine groteske Idee.
Während in Deutschland zum Start einer neuen Serie meist eine kleine Kritik auf der Medienseite einiger Zeitungen zu finden ist, habe ich in Österreich zu einem einzelnen Thema selten so eine Berichterstat-
Ich bin ratlos: Was ist das Problem? Wir machen eine Unterhaltungsserie, die man mögen kann oder auch nicht. Punkt. Dass der ORF öffentlich-rechtlich ist, befreit ihn nicht davon, in der Normalität europäischer TV-Anstalten anzukommen. Deutsche öffentlich-rechtliche Sender zeigen tägliche Unterhaltungsserien schon seit Jahren. Was mir den Arschtritt zurück nach Berlin gibt, ist aber nicht normale Kritik an meiner Arbeit. Die kenn ich und kann ich ab. Aber vor den Bösartigkeiten, der Freude an Gemeinheiten und der Hinterfotzigkeit, die hierzulande auf einen einprasseln, gebe ich klein bei. Zumindest ist mir in den letzten fünf Monaten klar geworden, Österreich ist kein Serienstaat, sondern ein Operettenstaat.
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Peter Sandbichler Originalbeilage Nr. 10
Jedes Heft von Quart erscheint mit einem Kunstwerk. Exklusiv für diese Ausgabe hat Peter Sandbichler eine Gummimatte bearbeitet: „Der Schriftzug ACCESS ist ausgestanzt, die negativen Buchstaben bieten Durchblick auf das jeweils dahinter Liegende. Das schwarze Material ist weich, sinnlich und konkret. Ein nomadisches Objekt, das mit jeder Positionsverschiebung Farbe, Erscheinungsbild und Fokus verändert. Ein Reisekunstwerk? Eine Sprayerschablone? Eine Arbeit für die Fensterscheibe? Ein Spiel mit der Wahrnehmung? Auf Glas oder am Bildschirm wird das Objekt zur Medieninstallation: Die durch die Buchstaben flimmernden Bildfetzen sind abstrakt. Wenn nach einigen Minuten die Elektrostatik nachlässt, fällt es ab. Ein weiterer Augenblick des Erkennens.“
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„Wer hart arbeitet, hat durchhängende Betten nicht verdient.“
Das Prinzip Tupperware als Bestandsaufnahme regionaler Gegenwart. Oder: Wie eine Redakteurin losgeschickt wird, um auf einer Bettenparty verdeckt zu ermitteln. Von Ivona Jelcic An meinem Schlüssel baumelt neuerdings eine winzig kleine Schüssel. Luft- und wasserdicht und groß genug, um darin zwei, drei Erbsen frisch zu halten. Man hat sie mir auf einer Party für Plastikware zugesteckt, außerdem ein Horoskop, das schmeichelhaft bescheinigt: Als Gastgeberin wäre ich eine Wucht. Verkaufsveranstaltungen gehen mit der Zeit und deshalb heutzutage auch mit Tierkreiszeichen hausieren. Ob das auch für den Haus-zu-Haus-Handel mit exklusivem Bettzeug gilt, ist nur durch auswärtiges Probeliegen auf einer so genannten Bettenparty ausfindig zu machen. Und das bringt mich zuallererst zu folgender Erkenntnis: Matratzen kommen, an einen Schlüsselbund gehängt, an den Charme von erbsengroßen Vorratsdosen nicht heran. Vermutlich hat es auf meiner ersten Bettenparty deshalb kein Werbegeschenk gegeben. Und schon gar keine Vorschusslorbeeren der astrologischen Art. Das wäre von einer, die sich zuerst selbst eingeladen und das Kaufen dann verweigert hat, aber wahrscheinlich auch zuviel verlangt. Bleibt also nur die Hoffnung darauf, Einblicke in eine Partykultur zu erhaschen, die sich dem Hausverkauf verschrieben hat. Herauszufinden, warum Hausierer irgendwie von gestern scheinen und trotzdem auch in modernen Schlafzimmern regelmäßig Einlass finden. Denn eigentlich hatten wir uns doch mit Staubsaugern aus dem Elektrofachmarkt eingedeckt, damit Vertreter bei uns keinen Fuß mehr in die Tür kriegen. Und wir ihnen durch den Türspion hindurch schon auf der Fußmatte das Handwerk legen können. Das alles aber offensichtlich nur, um die VorführProfis danach persönlich zu uns einzuladen – und die gesamte Nachbarschaft dazu. Wem es wie mir an inniger Beziehung zu den Bewohnern angrenzender Quartiere mangelt, müsste, um auf solche Widersprüche Antwort zu bekommen, erst einmal auf Irrwegen zu einem Gastgeber kommen
und dann noch bei ihm Einlass finden. In der Hinsicht bin ich durchaus optimistisch – weil ja heutzutage jeder jeden um sechs Ecken herum kennt. Ich also über reichlich Bettenparty-Bekanntschaften verfügen sollte. Nur: Vorgestellt wurden wir einander bisher eben nicht. Ein paar Tage und entsprechend viele Telefongespräche später straft meine kleine Welt die ums Eck gedachte Global-Village-Theorie Lügen. An der Matratzenfront hat sich ein großes Fragezeichen breit gemacht – schlimmer noch: Die aufs Schlafzimmer gemünzte Party-Suche zieht ein paar unschön unanständige Bemerkungen nach sich. Und ich merke irgendwie beschämt: Wer nach Bettenpartys sucht, kann leicht in falsche Richtungen interpretiert werden. Tröstlich ist, dass am Ende auch ernsthafte Offerte vorliegen: Tupperpartys, Schmuck, Kosmetika, Dessous – bei Bedarf ließe sich fast alles arrangieren. Grundlagenforschung erscheint mir am Ende am vernünftigsten, weil da zumindest der Hauch einer Ahnung und ein grundlegendes Stück Marketing-Geschichte mitschwingt. Davon bin ich überzeugt, seit mich unlängst eine spätabendliche BildungsbürgerDokumentation im Fernsehen mit einer Dame namens Brownie Wise bekannt gemacht hat: Die Frau, die wie ein selbstgebackener US-Keks heißt, legte den Grundstein für den Homeshopping-Erfolg schon in den Fünfzigern, als sie hinter den Herd verbannte Hausfrauen zu adretten Tuppergirls ausbildete. Die Suchmaschine spuckt dazu noch einen zahlenmäßig anständig beeindruckenden Beitrag aus dem Netz: Alle 2,5 Sekunden findet irgendwo auf der Welt eine Tupperparty statt. Und nicht zuletzt packt meine Mutter mir die Reste von der Sonntagstorte gern in schicke Kunststoff-Kuchenformen ein. Trotz dieses soliden Rüstzeugs für aushäusige Tupperware-Erfahrungen sitzt vor der fremden Tür im
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unbekannten vierten Stock die Ahnungslosigkeit ein wenig ungut im Nacken. Sagt man jetzt Tupperware oder Tapperwär? Ein Umweg über Freundesfreunde und deren Bekanntschaft mit der patenten Gebietsleiterin Angelika hat mir die ersehnte Einladung verschafft – und jetzt bin ich zu früh, der erste Gast, ein Vorratsdosen-Streber von der ganz aufdringlichen Sorte. Die ausgesprochen gut gelaunte Hausherrin nimmt mein über drei Ecken angekündigtes Erscheinen aber mit Humor und Herzlichkeit: „Nach der Präsentation gibt’s Piña Colada“, stellt Marianne augenzwinkernd in Aussicht. Der Cocktail werde selbstverständlich im nagelneuen Shaker Marke Tupperware hergestellt. Und überhaupt: „Im Haushalt meiner Schwiegermutter hat es Tupperware schon gegeben, da war noch nicht einmal die Straße zu ihrem Hof hinauf asphaltiert.“ Die Gastgeberin sagt’s, entschwindet in die Küche und lässt mich samt Präsentatorin und ihrer fein säuberlich aufs Bügelbrett gestapelten Produktpalette im Wohnzimmer dem Aufkommen von Partystimmung entgegenharren. Ich werde später merken: Auf gute Laune kann man in Kunststoff-Kreisen bauen. Aber auch darauf, dass die Erdbeeren tiefgekühlt bis in den Winter hinein erdbeerig schmecken, der mittägliche Küchendienst nur wenig Zeit in Anspruch nimmt und die Jause für den Nachwuchs gleich gesund wie gut verpackt mit in die Schule kommt. Weil das in dieser fröhlichen Frauenrunde ohnehin längst alle wissen, egal ob Ende zwanzig oder in den späten Fünfzigern, werden zuerst die Witze-Erzählerinnen laut – kennt ihr den? „Treffen sich zwei Pfarrer. Sagt der eine: ‚Wir werden das wohl nicht mehr erleben, dass wir einmal heiraten dürfen.‘ Sagt der andere: ‚Nein, aber vielleicht ja unsere Kinder.‘“ Das ist mein Stichwort für den Zugriff auf die Knabbereien und für die Runde der Startschuss für eifrigen Erfahrungsaustausch über Küchenhelfer x bis y. Und während ich noch staunend lausche, wird mir klar: Wer Wert auf Qualität und Ordnung in der Tiefkühltruhe und im Küchenkast’l legt, hat sein Begehr nach Iso Duo, Eleganza, Micro-, Ultra- oder Easyplus schon längst auf den Bestellzettel geschrieben. Ist das
in all seiner einträchtigen und einträglichen Häuslichkeit bedenklich? Nur wenn man sich über das Zeitgeist-Barometer und die darauf angezeigte Renaissance des Biedermeier nachzudenken vorgenommen hat. Weil die zum Einkaufen im Eigenheim ja ganz hervorragend zu passen scheint. Immerhin ist überall vom Rückzug ins Privatidyll die Rede, widmet sich der Ausstellungsbetrieb intensiv der Kunst, Kultur und Qualität des Biedermeier und bekennen sich einst bemühte Bohemiens neuerdings freimütig zum modernen Spießertum. Man wird ja wohl noch seine Werte nachjustieren dürfen. Da beschleicht mich das Gefühl, dass sich die neue Bürgerlichkeit nicht ausgerechnet in der Welt der Tupperpartys am wohlsten fühlt. Auf lange Sicht erscheint der Haus-zu-Haus-Verkauf viel zu konstant, um sich an Spießbürger-Moden zu orientieren. Anpassung ist höchstens bei einstigen Verkaufsparty-Verweigerern auszumachen: Weil die neuerdings auf ihren Geranien-geschmückten Stadtbalkonen sitzen und überlegen, ob auf die eigene Haltung überhaupt noch Verlass ist. Das vom Idyll verzückte Biedermeier-Klientel, dämmert es mir, ist Mitte dreißig, fühlt sich aber weitaus jünger, hat seine Szene-Zugehörigkeit ausgiebig auf angesagten Feten zur Schau gestellt – und liebäugelt nun, von der eigenen Coolness schon etwas ermattet, mit dem Gedanken, abgefeierte Erfahrungswerte jetzt auch auf Verkaufsveranstaltungen einzubringen. Vielleicht sogar im schmucken Eigenheim, denn wer das eigene Wohnzimmer zum Umschlagplatz für Qualitätsprodukte macht, kann die Privat-Oase gleich vor Ort perfektionieren. Man gönnt sich ja sonst nichts. Mir selbst gedeihen die Balkon-Tomaten apropos ganz prächtig, sie sind schon über einen Zentimenter hoch. Mit der Ernte rechne ich im August, dann können mir die Bio-oder-nicht-Produkte aus dem Supermarkt endgültig gestohlen bleiben. Hätte ich außerdem mehr Zeit zum Herumzupfen an Rosmarin und Majoran, wäre meine kleine Welt perfekt. Mit der Penetranz von Party-Einladungen muss man aber leider immer rechnen. Und meistens dienen diese
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Ausgeh-Angebote ja leider nicht unbedingt der Schlafoptimierung. Die Ausnahme heißt Bettenparty und der Weg zu ihr war kürzer als gedacht. Er begann an einem Tresen: Bierwirt Klaus kennt Betten-Franz – der wiederum den Handel mit modernen Schlafsystemen in- und auswendig. Nur hat er gerade keine Tour und auf die Schnelle keine Zeit. Höchstens für ein Telefongespräch, bei dem ich Interesse am Matratzen-Hausverkauf bekunde. Auf diesbezügliche Fragen hin würde mich der Franz am liebsten gleich ins nächste Möbelhaus und dort auf die Suche nach fachlicher und außerdem noch zwischenmenschlich engagierter Schlafberatung schicken – nur: „Wirst sehen, da nimmt sich niemand Zeit für dich.“ Jemand muss dieses Manko schon vor langer Zeit erkannt haben. Denn Franz erklärt mir kurz und bündig: „Bettenpartys gibt es hierzulande seit gut zwanzig Jahren, auf dem Land wird mehr verkauft als in der Stadt, vermutlich, weil sich die Leute dort mehr wert und einen gesunden Schlaf ganz einfach schuldig sind.“ Rabatte winken bei einer Eigenveranstaltung und dem Einladen von potenzieller Kundschaft aber da wie dort. Die Kaufentscheidung trifft zu neunundneunzigkommaneun Prozent die Frau im Haus. Verkaufen tun aber mehr die Männer. Sagt Franz. Ich informiere ihn, dass ich zu warten auf jeden Fall bereit bin – der Mann erscheint mir in Bezug auf Bettenpartys ein ganz besonders Kompetenter. Zwischenzeitlich gehe ich aber auf anderen Festivitäten fremd. Einer Freundin und ihrer knappen Mitteilung an mein Telefon sei Dank. Die Bettenfrau, steht da, heißt soundso und erwartet meinen Anruf. Auf Nachfrage entpuppt sie sich als die Nachbarin von einer Freundin einer Nachbarin und wieder einer Freundin undsoweiter – und ist als solche äußerst gastfreundlich. Einen gesunden Schlaf gönnt man schließlich jedem. Und je mehr Gäste, desto zufriedener der Herr Verkäufer, weil ja auch er stetig nach neuer Kundschaft suchen muss. Bei meiner Ankunft erwartet mich ein junges Ehepaar samt Nachwuchs: In Kürze werde umgezogen und wenn schon einrichten, dann gescheit und richtig, vor allem, was das Schlafzimmer
anbelangt. Ich bin nicht nur der erste, sondern am Ende auch noch der einzige Gast. Die Nachbarinnen hätten kurzfristig allesamt absagt, heißt es entschuldigend in Richtung Peter, der samt Vorführ-Matratze und Lattenrost extra werweißwoher gekommen ist. Der Mann nimmt den Kundenschwund gelassen und die Aufklärung über menschliche Geruhsamkeiten nicht minder motiviert in Angriff. Denn seien wird uns ehrlich: „Wer hart arbeitet, hat durchhängende Betten nicht verdient.“ Und die größte Freude kann einer einem Bettenberater machen, wenn er sich neunzigjährig oder älter noch zur Investition in die eigene Gesundheit entschließt: Weil das dann heißt, dass derjenige auf sich selbst noch einen gewissen Wert legt. Und das sei schön zu wissen, weil wir ja alle irgenwann ins Alter kommen. Mir wird spätestens beim einstündigen Vortrag über das ungesunde Bauchschlafen, das Bandscheibenproblem, den Nachtschweiß und das endlose Herumgewälze klar: Partystimmung wird hier und heute wohl eher nicht mehr aufkommen. Peter spricht anstatt von Partys aber ohnehin viel lieber von Beratung. Das passt besser zum Nachmittags-Termin und zum öffentlichen Ausbreiten nächtlicher Gewohnheiten. Dass statt des Cocktails diesmal Kaffee kredenzt wird, ist ebenfalls verständlich: Dann kann der Gast bei der Probe aufs Exempel dann auch irgendwie noch Haltung bewahren. Auf dem zur Ansicht ausgepackten Bettzeug liegt es sich tatsächlich gar nicht unbequem, befremdlich ist nur, dass sich mein Hohlkreuz laut Peter doch eigentlich als Rundrücken entpuppt. Und ich das alles gar nicht wissen oder gar mit Fremden teilen wollte. Der Wohlfühlfaktor hängt aber im Grunde vom Berater ab. Sagt Franz. Und meint, dass es auf seinen Partys ganz schön witzig zugehe und er sich mit manchen Späßen in bestimmten Wohnzimmern dann doch etwas zurücknehmen müsse. Übermorgen sei er außerdem auch wieder unterwegs. Und wenn ich hartnäckig genug bin, nimmt er mich ganz sicher mit. Vielleicht kaufe ich mir ja auch ein Bett.
