Quart Nr. 12

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Quart Heft für Kultur Tirol Nr. 12/08 E 12,–






K E L L E R E I

S T. M I C H A E L

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E p p a n

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A r c h i t e k t u r

Wa l t e r

A n g o n e s e

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I n t e r v e n t i o n

M a n f r e d

A l o i s

M a y r


Fotografie:Günter Richard Wett

HALOTECH L I C H T F A B R I K

I N N S B R U C K


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Quart 12.indd 10

14.07.2008 16:15:52 Uhr


Inhalt

„Diese war am Anfang bei Gott“ Wendelin Schmidt-Dengler untersucht die „Bibel in gerechter Sprache“

78–85

Peter Kogler Originalbeilage Nr. 12

86/87

12–15

Landvermessung No. 2, Sequenz 7 Vom Hochjoch bis zum Reschensee Thomas Ballhausen und die Reinschrift des Herzens

88–97

Das Risiko, verstanden zu werden Philipp Mosetter findet ein Inserat, aber nicht zu sich selbst

16–21

„Man muss froh sein, dass es das gibt“ Protokoll einer Reise mit dem Roten Kreuz. Von Gottfried Rainer 98–105

EOOS in Kramsach Oder: die Phänomenologie der Eckbank

22–33

Daniel Buren Couverture

1– 7

Halotech Lichtfabrik

8/9

Spiegelbild: Inhalt Inhalt Vergeblichkeit der Meisterschaft Walter Grond über das flüchtige Werk des Daniel Buren

Traumstadt Meran Kafka, ABBA, Mengele – über das besondere Klima in Meran. Von Ulrich Ladurner

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Eigenwerbung

Schuberts Gefährte Franz Gratl über einen fast Vergessenen: Johann Chrysostomus Senn 108–119 34–41

An der Oberfläche kratzen Johanna Bodenstab besucht Nobelpreisträger Mario Capecchi 42–53 Living in a box Jörg Zielinski fotografiert mit einer Lochkamera die Gegend Gutachten. Diesmal: Stress Vier Entspannungsversuche von Gertrud Spat, Ulrich Ott, Oliver Welter und Andreas Kriwak

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Hypo Tirol Bank Höfle Offsetdruckerei

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Tirols Architekten und Ingenieurkonsulenten Tirol Werbung

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Swarovski Kristallwelten BTV

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Besetzung Impressum

126 127

54–67

68–77

Daniel Buren Couverture

128–132


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Vergeblichkeit der Meisterschaft

Daniel Buren hat das Cover für dieses Heft gemacht. Walter Grond über das flüchtige Werk des großen französischen Künstlers. Hervorstechend ist Daniel Burens künstlerisches Werk durch eine besondere Signatur, die er verwendet, nämlich 8.7 cm breite vertikale Streifen. Er bezeichnet sie als visuelle Werkzeuge, von ihrer Form her invariabel, und doch jedes Mal verschieden, mit denen er den Raum vermisst, und die es dem Betrachter ermöglichen sollen, alle anderen Elemente einer Ausstellung, einer Installation oder Intervention im öffentlichen Raum zu sehen.

stört er sich aber auch nicht daran, wenn man ihn als Maler sehen will, lässt letztlich jede Definition, welchem Bereich der Skulptur, der Malerei oder der Architektur sein Werk hinzuzurechnen ist, mit überzeugender Gelassenheit offen. Und wenn er sich vor Jahren von Duchamp distanzierte, erstattet er doch seit ebenso vielen Jahren der Moderne die Subtilität des Dekorativen und der Schönheit, der sie sich versagte, ohne sie jemals hinter sich zu lassen, zurück.

Dass Buren von der Farbe als dem eigentlich lebendigen Denken in der Kunst spricht, ja die Farbe als das benennt, was nicht gesagt (mit Worten festgemacht) werden kann, erinnert mich an eine Äußerung des Schweizer Künstlers Jörg Niederberger, der meinte, für ihn sei Farbe weder Ersatz noch Ergänzung von Sprache, er wolle nichts erzählen, sondern trage die Farbe ungebrochen und unverhüllt auf die Leinwand auf. Dabei ist Niederberger – wie auch Buren – durchaus kein Purist, was die Wahl seiner künstlerischen Mittel betrifft. Niederberger vermischt malerische und bildhauerische Mittel, spielt mit Kontexten.

Daniel Buren ist ein künstlerischer Nomade. Er arbeitet vor allem in situ, dort, wo seine Arbeit zu sehen sein wird, sei es im öffentlichen Raum (im Palais Royal in Paris etwa, wo 1986 das begehbare Kunstwerk Les Deux Plateaux entstand; oder jüngst 2006 die Haltestellen der Linie 2 der Straßenbahn in Mülhausen im Elsass) oder in Museen, wo er – die Architektur und Umgebung des Gebäudes bemessend – Ausstellungen baut, die am Ende wieder zerstört werden.

Auch Buren, der große französische Konzeptkünstler, der heuer siebzig Jahre alt wurde, bezeichnet sich gern als Bildhauer (seine Farbkompositionen und Installationen also als Skulpturen), und führt uns Farben in ihren Dimensionen und Formen vor, über die außerhalb der Sprache des visuellen Objektes nicht mehr gesprochen werden kann. Zugleich verlagert er die Farbe in den dreidimensionalen Raum und wertet den Betrachter radikal auf, indem er beispielsweise mittels durchsichtiger Folien auf Glasplatten, die mit jeder Standortveränderung Farben erscheinen und verschwinden lassen, Farbe allein im Auge des Betrachters entstehen und zerstören lässt. Burens Farben sind also rein und zugleich persönlich. Wenn er sich selbst als einen Bildhauer bezeichnet,

Buren konzipiert also sein Werk so sichtbar wie flüchtig und dokumentiert (wenn auch unmöglich, weil undokumentierbar) all die Stationen mit Photo-Souvenirs in Katalogen und auf seiner Website. Er schafft Paradoxien, weil sein Denken von Paradoxien angezogen und geprägt ist, vom Anfang seiner Staffelmalerei über sein grafisches Werk bis zu seiner Malerei als Skulptur. Im Jahr 2002 etwa verwirklichte Buren die Ausstellung Les Couleurs Traversées im Kunsthaus Bregenz. Seine Arbeit erfasste alle drei Geschosse des Hauses und bezog sich auf die komplexe Gebäudearchitektur von Peter Zumthor, auf dessen Kunstgriff, Tageslicht in sämtliche Obergeschosse zu leiten, und nun dem Haus, wie Buren schreibt, einerseits das Aussehen eines Eisblocks zu verleihen, dessen Farbe sich im wechselnden Sonnenstand ändert, andererseits mittels transparenter Glasschindeln eine Art Innenleben


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der Ausstellungsräume erahnbar zu machen. Zugleich hatte Zumthor sämtliche Wände in jedem Geschoss für die Kunst nutzbar gemacht, er konzentrierte also alle Blicke auf die ausgestellten Arbeiten und nicht auf die Architektur. Buren bezog seine Ausstellung auf die Leistung dieser Architektur als einer Art idealen Raum für die Kunst. Als Raster verwendete er die Glastafeln an der Decke, mittels derer Zumthor Tageslicht ins Innere der Ausstellungsräume lenkt, und variierte nun seine Durchdringung von Farben in den 3 Stockwerken, organisierte die transparenten und transluziden verschiedenfarbigen Plexiglaswürfel im 1. Obergeschoss vertikal als Pfeiler, die er im Rhythmus der Deckenrasterung anordnete und von innen heraus beleuchtete. Im 2. Obergeschoss vervielfältigte er die Farben zu einem unermesslichen Raum, indem er in derselben Anordnung der Pfeiler im 1. Obergeschoss die Glastafeln an der Decke mit Folien in verschiedenen Farben überzog und die Wände des Saales mit Spiegeln verkleidete. Der Vertikalen Ausrichtung im 1. Obergeschoss stellte er also im 2. Obergeschoss die Vorstellung gegenüber, dass „wir uns vollständig im Inneren einer geschlossenen Kiste befinden“, während er schließlich im 3. Obergeschoss Cabanes éclatées (gesprengte Hütten) aufbaute, gleichsam das Ergebnis von Konstruktion und Dekonstruktion, die Mischung der Farben, eine Installation aus ineinander verschachtelten Wänden, die zugleich Außen- wie Innenwände sind, ein Labyrinth, das man durchschreitet, und das immer im Fokus der Deckenwand steht. Burens Spiel mit Paradoxien, das sich den Themen Licht, Raum, Farbe, Bewegung und Konstruktion widmet, führt das Museum als sakralen Raum vor und thematisiert die Notwendigkeit und zugleich Fragwürdigkeit des Raumes für zeitgenössische Kunst. Womöglich ist über die Welt nicht mehr zu sagen als die Formen, Farben und Strukturen ausdrücken, und wenn dieser formale Aspekt künstlerischer Aktivität das Zentrum der Betrachtung ist, schwingt eben die Vergeblichkeit der Meisterschaft stets mit: im Kunstraum, den Buren wie ein Renaissancemeister bespielt, wird nicht mehr das unverrückbare Fresko an die

Wand gemalt, sondern am Ende des Konzentrationsaktes die Ausstellung wieder abgebaut, und der Raum einem weiteren Künstler übergeben. Und: es sind anthropozentrische Regeln, die diesen Raum durchdringen, das Vertikale und das Horizontale durchmischen sich im dritten Auge zur menschlichen Behausung. Wie sähe also der ideale Raum für Kunst aus? Burens Antwort (die er wiederholt künstlerisch gestaltet): Es ist unmöglich, einen idealen Raum für eine noch unbekannte Kunst zu imaginieren. In ihre Autonomie entlassen, verwehrt sich die Kunst der Vereinnahmung, ein intelligenter Raum für Kunst kann nur einer sein, der es der Kunst gestattet, ihn in Zweifel zu setzen. Modernistische Kunst bleibt ein Projekt der Aufklärung. Oder wie es Eckard Schneider, der ihn 2001 in Bregenz befragte und den Katalog zur Ausstellung herausgab, formulierte (da er sich bei den gesprengten Hütten an Bilder von Ucello und an Darstellungen des Mont Sainte-Victoire bei Cézanne erinnert fühlte): in Daniel Burens Werk passiert ein eminentes Zusammentreffen von Empirismus und Konstruktion. Er ist ein virtueller Künstler, der mit seinen Photo-Souvenirs, die er als Stütze und Irreführung für das Gedächtnis zugleich beschreibt, das Ortspezifische seiner künstlerischen Arbeit im virtuellen Raum konterkariert. Und Buren bleibt schließlich ein Konzeptkünstler, der uns vorführt, dass die zeitgenössische Kunst weniger in ihren Werken, als in ihren Institutionen das Bleibende schafft. Insofern kennzeichnet seine Signatur der Streifen bereits sein Werk, mit dem er den öffentlichen Raum kennzeichnet: Streifen mit denen er interveniert, auf dass der Blick sich öffne für den Ort und seinen Kontext: Affichage sauvage, work in situ, Paris, 1968; 25 Porticos: the color and its reflections, permanent work in situ, Odaiba, Tokyo, 1996; Prière de toucher, permanent work in situ, Marseille, 2000; D’un cercle à l’autre: le paysage emprunté, permanent work in situ, Luxembourg, 2005; tappeto volante, situated work, Turin, 2005; La ligne rouge, work in situ, Tianjin, China, 2005 …


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Das Risiko, verstanden zu werden