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Hier die Fortsetzung der Serie „Gutachten“: In der Rubrik werden Vertreter einer oder verschiedener Berufsgruppen eingeladen, auf einer einzigen Heftseite kompakte Bestimmungen einer zeittypischen Erscheinung zu entwerfen.
Diesmal: Schöpfung
Zeittypische Erscheinung: Idealbild Reizwörter: Schönheitschirurgie, In-vitro-Fertilisation, Genomentzifferung, Zellerneuerung, Lebensverlängerung, aktive Sterbehilfe, Second Life, genetische Rekonstruktion, Schöpfungsformel Aufgabestellung: Greifen Sie auf einer Quartseite in die Schöpfung ein! Vier Beiträge von Ferdinand Cap (Physiker), Martin Widschwendter (Krebsforscher), Barbara Hundegger (Schriftstellerin), Johannes Huber (Gynäkologe und Theologe)
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Wann und weshalb stirbt der Mensch? Von Ferdinand Cap Man kann den Standpunkt annehmen, dass ein Gott den Menschen abberuft – aber man kann die gleiche Frage nach dem WANN und WIE auch naturwissenschaftlich angehen.
begründet werden? Wie kommt es im menschlichen Körper zur Änderung seiner Entropie? Welche Vorgänge und Verhaltensregeln können diese Vorgänge steuern?
Wenn man am Schreibtisch arbeitet, dann liegen anfangs Bleistift und Papiere geordnet auf der Schreibfläche. Nach einiger Zeit des Arbeitens beginnt sich langsam Unordnung einzustellen und es braucht einen Energieaufwand, um die ursprüngliche Ordung wiederherzustellen. Wenn man rote Tinte in eine Badewanne gießt, beginnt diese sich sofort zu verteilen und das gesamte Wasser rötlich zu färben. Es ist nicht möglich, die Reinheit des Wassers ohne besondere, Energie verbrauchende Maßnahmen wiederherzustellen. Der unbenutzte Schreibtisch, das Wasser in der Badewanne ist ein abgeschlossenes, von außen nicht beeinflusstes System. Um in einem solchen System Änderungen hervorrufen zu können, muss man von außen eingreifen: Das System wird offen, Energieaufwand ist notwendig, um die sogenannte Entropie des Systems zu verändern.
Alle makroskopischen physikalischen und chemischen Vorgänge verlaufen unter Steigerung der Unordnung, unter Anwachsen der Entropie. Wir essen auch nicht so sehr, um dem Körper Energie zuzuführen und Wärmeverluste auszugleichen, sondern – wie Schrödinger gezeigt hat – vornehmlich um dem Körper Ordnung zuzuführen, um Unordnung und Entropieüberschüsse wegzuschaffen. Die hohe molekulare Ordnung der von uns gegessenen Eiweißstoffe wird vom Körper entnommen, wobei er seine Entropie verringert. Wenn diese Stoffe als Ausscheidung den Körper verlassen, haben sie viel von ihrer Ordnung verloren, sie haben die Entropie im menschlichen Körper verringert und verlassen ihn, selbst in größerer Unordnung befindlich, zerlegt in Bestandteile und Verdauungsreste, wobei also Entropie in die Kanalisation mitgenommen wird.
Entropie ist eine berechenbare und messbare physikalische Größe, deren tiefere Bedeutung bald klar werden wird 1. Die Billionen mal Billionen Luftteilchen, die in einem Zimmer dauernd umherschwirren, kann der Physiker beschreiben, indem er für jedes Teilchen zu jedem Zeitaugenblick den Ort und seine Geschwindigkeit angibt. Es gibt sehr viele Zustände und Möglichkeiten des Herumwirbelns der Teilchen, die Unordnung ist also sehr groß. Ordnung im Sinne unseres Sprachgebrauches würde dann vorliegen, wenn alle Teilchen sich entschließen sollten, sich schön der Reihe nach und ohne sich zu bewegen längs der Bodenleiste im Zimmer anzuordnen. Alles, was Ordnung heißt, hat nur wenige Möglichkeiten der Realisierung. Am Schreibtisch können die geordnet nebeneinander liegenden Bleistifte rechts oder links oder oberhalb des Papiers liegen. Für einen ungeordneten Zustand gibt es aber viel mehr Möglichkeiten der Realisierung. Ist die Zimmerluft sehr warm, dann gibt es viele Möglichkeiten, den Teilchen einzelne Werte zuzuordnen, es gibt viel Unordnung. Bei einer Temperatur von etwa minus 273 Grad haben die Teilchen aber nur die Möglichkeit der Geschwindigkeit Null. Kälte, also tiefe Temperaturen, bedeutet also einen höheren Ordnungsgrad, eine kleinere Wahrscheinlichkeit und kleinere Entropie. Die kinetische Wärmelehre beweist nämlich, dass hohe Ordnung geringe und kleine Ordnung eine große Entropie bedeutet. Das ist das große Verdienst des berühmten österreichischen Physikers Boltzmann, der bewies, dass die Entropie proportional ist dem Logarithmus der Wahrscheinlichkeit eines Zustandes.
Nach den Erfahrungen der Biologie haben Säugetiere eine Lebenserwartung, die etwa zehn mal so groß ist wie die Zeitspanne zwischen der Geburt und dem Eintritt der Pubertät. Für den Menschen würde das ganz allgemein bedeuten, dass bei ihm eine Lebenserwartung von 120 Jahren anzusetzen wäre, maximal 140 Jahre. Wir haben nun gehört, WESWEGEN der Mensch sterben muss. Sein für ihn persönlich erträgliches Entropiemaximum hängt von seiner Veranlagung, von seinen Genen, von seiner Ernährung, insbesondere aber auch von seiner Lebensweise ab.
Wie viele andere Beispiele zeigen, gibt es im Naturgeschehen eine bestimmte Richtung; der Physiker sagt: Die Entropie hat sich vermehrt. Diese Entropievermehrung zeigt den Zeitpfeil, die Richtung der ablaufenden Zeit an – er ist nicht umkehrbar. Entropie vermehrt sich also offenbar in einem geschlossenen System immer. Kann man aber vielleicht die Entropie auch verringern? Dies ist offenbar nur durch Eingriffe von außerhalb des Systems möglich. Entropie spielt bei der Frage des Zeitpunktes des Todes eines Menschen eine Rolle: Das Erreichen des individuellen Entropiemaximums des thermodynamischen Systems Mensch bedeutet seinen Tod. – Wie kann diese von Schrödinger stammende Annahme
Was kann zunächst die Physik dazu sagen? Einmal ist klar, dass tiefere Temperaturen weniger Entropiezuwachs bedeuten, dass Menschen in sehr heißem Klima oder in überhitzten Räumen mehr Entropie sammeln als im Norden lebende Personen. Vielleicht könnte man vermuten, dass das Lebensalter in Europa deshalb größer ist und die Intelligenz länger Zeit hatte, sich zu entwickeln. Jedenfalls verwendet die Medizin die sogenannte Hypothermie, eine Therapie zur Absenkung der Körpertemperatur. Auch die Natur verwendet dies seit der Urzeit: Die Hoden, die Produktionsstätten der Samenzellen, werden zwecks Kühlung außerhalb des männlichen Körpers gelagert. Bei der Frau ist dies nicht notwendig, da sie nur bis zu einem bestimmten Alter gebärfähig ist und ihre Eier im Inneren des Körpers gut geschützt werden. Der Mann hingegen ist bis ins hohe Alter in der Lage, ein Ei zu befruchten, sodass der Samen ein längeres Ablaufdatum haben muss … Die Lebensweise sollte nun so eingerichtet werden, dass alles, was die Entropie stark erhöht, vermieden wird. Das bedeutet Einschränkung beim Verzehr von Fett, Zucker und beim Genuss von Nikotin, sparsame Exposition gegenüber der Ultraviolettstrahlung, Vermeidung freier Radikale (das sind Atomgruppen mit starker chemischer Reaktionsfähigkeit im Essen) und Vermeidung hoher Außentemperaturen. Weitere zweckmäßige Maßnahmen schlägt die Medizin vor. Da der Verfasser für dieses Gebiet nicht zuständig ist, wird auf den Artikel von J. Huber 2 und dessen Buch verwiesen. 1 Siehe dazu: Cap Ferdinand: Naturwissenschaftliche und religiöse Weltbilder. Studienverlag Innsbruck, 2005 2 Huber Johannes, Buchacher Robert: Das Ende des Alterns. Econ, Wien, 2005
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Die Natur der Grenzen und die Grenzen der Natur, oder: Wie entsteht Krebs
Die Aorta pocht im gleichen Takt wie das EKG-Gerät der Anästhesie; rechts daneben die daumendicke untere Hohlvene. Links und rechts der großen Gefäße bis zu 3 cm große Knoten. Fünfzehn Zentimeter große Tumore an den Eierstöcken und das tumordurchsetzte große Netz haben wir bereits entfernt. Kleine Tumorknötchen im gesamten Bauchraum (inklusive Zwerchfell) bleiben zurück. Mit Chemotherapie müssen diese Absiedelungen bekämpft werden. Die Frage nach der Ursache für das Entstehen dieses Eierstockkrebses bleibt unbeantwortet. Den grundlegenden Mechanismus aber versteht man: Überschreitung von Grenzen und Mangel oder völlige Abwesenheit von adäquater Kommunikation zwischen den Zellen. Ein Organismus besteht aus Organen und ein Organ aus verschieden differenzierten Zellen, die alle spezifische Aufgaben zu erfüllen haben. Die zwei wesentlichen Prinzipien für das Leben einer Zelle und respektive für alles Leben sind Grenzen und Kommunikation. Eine Zelle hat eine Zellmembran, um sich als Zelle von der Umgebung abzugrenzen. Die Konzentration verschiedener Elektrolyte (wie zum Beispiel Natrium oder Kalium) ist in der Zelle und der Umgebung der Zelle vollkommen unterschiedlich. Die Zellmembran nimmt selektiv über spezifische Kanäle nur gewisse Moleküle auf und gibt selektiv gewisse Moleküle – mittels denen sie mit der Umgebung kommuniziert – auch wieder ab. Aber auch innerhalb der Zelle sind Grenzen die wichtigste Voraussetzung für das Leben. Die Mitochondrien, die Kraftwerke der Zellen, bauen zwischen ihren beiden Membranen – ähnlich einer Staumauer – einen Gradienten von Wasserstoffatomen auf. Eine Ent-
ladung dieses Gradienten überträgt – ähnlich wie bei Turbinen – die Energie auf phosphathältige Moleküle, die der Zelle dann als Energieträger zur Verfügung stehen. Ein Eingreifen in diese Grenzen ist mit dem Leben nicht vereinbar, die Zelle stirbt ab. In einem hochkomplexen Mechanismus wie dem homo sapiens ist die Kommunikation zwischen den Zellen eines Organs und zwischen den Organen lebensnotwendig. Millionen verschiedener Informationen werden jede Sekunde an die Zellen herangetragen, müssen dort verarbeitet und oft innerhalb von Bruchteilen einer Sekunde an andere Zellen weiterkommuniziert werden. Die Mediatoren dieser Kommunikation sind unter anderem elektrische Impulse zwischen den Zellen oder die Übertragung erfolgt mittels Nervenzellen. Oder es sind Hormone, die entweder von einer Zelle zur Nachbarzelle die Kommunikation ermöglichen oder von einer Zelle eines Organs in die Blutbahn abgegeben werden und über den Blutkreislauf in ein weit entferntes anderes Organ gebracht werden: Dort werden sie von bestimmten Zellen mit bestimmten Sensoren und Antennen, welche diese Signale erkennen, aufgenommen. Das Anbinden dieser Hormone löst dann an der Zellmembran oder direkt im Zellkern eine Kaskade von Ereignissen aus, welche entweder in diesem Organ oder in einem anderen eine Reihe von Veränderungen verursacht. Krebs ist eine Erkrankung, die durch das Missachten dieser beiden Lebensgrundlagen – Kommunikation und Grenzen – entsteht. Die Misskommunikation zwischen den Zellen eines Organs führt zu einer Imbalanz zwischen natürlichem Absterben und Erneuerung von Zellen zugunsten eines vermehrten Wachs-
tums. Ein Tumor entsteht. Wenn diese Tumorzellen ihre natürliche Umgebung verlassen, ihre natürlichen Grenzen überschreiten und sich in eine ihnen völlig fremde Umgebung begeben, dann ist eine Rückführung dieses Prozesses in den allermeisten Fällen nicht mehr möglich. Die Tumorzellen verdrängen im Falle eines Brustkrebses die normalen Zellen in dem /den Wirtsorgan(en) wie der Lunge und der Leber, dem Gehirn und auch in den Knochen – ein Zustand, der mit dem Leben nicht mehr vereinbar ist. Um Krebs bekämpfen zu können, muss man die Prozesse der Misskommunikation zwischen den Zellen verstehen und die Bedingungen, die dazu führen. Eine vorbeugende Vermeidung dieser Prozesse ist das ultimative Ziel, um Krebs zu bekämpfen. Sobald Grenzen aufgelöst und überschritten sind, kommen drastische Mittel wie radikale Chirurgie, Chemo- und Strahlentherapie zum Einsatz. Respekt, Verständigung, Anerkennung der Individualität und Einzigartigkeit eines Individuums – Prinzipien, von denen uns die Natur zeigt, dass sie lebensnotwendig sind – erscheinen für das Gelingen eines Zusammenlebens innerhalb eines Landes, Kontinents und Universums unumgänglich. Die Geschichte zeigt uns, dass ein Mangel an Verständigung und Verständnis, ein Mangel an Kommunikationswegen und Kommunikationsmittel für die allermeisten Konflikte verantwortlich war und ist. Die Möglichkeiten zur Kommunikation und die Möglichkeiten des Eingreifens in die Kommunikation und die Möglichkeiten zur Grenzüberschreitung sind heute so mannigfaltig wie nie zuvor. Martin Widschwendter
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normgewinnwarnung | idealgewichtigkeitsklausel | schöpfergeisterbahnenfahrteneinwand | puppendoktorspieldebakel | eieropfergabenstockorakel | orgasmusfernenfortbestandsprophezeiung | traumfigurfigurenalptraum | schönheitsgipfelspalte | rosenstellungskriegstauglichkeitsauftakt | koryphäenrechnungsmahnung | operationstischplattenrand :
sie hatte den
busen wunder blieben dennoch aus
Barbara Hundegger
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Schwangerschaft und Altersprävention Von Johannes Huber Das Eingreifen in die Schöpfung unterliegt einer Dialektik. Einerseits hat sie über Ackerbau und Viehzucht, über die Fortschritte in der Architektur und der Möglichkeit der Bodenbewegungen das Wohlbefinden und den Wohlstand des Menschen erheblich gehoben, auf der anderen Seite werden Grenzen erreicht, wo um des Wohlstands willen so stark in die Schöpfung eingegriffen wird, dass die physikalische und biochemische Ordnung gestört und die Gefahren höher als der Benefit zu werden scheinen. Die Erderwärmung ist eines der Beispiele dafür, sollte sie tatsächlich auch hausgemacht sein und keinem internen physikalischen Regelkreis unterliegen, dann ist auch mit Veränderung der Mutationsraten und biologischen Systeme zu rechnen. Die Unmöglichkeit, diesen Erwärmungsprozess zu stoppen oder rückgängig zu machen, ergibt sich aus den zahlreichen Vorteilen, welche viele Menschen aus jenen Prozeduren ziehen. Ähnlich ist es natürlich auch in den biologischen Systemen. Durch das zunehmende Wissen über die Regelkreise in der Schwangerschaft, die die interessanteste Lebensphase auf unserem Planeten ist, erkennt man, nach welchen Richtlinien und biologischen Vorgaben einzelne Organe entstehen, sich entwickeln und wachsen. Diese Erkenntnis kann natürlich auch auf den alten Menschen angewandt werden, was bei der Anosmie, beim Verlust der Riechfähigkeit in klinischen Studien bereits getan wird: Durch eine Simulation der Hormonsituation während der Schwangerschaft kann es zu einer Regeneration an Hirnnerven kommen. Von hoher Faszination sind die Stopp-Signale, die in der Schwangerschaft die Beendigung von verschiedenen Körperentwicklungen regulieren. So gehört das Protein Ephrin zu jenen, die festlegen, wann die Gehirnentwicklung und wann die Darmentwicklung beendet sein sollen. Wird dieses Gen relativiert bzw. erst später aktiviert, so läuft die Wachstumsphase dieser Organe im Körper länger ab. Dies kann zu enormen Manipulationsmöglichkeiten und zur Modulation einzelner Organe führen. Die Schwangerschaft ist sicher für die alterspräventive Medizin, aber auch für die Erfüllung des 3. Traumes der Menschheit – nämlich den Sieg über das Altern – eine Schlüsselzeit. Wenn man ihre Gesetzmäßigkeiten erkennt, so könnte davon die Medizin einen enormen Impact bekommen. Ob es der Menschheit gelingt, weiterhin andere Lebensformen zu finden, ist offen, aber wahrscheinlich. Der Fluss der Elektronen scheint die Voraussetzung des Phänomens Leben zu sein und verbindet die unbelebte mit der belebten Welt. Der Elektronenfluss von einem Element zum anderen unterliegt strengen physikalischen Gesetzen. Es ist anzunehmen, dass die gleichen Gesetze bei der Entstehung der so genannten belebten Materie in gleicher Weise aktiv sind. Wenn dies die Wissenschaft durchschaut, dann hat sie möglicherweise tatsächlich die Weltformel gefunden.
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Brenner-Gespräche (1): Haben Sie ein System?
So viele Leute fahren über die Alpen nach Italien. Quart bittet herausragende Persönlichkeiten an den Straßenrand zu einer Jause mit Gespräch. Folge 1: der Komponist und Theatermacher Heiner Goebbels, der an der Universität Gießen „Künstlerische Praxis“ lehrt. Andreas Schett: Ich lese so gerne Interviews mit Leuten, die erzählen, welches Buch, welcher Film, welche Musik ihr Leben verändert hat. Gibt’s so etwas bei Ihnen? Heiner Goebbels: Ich bin in Landau in der Pfalz aufgewachsen und da gab es einen Kulturdezernenten, der Ende der 60er, Anfang der 70er Jahre die Crème der europäischen und internationalen Solisten und Orchester in die Provinz brachte. Ein Glücksfall! Zu dieser Zeit kamen auch die großen russischen Künstler erstmals auf Welttournee in den Westen; die hatten drei, vier Konzerte in Deutschland und spielten in Berlin, München, Düsseldorf und eben in Landau. Mit einer Stehplatzkarte hörte ich so zum ersten Mal beispielsweise Mstislaw Rostropowitsch, Svjatoslav Richter und David Oistrach. Das Wunderbare an Oistrach war, dass er mit seinen kleinen dicken Wurstfingern und seinem etwas metzgerhaften Äußeren eigentlich überhaupt nicht das ausstrahlte, wozu er musikalisch in der Lage war. Sobald er etwas gespielt hatte, ließ er beide Hände fallen, stand da und wartete auf den nächsten Einsatz. Dadurch entstand eine große Spannung zwischen dem akustischen Erlebnis und – man könnte fast sagen – einer performativen Verweigerung. Das hat sich ganz stark in meine Erinnerung eingegraben, die Spannung zwischen Hören und Sehen, dass sich eben die beiden Bereiche nicht komplett schließen und sich dadurch meinem Interesse wieder entziehen, weil das Kunstwerk in sich schon vollständig ist. Bei Oistrach entstand eine Kluft zwischen Körper und Klang. Ich bin fast über die Balustrade gefallen, um mir das ganz genau anzuschauen, wie er das hinkriegt mit seinen Fingern, die relativ kräftig waren und so eine Zartheit im Ton
produzieren konnten. Das war ein Widerspruch, den ich offenbar damals gespürt habe und an dem sich mein Interesse entzündet hat. Und das Thema ist für mich immer noch aktuell. Ein anderes Konzert, das mein Leben verändert hat, war 1971 bei den Donaueschinger Musiktagen: Don Cherry versammelte damals alle europäischen Free Jazzer, die Rang und Namen hatten, um sich und rollte auf der Bühne einen Teppich aus. Zusammen mit seinem damals dreijährigen Sohn, Eagle-Eye, der immer dazwischen herumwuselte, seiner Frau sowie einer finnischen Sängerin und einem Hund lagerte er dort auf Kissen. Und intonierte ganz einfache, stark an indische Ragas erinnernde Unisono-Melodien. Die in einem Halbkreis um ihn aufgestellten Free Jazzer kochten vor expressiver Individualität und Unangepasstheit, und nur durch die Autorität seiner musikalischen Biografie konnte Cherry sie sozusagen auf diese ganz einfachen Tonleitern verpflichten. Und es war eine berührende und aufwühlende Erfahrung, dieses Spannungsfeld zwischen öffentlicher Disziplinierung und individuellem Widerstand zu spüren, die aufgeladene und kaum zu bändigende Kraft und Komplexität hinter dieser Einfachheit. Die Jazzer, die um nichts in der Welt bereit waren, sich unterzuordnen, wurden plötzlich von einem Guru domestiziert, einem Magier, der sein privates Wohnzimmer auf die Bühne brachte. S.: Wohnzimmer auf der Bühne ist ein gutes Stichwort. In Ihrer jüngsten Arbeit – Eraritjaritjaka nach Texten von Elias Canetti – gibt es das auch. G.: Ja, das Wohnzimmer auf der Bühne berührt ein
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Schlüsselproblem künstlerischer Arbeit überhaupt – nämlich die Frage: Wie geht man mit dem Verhältnis zwischen privat und öffentlich um? S.: Wie geht man damit um? G.: Man muss zwar diese Frage stellen, darf sie aber nicht nach einer Seite hin – der öffentlichen oder der privaten – auflösen. Das ist wahrscheinlich das Geheimnis dieser Spannung: das Aushalten von zwei Interessen, die nicht auf Deckungsgleichheit zu bringen sind. Ein Projekt, an dem ich jetzt gerade arbeite, beinhaltet auch so eine Wohnzimmer-auf-der-Bühne-Situation. Die Musik erklingt zu Texten von Gertrude Stein, die sie im Zweiten Weltkrieg geschrieben hat. Das Buch heißt „Wars I Have Seen“ (und taucht auch in meiner Oper „Landschaft mit entfernten Verwandten“ auf). Das ist ein Kriegsbuch, wie man es kaum kennt, in dem die Autorin wirklich sehr private Interessen völlig unvermittelt neben öffentliche Beobachtungen stellt. Sie schreibt zum Beispiel über die deutschen Gefangenen und spricht im nächsten Atemzug mit ihrer Nachbarin, die sie auf der Straße trifft, über den Umstand, dass ihr Hund Diabetes hat. Dieses Nebeneinander muss der Leser überhaupt erst einmal sortieren, er muss gewichten. Er hat aber auch die Freiheit dazu. Es ist niemand da, der es für ihn tut. Das ist etwas, was mich auf der Bühne oder in der Kunst immer am stärksten interessiert hat. S.: Bei Eraritjaritjaka gibt es einen Mann, der auf der Bühne zu Streichqartettklängen Texte von Canetti rezitiert. Und plötzlich erhebt sich jemand aus dem Publikum und filmt den Mann. Sein Bild wird groß auf die Rückwand projiziert und der Mann verlässt die Bühne, um mit dem Taxi in seine Wohnung zu fahren. Was er dort tut und dabei sagt, ist zeitgleich immer auf der Leinwand zu sehen. Erzählen Sie: Wie kam es zur Entscheidung, dass der Mann die Bühne verlässt?
G.: Canetti hat diesen untrüglichen Blick für Machtund Abhängigkeitsverhältnisse. Und dieser Blick, der sich sozusagen manisch auf alles richtet, trifft auch alles: die Beziehungen der Menschen untereinander, die Beziehungen zwischen Mensch und Tier, zwischen Musik und Sprache, zwischen zwei Sätzen, zwei Wörtern oder zwischen Individuum und Staat, Privatheit und Öffentlichkeit. Man muss versuchen, diese Beobachtungen mit seinen eigenen Erfahrungen abzugleichen. Und darum habe ich zunächst gedacht, ich muss raus aus dem Theater. Man kann das alles nicht repräsentieren auf der Bühne, das wussten schon viele gute Theatermacher vor langer Zeit. Das ist also der Grund, warum bei Eraritjaritjaka der Schauspieler das Theater verlässt und es ist ganz wichtig, dass der Zuschauer das miterlebt, wenn ein Mann glaubhaft von der Bühne geht und durch eine Stadt fährt, die man kennt, die man im Video auch sieht, an der man sich orientieren kann. Und ihn dann tatsächlich in einem quasi privaten Wohnzimmer, am Schreibtisch oder in seiner Küche sehen kann. Damit ändert sich auch der Tonfall des Sprechens. Es gibt keinen Adressaten mehr wie vorher auf der Bühne. Und hier berühren wir auch ein anderes Problem: Wie verhindert man, dass der Zuschauer den Mann für eine Personifizierung Canettis hält und denkt, es seien dessen Probleme? Wie kann ich es schaffen, dass die Sätze aus Canettis Notizbüchern zu Fragen werden, die man an das Publikum verteilt? Ich glaube dadurch, dass ich zum Beispiel den ersten Teil des Stückes sehr abstrakt inszeniert habe. Da steht ein Mann wie eine Schachfigur auf einer weißen Bühne und alles wird nur zwischen Text und Musik verhandelt; die Szene hat eigentlich die Qualität eines Lesevorgangs, man könnte genauso gut das Buch in die Hand nehmen. Während der erste Teil also so konzipiert ist, dass man ihn nicht als Verkörperung des Textes sehen kann, sondern als intellektuelle Anregung, ist der zweite Teil, nachdem der Mann die Bühne verlassen hat und an seinem Schreibtisch sitzt, so wahnwitzig konkret, dass es nicht ernst gemeint werden kann.
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Wenn der Mann zum Beispiel darüber nachdenkt, wie es ist, alleine zu leben und dabei Zwiebeln schneidet … S.: … exakt im Rhythmus der Musik – G.: … ja, oder wenn er beim Omelettessen oder Bügeln irgendwelche Dinge von sich gibt – das ist so filmisch detailhaft, dass eine andere Ebene erreicht wird. Das Niveau der Texte und die Profanität der Dinge werden zu Gegenpolen. Damit entsteht eine Freiheit der Imagination. Ich möchte dem Zuschauer nicht seine Bilder verbauen und ihn festlegen auf meine Interpretation der Welt, ich möchte seinen Blick öffnen.
mungshaltung. Schon allein den Unterschied zwischen Hören und Sehen finde ich frappant. Und ich bestehe auch auf dem Unterschied. Ich versuche das nicht zusammenzubringen. Schauspieler in meinen Stücken hört man eben nicht aus der Richtung ihres Körpers, sondern aus den Boxen. Damit findet eine Trennung des Körpers von der Stimme statt, eine Trennung des Textes von der Bewegung. Es entsteht eine zweite, akustische Bühne und in dieser Kluft zwischen akustischer und visueller Bühne zum Beispiel wird die Neugierde des Zuschauers geweckt. Er lernt im Laufe der Aufführung, sich innerhalb dieser Möglichkeiten frei zu bewegen. S.: Das Publikum stiftet sich also selbst den Sinn.
S.: In Ihren Stücken gibt es oft verschiedene Textautoren, etliche Komponisten und mehrere Gestalter. In Ihren Aufsätzen zum Thema Musiktheater fordern Sie eine „Enthierarchisierung der Mittel“, weder Text noch Bild oder Musik sollen im Vordergrund stehen, sie sollen ineinander geraten, sich durchdringen. Und dann ist immer wieder die Rede von der Kohärenz der Mittel, vom „Zusammenhang“. – Wie lässt sich ein solcher herstellen bei derart vielen Bestandteilen?
G.: Ja.
G.: Jeder Zuschauer stellt den Zusammenhang zwischen diesen verschiedenen Mitteln anders her, wichtig ist nur, dass sie der Reihe nach eingeführt werden, dass der Zuschauer in das Vokabular des Abends eingeführt wird. Bei Eraritjaritjaka funktioniert das fast klassisch: Zuerst sieht es so aus, als wäre es ein Streichquartett-Abend. Dann kommt ein Körper dazu, den man von hinten sieht. Und ein Text, den man aus den Lautsprechern hört. Man weiß aber nicht, wie Körper und Text zusammenhängen. Darauf folgt das Licht, ein Scheinwerfer, der zur Figur wird, der auf die Bühne kommt und agiert, indem er zum Beispiel den Schauspieler dirigiert. Und wenn der Schauspieler den Raum verlässt, beginnt ein Film. Jedes dieser Elemente erfordert eine andere Wahrneh-
G.: Das kann ich relativ präzise sagen, wenn auch immer ein Rest von Unerklärlichkeit bleibt. Prince hat in seinem Song „Joy in Repetition“ auf dem Album „Graffiti Bridge“ die wesentlichen Motive des Kierkegaard-Textes „Die Wiederholung“ trivial vereinigt: Regen, Verführung, Voyeurismus, Eifersucht, Nachdenken über Repetition. Haargenau dasselbe hat Kierkegaard in seinem wunderbaren Essay beschäftigt.