Neulich in einem Innsbrucker Kaffeehaus: Philipp Mosetter findet ein Inserat und versteht die Welt (nicht mehr). Gleich beim ersten Entdecken wurde ich von einer lange nicht mehr gekannten inneren Temperatur erfasst. Ich fühlte mich plötzlich zu Streit aufgelegt. Das hatte ich schon lange nicht mehr. Sofort wollte ich mutig zu Stift und Papier greifen und öffentlich die Herausforderung annehmen. Die schönsten Tiraden und elegantesten Wendungen taten sich vor mir auf. Als hätte ein Unachtsamer seine noch glimmende Zigarette in eine Kiste voll Feuerwerkskörper geworfen, schossen mir Erleuchtungen und Rechthabereien durch den Kopf, dass es nur so eine Freude war. Mir war, als hätte mich eine seltene Muse geküsst. Und all das nur wegen einer einzigen Vokabel in einer kleinen Kleinanzeige, irgendwo im Anzeigenfriedhof auf Seite XY einer unbedeutenden Provinzzeitung versteckt. Nur ein einziges Wort, noch nicht einmal ein existierendes, sondern ein seltsam verbogenes Kunstwort, funkte mir solcherart und unvermittelt in meine geruhsame Zeitungslektüre: „Männerversteherin“. In diesem Wort fasst sich eine ganze Epoche gesellschaftlicher Entwicklung zusammen. „Männerversteherin!“ Und liefert gleichzeitig ein seltsames Zerrbild von dem, was ursprünglich – zur Geburtsstunde der Emanzipation – einmal gedacht und diskutiert wurde. Und noch während ich mich frage, ob ich, als Mann, überhaupt ein Recht habe, zu sagen, wie das damals alles gedacht gewesen war, flaniert auch schon ein Bild der Männerversteherin von heute vor meinem inneren Auge. Nein, ich kann nicht sagen, wie es gedacht war. Ich kann nur sagen, wie es heute aussieht. Es sieht aus wie eine Marktlücke. Männer machen nicht mehr die Probleme, sie haben jetzt Probleme. Und dann wird, ganz und gar unemanzipatorisch, die große mütterliche Brust zum Ausweinen angeboten,

eine allesverstehende Umarmung beerdigt den gerade erst in Fahrt gekommenen Konflikt. Möglicherweise ein kalkuliertes Spiel mit alten Rollenbildern und modernen Marketingmethoden. Wie auch immer, die Vokabel ist eine Herausforderung. Es ist noch nicht so lange her, da wurde in den Charts gefordert „Neue Männer braucht das Land“. Übrigens auch die Hymne der Frauenversteher von damals. Aber immer der Reihe nach. Möglicherweise ist es ja überhaupt das Vernünftigste, einfach die Nummer neben dem schönen Wörtchen „Männerversteherin“ anzurufen und die Dame einmal zur Rede stellen. Allerdings, wenn man sich unvorbereitet mit jemandem konfrontiert, der noch vor jeglicher Begegnung bereits für sich in Anspruch nimmt, dich zu verstehen, hat man leicht einmal das Nachsehen. Die Männerversteherin versteht mich ja schon, das muss ich erst einmal aufholen. Ich verstehe mich ja nicht, sonst würde ich ja nicht eine Michversteherin anrufen müssen. Da sollte man sich schon ein bisschen vorbereiten. Ich sollte mir das Wort wohl erst einmal genauer anschauen, bevor ich zum Telefonhörer greife und mich einem solchen Risiko aussetze, verstanden zu werden. Denn das wird unvermeidlich sein. Irgendwann werde ich anrufen, und die andere Seite wird mich unmittelbar verstehen. Der Rest der Zeit wird dann wahrscheinlich damit ausgefüllt sein, mir das Verstandene zu verdeutlichen, sozusagen beizubringen, so dass am Ende auch ich mich selbst verstehen kann. Bereits der erste Teil ist vielschichtig zu lesen: „Männer“. Vergessen wir nicht, es ist eine Anzeige, es soll also damit jemand angesprochen werden. Wahr-


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scheinlich Männer. Wie der weitere Text in der Anzeige zu präzisieren weiß, Männer mit Problemen. Unklar bleibt jedoch, ob hier eine Unterscheidung gemacht wird zwischen Männern mit Problemen und Männern ohne Probleme, oder ob eventuell Männer und Probleme synonym gelesen werden sollen, also dass Männer an sich Probleme haben, beziehungsweise sind. Wie auch immer, in jedem Fall haben wir es mit einer Frau zu tun, die sich auf Männer spezialisiert hat. Soviel lässt sich mit Gewissheit sagen. Der zweite Teil des Wortes macht dann noch ein paar weitere Dimensionen auf: „Versteherin“. Abgesehen von der Substantivierung, die so was Modisch-Lockeres hat und von dem noch gesondert zu sprechen sein wird, geht es offensichtlich um das Verstehen. Der Feststellung, etwas zu verstehen, ist die Behauptung implizit, dass es hier überhaupt etwas zu verstehen geben muss, dass also etwas Unverstandenes vorliegt. Ein Phänomen, das es zu verstehen gilt. Ein Geheimnis soll gelüftet, eine Entdeckung gemacht werden. Damit, und das ist der entscheidende Vorgang, wechselt die Deutungshoheit. Hatte bislang das Unverstandene noch die alleinige Macht darüber, wie es zu verstehen wäre (durch genau die Unverständlichkeit geschützt, die mit dem Verstehen jetzt geknackt werden soll), so muss das Unverstandene jetzt den Anspruch der Deutung an den Verstehenden (in unserem Fall: die Verstehende) abgeben. Wer von sich selbst behauptet: Ich verstehe!, reklamiert damit die Macht der Deutung für sich. Die Deutungshoheit wandert vom Zuverstehenden zur Verstehenden. Und damit gehorcht ab sofort das Zuverstehende den Gesetzen des Verstehenden (also in unserem Fall: der Verstehenden). Diese Aneignung verändert. Verstehen verändert. Damit aber noch nicht genug. Aus der Werbung kennen wir die Methode, durch Wortschöpfungen eine Alleinstellung am Markt zu erzielen. Auch die Männerversteherin ist so eine Wortschöpfung und macht sie sofort zu der Männerversteherin schlecht-

hin. Sie reklamiert für sich unangefochtene und allgemeingültige Kompetenz. Sie müssen schon entschuldigen, aber ich will vorbereitet sein, wenn ich da anrufe. Diese Sicht wirft ein gewisses Licht auf den Therapieansatz, der in dem Angebot enthalten ist. Er macht einerseits einen etwas selbstgestrickten Eindruck, so wie das Wort eben auch selbstgestrickt ist und vor allem Originalität und Kreativität beweisen will. Es wird wahrscheinlich recht locker und entspannt zugehen, möglicherweise ist man schnell beim Du, an der Wand werden Zertifikate von Workshops und diversen Vertiefungskursen hinter Glas prangen. Aber ich will nicht vorgreifen mit billigen Mutmaßungen. Noch habe ich ja nicht angerufen, ich bin ja erst bei den Vorbereitungen. Das Wort ist zwar selbstgebastelt, aber keineswegs neu. Schon in den späten 70er und frühen 80er Jahren des letzten Jahrhunderts entstand im Zuge der Frauenbewegung ein ähnlicher Begriff: der „Frauenversteher“, wie oben bereits erwähnt. Und das war damals keineswegs als Kompliment zu verstehen. Das waren gewissermaßen die Streber der Frauenbewegung. Da stellt sich schon die Frage, an welche Tradition hier angeknüpft werden soll. Natürlich hatten die Männer damals, und durchaus auch heute noch, mit dem Geschlechterkrieg so ihre Schwierigkeiten, so war die Sache ja auch gemeint. Das war ja kein Spaziergang, da wurde schon auch mit harten Bandagen gekämpft. Vor 30, 40 Jahren ging es noch rau und kompromisslos zur Sache, vielerorts wurde schlicht gefordert: „Schwanz ab!“ – egal jetzt mal warum. Natürlich versuchten einige den Anforderungen durch Mimikri zu entkommen, wie eben die Frauenversteher. Hat in der Regel aber nichts genutzt. Heute wird nicht mehr gestritten, heute wird verstanden. Der Konflikt hat sich ins Fernsehen verlagert. In Talk- und Reality-Shows werden die Meinungsträger aufeinander gehetzt, aber


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immer ist einer dabei, der versteht. So eine Männerversteherin wäre eine ideale Besetzung für die Couch in einer dieser Nachmittagssendungen mit Publikum. Sie kommt durch die Schwingtür, wird vom Moderator oder der Moderatorin begrüßt und muss gleich mal sagen, was denn so eine Männerversteherin ist. Sie würde beginnen mit einer Formulierung wie: „Ja nun, im Grunde ist es ganz einfach, Männer zu verstehen.“ Alle Spezialisten mit dem Hang zur Öffentlichkeit versuchen, über so einen Einstieg ihre Kompetenz zu untermauern. Während alle anderen sich im Alltag noch schwer tun, haben sie schon verstanden und können sich zurücklehnen, denn es ist im Grunde ja ganz einfach. Das Fernsehen ist überhaupt eine optimale Einrichtung, um die ganzen selbstgedrechselten Kompetenzen zu entsorgen. Unsere Männerversteherin wäre wie gesagt perfekt für solche Sendungen, denn sie hat unmittelbar die Gelegenheit, ihr Verständnis am lebenden Objekt unter Beweis zu stellen. Jetzt kann das Verstehen öffentlich und live demonstriert werden, die Diskussion wird hitzig, nur die Männerversteherin bleibt ganz ruhig, denn sie versteht ja. Wie gesagt, ich will vorbereitet sein, bevor ich dort anrufe. Inzwischen hat sich das Verstehen zum zentralen Element in unserer Konfliktkultur entwickelt. Es gibt kaum noch eine Möglichkeit, sich unverständlich zu machen. Alles wird begleitet von Leuten, die in jedem Fall verstehen. Der Versteher ist gewissermaßen der Paparazzo der Seele. Ein solcher Versteher (oder in unserem Fall: eine solche Versteherin) findet überall etwas zum Verstehen. Jede Geste, jeder Halbsatz, jede noch so kleine Vorliebe oder Abneigung wird sofort verstanden. Ja, es wird schwer werden, der Versteherin wieder das Verständnis von einem selbst zu entreißen. Zumal der lockere Tonfall, in dem dieses Kunstwort schwingt, ja deutlich signalisiert, dass sie Distanz zu ihrer Profession pflegt. So wie das Verstehen ist auch die selbstironische Distanz zum eigenen

Tun und zu den eigenen Überzeugungen Konsens und Ausdruck von coolness. Bevor ich anrufe, möchte ich mir noch schnell die ersten Sätze zurechtlegen. Ich könnte natürlich auch schweigend anrufen, nur meinen Namen nennen und dann in den Hörer hineinschweigen und ihr die Wahl des möglichen Problems überlassen. Mich sozusagen von ihren verstehenden Fragen führen lassen. Das wäre möglich. Jetzt, genau in diesem Moment kommt eine Dame zur Tür herein, steuert zielsicher auf die am Nebentisch bereits wartende Freundin zu, sie begrüßen sich lautstark und bewegungsintensiv, so dass eine der Handtaschen meine Kaffeetasse so wirkungsvoll umstößt, dass auf meiner Hose der denkbar ungünstigste Fleck entsteht. Ich hatte keine Chance zu reagieren. Ich versuche, ihn etwas abzutupfen, und als wäre nichts geschehen – das Missgeschick nur mit einem kurzen, beiläufigen Nicken bedenkend – beginnen die beiden sofort und in allen Einzelheiten einen Erfahrungsaustausch über die letzten Kurse, die sie offensichtlich gemeinsam oder parallel belegt haben. Sie sprechen vom „systemischen Ansatz“, von „Aufstellung“, lauter Psychologismen, dazwischen kurz von dem Neuen der Dings, der sogar beim Shoppen mitgeht, dann wieder Bewusstsein und Selbsterfahrung und überhaupt ist alles ungeheuer spannend. Da ich mich im Moment sowieso nicht wirklich frei bewegen kann, erst wieder, wenn der Fleck wenigstens ein bisschen abgetrocknet sein wird (aber es ist Kaffee, der Anblick wird nicht ästhetischer werden), habe ich mich entschlossen, lieber keine lautstarke Szene zu machen, bei der ich ohne Zweifel aufstehen müsste, um meine Anklage hervorzubringen und zu beweisen, was dann dem gesamten Kaffeehaus Gesprächsstoff liefern würde. So bleibe ich also sitzen, nehme mein Handy zur Hand, drehe mich ein wenig zur Wand und wähle die Nummer der Männerversteherin. Aber es meldete sich nur der Anrufbeantworter.