S.: Die Frage, die sich daran anschließt, lautet: Welchen Zusammenhang oder welchen Sinn finden Sie als Künstler, der diese vielen Mittel zusammenführt? Oder, anders gefragt: Was hat die Musik eines Cage oder Schostakowitsch mit Canetti zu tun? Oder Kierkegaard mit Prince – die Kombination, die man in Ihrem Stück „Die Wiederholung“ findet?
S.: Aber was ist damit gesagt, dass die Ideen einmal von Kierkegaard aufgegriffen werden und einmal von Prince? G.: Damit ist gesagt, dass auch hier verschiedene Zu-
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gänge möglich sind. Ich kann jemandem, dem Kierkegaard zu abgehoben ist, mit dem Prince-Song die gleiche Geschichte erzählen. Bei Musik von Schostakowitsch und Crumb zu den Texten von Canetti ist es noch direkter. Es sind Komponisten, die mit einer ähnlichen gesellschaftspolitischen Sensibilität gearbeitet haben. Die Berührungspunkte liegen in der Frage, wie ein künstlerisches Subjekt sich in totalitären Strukturen – mit denen sich Schostakowitsch im Stalinismus oder Canetti im Faschismus konfrontiert sahen – behauptet. Und das tun merkwürdigerweise beide ähnlich und auf durchaus stolze Weise. Zum Beispiel zitiert Schostakowitsch in seinem achten Streichquartett eine Notenreihe, die aus den vertonbaren Buchstaben seines Namens besteht. Das ist schon sehr stark, nicht ohne Stolz auf die eigene Existenz, die trotz der Repressionen im sozialistisch-realistischen System bestehen kann. Und in vielen Texten Canettis kann man merken, dass er nicht uneitel mit der Weltgeschichte umgesprungen ist. „Nichts ist langweiliger, als angebetet zu werden. Wie hält Gott das nur aus?“, schreibt er. Auch George Crumb hat ja sein Streichquartett, das ich zitiere, im Kontext des Vietnamkrieges positioniert. S.: Mit demselben Assoziationsprinzip könnte man auch Künstler miteinander in Verbindung bringen, die ihr Werk auf der grünen Wiese geschaffen haben. G.: Das würde ich nicht tun. Ich bin mir der Beliebigkeit künstlerischer Prozesse bewusst und treffe eine künstlerische Entscheidung erst dann, wenn mehrere Dinge dafür sprechen. Es muss genügend Gründe geben, dass ich etwas miteinander kombiniere. Solche Entscheidungen, wie zum Beispiel jene, Prince und Kierkegaard zu verbinden, müssen auf mindestens drei, vier Ebenen fallen, damit sie stimmen. Auch bei der Auswahl der Musik für das Canetti-Stück – die ich ja nicht alleine gemacht habe, sondern gemeinsam mit dem Dramaturgen, auch die Musiker haben Vorschläge eingebracht – gab es meh-
rere Kriterien: politische, biografische, ästhetische, pragmatische … Oft ging es auch einfach nur um die Frage, wie durchlässig die Musik ist, ob sie es aushält, dass man zeitgleich einen Text spricht. S.: An Ihrer Canetti-Arbeit hat mich fasziniert, dass Sie die fragmentarischen Mittel, die Sie in beliebiger oder auch nicht beliebiger Weise zusammengeführt haben, mit dem Einsetzen einer einfachen, berührenden Geschichte zu einem Ganzen verbinden: Ein Mann geht nach Hause, macht sich ein Spiegelei, öffnet die Post, denkt nach und spricht dabei einen Satz nach dem andern. Auf ganz neue und eigenartige Weise entsteht so etwas wie eine Erzählung, die aus vielen verschiedenen Quellen gespeist ist. G.: Sie haben wahrscheinlich Recht, dass dadurch in gewisser Weise die heterogenen künstlerischen Mittel zusammengehalten werden. Aber ich glaube nicht, dass das die wichtigste Leseart ist. Sie täuscht ein bisschen über die Komplexität dessen, was da tatsächlich passiert, hinweg. Der Mann kann ja nicht einfach ungestört nachdenken. Da kommt ein Junge ins Wohnzimmer, der seine Bücher sehen will, und plötzlich sitzt ein Streichquartett auf seinen Möbeln und macht schreckliche Musik. Es ist keine ungestörte Idylle, die sich auf der Bühne auftut, sondern eine gebrochene. Und da Sie ein bisschen die Narration gegenüber der Fragmentierung ausspielen – ich glaube, dass die Unterbrechung dasjenige Moment ist, das uns als Zuschauer am stärksten uns selbst realisieren lässt. Detlef Linke, ein Hirnforscher, der 2005 verstorben ist, hat mich auf Hölderlins Anmerkungen zu Antigone hingewiesen; Hölderlin schreibt sinngemäß, dass erst im Zusammenstoß sehr unterschiedlicher Teile, die unserem unterschiedlichen Wahrnehmungsvermögen entsprechen, überhaupt so etwas wie Vorstellung entsteht. Und ich bin absolut dieser Meinung. Ich kann einer geradlinigen Erzählung nicht folgen. Ich kann sie auch nicht wiedererzählen, bei mir bleibt nicht so viel hängen. Ich habe
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eine ganz andere Struktur, einen eigenen Rhythmus, ein anderes Zeitgefühl. Und ich empfinde das Verfolgen einer Erzählung bis zu einem bestimmten Grad immer auch als Unterwerfung, zu der ich nicht bereit bin. Wenn ich allerdings mit einer vielfältig gebrochenen, auch unterbrochenen Erzählung konfrontiert bin, wie Eraritjaritjaka eine ist, dann kann ich mich immer wieder an dem Zusammenstoß dieser verschiedenen Teile, am Geschehen auf der Bühne synchronisieren. Daraus entsteht meine je eigene Narration – oder das, was Hölderlin Vorstellung nennt.
haben dazu auch einen Aufsatz mit dem Titel „Das Sample als Zeichen“ geschrieben. Woran erkennt man ein gutes Sample? G.: Die Frage ist heute schwerer zu beantworten als vor 20 Jahren, als ich den Text geschrieben habe. S.: Die Frage ist doch immer dieselbe: Wenn man ein Sample als Zeichen begreift und es ein Meer voller Klänge gibt – woran orientiert man sich?
S.: Zeitgenössisches Theater erlebe ich oft so, dass viele Dinge, die nichts miteinander zu tun haben, zeitgleich auf der Bühne passieren. Die Mittel sind separiert, sie reiben sich aneinander, aber es hat überhaupt keinen Sinn …
G.: Man kann keine allgemeinen Grundsätze aufstellen. Ein gutes Sample kann eines sein, das nicht als solches erkennbar ist, weil es in der Kohärenz des Materials aufgeht. Es kann aber auch gerade dadurch interessant sein, dass es als solches ausgestellt ist und die Kluft zu den übrigen Klängen nicht verheimlicht.
G.: … ja, da fliegt einem natürlich das Material um die Ohren …
S.: Was sagen Sie Ihren Studenten, wenn Sie derartige Fragen behandeln?
S.: … jede Form der Narration wird verweigert und trotzdem gibt es eine Linearität, die darin besteht, dass die Vorstellung um 20 Uhr beginnt und um 22 Uhr endet.
G.: Das ist ja das Schöne an der Lehre, dass man nicht mit festen Grundsätzen arbeiten kann. Man fängt immer wieder bei Null an. Natürlich hat man seinen Erfahrungsschatz und kann sich unter Umständen besser ausdrücken, aber es gibt keine schnellen Gesetze. Die muss man immer aus dem jeweiligen Projekt, vor allem dem jeweiligen Material, der jeweiligen Produktionsweise heraus entwickeln. Wenn etwa ein Hörspiel, das meine Studenten machen, nicht funktioniert, kann das viele Gründe haben. Es kann an der Aufnahme liegen, am Gedanken, der dem Konzept zugrunde liegt, es kann am Rhythmus liegen oder daran, dass das Sample schlecht geschnitten ist.
G.: Deshalb lege ich so viel Wert auf die Kohärenz des Materials. In dieser Beziehung bin ich sehr abergläubisch. Zum Beispiel habe ich in dem Stück „Die Wiederholung“ nur Sounds verwendet, die aus dem Klangrepertoire von Prince kamen. Ich glaube sogar, dass alles zerfleddert und auseinanderfällt, wenn der Klang der Bass Drum von einem anderen Künstler kommt. Es gibt eine innere Kohärenz, zum Beispiel eine klangliche, die man nicht bewusst wahrnimmt, die man aber spürt, die durch den Körper geht. S.: Apropos Prince und Bass Drum. Sie haben sich viel mit Sampling beschäftigt (das ist die Technik, vorhandenes akustisches oder musikalisches Material in neue Kompositionen einzubringen, Anm.) und
S.: Nachdem Sie das jetzt 30 Jahre lang machen, könnten Sie ja sofort sagen: Moment, das funktioniert nicht, weil das Sample schlecht geschnitten ist – G.: Nein, das kann ich eben nicht.
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S.: Das können Sie nicht? G.: Ich kann sofort sagen, da stimmt etwas nicht. Aber ich tue nicht so, als ob ich immer genau wüsste warum. Es könnte auch daran liegen, dass die Boxen falsch stehen oder der Klang nicht vorbereitet ist. Wenn wir eine Kunstform nach strengen hierarchischen Regeln organisieren – etwa beim konventionellen Rollenstudium – dann kann ich diese Gesetze mit den Studierenden von A bis Z durchbuchstabieren. Wenn ich hingegen jede künstlerische Arbeit zum Teil auch als eine forschende begreife und zum Beispiel ein merkwürdiges Gegenlicht mit einem besonderen Klang kombiniere und einem Text, der gar nicht fürs Theater geschrieben wurde – dann kann ich nicht auf Anhieb sagen, was daran falsch ist, wenn etwas falsch ist. Hier muss das Zusammenspiel dieser verschiedenen Ebenen erst ausgehandelt werden. S.: Wir alle lehnen Hierarchien und Gesetzmäßigkeiten – von wem auch immer verordnet – ab. Trotzdem kommt es in jedem Arbeitsprozess zu einem Punkt, an dem die Frage bleibt: Wie und woran, an welchen Gesetzen, Ideen oder Erfahrungen entlang entscheiden wir uns? G.: Es ist kein Zufall, dass aus unserem Institut in Gießen keine Einzelkämpfer hervorgehen, sondern lauter kleine Kollektive: Riminiprotokoll – vielleicht die bekanntesten – oder Monstertruck und viele andere. Das hat damit zu tun, was ich vorhin mit dem Öffnen des Blicks beschrieben habe. Wir suchen an unserem Institut nach einem performativen Konzept, das – analog zu den Erfahrungen in der bildenden Kunst – den Blick auf die Materialien öffnet, Texte erschließt, ohne sie auf eine besserwisserische Interpretation zu reduzieren. Die drei Mitglieder von Riminiprotokoll können sich eben nicht auf ein Bild einigen und geben darum auch keines vor. Ihr Ehrgeiz besteht darin, einen Prozess anzuzetteln, an dessen Ende der Zuschauer jeweils sein Bild oder seine Er-
fahrung setzen kann. Und ihr höchstes Glück sehen sie eben nicht in der Realisierung ihres eigenen Egos. S.: Glauben Sie eigentlich, dass Mozart sein Ego realisiert hat? G.: Ja, natürlich. Ich glaube, das ist die Idee der meisten Komponisten, auch heute noch. Ich finde den Teamprozess – dass man etwas herausfindet, was man sich allein vorher nicht hätte vorstellen können – tausendmal spannender und aufregender als nur das zu machen, von dem ich vorher schon weiß, wie es aussieht. S.: In dem Buch über Sie und Ihre Arbeit* wird eine Anekdote erzählt: Sie halten einen Vortrag an einem Konservatorium in Sizilien und am Ende fragen die Professori einigermaßen bestürzt: Herr Goebbels, haben Sie kein System? Diese Frage muss ich Ihnen noch einmal stellen – G.: Ich habe das System, das ich jetzt gerade entfaltet habe. Ich glaube, dass das System jeweils aus dem Material kommt. Und man muss so etwas wie Materialrespekt mitbringen, der einem auch die Offenheit lässt, seine Arbeitsweise immer wieder neu in Frage zu stellen. Und immer wieder auf das Material, mit dem man arbeiten will, zu reagieren. S.: Mir ist es zu wenig zu sagen, es ist immer alles materialabhängig, situationsabhängig oder projektabhängig. Dann sagen wir doch gleich: Regeln gibt’s nicht mehr und alles andere ist einfach in der Situation zu entscheiden. Sie kommen ja nicht neu auf die Welt jeden Tag, Sie haben ja einen Erfahrungsschatz. Sie haben Sätze gelesen, Bilder gesehen, Klänge gehört. Und auf Grund dessen können Sie sagen, ich * Wolfgang Sandner (Hrsg.): Heiner Goebbels. Komposition als Inszenierung, Henschel Verlag 2005
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denke, die Sache ist so und so. Auf Grund dessen können Sie sagen: Pass auf, die Box steht falsch – weil Sie das eben schon öfter gemacht haben! G.: Mit Materialrespekt meine ich, dass man sich zum Beispiel überlegt, wo die Box steht. Wenn man sie unter einen Stuhl stellt, darf man sich nicht wundern, dass man die hohen Frequenzen nicht mehr so gut hört und den Text nicht mehr versteht. S.: Sie können einem Studenten doch sofort sagen, wie eine Box stehen muss, dann macht er weniger leere Kilometer. Also gibt’s eine Gesetzmäßigkeit, die nicht besserwisserisch ist! G.: Da bin ich vorsichtig. Ich würde in diesem Fall zunächst einmal fragen: Wollen Sie, dass man den Text nicht versteht? Ich frage: Soll man zu der Box hingehen und sich vielleicht bücken müssen? Oder soll ich den Text dort verstehen können, wo ich gerade stehe? Kürzlich hat ein Student ein Projekt mit Texten von Ernst Jünger realisiert, man konnte den Text nur an ganz bestimmten Stellen im Raum verstehen. Das war beabsichtigt. Ob es gut war, ist eine andere Frage. S.: Beantworten Sie dann nach der Aufführung die Frage, ob es gut war oder nicht? G.: Ja. S.: Oder können Sie das nur für sich beantworten? G.: Nein, nein. Wir haben an unserem Institut die Tradition der Kritikgespräche, zu denen alle Studierenden eingeladen sind, um ihre Meinungen und ihre Kritik einzubringen. Das ist ein sehr offenes Forum und auch eine große Chance, die man später im Leben so nicht mehr hat. S.: Und woran orientiert sich die Kritik?