EOOS Kramsach Phänomenologie der Eckbank: Die Designer von EOOS, bekannt für ihre Zusammenarbeit mit Armani, Bulthaup oder Walter Knoll, forschen im Museum Tiroler Bauernhöfe.



Ein einfaches, mehr als zehn Meter langes Brett entlang der Stubenwand auf Sitzhöhe montiert. Warum dieser Möbelprototyp sowohl Probleme des „Universal Designs“ (Design, das generationentauglich ist) hervorragend löst, als auch zu dem Thema „Ökologischer Fußabdruck“ wertvolle Anregungen gibt, das erfährt EOOS im Museum Tiroler Bauernhöfe von dem erfahrenen Führer Michael Duftner. Wir sind hierher gekommen, um uns Eckbänke anzuschauen. Eckbänke haben wir nicht. Aber in den Stuben, da ist doch rundherum eine Bank? 24/25

Ich hab mir schon gedacht, das wird schwierig sein, weil Möbel haben wir nicht viel. Aber trotzdem, die Stuben werden interessant sein. Im Winter ist die Stubn der einzige Raum gewesen, wo sich die Menschen wärmen konnten. In den Stuben werden wir sehen, dass rundherum Bänke sind. In so einem Haus sind bis zu zwanzig Personen gewesen. Im Winter, da haben die Leute natürlich einen warmen Platz gebraucht. Wenn man durchs ganze Museum geht, dann werden Sie sehen: Null Mobiliar. Das ist super. Genau deshalb sind wir da. Die haben kein Kastl gebraucht, keine Vitrine für Geschenke oder Reiseandenken. Wir werden sehen,


nirgends ist ein Kasten drin. Ein Kasten wohl, aber der ist ein eingebauter Kasten. (Er betritt die Stube und bleibt neben dem Ofen gleich rechts neben der Tür stehen.) Meistens werden die Stuben, wir sagen „Stubn“, von der Küche aus beheizt, damit man einen rauchfreien Raum hat. Der Platz hinter dem Ofen hat „Hölle“ geheißen. Da hat sich einer aufhalten können. Gegenüber dem Ofen ist der „Herrgottswinkel“, so sagt man (deutet auf das Kruzifix, das gegenüber in der oberen Raumecke angebracht ist). Die Bänke sind etwas höher als man heute Möbel macht. Die Höhe der Bänke entspricht nicht der heutigen


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Sitzhöhe. Die ist viel höher als heute. So viel zu der Stube. Wollen Sie jetzt weitergehen? Was war das denn für ein Holzwerkstoff? Das war Fichte. Nur Fichte. Der Bauer hat den Baustoff genommen, den er am leichtesten erreichen konnte. Und das war in Tirol die Fichte. Die Fichte muss zur richtigen Jahreszeit gearbeitet werden. Da gibt es den Mondkalender mit eigenen Zeiten, wo das Holz nicht schwindet und sich nicht spaltet. Die Maße von dem Raum, sind die abhängig von der Länge der Bretter? Ja, das sind Maße, die sind abhängig davon, wie man die Balken fällt. In der Regel sind sie vier Meter, mit einem Zumaß, wenn man sie schneidet.

Ich sehe da eine Schublade unter der Bank! Das ist eine Schublade, ja. Da haben sie auch ihre Habseligkeiten gehabt und drinnen aufbewahrt. Im Tisch ist auch eine Schublade! Ja, das ist die Tischschublade. Zum Essen ist der Tisch mit einem Leinentischtuch bedeckt gewesen. Wenn man gegessen hat, dann hat man den Löffel einfach in das Tischtuch gewischt und dann unten wieder in die Lade gegeben. Gibt es eine traditionelle Sitzordnung auf der Bank um den Tisch? Na, eigentlich nicht. Die einzige Tischordnung ist: wenn der Hausherr genug gehabt und den Löffel weggelegt hat, dann hat auch das Gesinde zum Essen


aufhören müssen. Und das, obwohl die Knechte auch nicht so reichlich zum Futtern bekommen haben und so mancher sicher noch Hunger gehabt hat. Der Tisch ist doch eigentlich mobil. Kann der nicht auch woanders im Raum stehen? Der kann irgendwo anders stehen. Das Licht ist entscheidend, je nachdem, wo das Licht herkommt. Oder, wenn man gesagt hat, „heute möchte ich’s warm haben“, dann hat man den Tisch zum Ofen gerückt, das war möglich. Gegenstände, die wir entwerfen, werden meistens nach 5, 10 Jahren weggeschmissen. Wie ist es möglich, einen Gegenstand zu haben, den man hunderte Jahre aufhebt und hin und wieder repariert?

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Das ist die Tradition. Ich bin auch noch in der Generation, wo man nichts wegschmeißen will. Ich hebe die Sachen auch auf. Wenn zum Beispiel der Stuhl kaputt ist, und der Hof ist im hintersten Gebirge drinnen, dann müsste man zum Tischlermeister gehen, um den Stuhl zu reparieren. Der Bauer hat vieles, vieles selbst gemacht. Und hat das natürlich nicht weggeschmissen. Warum halten die Dinge so lange? Das ist was ganz Primitives. Schauen Sie einmal her. Die Füße sind durchgesteckt, und dann ist ein Keil hineingeschlagen, damit es hält. Durch die zwei übereinanderliegenden Bretter ist mehr Stabilität da, als wenn man nur eines verwenden würde. Damit ist es


eigentlich unverwüstlich. Gehen wir weiter … Diese Bank hier ist breiter, weil man sich hingelegt hat? Jo, da hat man sich hinglegt. Und was ist das? Das ist das „Kopfbankl“. (Herr Michael Duftner legt sich auf die Bank neben dem Ofen und senkt mit angestrengter Geste seinen Kopf direkt auf die Bank). Wenn man kein Kopfbankl hat, muss man sich strecken, und das ist für einen Menschen, der meinetwegen achtzig Jahre alt ist und sein ganzes Leben schwer gearbeitet und Kreuzweh hat, nicht angenehm. So kann er seinen Kopf drauflegen. (lacht). Das findet man fast in jeder Stubn. „Kopfbankl“ heißt das.

Was ist denn das? Ein Hocker? Das ist ein Kindersitz zum Tisch (er dreht das Objekt um, so dass man es erkennt). Auf die Bank hat man das draufgelegt, und das Kind hat dann essen können. Und dieser Fortsatz ist dazu da, dass es nicht kippen kann, wenn es auf der Bank ist. Nach vorne kann’s nicht, da steht es am Tisch an. Ganz eine interessante Sache. Das hat man heute verfeinert im Auto hinten drinnen, net? (lacht). Der Wandschrank ist der einzige Aufbewahrungsort? Ja, das ist das einzige Kastl, was wir da haben. Sonst ist nix da. Und was hat man da drinnen aufgehoben? Schnaps. (Alle lachen.) Ich weiß jetzt nicht, was sie


gehabt haben, aber Schnaps haben sie einmal sicher drinnen gehabt. Und vielleicht ein Medikament, eine Arznei, Schmier, was sie gebraucht haben. Und „Des Teufels Gebetbuch“. Kennen S’ das? Kennen S’ nicht. Das ist die Spielkarte. Des Teufels Gebetbuch ist die Spielkarte. Auch wieder was Neues gelernt. (lacht). Denn durch die Spielkarte ist so manches verloren worden, ganze Höfe. Ich kenn da eine Gschicht. Da hat ein Bauer, der viel verloren hat, die Tür zur Stube abgemessen. Fragt der eine: „Was tuast denn do?“ – „Ich möcht jetzt grod wissn, wie mei Hof da durch die Tür durchgangen ist!“ (Alle lachen.) Weil er ihn verspielt hat, net? 30/31

Die Bank hier, die besteht aus zwei massiven Brettern. Wie halten die zusammen? Die sind zusammengeleimt. Und das haltet ein paar hundert Jahre? Die sind stumpf zusammengeleimt. Mit Knochenleim, den man früher gehabt hat. Man sieht ja, dass die Bank ganz alt ist. Da, wo das Holz weich ist, sieht man schon die langen Gebrauchsspuren. Ob da jetzt ein Sessel oder eine Bank beim Tisch steht, hat das eine Bedeutung? Da steht eine Bank. Und sie werden sich beim Essen nie zurücklehnen. Beim Essen sitzt man immer so da (beugt sich über den Tisch). Und, wenn ich Karten


spiel, dann sitz ich auch so da. Und so lange ist man beim Essen früher nicht gesessen. Da ist man dann gleich wieder beim Arbeiten gewesen. Eigentlich ist das Haus ein Werkzeug. Ein Haus heute – da hat man ja ganz andere Vorstellungen und Bedürfnisse. Aber das hier ist wie ein Werkzeug. Früher, die „Urzelle“ war eine Grube mit schräg aufgeschichteten Stämmen als Dach. Wir haben eine Zeichnung davon gesehen, da konnte man auf einem Erdwall rundherum um das zentrale Feuer sitzen, eine Art „Urbank“ aus Erde. Seids jetzt enttäuscht, dass ihr keine Eckbänke gesehen habts?

Aber wir haben doch nur Eckbänke gesehen? (lachen) Für mich war a Eckbank sowas, was man hinstellen kann, so wie man es in jedem Möbelgeschäft zum Kaufen kriegt.


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Benn Kafka

Zweig

Pound

Fussenegger

Morgenstern

Karpow

Kortschnoi

Mรกrquez

Bennati

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Traumstadt Meran

Jede echte Leidenschaft ist ein Rätsel, und Rätsel wollen ergründet werden. Darum geht es hier: Wie kommt Meran zu so viel Liebe? Von Ulrich Ladurner Die Antwort der Touristiker ist klar: Klima, Vegetation, Sonne, Licht, Luft. Das mache Meran attraktiv. Doch diese Erklärung beschränkt sich auf Äußerlichkeiten. Das genügt nicht, um das Rätsel zu klären. Den Touristikern aber reicht die Zuneigung der Dichter. Franz Kafka, Stefan Zweig, Ezra Pound, Gertrud Fussenegger, Christian Morgenstern haben sich hier aufgehalten und haben in ihren Briefen, Gedichten und Romanen ein Lob auf die Stadt gesungen. Braucht man noch mehr Beweise? Offensichtlich ja, denn lokale Rechercheure sind damit beschäftigt, die Aufenthalte bekannter und weniger bekannter Künstler in Meran bis ins Detail zu ergründen. Sie wühlen hartnäckig in den Archiven, um Spuren zu finden, die sie hinterlassen haben, jeden Stein drehen sie um, und hinter jeden Baum und jeden Strauch werfen sie einen Blick. Könnte ja sein, dass der Künstler etwas von sich hinterlassen hat, und wenn es nur ein Buchstabe ist, den er entlang der rauschenden Passer spazierend verloren hat. Es wird alles gesammelt, was Merans Ruhm als Muse der Kunst belegen könnte. Und manches wird hinzugefügt. Gedichtzeilen auf Parkbänken, unter lauschigen Bäumen, Sinnsprüche auf den Parkplätzen, mitten im Smog, Reime über Reime, wo man sie nicht vermutet hätte. Das Beste, was den Rechercheuren geschehen kann, ist freilich, Spuren der Stadt in den Werken der Künstler zu finden. Also, wenn zum Beispiel der weltberühmte Gabriel Garcia Márquez hier gewesen wäre und in einem seiner liebestollen Bücher Meran auch nur eine hitzige Zeile gewidmet hätte, was denken Sie, was da los gewesen wäre? Meran hätte wohl ein dreitägiges Symposium zu dem Thema „Der Einfluss Merans auf die lateinamerikanische Literatur“ veranstaltet. Die Stadt hätte keine Kosten gescheut, die be-

rühmtesten Schriftsteller dieses Kontinents einzufliegen, selbst wenn sie im tiefen Feuerland lebten. Wenn es um Meran geht, scheut Meran keine Mühen. Meran lebt davon, sich als Traumstadt zu vermarkten. Wenn der dunkle Gottfried Benn sich hier wohl gefühlt hat, der sieche Kafka und der schräge Morgenstern, dann kann doch das ganze Spektrum der Menschheit in dieser Stadt sich einfinden. Meran will aus dem Image, ein Liebling der Dichter zu sein, möglichst viel Kapital schlagen. Das Poetische an der Liebe zu Meran ist darüber längst zum Glamour verkommen. Kafka, Benn, Zweig, Pound – das ist Namedropping in einem globalen Aufmerksamkeitswettbewerb. Meran selber produziert ja keinen Glanz. Oder gibt es etwa einen Meraner Bürger, dem der Glamour quasi natürlich eigen wäre? Keiner ist bekannt. Aus dem eigenen Inneren strahlt bei Meran wenig, nur die Sonne tut es von oben herab, und das 300 Tage im Jahr, wie in jeder Broschüre für Touristen zu lesen steht. Den Mangel an eigenem Glamour müssen andere ausgleichen. Da gab es zum Beispiel 1981 das Finale der Schachweltmeisterschaft zwischen dem linientreuen Sowjetrussen Anatoli Karpow und dem staatenlosen, exilierten Russen Anatoli Kortschnoi. Was war das für eine Show! Die beiden fochten stellvertretend für die Supermächte den Kalten Krieg am Schachbrett aus. 50.000 Zeitungsartikel sind über diese Weltmeisterschaft publiziert worden, 50.000 Mal erschien das Wort Meran, von Hammerfest bis nach Kapstadt, von Berlin bis nach Tokyo war es zu lesen. Das Turnier fand im Hotel Bristol statt, das selbst der Stein gewordene Wunsch nach glamouröser Größe war. Gebaut in den 50ern von dem italienischen Reeder Arnaldo Bennati sah es aus wie ein riesiger Luxusliner, der am Fuße der Berge für im-


Loren

Bormann

ABBA

Bormann

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mer angelegt hatte. Wie ein Eroberer entwarf Bennati auf dem Reißbrett seine großen Pläne. Er spürte das innerste Bedürfnis Merans und ging daran es zu befriedigen. Sophia Loren kam zur Eröffnung in das Bristol. Es folgten eine Reihe von Stars und Sternchen. Bennati zündete ein Feuerwerk. Das war nach dem Geschmack der Stadt. Trotzdem strandete der Reeder hier. Der Erfolg wollte sich nie richtig einstellen, schließlich ging das Hotel 1991 endgültig pleite. Bennati hatte das Richtige für Meran gemacht, doch hatte er die falsche Herkunft. Er war Italiener. Wie eine zickige Braut hatte ihn Meran zwar aufgenommen, aber nie recht in seine Arme geschlossen. Trotzdem, das Bristol half Meran, die Illusion aufrecht zu erhalten, im Mittelpunkt der Welt zu stehen. Der Kampf zwischen Karpow und Kortschnoi war ein Höhepunkt in der internationalen Karriere Merans. Das Duell der beiden Schachtitanen inspirierte die Musiker von ABBA, Benny Anderson und Björn Ulveaus, ein Musical namens „Chess“ zuschreiben. Es spielt in Meran und Bangkok und machte, wie sollte es anders sein, die kleine Stadt noch weltberühmter als sie ohnehin schon war. Meran, Meran, Meran. Vielleicht kommt man dem Rätsel der Liebe zu dieser Stadt näher, wenn man diesen Namen einfach wiederholt, so wie es ein Betender tun würde oder ein Werbefachmann. Meran, Meran, Meran – wer das nur lange genug leise nachspricht, wird sich fragen, ob die Stadt überhaupt existiert, oder ob es sich bei diesem Wort nicht eher um ein Mantra handelt, eine inhaltsleere Beschwörungsformel. Dafür spricht, dass die Künstler, die hier zu Gast waren, zwar über Meran schreiben, aber so gut wie nie über ihre Bewohner, die Meraner, ganz so als existierten sie nicht. Eine Stadt ohne Menschen ist Meran, gefüllt nur mit den Träumen seiner Gäste. Diese Menschenleere ist der tiefere Grund für die Sogkraft Merans, für ihre über alle Grenzen hinauswirkende Attraktivität. Darin liegt das Geheimnis der ihr entgegengebrachten in-

nigen Liebe. Niemand stört, kein Bauer, kein Arbeiter, kein Bürger. Nichts als Blumen und Blüten, nichts als Licht und Luft, nichts als Ruhe und Rast. Wer möchte da nicht kommen? Wer fühlte sich nicht angezogen durch dieses Paradies auf Erden? 1946 kam Gerda Bormann nach Meran. Europa lag in Trümmern, Meran nicht, weil es – das Glück verlässt die Stadt nicht – von der Gewalt des Krieges im Großen und Ganzen verschont geblieben war. Es gab nichts zu bombardieren, was der Mühe wert gewesen wäre. Es gab nie eine Front, die mitten durch dieses Gebiet gelaufen ist. Hier zogen nur die Soldaten durch, die in den Krieg mussten, und solche, die aus dem Krieg geschlagen zurückkamen. Viele blieben hier, um sich heilen zu lassen, so weit dies möglich war. Meran war in beiden großen Kriegen Lazarettstadt. Die Schrecken des Krieges hallten wider in den Klagen der Verwundeten, er zeigte sich in ihren stumpfen Augen, und wirkte fort in ihren zerstörten Seelen. Doch Meran als Stadt blieb verschont, unversehrt und unverletzt. Sie hatte Glück in dem großen Unglück der Welt. Sie behielt auch inmitten des Schlachtens etwas Unwirkliches, Traumhaftes. 1946 also kam Gerda Borman, gezeichnet vom Krebs und ohne Aussicht auf langes Überleben. Tatsächlich starb sie noch im selben Jahr. Sie war die Frau von Martin Borman, dem gefürchteten Leiter der Parteikanzlei der NSDAP. Die glühende Nationalsozialistin hatte sich einen Namen gemacht, weil sie sich öffentlich für die „Volksnotehe“ einsetzte. Demnach sollte es Männern erlaubt sein, mehrere Frauen zu heiraten. Notwendig sei dies nach Auffassung der gelernten Kindergärtnerin, um Deutschland „völkisch aufzustocken“. Gerda Bormann ging beispielhaft voran. Sie gebar dem nationalsozialistischen Deutschland zehn Kinder und förderte ihren Mann nach Kräften, wenn er sich daran machte, junge Frauen zu erobern. Sie beriet ihn dabei so gut sie konnte und es war wohl auch ihren Ratschlägen zu verdanken, dass Martin


Frank

Malloth

Mengele

Peron

Mussolini

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Bormann zu einem der bekanntesten und erfolgreichsten Schürzenjäger des Dritten Reiches wurde. Er verführte die Frauen unter ihren Augen. Warum ist Gerda Bormann nach Meran gekommen? Darauf gibt es keine klare Antwort. Wahrscheinlich, um hier in Ruhe sterben zu können. Die Stadt hatte durchaus den Ruf, sich als Versteck für flüchtige Nationalsozialisten zu eignen. Immerhin ließ sich nach dem Krieg auch Anton Malloth in Meran nieder, der Aufseher des Gestapogefängnisses in Theresienstadt gewesen war. Er lebte hier fast vierzig Jahre lang unbehelligt. Möglich ist aber auch, dass Meran für Frau Bormann nur eine Durchgangsstation sein sollte. Südtirol lag direkt auf dem Weg, den viele Nazis nahmen, um mit Hilfe des Vatikans nach Südamerika zu entkommen. Die amerikanischen Geheimdienste nannten diese Route die Rattenlinie. Meran war ein Ort, der sich ohne Probleme widerstandslos durchschreiten ließ. Er bot Schutz und öffnete ein Tor ins Freie. Meran war ein Traum, auch für Verbrecher. Dem Todesengel von Auschwitz, dem Arzt Josef Mengele, war die Flucht über die Rattenlinie gelungen. Über Genua floh er nach Südamerika. Ob er dabei durch Meran kam oder sich hier aufhielt, ist nicht geklärt. Doch gab es zwischen Meran und Mengele Verbindungen. Seine geschiedene Frau soll hier jahrzehntelang gelebt haben. Als Anfang der achtziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts verstärkt nach Josef Mengele gefahndet wurde, stand im Meraner Stadtviertel Obermais Tag und Nacht ein Wagen der Polizei. Darin saßen Beamte in Zivil. Angeblich überwachten sie das Haus der geschiedenen Frau Mengele. Vielleicht kam ihr ehemaliger Mann ja doch zu ihr, um sich zu verstecken. Doch das war eine leere Hoffnung. Mengele starb, wie sich allerdings erst Jahre später herausstellte, 1979 in Brasilien. Beim Schwimmen im Meer erlitt er einen Herzinfarkt und ertrank. Aus den Briefen und Dokumenten, die seine Familie freigab, ging hervor, dass er bis zum Schluss ein überzeugter Nationalsozialist geblieben war. Er bereute nichts.

Das Haus seiner ehemaligen Frau, das die Polizei observierte, lag nur knappe hundert Meter von einer Straße entfernt, die einen in diesem Zusammenhang bemerkenswerten Namen trägt: Anne Frank. Manchmal parkte der Wagen der Polizisten in dieser Straße. Die Beamten rauchten Zigaretten, langweilten sich, spähten durch die Wagenfenster auf die stille Straße und warteten auf ihre Beute. Was für eine Vorstellung: Der Todesengel von Auschwitz kommt entlang spaziert, während sich die Polizisten eine neue Zigarette anzünden. Er schaut sich um, liest den Straßennamen: „Anne Frank? Anne Frank? Wer ist das doch gleich?“ Er denkt nach, kramt in seinem Gedächtnis: „Anne Frank, Anne Frank, kommt mir bekannt vor, aber …“, dann geht er weiter, missmutig die Worte murmelnd: „Was ich nicht alles vergesse! Ich werde langsam alt!“ In diesen Moment springen die Polizisten aus dem Auto und rufen: „Josef Mengele! Sie sind verhaftet!“ Meran ermöglicht einem solche Fantasien. Selbst wenn sich ein Bewohner Merans solchen Vorstellungen entgegenstemmen würde, wenn er aufstehen und rufen würde: „Das ist alles tendenziöses Gerede!“, könnte man ihn sofort zum Schweigen bringen, indem man antwortete: „Beweisen Sie mir das Gegenteil!“ Gelänge dieser Beweis, wäre er nicht weniger glaubwürdig, als die Behauptung, die er zu widerlegen sich anschickte. Josefe Mengele entkam nach dem Krieg zuerst nach Buenos Aires. Das gelang ihm nur dank des Regimes eines Mannes, der eine Zeitlang in Meran gelebt hatte: Juan Domingo Peron, der argentinische Präsident mit ausgeprägten Sympathien für die Faschisten. Peron war zwischen Juli und September 1939 in Meran gewesen, als Militärbeobachter. Er stand bei den italienischen Geheimdiensten im Ruf zu spionieren. Dieser Verdacht bestätigte sich nicht, ganz im Gegenteil. Peron studierte mit größtem Interesse das Machtsystem Mussolinis. Als dieser auf der Piazza Venezia in Rom von seinem Balkon zu den Massen sprach, war Peron unter den Zuhörern. Später würde


Peron

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Peron von Balkonen seiner argentinischen Heimat flammende Reden halten, die denen von Mussolini in nichts nachstanden. Er war ein gelehriger Schüler des Diktators. Peron also war in Meran, doch hat er über die Stadt kaum eine Zeile geschrieben, obwohl er eine sehr ausführliche Korrespondenz mit seinen Kameraden der argentinischen Armee unterhielt. Er stieg auf die Berge, um Organisation und Arbeit der Gebirgsjäger zu studieren. Es sind ein paar Fotos von ihm erhalten, die ihn im Schnalstal zeigen. Ein lächelnder, groß gewachsener Mann in Pumphosen und mit Offizierskäppi. Er wirkt wie ein gut gelaunter, jovialer Offizier, der keinem Menschen etwas zu leide zu tun kann. Ein lebensfroher Mann, nichts verrät seine brennende Ambition, die ihn verzehrte. Peron arbeitete schon damals zielstrebig an seiner Karriere. Er wollte Präsident seines Landes werden. Das trieb ihn um. Während er in Meran weilte, Militärkarten musterte, sich mit Bewaffnung und Ausbildung der Gebirgsjäger beschäftigte, muss er sich in die Casa Rosada fantasiert haben, den argentinischen Präsidentenpalast in Buenos Aires. Wie würde es sein, dort zu residieren? Auch die Casa Rosada verfügte über einen Balkon, der für ihn wie für jeden Diktator von zentraler Bedeutung war. Es würde die Bühne sein, von der aus er die Massen in Verzückung setzen konnte. An seiner Seite Evita Peron, der Liebling Argentiniens. Peron ließ sich bei seinem Aufenthalt in Meran nicht ablenken, nicht einmal von einer der berühmtesten Attraktionen, den sogenannten Meraner Traubenkuren. Der Argentinier unterzog sich einer und schrieb darüber: „Ich mache eine Traubenkur, von der gesagt wird, dass sie in Meran wunderbar sei. Ich sehe das von der Kur versprochene ‚Mirakel‘ etwas skeptisch. Ich mache sie trotzdem, auch wenn ich mir sicher bin, dass sie keine Auswirkungen haben wird. Andrerseits, da ich nichts habe, was man kurieren müsste, werde ich auch nichts bereuen müssen, außer ich würde mich über die zwei Kilo wunderbarer Trauben beklagen, die ich hier täglich gegessen habe!“