G.: An der künstlerischen Intention, am Prozess und an den Aufführungserfahrungen. Ich würde zum Beispiel sagen: Sie haben ja gesehen, dass die Zuschauer da nicht hingehen, wo die Box steht, das heißt, Sie müssen daraus eine Konsequenz ziehen. Entweder sorgen Sie dafür, dass man den Text überall versteht, sofern Sie der Text interessiert. Oder Sie müssen den Zuschauerbereich einschränken. Oder die Zuschauer anders motivieren. Natürlich gibt es verschiedene Optionen. In den Kritikgesprächen wird in der Regel genau begründet, warum eine Arbeit nicht funktioniert. Und für den Prozess der künstlerischen Ausbildung ist es wesentlich interessanter, wenn etwas nicht funktioniert, als wenn es funktioniert. S.: Lassen Sie mich zusammenfassen: Gesetzmäßigkeiten sind nicht vorhanden und werden von uns abgelehnt. Wir hüten uns davor, Alternativen zu formulieren. Und trotzdem weiß am Schluss jeder, ob es funktioniert hat oder nicht. Da kann was nicht stimmen! G.: Doch! Man kann es immer wieder nur aus der Aufführungserfahrung heraus beantworten. Es geht nicht einfacher. Man kann das nicht in Gesetzen formulieren. Man kann es nicht einmal für eine einzelne Aufführung verallgemeinern: Sie kann an einem Abend funktionieren und am nächsten nicht. Das ist nun einmal die Komplexität einer Live-Erfahrung.
Quart Nr. 01–09
Helmut Jasbar
Eva Schlegel
Nathan Aebi
Ulrike Kadi
Nikolaus Schletterer
Andreas Altmann
Fabian Kanz
Birgit Schlieps
Architekten Moser Kleon
Bernhard Kathan
Hanno Schlögl
Ludovic Balland
Leopold Kessler
Ferdinand Schmatz
Othmar Barth
Walter Klier
Gunter Schneider
Christoph W. Bauer
Gerhard Klocker
Roland Schöny
Ruedi Baur
Margit Knapp
Fred Schreiber
Wolfgang Sebastian Baur
Alfred Komarek
W. G. Sebald
Sven-Eric Bechtolf
Florian Kronbichler
Christian Seiler
Julia Bornefeld
Gustav Kuhn
Walter Seitter
Maria E. Brunner
Martin Kus̆ej
Peter Senoner
Ferdinand Cap
Ulrich Ladurner
Q. S. Serafijn
Ernst Caramelle
Bernhard Lang
Martin Sieberer
Michael Cede
Patrizia Leimer
Christoph Simon
Hans Danner
Paul Albert Leitner
Alessandro Solbiati
Georg Diez
Clemens Lindner
spector cut+paste
Dimitré Dinev
Christine Ljubanovic
Thomas Stangl
Klaus Doblhammer
Ove Lucas
Martina Steckholzer
Fred Einkemmer
Sepp Mall
Karl Stockreiter
Olafur Eliasson
Fritz Magistris
Bernhard Studlar
William Engelen
Andreas Maier
Rudolf Taschner
Carsten Fastner
Dorit Margreiter
Paul Thuile
Friederike Feldmann
Barbara Matuszczak
Susanne Titz
Ellinor Forster
Friederike Mayröcker
Ernst Trawöger
Katja Fössel
Milena Meller
Thomas Trummer
freilich landschaftsarchitektur
Bernhard Mertelseder
Wolfgang Tschapeller
Martin Fritz
Klaus Merz
Erdem Tunakan
Marta Fütterer
Wolfgang Mitterer
Roman Urbaner
Michael Glasmeier
Philipp Mosetter
Katrien van der Eerden
Rolf Glittenberg
Paul Nagl
Andrea van der Straeten
Christian Gögger
Olga Neuwirth
Rens Veltman
Peter Gorschlüter
the NEXTenterprise architects
Joseph von Westphalen
Martin Gostner
Walter Niedermayr
Klaus Wagenbach
Barbara Gräftner
Michaela Nolte
Martin Walde
Georg Gröller
Thomas Nußbaumer
Vitus H. Weh
Sabine Gruber
Peter Oberdorfer
Hans Weigand
Gebhard Grübl
Walter Obholzer
Lois Weinberger
Egyd Gstättner
Walter Pamminger
Gabriele Werner
William Guerrieri
Karin Pernegger
Roman Widholm
Georg Friedrich Haas
Hans Karl Peterlini
Erika Wimmer
Händl Klaus
Robert Pfaller
Robert Winkel
Michael Hausenblas
Andreas Pfeifer
Heinz Winkler
Krista Hauser
Marion Piffer Damiani
Erich Wucherer
Clementina Hegewisch
Hans Platzgumer
Erwin Wurm
Werner Heinrichmöller
Wolfgang Pöschl
Anton Würth
Heinz D. Heisl
Gerald Preinfalk
Andrea Zanzotto
Peter Herbert
Manuela Prossliner
Ralf Herms / Rosebud
Irene Prugger
Margarethe Heubacher-Sentobe
Carl Pruscha
Richard Hoeck
Thomas Radigk
Candida Höfer
riccione architekten
Robert Holmes
Peter Sandbichler
Anton Holzer
Benedikt Sauer
Stefanie Holzer
David Schalko
Albert Hosp
Lukas Schaller
Sebastian Huber
Peter Scheer
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Wer Quart abonniert, bekommt sicher ein Heft (bevor es vergriffen ist, was vorkommt). Soweit Argument Nummer eins. – Zweitens: Es kommt billiger! Zwei Hefte kosten 18,– (statt 24,–). Und drittens gibt es als Abogeschenk ein Buch aus dem aktuellen Haymon-Programm (siehe Seite 132) oder eine CD aus dem Katalog von col legno (siehe Seite 135). Sie werden übrigens auch beschenkt, wenn Sie einen neuen Abonnenten für Quart werben!
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Queen for a Day
Djavidan Hanum war Prinzessin und Schriftstellerin, Pianistin und Malerin. Ihr Bericht über das Leben im Harem des Khediven von Ägypten wurde 1930 zum Bestseller. Nach dem Zweiten Weltkrieg war sie in Innsbruck als Übersetzerin für die französische Besatzungsmacht tätig. Ein Porträt von Heinz Trenczak Am 24. April 1945, zwei Wochen vor dem Ende des Zweiten Weltkriegs, meldet sich bei der Polizei in Innsbruck eine 68-jährige Frau unter dem Namen „Bayan Djavidan“ an. Ihren Wohnsitz hat sie in der Maria-Theresien-Straße Nr. 25; als Beruf gibt sie „Schriftstellerin“ an. Nach Kriegsende, ab Mitte Juli 1945, wird sie von der französischen Militärregierung in Tirol, die ihren Sitz im Landhaus hat, als Dolmetscherin beschäftigt. Von 1946 bis 1951 erscheinen in der „Tiroler Tageszeitung“ und in der „Neuen Front“ einige Artikel und Kurzgeschichten von ihr, die sie mit „Zubeida Djavidan“, mit „Prinzessin Zubaida Djavidan“ oder mit „Djavidan Hanum“ zeichnet. Und es gibt Gerüchte, die besagen, sie setze sich vehement für Gefangene ein oder habe dem Sohn des Komponisten Eugen d’Albert, Benvenuto, eines Abends, als es an dessen Tür klopft, vorausgesagt, er werde jetzt seine zukünftige Frau sehen … Wer war diese ungewöhnliche Frau, die sich abwechselnd „Bayan“, „Zubeida“ oder „Djavidan“ nennt, wirklich? Woher kommt sie? Welches Leben hat sie bis dahin gelebt? Zur Welt kam Djavidan Hanum am 15. Juni 1877 in Philadelphia als May Gräfin Török von Szendrö. Ihr ungarischer Vater, Josef Török, war Offizier in der k. & k. Armee, ihre österreichische Mutter, Sofie, eine geborene Vetter von der Lilie. Bald schon nach Mays Geburt trennten sich die Eltern, und so wurde Theo Puskas zu ihrem „zweiten Vater“. Theodore Puskas von Ditro war der Europa-Beauftragte von Thomas Alva Edison und stellte während der Weltausstellung 1878 in Paris das Telefon vor. „Beim feierlichen Eröffnungsakt ließ mein Vater mich, das kleine Baby, das noch im Arm der Mutter lag, mit einem Druck meines winzigen Fingerchens auf einen Klingelknopf mit einem Schlag die unzähligen amerikanischen Fahnen, die den Pavillon umgaben, automatisch zur Entfaltung bringen. Das wurde beinahe zu einer ebenso großen Sensation wie das Telefon; und ganz Paris sprach von dem Baby,
das auf so originelle Weise den Pavillon der Neuen Welt eröffnet hatte.“ In den folgenden Jahren trieb Puskas den Bau von Telefonnetzen in Europas Metropolen mit hohem Tempo voran; und so lebten er und seine Familie abwechselnd in Paris, in Budapest, in Wien, in London, auf seinen Gütern in Ungarn oder auf Schloss Waasen südlich von Graz. Entsprechend weltgewandt und vielsprachig wuchs May als Kind auf: neben Ungarisch und Deutsch beherrschte sie Französisch und Englisch, Italienisch und Russisch. Sehr früh zeigte sich auch ihre musikalische Begabung am Klavier. Mays älterer Bruder, Josef Török, wurde am Wiener Theresianum, der k. & k. Militärakademie, erzogen; und als May ihn 1890, im Alter von erst dreizehn Jahren, dort allein besuchte, traf sie auf einen Kommilitonen ihres Bruders: „Am meisten bewunderte mein Bruder den Prinzen Abbas Hilmi, den Sohn des Khediven von Ägypten, der eine eigene Abteilung im Theresianum bewohnte und zwar mit einem arabischen Scheich, einem türkischen Lehrer und sogar mit einem eigenen Sekretär und Diener (…) Vor dem Gebäude stand ein eleganter Wagen mit zwei Pferden, in den gerade ein junger Mann einsteigen wollte. In diesem Augenblick erschien mein Bruder, sah mich und stellte mir seinen Kameraden Abbas Hilmi vor. Das erste, was ich dachte, war: ‚Wie komisch, ein Türke mit blondem Haar und graublauen Augen …‘“. Im Jahr 1900, May war 23, kam es zur zweiten Begegnung mit Abbas Hilmi, diesmal in Paris, und diesmal mit ungeahnten Folgen sowohl für May als auch für Abbas, der 1892, mit nur 18 Jahren, seinem inzwischen verstorbenen Vater als Khedive Abbas Hilmi II. auf den ägyptischen Thron gefolgt war. „Ich kam vom Blumenmarkt an der Madeleine, den Arm voller Rosen, und ging in die Halle eines großen
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Hotels, wo ich eine Freundin treffen wollte. Als ich mich nach ihr umsah, stand plötzlich der junge Khedive vor mir. Sein Gesicht war reifer und ernster geworden, aber die graublauen Augen hatten das gleiche unbeschreibliche Leuchten, als strahlte aus ihnen die ganze Sonne Ägyptens. Vor Verwirrung ließ ich meine Rosen fallen, und wir mussten beide lächeln. Das erste Wort, das er zu mir sagte, war: ‚In Ägypten sind die Rosen noch viel schöner.‘“ May nahm die Einladung Abbas Hilmis, nach Ägypten zu kommen, an und sollte während der nächsten gut zwölf Jahre in dessen Harem leben. Am Nil konnte das Paar zunächst nur heimlich heiraten, denn die Mutter des Khediven war gegen die Ehe mit einer „Ungläubigen“. May, als Kind ohne religiöse Bindung erzogen, nahm nun den Islam als Glauben an und nannte sich fortan Djavidan. Erst 1910 konnte die offizielle Trauung stattfinden, und aus May Gräfin Török von Szendrö wurde die „Hanum-Effendi“, die „Gattin des Herrn“ und Vizekönigs von Ägypten. Was auf den ersten Blick anmutet wie ein Märchen aus „Tausend-und-einer-Nacht“, entpuppt sich bei näherer Betrachtung als ein Leben in schroffen Gegensätzen: einerseits größter Reichtum und unendliche Prachtentfaltung, andererseits das strenge religiöse und höfische Zeremoniell, wonach Frauen vom offiziellen Leben ausgeschlossen blieben. Es gilt als einer der großen Verdienste von Djavidan, dass sie in ihrem 1930 erschienenen Buch „Harem“ mit vielen Vorurteilen und falschen Bildern von den „Häusern der Glückseligkeit“ (wie die „Haramliks“, die Harems auch bezeichnet wurden) abrechnete; dies war ihr nicht allein auf Grund eigener Anschauung, sondern vor allem nach eifrigen Islam-, Geschichts- und Sprachstudien möglich. Doch so sehr sie sich auf ihr Leben am ägyptischen Hof auch vorbereitet hatte – im Kern war sie doch eine aufgeklärte und emanzipierte Europäerin geblieben. „Mein Ton einer Sklavin gegenüber fiel vollkommen aus dem usuellen Rahmen. Trotz der Respektsbezeugungen und der tiefen Verbeugungen blieb ich für diese menschlich-petrefaktierten Haremswesen nur eine verblüffende Zufallserscheinung, und da sich
menschlich mit mir sprechen ließ, hatte man innerlich keinen Respekt vor mir. Ich sank sofort in der Achtung jeder Sklavin, wenn ich ihr gestattete, sich in meiner Gegenwart zu setzen, auch wenn ich für gereichte Gegenstände dankte.“ Erschwerend kam wohl hinzu, dass die Ehe zwischen Djavidan und Abbas Hilmi kinderlos geblieben war; und den letzten Anstoß zur Trennung dürfte Abbas Hilmis Liaison mit der Pariser Tänzerin Andrée de Lusange gegeben haben, die der ehemalige Getreue und Hilmi-Berater Clemens von Arvay 1928 so geißelte: „Der Khedive machte im Sommer 1913 in Paris die Bekanntschaft einer jungen, blonden, sehr gut bemalten ‚Dame‘ minderen Ranges. Diese Person wusste ihn so zu fesseln, dass sie ihn schließlich ganz beherrschte. Ein psychologisches Rätsel! (…) Er, der verschwiegene und schlaue Diplomat (…) vertraute ihr alles an, zeigte ihr chiffrierte Staatsdepeschen, fragte sie in den wichtigsten Angelegenheiten um Rat und wurde ein willenloses Werkzeug in den Händen dieser raffinierten Person. (…) Sie trug auch die Schuld, dass Prinzessin Djavidan den Khediven verließ (…) und dass sich seine treuesten Freunde und ergebensten Angestellten von ihm abwandten.“ Nach der Trennung kehrte Djavidan Hanum nach Österreich zurück, ließ sich in Wien nieder und gründete ein „Schönheitsinstitut“, das sie mit dem Erlös aus dem Verkauf von Juwelen, Kleidung und Silber finanzierte, und dessen Klientel sich aus Damen der „höchsten“ und „besten“ Gesellschaft Wiens zusammensetzte. In diese Zeit fallen auch Djavidans Kontakte zu Künstlern wie etwa dem Schriftsteller Robert Musil, dem Pianisten Eugen d’Albert, dem Dichter Gerhart Hauptmann oder dem Autorenpaar Otto und Gina Kaus. Bei Eugen d’Albert nahm Prinzessin Djavidan Klavierunterricht; in einem Empfehlungsschreiben des Pianisten heißt es (später): „Prinzessin Djavidan Hanum hat in Wien längere Zeit bei mir studiert und ihr Klavierspiel hat mich stets interessiert. Ich hörte sie erst vor kurzem wieder und konnte große Fortschritte konstatieren. Ich kann sie in jeder Weise empfehlen, sie ist heute eine ausgezeichnete Pianistin.“
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Ab 1920 lebte Djavidan Hanum in Berlin. Sie verfasste Hörspiele, komponierte und gab Klavierkonzerte, schrieb Erzählungen und publizierte in verschiedenen Tageszeitungen, etwa in der „Vossischen Zeitung“ und in der „Neuen Berliner Zeitung“. Mit dem Buch „Harem“ aber errang sie 1930 ihren größten Erfolg; 37 Rezensionen erschienen dazu. Bald wurde „Harem“ in mehrere Sprachen übersetzt, und Gerhart Hauptmann schrieb ihr dazu:
Auch Simon Kulatschkoff konnte sich in Berlin als Sänger und Schauspieler etablieren. In dem 1928 produzierten Film „Der Zarewitsch“ spielte er den Adjutanten des Zaren. In Berlins gehobener Gesellschaft jener Zeit war es en vogue, sich mit Spiritismus und mit Hellseherei zu beschäftigen, und so war Kulatschkoff auch als Graphologe und Astrologe tätig; gelegentlich soll er sogar der Polizei bei der Suche nach Verschwundenen geholfen haben.
„Gnädigste Prinzessin! Haben Sie Dank für die Übersendung Ihres Buches, das ich auszugsweise kannte. Es zeigt Sie, und zwar sehr entschieden, als Schriftstellerin von Rang …“
Prinzessin Djavidan und Simon Kulatschkoff lebten fortan zusammen, wenn auch in getrennten Wohnungen; und sie verkehrten in höchsten Gesellschaftskreisen, in die sich mitunter aber auch mediokre Figuren mischten. So waren die beiden häufig zu Gast im Haus des polnischen Rittmeisters Sosnowski, der für seine eleganten Feste samt honorigen Gästen berühmt war. Allerdings wurde er später als hochkarätiger Spion enttarnt und verhaftet. Er hatte sich – mit Hilfe zweier bestochener bzw. erpresster Sekretärinnen im Reichswehrministerium, nota bene bereits 1934 – den deutschen Aufmarschplan gegen Polen besorgt. Ausgerechnet am Abend der Razzia war Djavidan Hanum nicht unter Sosnowskis Gästen.
1921, in Danzig, hatte Djavidan Hanum eine weitere Begegnung, die ihrem Leben erneut eine entscheidende Wendung geben sollte. Zu Besuch auf dem Landgut einer Freundin traf sie mit Simon Kulatschkoff zusammen, einem zaristischen Offizier, der aus der weiß-russischen Armee geflohen war und als Landarbeiter auf dem Gut beschäftigt wurde. Kulatschkoff fiel Djavidan auf, weil er ganz abgemagert war und kaum Deutsch sprach. Sie konnte etwas Russisch und nahm ihn schließlich mit nach Berlin, wo sie ihm eine Gesangsausbildung finanzierte und behilflich war, seinen ursprünglichen Beruf, die Schauspielerei, wieder auszuüben. In Berlin kamen Djavidan Hanum und Simon Kulatschkoff auch mit dem Film in Berührung; in einem Zeitungsartikel schrieb Djavidan: „(…) Als Statistin habe ich schon mitgefilmt, das heißt als Edelkomparse. Ich habe Pariser Toiletten, und bei Gesellschaftsszenen stehe ich ganz vorne. Ich komme auch immer in den Apparat hinein. Der Schminkfrau gebe ich zehn Mark, man muss doch etwas für die Kunst tun! Sie schminkt mich dafür volle zwei Stunden. Die Augenlider grün, das wirkt weicher als braun. Alle anderen müssen natürlich warten. (…) Nach dem letzten Film, ‚Die Wollust der sibirischen Nächte‘, wurde ich vom Regisseur, vom Aufnahmeleiter und vom Hilfsregisseur zum Souper eingeladen. Nicht zusammen (…) von jedem separat. (…) Jeder hat mir sein Herz ausgeschüttet. Doch davon will ich nicht sprechen – ich weiß, dass Diskretion die erste Vorbedingung ist, um Karriere beim Film zu machen (…)“
Zwischen 1936 und 1945 lebten Prinzessin Djavidan und Simon Kulatschkoff erneut in Wien. Hier schrieb Djavidan Hanum wieder für den Rundfunk und für Zeitschriften. 1942 veröffentlichte sie im Münchner Zinnen-Verlag ihr zweites Buch, „Gülzar – Der Rosengarten“, einen Band mit Erzählungen aus dem Orient. Auf das Heranrücken der Roten Armee an Wien, gegen Kriegsende, reagierte das Paar mit Flucht nach Innsbruck, in den äußersten Westen Österreichs – konnte doch Simon Kulatschkoff als ehemals zaristischer Offizier von den siegreichen Kommunisten nichts Gutes erwarten … In Tirol stellten die Franzosen die Besatzungsmacht und daher verdingte sich Djavidan Hanum bei der französischen Militärbehörde in Innsbruck als Dolmetscherin, zumal nach 1944, seit dem Tod Abbas Hilmis, jegliche Apanage aus Ägypten versiegte. Von zunehmenden ökonomischen Sorgen getrieben und auf Anraten von Freunden suchte Djavidan Hanum Kontakt zu Guido Orlando, dem damaligen „König der Reklame“ in Paris, einem schillernden Werbe-
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fachmann und Image-Berater, zu dessen Klientel gekrönte Häupter, abgehalfterte Filmstars, publicitysüchtige Millionäre und glanzlose Politiker zählten – und allen konnte er helfen, denn seine Kampagnen verursachten jeweils gewaltiges „Rauschen“ im Blätterwald … Und so rollte die internationale Presse des Jahres 1951 unter Titeln wie „Ich war Königin am Nil“ oder „Lieblingsfrau des Khediven sucht Stellung als Köchin“ oder „Filmrolle für Ägyptens entthronte Königin“ die Lebensgeschichte von Djavidan Hanum – nicht, ohne Wahrheit und Dichtung mehr oder weniger gut dosiert zu vermengen – noch einmal auf; zum Vergnügen der Leser, zum Wohlgefallen der Herausgeber und zur Genugtuung von Guido Orlando, dessen Honorar natürlich im Voraus fällig geworden war. In einer Wochenschau der Firma „Gaumont“ vom Frühjahr 1951 gibt es einen kurzen Bericht, dessen „Dramatik“ nur zu deutlich Guido Orlandos Handschrift trägt: „Wenn Königinnen davon träumen, Stars zu werden. – Diese anonyme Spaziergängerin lebt in einem sehr bescheidenen Pariser Hotel, führt ein mittelmäßiges, aussichtsloses Leben und muss im Alltag jeden Handgriff selbst besorgen; ab und zu erinnert sie sich an ihre glanzvolle Jugend: Prinzessin Djavidan war siebzehn Jahre lang Königin von Ägypten. Heute ist ihr nichts geblieben als die ruhmreiche Vergangenheit, doch vielleicht hat sie, trotz allem, eine glänzende Zukunft vor sich, denn ein Impressario will Probeaufnahmen mit ihr drehen: Die Königin von Ägypten spielt die Königin von Saba – welch ein Programm!“ In London wurden gerade die Dreharbeiten für den Film „Queen for a Day“ vorbereitet, dessen Hauptrolle Gloria Swanson angenommen hatte; die Story handelte von einer Putzfrau, die in einen Wettbewerb gerät und „versehentlich“ dazu auserkoren wird, die Rolle einer Königin zu spielen. Guido Orlando rief sofort den Produzenten an, und – schwupp! – am folgenden Tag stand in den Zeitungen, dass Gloria Swanson durch die „echte Königin“ Djavidan Hanum ersetzt werden solle. Aus den Probeaufnahmen wurde jedoch nichts, denn die Prinzessin erhielt kein Visum für England. Nachdem der Rummel verebbt
war, blieb, außer ein paar Tantiemen, nur wenig übrig; und so gingen Djavidan und Kulatschkoff zurück nach Innsbruck, wo sie bis zum 15. März 1952 lebten. (Ihre polizeiliche Abmeldung erfolgte jedoch erst am 13. Jänner 1953.) Djavidan zog nun zu Verwandten auf Schloss Hainfeld in der Steiermark, wo sie und Kulatschkoff zwei Jahre lang lebten, ehe sie nach Graz gingen und – wie stets – in getrennten Appartements wohnten. Noch auf ihre alten Tage begann die Prinzessin mit der Malerei; ihre winzige Wohnung, so berichteten Zeitzeugen, sei über und über – „bis ins Klo“ – voller Bilder gewesen. Sie nahm auch ihr Klavierspiel wieder auf und übte vehement, gelegentlich nachts, manchmal zum Verdruss ihrer Nachbarn, die Kulatschkoff dann besänftigen musste. Als Prinzessin Djavidan Hanum am 8. August 1968, drei Tage nach ihrem Tod, auf dem St.-LeonhardFriedhof in Graz beigesetzt wurde, folgte dem Sarg nur eine kleine Trauerschar, darunter Studenten aus dem Orient, die von der nahegelegenen Universität eilig hinzu gebeten wurden, weil niemand sonst wusste, wie nach islamischem Ritus die Gebete zu sprechen seien. Ihr schmuckloser Grabstein trägt nur ihren Namen – keine Jahreszahlen, keine Ortsangaben … An der Wand des Grazer Hauses Wittekweg 7, ihres letzten Wohnortes, prangt seit vier Jahren, da „Graz – Kulturhauptstadt Europas 2003“ auch unbekannte Grazer Frauen ehrt, eine Tafel, auf der zu lesen steht: Zur Würdigung von Djavidan Hanum (1877 – 1968) Künstlerin Geboren in den USA, aus ungarischem Adel, heiratete sie einen ägyptischen Prinzen. Sie befreite sich aus Zwängen und zugedachten Rollen, sie schrieb und musizierte, sie komponierte und malte, war Weltbürgerin in Graz.
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Wozu Geisteswissenschaften?
Studienrichtungen und Institute werden aufgelöst, Förderungsmittel gestrichen und massive Forderungen nach mehr ökonomischer Effizienz erhoben: Es verstärkt sich insgesamt der Eindruck, dass Wissenschaften, darunter insbesondere die Geisteswissenschaften, zur Ware verkommen und beinahe nur mehr unter dem Gesichtspunkt der wirtschaftlichen Ertragsleistung gesehen werden. Doch wie soll sich die Wertschöpfung der Geisteswissenschaften in finanziellen Erträgen messen und beurteilen lassen? Helmut Reinalter über Kultur als Sinnsystem. Nicht selten wird der Standpunkt vertreten, auf den Luxus von wissenschaftlichen Disziplinen, die als „Orchideenfächer“ bezeichnet werden, könne man verzichten, weil sie keinen materiellen Gewinn und nur einen geringen Nutzen für die Gesellschaft bringen. Immer häufiger wird heute geklagt, dass die Geisteswissenschaften in der Gesellschaft nicht die entsprechende Beachtung finden, die sie eigentlich aufgrund ihrer Leistungen verdienen würden. Zweifelsohne haben sie ein Akzeptanzproblem und Schwierigkeiten in ihrer Präsentation nach außen. Sie leiden unter bestimmten Beeinträchtigungen, die z. T. von überholten Methoden, mancherlei Orientierungsfehlern bis hin zum Problem ihrer überspezialisierten Fehlinstitutionalisierung reichen. Geisteswissenschaften bewegen sich grundsätzlich im Spannungsfeld zwischen Wissenschaftsanspruch und außerwissenschaftlicher Interessen, denn sie wollen auch der Humanität, der Bildung, der Lebenspraxis und der Emanzipation in der Welt dienen. Wie keine anderen Disziplinen sind die Geisteswissenschaften heute herausgefordert, ihre gesellschaftliche Bedeutung zu begründen. Dabei können sie als „Ideenlaboratorium“ neue Denksysteme und -modelle und den schon längst fälligen interkulturellen Vergleich in Forschung und Lehre entwickeln. Wie bedeutsam zeitgenössische Denkmodelle auch für lebensweltliche
Anliegen sind, ist heute weitgehend unumstritten. Die Systeme des Denkens bilden gleichsam den Boden der Diskussion, den die Geisteswissenschaften fach- und fakultätsübergreifend zu führen haben. Die Geisteswissenschaften könnten als Kristallisationspunkt einer neuen Selbstverständnisses der Wissenschaften über ihre Rolle in der modernen Welt dienen. Ihre aktuelle Bedeutung zur Orientierung in komplexen Gesellschaften, ihre Aufklärungs- und Bildungsfunktion sowie ihre ethischen Grundlagen zu verantwortungsvollem Handeln in der Gesellschaft sind heute nach wie vor ungebrochen. In diesem Zusammenhang von einer „Krise der Geisteswissenschaften“ zu sprechen, ist in gewisser Weise berechtigt, es bringt aber die Diskussion über sie im Prinzip nicht weiter, wenn nur lamentiert wird und sich Geisteswissenschaftler in die Resignation begeben. Angesagt sind eine gründliche Analyse der schwierigen Situation und die gleichzeitige Entwicklung von Ideen und Konzepten, wie man aus der angeblichen Krise wieder herauskommen kann. Genaugenommen stecken die Geisteswissenschaften eigentlich in einer doppelten Krise: einerseits werden sie durch hochschulpolitische Maßnahmen und einem utilitaristischen Ökonomismus bedroht, andererseits ist diese Krise auch in den eigenen Reihen feststellbar. Beide Szenarien hängen eng zusammen.