Peron war kerngesund, und so gesehen eigentlich fehl am Platz, als er in Meran war. Denn die meisten Berühmtheiten, die hierher kamen, taten es, weil sie krank oder auf der Flucht waren. Meran ist eine ideale Stadt für die Siechen und Kranken. Peron aber war ein kraftstrotzender Offizier, der einer großen Zukunft entgegenstrebte. Was sollte er da mit Meran? Es war nicht mehr als eine zufällige Station in seinem Leben. Ob Trauben, Sonne oder Luft – das alles konnte ihn nicht beeindrucken. Und doch zog es auch ihn hin zu dem Traum Meran, oder besser: zu dem Meran, das einen zum Träumen bringen sollte. Die Rede ist von Pferderennen, die Peron mehrmals besuchte. Der Pferderennplatz war 1935 gebaut worden, vier Jahre vor Perons Aufenthalt. Auch dieser immense Platz, größer fast als die Stadt selbst, war dem Wunsch nach Geltung und Glanz geschuldet, der in Meran so allgegenwärtig war. Die „Lotteria di Merano“ wurde schnell zu einem der wichtigsten Pferderennen Europas. Heißblütige Araberpferde galoppierten über das Gras. Gäste aus aller Welt kamen. Die Zuschauer fieberten mit, sie schrien, kreischten und klatschten. Der arme Mann konnte hier vom plötzlichen Reichtum träumen und wer reich war, träumte vom Nervenkitzel, von dem Schauer, der ihn durchfuhr, wenn er große Summen verlor. Wer nur kam um zuzuschauen, konnte einen Nachmittag lang glauben, Teil einer Gemeinschaft zu sein, die den Traum hatte, einem wirklich großen, einem Geschichte machenden Rennen beizuwohnen. Peron, das kann man sich vorstellen, hielt seine Leidenschaften im Zaum. Als Offizier musste er Haltung bewahren. Wenn „sein“ Pferd gewann, lachte er wohl kurz auf. Mehr öffentlich gezeigte Regung ist nicht vorstellbar. Das Lachen des künftigen argentinischen Präsidenten, das der Zuschauer, die Ansagen aus den Lautsprechern – all das verebbte auf dem großen, weiten Platz, sobald die Pferde ihr Rennen gelaufen waren. Es machte sich Stille breit. Die Stadt war bereit für neue Träume.


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An der Oberfläche kratzen

Wie man die Gene einer Hausmaus lahmlegt. Warum man sich mit 70 Jahren freudig mit der Zukunft beschäftigt. Wie man eine Kindheit in Südtirol vergisst. – Johanna Bodenstab besuchte den Nobelpreisträger Mario Capecchi in seinem Labor in Utah. Auf dem Weg zu Capecchis Büro im George und Dolores Eccles Institut für Humangenetik an der University of Utah in Salt Lake City kommt man an einem riesigen Plakat vorbei, das in vielen Farben und den unterschiedlichsten Handschriften mit Glückwünschen für den Nobelpreisträger übersät ist. Während ich in einer Interviewpause einige der Ovationen zu entziffern versuche, muss ich daran denken, dass mit so einem großen Stück Papier die Schulzeit für Capecchi begonnen hatte: Als er mit neun Jahren zum ersten Mal in den USA eine Schule besuchte, freilich noch ohne Lesen und Schreiben zu können und mit kaum einem Wort Englisch, ließ ihn seine Lehrerin den Unterrichtsstoff auf plakatgroße Papierbögen zeichnen. Bis heute erinnert sich Capecchi an seine Windmühlen und Schlittschuhläufer: Seine Klasse nahm damals gerade die Niederlande durch. Er war 1946 mit seiner Mutter von Italien in die Vereinigten Staaten gekommen. Seine frühe Kindheit war von den politischen Verhältnissen und dem Zweiten Weltkrieg überschattet worden. Nach dreieinhalb behüteten Jahren am Ritten oberhalb von Bozen war seine Mutter 1941 als politischer Häftling interniert worden. Der Junge blieb in der Obhut einer Bauernfamilie. Ein Jahr später kam er von dort weg. Lange konnte sich Capecchi nur an eine Odyssee als Straßenkind erinnern. Manchmal sei er für kurze Zeit mit dem Vater zusammen gewesen, dann wieder habe er im Waisenhaus gelebt. Als seine Mutter den inzwischen neunjährigen Sohn 1946 ausfindig machen konnte, lag er halbverhungert und typhuskrank in einem Spital, vermutlich in Reggio Emilia. Im 16. Jahrhundert wäre Mario Capecchi sicherlich ein großer Seefahrer gewesen, der mit seinen Entdeckungen das Weltbild seiner Zeitgenossen auf den Kopf stellt. Zwar findet sich der unbekannte Kontinent, den Capecchi bereist, weit innen: sein Gebiet ist die DNA, d. h. die genetische Information,

die ein Mensch in jeder Zelle seines Körpers trägt. Aber die heutigen Entdeckungen auf dem Gebiet der Humangenetik sind nicht weniger erschütternd für unser Selbstverständnis als Menschen als es vor 500 Jahren die Erkenntnis gewesen sein muss, dass die Erde keine Scheibe ist. Denn die DNA ist kein menschliches Privileg, sondern verbindet uns mit allen anderen Lebewesen auf der Erde. Sie ist in jedem Organismus präsent und beruht in allen Fällen auf den nämlichen vier chemischen Grundbausteinen, den Basen Adenin, Guanin, Thymin und Cytosin. Der Kontinent der DNA schließt als stillschweigende Übereinkunft der Evolution alle organischen Lebensformen ein. Wegen dieser gemeinsamen Basis kann die Forschung übergreifend arbeiten und Prinzipien, die sie z. B. in der Fruchtfliege entdeckt, auf die genetische Struktur anderer Organismen übertragen. Der tiefen Verbundenheit aller mit allem steht die unermessliche Variationsbreite des vorhandenen genetischen Materials mit seiner faszinierenden Artenvielfalt gegenüber. Die Gestalt der DNA, um die Capecchis Denken kreist, erinnert zunächst an eine doppelt verzwirbelte Telefonschnur. Wenn man diese Doppelhelix entwindet, ähnelt sie einer Strickleiter, gebildet aus Molekülen, die alle genetischen Informationen eines Organismus enthalten. Diese Strickleiter besteht aus zwei Strängen, in denen sich die vier immer gleichen Grundbausteine in der unendlichen Variationsbreite ihrer Kombinationsmöglichkeiten paarweise zur genetischen Sequenz aufgereiht haben. Beim Menschen besteht diese Sequenz aus 3 Millionen Basen-Paaren, deren Kombination inzwischen genau bestimmt ist: 2001 hat das Human Genome Project seine Arbeit an der Sequenzialisierung des menschlichen Genoms nach 10 Jahren Forschung abgeschlossen. Wenn man dieses Genom niederschriebe,


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erklärt mir Mario Capecchi, dann würde es mit 3000 Zeichen pro Seite und 1000 Seiten pro Band 1000 Bände füllen. In jeder Zelle des menschlichen Körpers liegt also eine Bibliothek bereit. Diese Metapher enthüllt durch ihre Schwere und Sperrigkeit, wie gewaltig der Vorrat an Informationen ist, der komprimiert in der Doppelhelix der DNA auf seine Entfaltung wartet. Natürlich vermitteln die 1000 metaphorischen Folianten der genetischen Bibliothek auch einen deutlichen Begriff von der Komplexität der Forschungen, die Mario Capecchi betreibt: Die Sequenzialisierung, die in den Büchern festgehalten ist, bildet einen Code, den bisher niemand vollkommen entschlüsselt hat. Denn er hat mehrere Bedeutungsebenen: Er gibt nicht nur Aufschluss über die Entwicklung der Gattung. Er dient auch als Anleitung, damit der einzelne Mensch zur Verkörperung der genetischen Information wird, die aus Ei- und Samenzelle zusammengeschlossen ist, damit er werden kann. Außerdem enthält der Code Anweisungen, die das physiologische Tagesgeschäft betreffen, solange ein Mensch lebt. Dabei räumt Capecchi ein: „Wir wissen noch nicht einmal, wie wir den Teil bestimmen sollen, von dem die ganze Steuerung tatsächlich ausgeht.“ Schnell verliert sich die Ordnung der Bibliothek an die Dynamik des vitalen Prozesses. Es herrscht eine ungeheure Betriebsamkeit in jeder Zelle unseres Körpers, die sich Capecchi als Wissenschaftler zwar nicht völlig erklären kann, die er aber seit Jahrzehnten mit großem Erfolg beforscht. Dass er trotz der Komplexität des Forschungsgegenstandes seinen Kurs als Wissenschaftler gehalten hat, hängt mit einer Entdeckung zusammen, die er in den 80er Jahren machte und für die er im Dezember 2007 mit dem Nobelpreis für Physiologie /Medizin ausgezeichnet wurde. Vor gut 20 Jahren war es ihm gelungen, mit dem sogenannten „Gene Targeting Of Mammalian Stemcells“ eine gezielte Methode der Genmanipulation in Säugetierzellen zu entwickeln, die für das gesamte Feld der Humangenetik richtungsweisend wurde und die inzwischen zur Arbeit im Labor gehört wie ein Kompass zum Navigieren. Es fällt ihm nicht leicht, über seine Kindheit zu sprechen, obwohl seine Geschichte die Runde macht, seit

er den Nobelpreis gewonnen hat. Capecchi selbst hat sie 1996 in Zusammenhang mit der Verleihung des Kyoto-Preises zum ersten Mal veröffentlicht. In seinem Essay „Werdegang eines Wissenschaftlers“ reflektiert er über mögliche Zusammenhänge zwischen seiner Kindheitserfahrung und seinem späteren Erfolg als Wissenschaftler. Dabei fragt er sich u. a., ob seine hohe Konzentrationsfähigkeit, die es ihm heute erlaubt, seine äußere Umgebung völlig zu vergessen, während er in Gedanken einer Problemstellung nachgeht, sich aus seiner Gedankenverlorenheit erklären könnte, die er als Kind in langen Phasen großer Sorge erlebte. Er kommt zu dem Schluss: „Was ich aus meiner eigenen Erfahrung gelernt habe, ist, dass die genetischen und die Umweltfaktoren, die zu solchen Begabungen wie Kreativität beitragen, gegenwärtig zu komplex sind, als dass wir sie bestimmen können.“ Die eigene Geschichte führt Capecchi an die Grenzen des wissenschaftlich Messbaren. Sie eignet sich nicht als exemplarische Erfolgsgeschichte und entzieht sich der Objektivierung. Die Entwicklung, die ein Mensch im Laufe seines Lebens nimmt, lässt sich weder prognostizieren noch kalkulieren. So kann dieser Lebensbogen von der Gosse zum Olymp der Wissenschaften einen nur Wunder nehmen. Als ich ihn frage, wie er mit seiner Geschichte lebt, stellt sich heraus, dass der kleine Junge aus Südtirol bis heute durch Mario Capecchis Leben irrlichtert. Seine Zeit in Europa bleibt untergründig gegenwärtig: „Ich glaube, was man nicht ablegen kann, sind die Bilder, das was man gesehen hat. Die Bilder bleiben. Wenn die sich einstellen, dann geht man einfach darüber hinweg. Und wenn man an der Geschichte rührt, dann rührt man auch an den Bildern und darin liegt ein Risiko.“ Es hat lange gedauert, bis das Interview mit dem Nobelpreisträger endlich zustandekommen konnte, denn er ist ein vielbeschäftigter Mensch: Die Reise nach Stockholm zur Preisverleihung, der Jahreswechsel und Gespräche mit Kandidaten für einen der begehrten Forschungsplätze in seinem Labor schoben meinen Termin mit Mario Capecchi immer wieder hinaus. Auf seinem Schreibtisch liegt die zu erledigende Korrespondenz in beeindruckenden Stapeln und er begrüßt mich mit der Feststellung, dass er noch einen Forschungsantrag zu formulieren habe,