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Bedeutung der Geisteswissenschaften Es zählt heute zu den wichtigen Aufgaben der Geisteswissenschaften, eine Theorie der Kultur zu entwickeln, die in Bündelung der verschiedenen methodischen Ansätze das „Grundsätzliche“ klärt. Vorarbeiten dazu kommen aus verschiedenen Disziplinen, es fehlt aber nach wie vor eine differenzierte und interdisziplinär angelegte Synthese. Verschulung und eine Marginalisierung der Geisteswissenschaften sind Tendenzen, die diese wichtige Aufgabenstellung behindern und daher zu beseitigen wären. Da die Wissenschaften insgesamt verstärkt zur Lösung gesellschaftlicher Probleme beitragen sollen, wie von der Öffentlichkeit gefordert wird, kommt hier den Geisteswissenschaften ein besonderer Stellenwert zu, der häufig übersehen wird. Grundsätzlich sind die Geisteswissenschaften grenzüberschreitend, disziplinenübergreifend (Jürgen Mittelstraß), integrativ und dialogisch ausgerichtet. Sie sind eigentlich Reflexionswissenschaften, und ihre Bedeutung liegt vor allem in der Theoriebildung über historisch-kulturelle Wirklichkeiten, in der realitätsprägenden Kraft und in ihrer aufklärerisch-ideologiekritischen Funktion. Die Geisteswissenschaften sind in ihrem Programm einer aufgeklärten, reflexiven Moderne verpflichtet, auch gegen Argumente, die heute die Aufklärung und Moderne als angeblich gescheitertes Projekt grundsätzlich in Frage stellen. Zweifelsohne ist das Projekt der Aufklärung und Moderne unvollendet, trotzdem bleibt seine Bedeutung für die Weiterentwicklung unserer Gesellschaft aufrecht.1 In der Aufklärung liegt der Ursprung der Moderne, deren Anfänge aber bis in die frühe Neuzeit zurückreichen. 1 Vgl. dazu Helmut Reinalter, Aufklärung und Geisteswissenschaften, in: Die Geisteswissenschaften im Spannungsfeld zwischen Moderne und Postmoderne, hg. von Helmut Reinalter und Roland Benedikter, Wien 1998, S. 145 ff.; Helmut Reinalter, Ist die Aufklärung noch ein tragfähiges Prinzip? Mit einem Beitrag von Michel Foucault, Wien 2002; Helmut Reinalter, Reflexive Aufklärung, in: Conturen 1 (2006), S. 64 ff.
Zwischen ihr und der Moderne gibt es einen engen Zusammenhang, zumal das Projekt der Aufklärung im Rahmen der Modernisierung gesehen werden muss. Die im 18. Jahrhundert geschaffenen Grundlagen der modernen Wissenschaft und Ökonomie, die im 19. Jahrhundert weiterentwickelt wurden, stellen heute offenbar irreversible Prozesse der Mechanisierung, Industrialisierung und Urbanisierung dar. Aufklärung und Moderne sind allerdings nicht unbedingt deckungsgleich. Die Aufklärung schätzt den Charakter der neuen Zeit z. T. falsch ein und konzipiert diese nach dem Modell der alten Welt als einen geschlossenen Kosmos mit Anfang und Ende, Einheit und Ganzheit, Sinn und Ziel. Das zwiespältige Verhältnis unserer Gegenwart zur historischen Aufklärung erklärt sich auch aus dem Spannungsverhältnis zwischen Modernisierung und Aufklärungsprojekt. Das Projekt der Aufklärung lässt sich zwar innerhalb der Modernisierung immer wieder beginnen, ob es aber abgeschlossen werden kann, ist fraglich. Eher ist die Aufklärung ein bis heute unvollendetes und aufgrund des spezifischen Charakters der Moderne vielleicht auch ein unvollendbares Projekt. In dieser Paradoxie liegt wahrscheinlich seine anhaltende Aktualität, mit der Erwartungen und Enttäuschungen verbunden sind. Aus ihr resultieren auch die verschiedenen Bemühungen, eine neue Aufklärung als Denkmodell gegen den Fundamentalismus zu entwickeln. In diesem kritischen Verständnis von Aufklärung, das heute als „reflexive Aufklärung“ (Helmut Reinalter) verstanden wird, geht es um Aufklärungs- und Vernunftkritik und um neue Ansätze zu einer differenzierteren Betrachtungsweise der Aufklärung im Spannungsverhältnis zwischen Moderne und Postmoderne. Was im Hinblick auf den Fundamentalismus für die Geisteswissenschaften dringend erforderlich erscheint, ist die Konzipierung einer „reflexiven Aufklärung“, die die unverzichtbaren Grundlagen der historischen Aufklärung kritisch weiterentwickelt.
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Geisteswissenschaften als Kulturwissenschaften Ein neuer Problemkomplex ist heute durch die Diskussion über Kulturwissenschaften entstanden. Es geht hier im Wesentlichen um die Frage, inwieweit sich die Geisteswissenschaften als Kulturwissenschaften verstehen können. Dazu zählt auch die schwierige Frage nach dem Verhältnis der Geisteswissenschaften zu den Naturwissenschaften. Zwar hat der Begriff „Kulturwissenschaften“ heute Konjunktur, aber das traditionelle Konzept der Geisteswissenschaften (ein Kampfbegriff aus dem 19. Jahrhundert) ist in Zeiten des raschen kulturellen Wandels und tief greifender globaler Veränderungen nicht mehr ganz überzeugend. Heute haben sich zwei Ansätze in den Kulturwissenschaften entwickelt: ein praktisch orientierter (berufliche Schlüsselqualifikationen) und ein methodologisch-theoretischer, der von einem umfassenderen Verständnis von Kultur ausgeht. Schon seit einiger Zeit erfährt das Phänomen Kultur an den Universitäten einen erstaunlichen Aufschwung. In verschiedensten wissenschaftlichen Disziplinen ist eine Rück- bzw. Neubesinnung zu beobachten. Die Gründe für diese Renaissance sind verschieden. Meist sind es theoretische, wissenschaftsinterne Ursachen, aber auch lebensweltliche Bezüge und praktisch-berufsorientierte Interessen. Auch mit der Globalisierung der Wirtschaft entwickelt sich parallel dazu ein verstärktes Interesse an Kultur, weil diese sich zunehmend mit kulturellen Unterschieden und vermehrt mit interkulturellen Kommunikationsschwierigkeiten konfrontiert sieht. Das starke Interesse an Kultur ist nicht nur auf den Bereich der Wirtschaft beschränkt. Ob diese Entwicklung allerdings das Entstehen von Kulturtheorien beeinflussen kann, ist ungewiss. Die „kulturwissenschaftliche Wende“ vollzieht sich nicht nur durch administrative Vorgaben und ökonomische Zwänge, sondern reagiert auch auf einen inneren Innovationsschub der Wissenschaften. In diesem Zusammenhang sollte man sich allerdings von den Kulturwissen-
schaften die verloren gegangene Einheit nicht erhoffen, zumal die disziplinären Einheiten durch Anstöße von außen aufgebrochen wurden. Die dadurch gewachsene Internationalität ist nichts anderes als eine nachholende Normalisierung, die in den Naturwissenschaften schon längere Zeit als Standard gilt. Strukturell gibt es die Einheit durch den unausweichlichen Diskurscharakter der Kulturwissenschaften nicht mehr. Kulturen als Sinnsysteme Kulturen werden heute immer stärker als Sinnsysteme gesehen, die für Identitätsideologien einer Gesellschaft als Wert erscheinen. Der Kultur kommt als sinngebendes Symbolsystem einer Gesellschaft eine bedeutende Stellung im Bemühen um das Verständnis lebensweltlicher Erfahrungen und ihrer Konfliktproblematik zu. Innergesellschaftlich könnte man die Kulturwissenschaften, wenn sie im Grundsatz über bestimmte Zielsetzungen einig sind, als „Vermittlungsinstanz“ zwischen Universität, Lebens- und Arbeitswelt sowie Politik verstehen. Es geht dabei nicht um eine Ansammlung von Kursbüchern oder Fahrplänen, welche die Richtung bestimmen, sondern darum, mit Hilfe des breiten Erfahrungsschatzes der Kulturwissenschaften und den daraus gewonnenen Einsichten in aktuelle Problemsituationen und Erfahrungen verlässliche Orientierungskonzepte und ethisch vertretbare Handlungsempfehlungen zu entwickeln. Man kann von den Kulturwissenschaften allerdings nicht verlangen, verlorene durch neue Sinnsysteme zu ersetzen. Der Begriff „Kultur“ ist trotz vielfältiger Bemühungen nicht eindeutig zu definieren, weil darunter eine Vielfalt unterschiedlicher Forschungsrichtungen in den Geisteswissenschaften subsumiert und häufig auch als ein Sammelbegriff für einen offenen und interdisziplinären Diskussionszusammenhang verwendet wird.
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Mit dem Leitbegriff der „Kultur“ wird heute in verschiedenen geisteswissenschaftlichen Disziplinen nach neuen Möglichkeiten und Wegen der Erkenntnis gesucht. In diesem Zusammenhang müssen mehrere Richtungen unterschieden werden, wie z. B. die deutschen Kulturwissenschaften im traditionellen Sinn des 20. Jahrhunderts, die „Cultural Studies“ britischer und amerikanischer Prägung und die aus der Schule der Annales, der Phänomenologie oder dem Poststrukturalismus hervorgegangenen französischen Strömungen (auf die im Folgenden nicht weiter eingegangen wird). Cultural Studies Die Entstehungsgeschichte der „Cultural Studies“ ist durch die Arbeiten ihrer Gründer Richard Hoggart, Raymond Williams und Edward P. Thompson bekannt. Von Anfang an vertraten sie als Gruppe auf der Basis eines praktisch-intervenierenden Denkens einen sozialen und politischen Reformanspruch und entwickelten einen sozial nach unten erweiterten Kulturbegriff. In den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts öffneten sich die „Cultural Studies“ unter Stuart Hall gegenüber strukturalistischen, poststrukturalistischen und marxistischen Einflüssen und begannen, sich neu auszurichten und zu formieren. Bemerkenswert war an diesem Prozess ihre thematische, methodische und interdisziplinäre Vielfalt. Im Zuge dieser Entwicklung haben sich bei ihnen im Laufe der letzten Jahrzehnte einige Themen- und Interessenschwerpunkte herausgebildet, wie z. B. Phänomene der Massenkultur und Kulturindustrie, Konsum- und Freizeitverhalten unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen, Medien und medial vermittelte Kommunikationsformen, alltägliche Lebens- und Handlungszusammenhänge, in denen sehr unterschiedlich symbolisch vermittelte Bedeutungen entstanden sind, Rassismus, Geschlecht, Ethnizität und Nationalismus als Instrumente der Identitätspolitik sozialer Gruppen, die Folgen der Globalisierung, Massenmigration und Postkolonia-
lismus, Ambivalenzen der Modernisierung und Aufklärung, offene und z. T. versteckte Formen kultureller Hegemonie sowie Marginalisierung von Minderheiten und unterprivilegierten Gruppen, um hier nur die wichtigsten Problemfelder zu erwähnen. Lorence Grossberg hat im Zusammenhang mit den „Cultural Studies“ besonders auf das Moment der Praxis als zentrale Kategorie der transdisziplinären Disziplin hingewiesen und betont: „Ich glaube, dass es möglich ist, ‚Cultural Studies‘ als eine bestimmte Art von intellektueller Praxis zu beschreiben, als eine bestimmte Art der Verkörperung des Glaubens, dass das, was wir machen, wirklich Bedeutung haben kann. ‚Cultural Studies‘ politisieren die Theorie und theoretisieren die Politik.“ 2 Bei allen Themen stehen „ein dezentrierter Blick auf die Gesellschaft“, die Vielfalt, Pluralität, Andersheit und Differenz im Zentrum des Interesses. Politik wird zwar nicht marginalisiert oder gar ganz ausgeklammert, tritt aber gegenüber Strukturen und Realitäten einer Mikro-Politik in den Hintergrund. Mit dieser Auswahl an Schwerpunkten war ein politischer Aufklärungsanspruch eng verbunden, der die wichtige Brückenfunktion zwischen Theorie und Praxis einnahm. Dieser ganze Prozess floss auch in Strukturelemente der Kulturwissenschaften ein und prägte diese in entscheidender Weise. Im Gegensatz dazu entwickelte sich der Diskurs der Kulturwissenschaften im deutschsprachigen Raum anders, da sich diese ansatzweise von der Tradition der Geisteswissenschaften langsam zu lösen begannen. Von entscheidender Bedeutung war hier die Auseinandersetzung mit „den geschichtsphilosophischen und den sozial- oder bildungselitären Implikationen 2 Friedrich Jaeger, Die Geschichtswissenschaft im Zeichen der kulturwissenschaftlichen Wende, in: Phänomen Kultur, hg. von Klaus E. Müller, Bielefeld 2003, S. 213.
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des Geistbegriffs als Integrationsinstrument eines heterogenen Spektrums von Disziplinen, die sich als Kulturwissenschaften nun neu zu definieren und zu positionieren versuchen.“ 3 Kulturwissenschaften in der Diskussion Die Diskussion in Deutschland über die Kulturwissenschaften reicht bis in das frühe 20. Jahrhundert zurück. Max Weber hat damals auf der Grundlage eines neukantianisch geprägten Kulturbegriffs die Kulturwissenschaften als Reaktion auf die Herausforderungen der Lebenspraxis gesehen und sie dementsprechend ausgerichtet. Ihm ging es vor allem um den Anschluss der Wissenschaften an die Probleme der Modernisierung und Gegenwart. Mit den Kulturwissenschaften scheint man, wie die aktuelle Diskussion zeigt, leichter ein neues inhaltliches und interdiziplinäres Profil, das verstärkt gefordert wird, zu gewinnen, als mit den traditionellen Geisteswissenschaften. Trotz der Differenzen zwischen „Cultural Studies“ und Kulturwissenschaften gibt es, wie der aktuelle Diskurs zeigt, auch Gemeinsamkeiten, wechselseitige Beeinflussungen und Rezeptionen. Dazu gehören die Interdisziplinarität, die zu den gemeinsamen Elementen der verschiedenen kulturwissenschaftlichen Richtungen zählt, der praktische Orientierungsanspruch und die Erweiterung des Kulturbegriffs. Die kulturwissenschaftlichen Strömungen der Gegenwart verdeutlichen ein diffuses Feld von internationalen Entwicklungen und Milieus, Forschungsstrategien und Methodenkonzepte. Genau hier droht der Begriff „Kultur“ zu einem Allgemeinplatz zu degenerieren, der keine analytische Trennschärfe aufweist. Hinter dem Begriff „Kulturwissenschaften“ steht eigentlich keine neue Disziplin im Sinne einer Einheitswissenschaft, sondern ein Oberbegriff, der die traditionellen geisteswissenschaftlichen Disziplinen umfasst und sie zunehmend stärker interdisziplinär vernetzt. Aller3 Ebd., S. 213.
dings erhebt sich in diesem Zusammenhang die Frage, was dann unter Kultur zu verstehen ist und worin der theoriestrategische oder disziplinpolitische Vorteil dieser neuen Kategorie gegenüber dem Begriff des Geistes besteht. „Wenn der Begriff der Kultur nicht zu einer Leerformel werden soll, muss er als ein theoretisch-integrativer Kern eines neuen Forschungsparadigmas entfaltet werden.“ 4 Allgemein kann auf der Grundlage der vorläufigen Diskussionsergebnisse festgestellt werden, dass Kulturwissenschaften als eine multiperspektivische Einführung in einen interdisziplinären Diskurszusammenhang Möglichkeiten und Probleme einer kulturwissenschaftlichen Erneuerung der Geisteswissenschaften durch produktive Grenzüberschreitungen, Internationalität, Perspektivenvielfalt und Pluralisierung der kulturwissenschaftlichen Themenfelder verstanden werden können. Sie sind keine Einzelwissenschaft, „sondern eine Metaebene der Reflexion und eine Form der beweglichen Verschaltung, vielleicht auch eine Steuerungsebene für die Modernisierung der Geisteswissenschaften.“5 Die Kulturwissenschaften befinden sich heute in einer ambivalenten Situation. Einerseits gewinnen sie zunehmendes Gewicht für die Prozesse der kulturellen Deutung und Orientierung gegenwärtiger Gesellschaften und dies nicht zuletzt im Kontext der interkulturellen Verständigung in einer globalisierten Welt. Auf der anderen Seite ist ihr fachliches, theoretisches und methodisches Selbstverständnis trotz intensiver Bemühungen keineswegs hinreichend erklärt. Darüber hinaus gibt es keine Übereinstimmung in der Frage, ob die Kulturwissenschaften im Sinne einer einheitlichen Disziplin institutionalisiert, oder ob sie 4 Ebd., S. 216. 5 Ansgar Nünning – Vera Nünning (Hg.), Konzepte der Kulturwissenschaften. Theoretische Grundlagen – Ansätze – Perspektiven, Stuttgart – Weimar 2003, S. 5.