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der in 10 Tagen fällig sei. Er könnte die meiste Zeit auf Reisen verbringen, besonders seit dem Nobelpreis erhält er Einladungen aus allen Teilen der Welt. Aber das Zentrum seiner Arbeit bleibt weiterhin sein Labor im Institut für Humangenetik an der University of Utah. Als er 1973 von Harvard nach Utah kam, bestand sein Labor aus zwei Labortechnikern und ihm selbst – heute ist es mit 19 Doktoranden und Fellows, unterstützt von 21 Technikern, das größte Labor des Instituts. An den Donnerstagen kommen die Forscher zusammen, um über den Gang ihrer Projekte zu berichten und sich auszutauschen. Capecchi selbst hat kaum noch Zeit zum eigentlichen Experimentieren. Heute hält er die Forschung als Berater auf Kurs. Er lenkt den Strom der Gedanken, koordiniert die divergierenden Forschungsschwerpunkte seines Labors, wahrt den Überblick und beschafft die nötigen Mittel, um die Forschung zu fördern. Im Alter von 70 Jahren beginnt er sich vorzustellen, dass die genetische Forschung irgendwann ohne ihn stattfinden wird. Als er jünger war, habe er sich nie gefragt, ob seine Zeit reichen würde, Antworten auf seine Forschungsfragen zu finden. Capecchi trifft diese Feststellung über seine eigene Sterblichkeit geradezu mit Interesse. Veränderungen regen sein Denken an. Es gehört zur Stärke seines Intellekts, dass er die Umstellung liebt. Da sich die genetische Forschung mit rasender Geschwindigkeit weiterentwickelt, verlange sie vom Wissenschaftler geistige Flexibilität und die Bereitschaft, sich über vertraute Bezüge hinauszudenken. Im Laufe seiner Karriere hat Capecchi seine Perspektive als Forscher auch immer wieder absichtlich gewechselt. Er liebt es, seine Gehirnzellen aufzurütteln und sich als relativer „Newcomer“ in unbekannte Gebiete vorzutasten – von der Bakteriologie in die Stammzellenforschung, aber auch in die Entwicklungs- und die Neurobiologie. Es sei erfrischend, sich neue Zusammenhänge zu erschließen; das verhindere Festgefahrenheit, findet er, und erlaube dem Denken, die Richtung zu wechseln. Vielleicht erklärt diese Abenteuerlust, ja, diese Bereitschaft, sich selbst immer wieder aus dem Vetrauten zu reißen und neu zu erfinden, wie es Capecchi gelingen konnte, etwas zu entdecken, das es vor ihm in dieser Form noch nicht gegeben hatte:

eine Neuigkeit, die dann ihrerseits Veränderungen bewirkte und fortfährt, Neues zu erschließen. Capecchi gelang es zuerst, verändernd in das Genom eines Säugetieres einzugreifen – und zwar in das einer Hausmaus. Für die genetische Forschung war das ein bedeutender Schritt vorwärts. Das „Gene Targeting“ stellt eine methodologische Zuspitzung dar, weil es der Zufälligkeit von im Labor herbeigeführten Genmanipulationen ein Ende bereitet. Mit Hilfe dieser Methode können Wissenschaftler in ihren Experimenten jedes beliebige Gen gezielt k. o. schlagen oder aktivieren. Dabei kommen die erzielten genetischen Veränderungen schließlich in jeder Zelle des manipulierten Organismus vor und werden auch im Erbgut weitergegeben. So gewinnt die Laborforschung gegenüber der Natur an Autonomie; denn nun kann sie z. B. an einer ganzen Großfamilie von k. o.-Mäusen eingehend studieren, was sie zuvor nur im Einzelfall beobachten konnte. Natürlich stürzt kein Forscher die kleinen Nager leichtfertig ins Elend einer Mutation. Auch erlebt die Maus keine Veränderung mit, sondern lebt eine Manipulation aus, die sie in ihrem Erbgut mitbekommen hat. Denn das „Gene Targeting“ erfolgt in vitro, durch Einspritzung in Stammzellen. Diese Zellen sind für die Forschung der genetische Rohstoff par excellence: Sie sind totipotent und undifferenziert zugleich, d. h. sie sind noch vollkommen unentwickelt, aber zu allem fähig. Die Treffsicherheit der Methode – dass also das eingespritzte genetische Material sich an der beabsichtigten Stelle ins Mäuse-Genom integriert – liegt derzeit bei 1 zu 1000. Nur diese 1000. Stammzelle in ihrer schönsten Ordnung darf ihren genetischen Werdegang tatsächlich antreten und das Potenzial ihrer Entwicklungsfähigkeit ausleben. Sie wird in eine Blastozyste eingespritzt, d. h. in ein Keimbläschen, das nach der Befruchtung einer Eizelle auf dem Weg ist, sich zum Embryo zu entwickeln. Erst jetzt lässt die Forschung die Petrischalen hinter sich, denn die behandelten Blastozysten werden nun Mäusen eingepflanzt, die wie Mietmütter Schwangerschaften austragen, mit denen sie genetisch nichts zu tun haben. Die erste Generation von Mäusen, die auf diesem Weg nach 3 Wochen Tragzeit in die Welt gesetzt werden, ist ein Zwischenprodukt: Ihre DNA


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weist lediglich einen durch die gezielte Manipulation veränderten Strang auf. Erst wenn man Brüderchen und Schwesterchen zur Inzucht paart, wird das manipulierte Gen dominant vererbt. So entsteht die zweite Generation, bei der die beabsichtigte Manipulation in beiden Strängen der DNA vorkommen kann. Und fertig ist die mutierte k. o.-Maus. Zugegeben: All das klingt eher kompliziert als abenteuerlich. Aber die Höhenflüge der genetischen Forschung erklären sich nicht allein aus der Risikobereitschaft eines Forschers, der es wagt, seiner wissenschaftlichen Intuition zu folgen. Sie basieren ebenso auf methodologischer Präzision und genau durchdachten Experimenten. Ohne seine Liebe zum Detail müsste ein Forscher in der geheimnisvollen Sequenz des genetischen Codes in die Irre gehen. Mario Capecchi ist weder ein Fantast noch ein Pedant. In seinem Geist bilden Imagination und Pragmatismus eine fruchtbare Synthese. Deshalb wurde seine Vision des Möglichen durch seine nüchterne Einschätzung des Machbaren auch nicht verdunkelt. Umgekehrt bereitete sein methodisches Vorgehen den Boden für den großen Sprung der Genetik in ihre Zukunft. Natürlich arbeitete Capecchi vor über 20 Jahren nicht daran, der Laborforschung einen komplexen Prozess zur systematischen Erzeugung genetisch manipulierter Versuchstiere zu erschließen. Sein Ausgangspunkt war die Idee, Gene gezielt zu manipulieren, was in der Realität damals noch als unmöglich galt. Letztlich wollte Capecchi nicht nur eigene genetische Textstellen in die Bibliothek des Genoms einschmuggeln, sondern er wollte die genetische Sequenz umschreiben. Das zentrale Problem, das sich ihm dabei stellte, war, wie er die Gast-DNA dazu bringen sollte, das in sie eingeschleuste genetische Text-Fragment an der von ihm beabsichtigten Stelle zu platzieren. Niemand konnte damals abschätzen, ob er sich in einen Science Fiction hineinfantasiert hatte. Doch anstatt seine Vision aufzugeben, begann er ihre Möglichkeiten gezielt zu erforschen. Einen Weg, genetisches Material mit mikroskopisch feinen Kanülen in Zellkerne einzuspritzen, hatte er bereits in den späten 70er Jahren gefunden. Dann begann er zu verstehen, wie sich die DNA die molekularen Neuzugänge aneignet, und fand Wege, sich dieses Prinzip bei seinen

Manipulationen zunutze zu machen. 1984 hörte er von Mäuse-Stammzellen, die der Brite Martin Evans entwickelt hatte, und wandte das bisher Gefundene auf diese Säugetier-Zellen an. Im Laufe von Jahren arbeitete sich Capecchi beharrlich auf die Verwirklichung seiner Ursprungsidee zu. Durch den Nobelpreis ist Bewegung in Capecchis Vergangenheit gekommen: Nach seiner Nominierung griff die Presse seine Geschichte auf. Die Hintergrundrecherche einiger Journalisten hat seine früheren Darstellungen in manchen Punkten relativiert, dabei aber vor allem die hermetische Perspektive seiner Kindheitserinnerungen kenntlich gemacht. Tatsächlich hatte der Wissenschaftler in seinem bisherigen Leben kaum Gelegenheit gehabt, sich mit anderen über seine Erinnerungen auszutauschen: Die Mutter wollte bis zu ihrem Tod nicht mehr von der Vergangenheit sprechen. Zum Vater gab es keinen Kontakt: Er hatte sämtliche Ansprüche an den Sohn aufgegeben, damit dieser mit der Mutter Europa verlassen konnte. Im Sprachverlust des Deutschen und des Italienischen fiel die Welt zwischen Ritten und Reggio aus allen Bezügen. So kommt es, dass sich Capecchis Erinnerungen nicht unbedingt mit historischen Fakten decken, die sich anhand von Dokumenten etablieren lassen. Es fehlt zum Beispiel jeder Anhaltspunkt dafür, dass seine Mutter tatsächlich im KZ Dachau gefangen gehalten wurde, obwohl er immer davon ausgegangen war. Ungeklärt bleibt auch, in welchem Krankenhaus die Mutter ihren Sohn nach dem Krieg aufgefunden hat. Aber die spektakulärste Diskrepanz hat mit Mario Capecchis Weggang aus Südtirol im Alter von viereinhalb Jahren zu tun: Obwohl dem Melderegister der Gemeinde Ritten zu entnehmen ist, dass das Kind im Juli 1942 von seinem Vater dort abgemeldet wurde und dann in Reggio Emilia von den Behörden als beim Vater lebend eingetragen wurde, sind Mario Capecchi nur sporadische Begegnungen mit seinem Vater erinnerlich. Es war ihm auch vollkommen neu, dass ihn sein Vater bei der Bauernfamilie, mit der er seit der Verhaftung seiner Mutter lebte, offenbar abgeholt hatte. Der Nobelpreisträger hat keine Erklärung für sein Vergessen. Im Gespräch stellt er einen möglichen Zu-


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sammenhang zu Spannungen her, die zwischen seinen Eltern bestanden: Die Mutter hatte sich gegen eine Eheschließung entschieden und wollte ihren Sohn lieber alleine großziehen. Während Capecchi mit Bewunderung über diese Entschlusskraft spricht, weil alleinerziehende Mütter in den 30er Jahren noch ein soziales Stigma trugen, äußert er sich über seinen Vater als einen aufbrausenden und brutalen Menschen. Ob er zornig war, weil er sich zurückgesetzt fühlte, oder ob ihm die Mutter einen Korb gab, weil ihr seine Aggression unerträglich war, bleibt ungeklärt. Das Schweigen, das über Capecchis Vergangenheit lag, wurde auch von zahlreichen europäischen Briefschreibern gebrochen, die sich zu erinnern begannen, sobald sie in ihrer Zeitung über den Nobelpreisträger und seine Vergangenheit lasen. In diesen Briefen bekommt Capecchi vielleicht zum ersten Mal aus seiner frühen Kindheit erzählt: Ein Herr aus Bozen schreibt ihm von dem Kind aus Ritten, das Mitglied in einer Bande von Straßenkindern war, die der Briefschreiber anführte. Ein katholischer Priester erinnert sich an das Kind im Waisenhaus und an allem, was dieser Priester schildert, kann Capecchi ablesen, dass er das erinnerte Kind ist. – Zuletzt wird aus seiner Kindheit doch mehr als ein dunkler Traum. Sie hat ihren Zusammenhang mit der andernorts verwahrten Erinnerung. Die Zeiten haben sich geändert: Heute fließt das Gespräch zwischen den Kontinenten. Von solchen Veränderungen ist Capecchi selbst wohl am meisten fasziniert. Der Nobelpreis steht an der Spitze einer langen Liste internationaler Auszeichnungen, die Mario Capecchi im Laufe seiner Karriere erhalten hat. Ich bewundere am Tag unseres Interviews in seinem Büro neben der goldenen Nobel-Medaille etliche seiner Urkunden. Die meisten stehen gerahmt auf dem obersten Bord seines Bücherregals, so dass auch der Preisträger selbst zu ihnen aufschauen muss. Er begegnet mir völlig ohne die Attitüde eines erfolgreichen Menschen. Er spricht sehr leise und sieht mich beim Reden kaum an. Jedes Wort scheint aus den Tiefen der DNA gesprochen. Er ist in seinem Element. Während er mir die komplexe Funktion bestimmter Gene schildert, lassen seine Hände für mich Knochenstrukturen und Nervenbahnen entstehen. Ich werde hineingezogen

in die Arbeit der 39 hox-Gene: Sie sind ein physiologischer Ordnungsdienst, der die Arbeit anderer Gene in den unterschiedlichen Lebensphasen eines Menschen, angefangen mit der Entwicklung des Embryos, koordiniert. Dank dieses eingespielten Teams schlägt das Herz am rechten Fleck; sie passen auf, dass sich an der Stelle der Lungen nicht etwa die Nieren bilden und umgekehrt. Sie scheinen aber auch für die Proportionen der Gliedmaßen zu sorgen. Sie bringen die Nervenbahnen, die vom Rückenmark ausstrahlen und die Muskulatur durchziehen, auf die richtige Schiene. Sogar in der Gehirnfunktion ist ihre Aktivität nachweisbar. Alles, was man heute über diese 39 Gene weiß, hat Capecchis Labor mit Hilfe der k. o.-Mäuse herausgefunden. Aber selbst mit dem „Gene Targeting“ bleibt es schwierig, die speziellen Funktionen aller 39 Team-Mitglieder zu bestimmen, weil die hox-Gruppe in wechselnden Konstellationen operiert. Selbst auf dem Gipfel seines Erfolges erliegt Capecchi keiner Illusion über die Unermesslichkeit dessen, was in der Genetik auch weiterhin unverstanden bleibt: „Etwas, das mir immer Sorgen bereitet, ist die Frage, ob wir überhaupt über das nötige Werkzeug verfügen. Möglichweise ist die Komplexität so groß, dass wir nicht einmal an der Oberfläche kratzen.“ Tatsächlich stehen jedem Genom, das inzwischen erforscht ist, hunderte noch unbekannte gegenüber; für jede Krebsart, deren genetische Voraussetzungen man zu verstehen beginnt, gibt es unzählige, die weiter unerforscht bleiben; die Maus ist das bisher einzige Säugetier, auf dessen Gene die von Capecchi entwickelte Methode des „Gene Targeting“ angewandt wurde; eine chemische Reaktion, die in den Zellen eines Säugetieres in Millisekunden eintritt, kann in der Versuchsanordnung im Labor einen ganzen Tag brauchen, um abzulaufen. Allerdings hadert Mario Capecchi nicht mit dieser Realität. Er verwickelt sich in kein Drama der Selbstzerfleischung. Dass die Forschung mit ihrer Technologie und ihren Methoden der Eleganz und Komplexität natürlicher Abläufe derzeit noch weit hinterher hinkt, tut seiner Begeisterung als Wissenschaftler keinen Abbruch. Unvollkommenheit ist keine Niederlage, sondern eine Aufforderung zum Weiterdenken. Es ist eine Lust ihm zuzuhören. Seine


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Arbeit scheint ihn nicht zu erschöpfen, sondern zu beleben wie ein Kind sein Spiel. Dieses spielerische Element ist Indiz für die Entspanntheit seiner Situation als Professor. Capecchi braucht nicht auf marktfähige Ergebnisse und Profite zu spekulieren. Er muss Forschungsmittel sichern, aber diese Gelder finanzieren in erster Linie einen Erkenntnisprozess. Deshalb ist es für Capecchi kein Unglück, wenn viele der hox-Gene auch weiterhin im Dunkeln arbeiten wie ein Geheimdienst. Das wichtigste Ergebnis ihrer Erforschung sind derzeit weiterführende Fragen: Wie lässt sich die Methode des „Gene Targeting“ erweitern, so dass multiple Gene deaktiviert werden können, damit ihr Zusammenspiel durchsichtig wird? Wie kann man die Beteiligung der hox-Gene an den Proportionen der Gliedmaßen bestimmen? Wenn diese Bestimmung gelingt, wird man dann Gliedmaßen erzeugen können? Das Studium der hox-Gruppe führt das Denken aber auch über das Vergleichen hinaus auf die Beobachtung des Unterschiedlichen zu: Der gleiche Satz von 30 Knochen bildet bei der Maus eine Vorderpfote mit Krallen, gruppiert sich beim Menschen zur Hand mit einem mobilen Daumen und gestaltet sich bei der Fledermaus als Flügel, dessen Größe ihre Körperlänge überschreitet. Wie ist es möglich, dass dieselben physiologischen Elemente in verschiedenen Säugern solch unterschiedliche Gestaltungen erfahren? Diese Verschiedenheit ist umso verblüffender, als sich z. B. die DNA einer Maus mit der eines Menschen zu 95% deckt. Verwaltet also der kleine Rest von 5% die gewaltigen Unterschiede? Mit der Frage nach der Gesetzmäßigkeit des voneinander Abweichenden steht Mario Capecchi als Forscher erneut vor einem großen Problem. Was für eine Freude! Bisher ist wenig über die Konsequenzen bekannt, die das Wissen mit sich bringt, an dessen Erschließung Forscher wie Capecchi arbeiten. Wie kontrollierbar werden Eingriffe in die DNA sein? Sind einmal in Gang gesetzte Prozesse noch aufzuhalten? – Grundsätzlich scheint eine skeptische Haltung gegenüber der Genetik angebracht. Aber vielleicht reproduziert sich darin auch nur die alte Angst, dass ins Nichts stürzen muss, wer den Rändern der Welt zu nahe kommt. Bekanntlich hat sich dann herausgestellt,

dass der Rand und die Scheibe nur in den Köpfen existierten. Ohne das Risiko, das Columbus mit seiner Entdeckungsreise einging, hätte man das allerdings niemals herausgefunden. Was würde aus dem Elend unserer Krankheiten, wenn wir ihm mit Hilfe der genetischen Forschung entkommen könnten? Was, wenn wir fragen könnten „Tod, wo ist dein Stachel?“ und es wirklich meinen dürften? Wenn mich mein Auge ärgert, kann ich dann ein anderes bekommen? Natürlich sind solche Fragen reine Überschreitung. Das macht sie lustvoll und beängstigend im selben Atemzug. Kann straffrei ausgehen, wer so fragt? Werden die Modell-Mäuse ihre Schöpfer für die möglichen Verfehlungen des „Gene Targeting“ über die Ränder der Welt hinausjagen? 2003 hat Capecchi einen Aufenthalt in Trento genutzt, um das Haus wiederzufinden, in dem er die ersten dreieinhalb Lebensjahre verbracht hatte. Eine lokale Zeitung druckte das einzige Foto ab, das der Wissenschaftler vom Haus am Ritten besitzt, und die Leserschaft machte es tatsächlich in der Ortschaft Wolfsgruben ausfindig. Plötzlich stand er vor dem Bild seiner Erinnerung – Haus und See waren gänzlich unverändert. Aber er entdeckte noch etwas anderes: „Ich lebe hier in Utah in den Bergen und von dort habe ich einen Blick über drei Bergrücken. Unser Haus ist wie eine Berghütte. Und als wir in Wolfsgruben waren und uns umsahen, da sieht das Haus von damals aus wie das Haus, in dem ich heute lebe – und man hat auch einen Blick über drei Bergrücken auf die Dolomiten.“ Was man nicht ablegen kann, sind die Bilder. Manche verfolgen einen, manche halten aber auch an einem fest. Sie sind einem so lieb, dass man niemals aufhört, in ihnen zu leben. Auch wenn man es vielleicht nicht merkt. An schönen Tagen hat man von Capecchis Büro einen Blick auf die Berge auf der anderen Seite von Salt Lake City. Am Tag unseres Interviews sind sie wolkenverhangen. Aber das macht nichts. Sie sind immer da, auch wenn man sie nicht sieht.


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Living in a box

Jörg Zielinski durchstreifte ein halbes Jahr lang Tirol mit einer Lochkamera im Gepäck. Zu den dabei entstandenen Fotografien (S. 56 – 67) schickte er der Redaktion die folgende Gebrauchsanweisung: „Die Lochkamerafotografie ist die älteste bekannte Art des fotografischen Ausdrucks. Die Kameras arbeiten ohne Linse. Das Licht fällt durch ein nadelfeines Loch in einen lichtdichten Kasten und formt das Bild auf der Rückwand. Wird nun diese Bildebene mit lichtempfindlichem Material belegt, bildet sich die Fotografie darauf ab. Dabei dauert die Belichtung einige Sekunden oder Minuten. Ich baue meine Lochkameras selber und benutze dabei Sperrholz, Pappe, Rasierklingen, Farbe, Klebstoff. Jede neue Kamera wird von mir ‚einfotografiert‘, um die Eigenarten der jeweiligen Kamera kennenzulernen. Dabei finde ich heraus, wie lange ich belichten muss, um ‚gute‘ Fotos zu erreichen. Allerdings ist das unvorhersehbare Spiel mit Licht, Beleuchtung, Belichtung der Reiz und die Herausforderung der Lochkamerafotografie. Diese Art der Bildgestaltung braucht die Zeit als Element des künstlerischen Entstehungsprozesses: Nicht der Bruchteil einer Sekunde zählt, sondern die Zeiträume, in denen sich Leben bewegt. Stehende

Objekte erscheinen fest, bewegte Objekte verflüchtigen sich im Raum. Es entstehen Bilder, in denen der Augenblick gedehnt erscheint. Die Fotografie mit einer Lochkamera entzieht sich den Eindrücken der schnelllebigen Schnappschüsse. Die Bilder auf den nachstehenden Seiten sind innerhalb eines halben Jahres an unterschiedlichsten Plätzen in Tirol enstanden. Augenblicklich eröffnen sich neue Sichtweisen auf bekannte, wiewohl noch nie geahnte Plätze. Jeder Hinterhof, jede Gasse, jede Straßenszene entsteht von Neuem. Gleichzeitig verändert sich die Erinnerung. Ersetzen die Bilder des Gesehenen die Bilder der Erinnerung? Was sehe ich? Ist das, was ich gesehen habe, auch das, was abgebildet wird? Der Glaube an die Tatsächlichkeit des fotografischen Abbildes gerät ins Wanken. Die Bilder entstehen ohne Inszenierung und ohne manuelle Nachbearbeitung. Es ist einzig der Einfluss des Fotografen, der die Menge des Lichtes bestimmt, das den Film erreicht.“














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Hier die Fortsetzung der Serie „Gutachten“: In dieser Rubrik werden Vertreter einer oder verschiedener Berufsgruppen eingeladen, auf einer einzigen Heftseite kompakte Bestimmungen einer zeittypischen Erscheinung zu entwerfen.