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in der Pluralität teils traditioneller und neuer Fachwissenschaften betrieben werden sollen. Es existiert heute ein großes Unbehagen am aktuellen Stand des kulturwissenschaftlichen Diskurses, insbesondere an zu eng geführten Themenstellungen, die Kulturwissenschaften entweder auf Probleme kultureller Identitäten festlegen und sie vorwiegend auf „Gender Studies“ und „Race Studies“ konzeptualisieren, oder andererseits durch weitgehende Entkoppelung von kultur- und gesellschaftsanalytischen Fragestellungen, die aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen – wie Wirtschaft, Arbeitswelt und technischer Wandel – weitgehend ausklammern. Das Feld der Kulturwissenschaften hat sich seit den 1980er Jahren schnell und weitreichend entwickelt. Zunächst nur als eine „Avantgardeströmung“ am Rande der traditionellen geisteswissenschaftlichen Disziplinen angesiedelt, ist sie in der Zwischenzeit beinahe zu einem „mainstream“ geisteswissenschaftlicher Forschung und Lehre geworden. Das zunehmende Interesse an den Kulturwissenschaften ist zweifelsohne auch das Ergebnis des „cultural turn“, der „kulturellen Wende“ der letzten Jahrzehnte und dies insbesondere in den Geistes- und Sozialwissenschaften. Manifest Geisteswissenschaften Carl Friedrich Gethmann, Jürgen Mittelstraß, Dieter Langewiesche, Dieter Simon und Günter Stock haben 2005 ein Manifest „Geisteswissenschaften“ 6 verfasst, wo sie darauf hinweisen, dass „die Geisteswissenschaften ihre derzeitigen eigenen Orientierungsprobleme überwinden, mit denen sie sich häufig selbst als Teil jener Probleme moderner Kulturen erweisen, zu deren Bewältigung sie eigentlich da sind.“7 6 Vgl. dazu Geisteswissenschaften. Das „Manifest Geisteswissenschaften“, in: Information Philosophie 1 (2006), S. 47 f.; Manifest Geisteswissenschaften, in: Der Tagesspiegel 29. 11. 2005, Frankfurter Allgemeine 4. Januar 2005. 7 Geisteswissenschaften, in: Information Philosophie 1 (2006), S. 47.
Die Geisteswissenschaften der Zukunft sind, nach Ansicht der Autoren des Manifests, auf transdisziplinäre Wissensformen ausgerichtet, weil sie nicht auf einen festen Bestandteil etablierter Fächer beschränkt werden können. Vor allem müssen die Geisteswissenschaften das Gespräch mit der Gesellschaft suchen und den Dialog führen. Ausdrücklich wird gefordert, dass die Geisteswissenschaften eine Rückkehr zum Forschungsbegriff Immanuel Kants vornehmen sollten. Die unter dem Begriff „Kulturwissenschaften“ eingeschlagene Richtung bezeichnen die Verfasser als einen Holzweg, weil es notwendig wäre, zum idealistischen Modell der Geisteswissenschaften zurückzufinden. Da der Gegensatz zwischen diesen beiden Modellen nicht deutlich genug erkannt werde, „bleibt es bei Mischformen, die einen wesentlichen Teil der gegenwärtigen systematischen und institutionellen Schwächen der Geisteswissenschaften ausmachen.“ Die Autoren lehnen auch die Zwei-Kulturen-Konzeption (Natur- und Geisteswissenschaften) und die von Hermann Lübbe und Odo Marquard vertretene Kompensationstheorie prinzipiell ab. Geisteswissenschaften werden nicht als Orientierungswissenschaften gesehen, obwohl sie es mit der kulturellen Form der Welt zu tun haben – eine Aufgabe, die nur durch transdisziplinäre Forschung und Lehre geleistet werden kann. Dieses Manifest hat bei seiner Präsentation in Berlin keine besondere Resonanz gefunden, weil ihr sperriger Stil und der Bezug auf Kant und Hegel kritisiert wurden. In diesem Zusammenhang wurde darauf hingewiesen, dass die lebenswissenschaftliche Wende für die Geisteswissenschaften neue Forschungsgebiete erschließen könne.
Besetzung
Clemens Aufderklamm, Innsbruck w Wien: Drehbuchautor, Schauspieler, Regisseur. Studium der Politikwissenschaft, Schauspielstudium, Ausbildung zum Drehbuchautor in Los Angeles. Ferdinand Cap, Payerbach (NÖ) w Innsbruck: Physiker. Schon während des Studiums Spezialisierung auf theoretische Physik. Anschließend Berufung an die Uni Innsbruck, einer der weltweit geachtetsten Forscher Österreichs. 1954 Forschungsauftrag der amerikanischen Regierung auf dem Gebiet der Kernkräfte. Im Auftrag der NASA berechnete Cap 1957 gemeinsam mit dem Innsbrucker Mathematiker Gröbner Bahnen zum Mond. 1966 –1975 österreichischer Vertreter im wissenschaftlichen Weltraumausschuss der Vereinten Nationen. International hoch beachtete Publikationen zum Forschungsschwerpunkt Plasma- und Energiephysik. Zuletzt: „Ein Ende der Religionen? Naturwissenschaftliche und religiöse Weltbilder“ (Studienverlag, Innsbruck). Johannes Huber, Bruck / Leitha w Wien: Gynäkologe, Theologe. 1973 – 1983 Erzbischöflicher Sekretär von Kardinal König. Seit 1992 Leiter der Abteilung für Gynäkologische Endokrinologie und Sterilitätsbehandlung an der Universitätsklinik für Frauenheilkunde in Wien. Vorstandsmitglied zahlreicher Organisationen u.a. der Österreichischen Gesellschaft für Sterilität, Fertilität und Endokrinologie. Seit 2001 Vorsitzender der Bioethik-Kommission der Österreichischen Bundesregierung. Verfasser von mehr als 500 wissenschaftlichen Arbeiten und Lehrbüchern auf dem Gebiet der gynäkologischen Endokrinologie. Vorträge im In-und Ausland. Barbara Hundegger, Hall w Innsbruck: Schriftstellerin. Studium der Germanistik, Philosophie und Theaterwissenschaft. Auszeichnungen und Preise: Großes Tiroler Literaturstipendium, Österreichisches Staatsstipendium für Literatur, Christine-Lavant-Lyrikpreis, Reinhard-Priessnitz-Preis. Buchpublikationen (Auswahl): rom sehen und. gedichte (Innsbruck 2006, Skarabaeus); kein schluss bleibt auf der andern. theatertext (Innsbruck 2004, Skarabaeus). Ivona Jelcic, Innsbruck w Innsbruck: Kulturredakteurin. Studierte vergleichende Literaturwissenschaft und Französisch in Innsbruck. Urs Mannhart, Rohrbach w Bern: Schriftsteller. Liebt Birchermüesli und Rennräder mit gemufften Stahlrahmen. Veröffentlichte bisher zwei Romane: „Luchs“ (2004) und „Die Anomalie des geomagnetischen Feldes südöstlich von Domodossola“ (2006), beide im Bilger-Verlag Zürich. Plant weite Reisen, wird aber den Pass zu Hause vergessen.
Philipp Mosetter, Schramberg / Schwarzwald w Frankfurt und Wien: Schrift- und Darsteller. Gründete 1989 „Das monolithische Theater“; Stücke, Dramolette, Monologe: u. a. 107 tragische Vorfälle; Faust Schiller oder Verrat, Verrat und hinten scheint die Sonne; Ausstellungsbeteiligung an der Oberösterreichische Landesgalerie zum Thema „Scheitern“ (Eröffnung am 20. Juni 2007). Thomas Nußbaumer, Hall w Telfs: Volksmusikforscher, Musikwissenschaftler. Seit 1995 am Institut für Musikalische Volkskunde der Universität Mozarteum Salzburg in Innsbruck. Zahlreiche Publikationen, u. a. „Alfred Quellmalz und seine Südtiroler Feldforschungen 1940 –1942. Eine Studie zur musikalischen Volkskunde unter dem Nationalsozialismus“ (Studienverlag, Innsbruck 2001). Helmut Reinalter, Innsbruck w Innsbruck: Historiker. Studium der Geschichte und Philosophie an der Universität Innsbruck, Dr. phil. 1971, Habilitation aus Geschichte der Neuzeit 1978. Forschungsaufenthalte in Frankreich, England, Italien, Deutschland, Tschechien, Rußland, Polen und USA. Gastprofessor in Aix-en-Provence, Salzburg, Krakau und Luxemburg. Univ.-Prof. an der Universität Innsbruck seit 1981. Leiter des Privatinstituts für Ideengeschichte. Mitglied des Club of Rome, der „Commission Internationale d’Histoire de la Révolution francaise“ an der Sorbonne in Paris I, des Akademischen Rates der Humboldt-Gesellschaft sowie der Europäischen Akademie der Wissenschaften und Künste. Alice Riegler, Bozen w Bozen: Studium in Florenz, seit 2003 am Institut für Genetische Medizin der Europäischen Akademie. Peter Sandbichler, Kundl w Wien: Bildender Künstler. Ausstellungen (Auswahl): „Floating Maze“, Festival der Regionen OÖ (2007); „No Access“, Kiesler Foundation, Wien (2007); Galerie Pascale Vanöcke, Paris (2006); „PubliCity – constructing the truth“, Duisburger Akzente, in Zusammenarbeit mit knowbotic research (2006); ARCO, Projekt Space, Madrid (2006); „Variable Stücke“, Galerie im Taxispalais, Innsbruck; „United we hack“, The New Museum New York (2002), in Zusammenarbeit mit knowbotic research; 46. Biennale di Venezia, Österreichischer Pavillon: „Kanal“, mit Constanze Ruhm (1995). Hans Schabus, Watschig w Wien: Bildender Künstler. Studium an der Akademie der Bildenden Künste, Wien; Einzelausstellungen (Auswahl): 2007: „Hans Schabus“, SITE Santa Fe, New Mexico; 2006: „Innere Sicherheit“, Kasseler Kunstverein, Kassel; 2005: „Das letzte Land“, Biennale di Venezia, Österrei-
chischer Pavillon, Venedig; 2004: „Das Rendezvousproblem“, Kunsthaus Bregenz; 2003: „Astronaut (komme gleich)“, Secession, Wien; „Der Schacht von Babel“, Kerstin Engholm Galerie, Wien; „Transport“, Bonner Kunstverein. Ausstellungsbeteiligungen u. a. Liverpool Biennial of Contemporary Art, Kunstverein Hannover, Malmö Art Museum, Alvin Balkind Gallery Vancouver, Galerie Anne de Villepoix Paris. Heinz Trenczak, Graz w Köln: Filmemacher und Drehbuchautor. Musikstudien in Salzburg und Köln, zehn Jahre lang TV-Redakteur (WDR-Fernsehen / Musik). Derzeit: Vorbereitungen für die Verfilmung seines Drehbuches über Djavidam Hanum. Martin Widschwendter, Innsbruck w Los Angeles (USA), London (GB): Krebsforscher und Gynäkolo-
ge. Leitung am BrustGesundheitZentrum in Innsbruck. 2-jähriger Forschungsaufenthalt in Los Angeles und seit Oktober 2005 Chirurg und Wissenschafter für frauenspezifische Krebserkrankungen (Clinical Lecturer for Breast and Gynaecological Cancer) am University College London. Robert Woelfl, Villach w Wien: Schriftsteller. Für seine Theaterstücke erhielt er u. a. den Reinhold-LenzPreis für neue Dramatik und den Autorenpreis der deutschsprachigen Theaterverlage. Zuletzt uraufgeführt wurde im Dezember 2006 am Staatstheater Stuttgart das Theaterstück „Ressource Liebe“, das in diesem Jahr auch vom ORF als Hörspiel produziert wird. Robert Woelfls Theaterstücke erscheinen im S. Fischer Verlag, u. a. „Dem Herz die Arbeit, den Händen die Liebe“, „Kommunikation der Schweine“.
Quart Heft für Kultur Tirol
Herausgeber: Kulturabteilung des Landes Tirol Anschrift der Redaktion: Circus, Kochstraße 10, A-6020 Innsbruck, office@circus.at Abobestellungen und Anzeigen: Haymon Verlag, Erlerstraße 10, A-6020 Innsbruck T 0043 (0)512 576300, order@haymonverlag.at, www.haymonverlag.at Chefredaktion: Heidi Hackl, Andreas Schett Geschäftsführer / Verleger: Markus Hatzer Mitarbeiter dieser Ausgabe: Clemens Aufderklamm, Ferdinand Cap, Johannes Huber, Barbara Hundegger, Ivona Jelcic, Urs Mannhart, Raimund Margreiter, Philipp Mosetter, Thomas Nußbaumer, Helmut Reinalter, Alice Riegler, Peter Sandbichler, Hans Schabus, Heinz Trenczak, Martin Widschwendter, Robert Woelfl Kuratoren: Ruedi Baur, Othmar Costa, Karin Dalla Torre, Eduard Demetz, Georg Diez, William Engelen, Martin Gostner, Helmut Groschup, Franz Hackl, Hans Heiss, Stefanie Holzer, Sebastian Huber, Gabriele Kaiser, Otto Kapfinger, Walter Klier, Martin Kofler, Gustav Kuhn, Christoph Mayr-Fingerle, Milena Meller, Walter Methlagl, Wolfgang Mitterer, Walter Niedermayr, Dominique Perrault, Wolfgang Pöschl, Robert Renk, Arno Ritter, Benedikt Sauer, Benno Simma, Gerhard Steixner, Vitus H. Weh, Lois Weinberger, Maria Welzig u. a. Konzeption /Gestaltung der linken Seiten: Hans Schabus Visuell-editorisches Basiskonzept: Walter Pamminger Farbkonzept: Peter Sandbichler Grafische Realisation: Circus. Büro für Kommunikation und Gestaltung – Michaela Wurzer, Klaus Mayr Druck: Alpina Druck GmbH, Innsbruck Verwendung der Karte „Tirol–Vorarlberg 1:200.000“ auf den Seiten 40 /41 mit freundlicher Genehmigung von Freytag-Berndt u. Artaria KG, Kartografische Anstalt. Sämtliche inhaltlichen Beiträge dieses Heftes sind Ersterscheinungen, Auftragswerke, Uraufführungen. ISBN 978-3-85218-548-4 © Haymon Verlag, Innsbruck–Wien 2007 Alle Rechte vorbehalten.