Diesmal: Stress

Zeittypische Erscheinung: Wir sind alle überfordert! Reizwörter: Burn-out, Infrarotkabine für zu Hause, Yoga, Atemtechnik, Spa, Zeitmanagement, Mehrfachbelastung, Jakobsweg, Auszeit, Landhaus, ständige Erreichbarkeit, Zeit für mich, Beruhigungsmittel, Spannungsabbau, Schlafstörungen Aufgabenstellung: Es steht Ihnen eine Quartseite zur Verfügung – entspannen Sie sich! Vier Beiträge von Gertrud Spat (Kulturhistorikerin), Ulrich Ott (Meditationsforscher), Oliver Welter (Songwriter) und Andreas Kriwak (Philosoph)


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Die vollständige Entspannung von Getrud Spat

Stress: Warum wird das „neudeutsche“ Wort, als Begriff in sämtlichen Medien ständig präsent, im Alltag sogar schon von Kleinkindern gebraucht, fast immer und überall im negativen Sinn verwendet? In meinem Wörterbuch Englisch-Deutsch steht für „Stress“ nicht nur „Druck“ und „Anspannung“, sondern auch u. a. „Kraft“, „Nachdruck“, „Betonung“ und „Akzent“. Unser „Sturm und Drang“ heißt auf englisch „Storm and Stress“! Ich behaupte: ohne Stress gäbe es keine Kunst, ja keine Kultur. Ein Großteil der Kunstwerke, die den Schatz unserer westlichen Kultur ausmachen, wäre ohne den Druck der Auftragsgeber nie entstanden. Wieviele Werke komponierten nicht z. B. Johann Sebastian Bach und Wolfgang Amadé Mozart in Auftrag, manchmal unter Hochdruck. Ebenso entstanden die meisten Schöpfungen großer Maler und Architekten jener Zeiten unter Auftragsdruck. Die Vorstellung, dass den Malern, Komponisten und Dichtern ihre Werke quasi vom Himmel zufallen, datiert aus der noch nicht lange zurückliegenden Zeit der Romantik und gilt inzwischen wohl als überwunden. Jeder, der mit Kreativität zu tun hat, wird nicht daran zweifeln, dass schöpferische Arbeit einen gewissen Druck braucht, sei es von außen oder von innen. Interessanterweise war die Romantik auch die Periode, in der das industrielle Zeitalter sich zu entwickeln begann, in dessen Fortsetzung wir uns jetzt befinden. Vor etwa einem Jahrhundert gab es schon bedeutend mehr Druck und Spannung in der Gesellschaft, man beklagte sich bereits über das zu hohe Tempo in den Städten, wo Elektrizität, Automobile und das Telefon Einzug gehalten hatten. Andererseits wurden gerade die neue Technik und Geschwindigkeit z. B. im Futurismus verherrlicht. Es gab also in der Stress-Zunahme auch eine positive Sogkraft. Wie rasant Industrie und Technik sich im Laufe des . Jahrhunderts weiter entwickelt haben, braucht hier wohl kaum ausgeführt zu werden. Wir alle sind überfordert und stehen mehr oder weniger unter Druck. „Entspannen Sie sich“ Mir fällt dabei gleich das unsägliche Wort „Wellness“

ein, das in meinem Englischwörterbuch gar nicht vorkommt. Auch muss ich z. B. an die Sendung „Ganz Ich“ im Radio denken. Nichts gegen die vielen Methoden, die gegen den Überdruck empfohlen und angewendet werden – soll jeder seinen Stress auf eigene Weise abbauen, joggend oder laufend oder den Jakobsweg gehend, meditierend oder Pillen schluckend. Ich für mich glaube, dass es nicht um Entspannung an sich geht, sondern um das innere Gleichgewicht zwischen Spannung und Entspannung. Was mir schon länger auffällt: Sehr viele Menschen, mit denen ich zu tun habe, schlafen zu wenig. Vor kurzem wurde mir diese Beobachtung vom renommierten Grazer Schlafforscher Manfred Walzl in einer Radiosendung bestätigt: Wir leben in einer Welt voller unausgeschlafener Menschen. Manchmal beschleicht mich die argwöhnische Vermutung, dass eine Absicht dahinter steckt. Wessen Absicht? Wer tagsüber seinem Beruf nachgeht und geistig wach und interessiert sich abends mittels Fernsehen informieren oder weiterbilden oder auf angemessenem Niveau „unterhalten“ möchte, muss sich meistens bis nach  Uhr gedulden. Dann wird erst das Anspruchsvolle gesendet. Warum? Brauchen anspruchsvolle Menschen keinen Schlaf, dieses „Lebenselixier“ par excellence (Walzl)? Warum mutet man den weniger anspruchsvollen Menschen nicht früher am Abend auch Sendungen zu, bei denen sie sich ein klein wenig anstrengen müssten statt sich nur zu „entspannen“? Manche meiner Freundinnen verzichten lieber überhaupt aufs Fernsehen. Natürlich kann man – in diesem Sinne „ganz Ich“ – lesen, musizieren, Musik hören oder malen. Ich ziehe es vor, daneben doch auch einigermaßen am täglichen politischen und kulturellen Geschehen teilzunehmen. Spät abends gelingt es mir nur selten: Meistens schlafe ich ein, wie spannend die Sendung auch sein mag. Wenn man die vollständige Entspannung, die es nur im Tode gibt, nicht anstrebt, wäre es vielleicht überlegenswert, sich mit Todes kleinem Bruder, dem Schlaf inniger anzufreunden. Er schenkt den besten StressAbbau und die Kraft der Gelassenheit.


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Tut mir leid – keine Zeit …

Von Ulrich Ott Was wollen die denn von mir, wie heißt es in der EMail? „Kompakte Bestimmung einer zeittypischen Erscheinung: Wir sind alle überfordert“. Ein Gutachten dazu? Gutachten heißt normalerweise Arbeit und Arbeit habe ich genug, also Absage, nicht lange damit aufhalten. Morgens früh gleich die Nachfrage – „Ihr letztes Wort? Wir haben nämlich keine Zeit, jemanden anderen zu suchen!“ – unkonventionell, auch der Beitrag soll „moralinfrei“ geliefert werden, offenbar ein eher lockerer, spielerischer Versuch. Na, wenn das so ist, lassen wir doch mal die Assoziationen wuchern. Also Stress – riesiges Thema in der Forschung, mal kurz in der „Web of Science“-Datenbank nachgeschaut. Von wegen, Tochter kommt rein, Ärger mit dem Bruder, der ist sauer, weil sie beim Spiel immer die großen Pilze wegschnappt, schnelle Erklärungs- und Besänftigungsversuche scheitern. Originalton: „Ich warte, bis du mir eine gute Antwort gibst.“ Keine Chance, Nachfragen: „Darf ich den Film mit dem Drachen noch mal sehen, warum darf ich denn nicht so viele elektrische Sachen machen – ich warte, bis ich was machen darf.“ Also Schreiben unterbrechen und später weiter. So, sie spielt wieder alleine, per Fernsteuerung einloggen am Uni-Rechner und Suche nach „Stress“. Dacht’ ich mir es doch, mehr als 100.000 Treffer, Eingrenzung auf Übersichtsartikel hilft auch nicht viel, immer noch 6.244 Einträge. So viele Aspekte, Listen mit Stressoren, soziale, biologische, gesellschaftliche. Wozu eigentlich, wen interessiert ein akademischer Versuch, Stress zu definieren, zu analysieren? Jeder kennt doch seinen persönlichen Stress, wenn man beginnt, sich zu hetzen, Zeitdruck, Schweißausbrüche in unangenehmen sozialen Situationen, die alles nur noch schlimmer machen, wenn man sich wünscht, dass keiner merkt, was offensichtlich ist. Diskrepanzen zwischen Soll und Ist.

In unseren Breitengraden entsteht Stress zum größten Teil im Kopf, der Antreiber sitzt irgendwo in unseren Hirnwindungen und macht uns das Leben schwer. Wir machen uns selbst das Leben schwer, weil wir es so gelernt haben, die eingepflanzte Kultur der Arbeitsmoral, Perfektionismus, gründlich und pünktlich. Da hilft die kulturelle Begegnung, die Augen zu öffnen. Wie scherzt meine griechische Ehefrau so gerne: „Deutsche find’ ich gut – jeder sollte einen haben“. Humor hilft immens, baut die Spannung ab. Ein Leben im Kloster wäre auch schön, wer kann schon die Ruhe bewahren inmitten von E-Mails, Rechnungen, Arbeit, Haushalt, Kindererziehung? Oder besser, wie kann man die Ruhe bewahren? Meine Antwort: Yoga und Meditation. Immer wenn es zu viel wird: Hinsetzen, Einatmen – Aufrichten, Ausatmen – Entspannen, den mentalen Organisationsapparat freigeben, um zu sehen, was ist, den Atem beobachten, ein, aus, ein, aus. Verbinden mit dem Körper, der einen eigenen Rhythmus hat, eine Mitte, Verbinden mit dem Bauch und auch mit dem Herzen. Yoga-Übungen, die die Spannungen bewusst machen, die sich im Nacken aufbauen, dehnen, mit dem Atem schmelzen lassen – oh, tut das gut! Dann auch beim Arbeiten am Computer, auf der Fahrt zur Arbeit, Spannungen abbauen, nicht nur virtuelle Szenarien im Kopf kreieren („wie wird es sein, wie soll es sein und was darf auf keinen Fall passieren …“), sondern in die Welt schauen, was da ist und nach drinnen, die Innenwelt erforschen. Beobachten, wie wir Ärger produzieren, auf andere projizieren, die unfähig sind, dies oder jenes richtig zu machen – genauso wie wir selbst uns unsere Fehler nicht vergeben. Auszeit in der Badewanne, träumen von einer Welt, in der Liebe und Humor regieren. Schweife ich gerade vom Thema ab? Darf das sein? Ja! Und wenn nicht, einen anderen Beitrag kann ich nicht liefern ... keine Zeit.


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Die Möglichkeit, dem Stumpfsinn zu begegnen Von Oliver Welter Früher in meinem kleinen bescheidenen Leben, da war vieles ganz anders. Nicht besser, sondern eben anders. Zumindest fühlte es sich anders an. Früher, da bin ich – so wie jetzt eben alleine in einem Hotelzimmer – dionysisch mit der Zeit umgegangen, habe sie verstreichen lassen, sie nicht beachtet, links liegen lassen und (im heutigen Sinne) geradezu verplempert. Früher, da lief des Nachts während meiner vielen Hotelaufenthalte der Fernseher, da habe ich ein Buch gelesen, mich betrunken, wieder ferngesehen, noch mehr getrunken und dann geschlafen. Es fühlte sich gut an. Heute, da weiß ich schon Tage vor einer alleinigen Nacht in einem Hotel, was ich mit den Stunden der Nacht anfangen werde, wie ich sie nutzen kann, ja nutzen muss, diese meine „freie“ Zeit, die ja dann keine „freie“ mehr ist, weil ich währenddessen meine Arbeit verrichte, Lieder schreibe, einen Text verfasse, die Buchhaltung ordne. Was auch immer. Und es fühlt sich ebenfalls gut an. Früher, da gab es in diesen Stunden, die uns normalerweise in den Schlaf zwingen, das Hotel, mich und – als Verbindung zum Rest der Welt – einen Fernseher. Die Grundparameter dieser Stunden sind heute freilich dieselben, allerdings liegt nun neben mir mein mobiles Telefon im aktiven Zustand (meine Freundin würde mich vielleicht eilig erreichen wollen, den Kindern könnte etwas zugestoßen sein, Projektleiter X möchte mir vielleicht gerade jetzt seine neuen Ideen bezüglich der gemeinsamen Arbeit mitteilen …); mein Powerbook ist im Online-Status (allein diese Begrifflichkeiten!), schließlich will ich die Möglichkeiten moderner, allumfassender Kommunikation in keiner Sekunde missen (Projektleiter X könnte mir die Dringlichkeit seiner Ideen auch per E-mail zukommen lassen); und die anstehende Arbeit liegt stoßweise vor mir. Real und in Gedanken. All diese Veränderungen empfinde ich aber in keinem Fall als befremdlich, all diese zeittypischen Erscheinungen stressen mich nicht so sehr, dass ich meine Kraft in anderen Betätigungsfeldern finden muss, all das lässt mich nicht nach kümmerlichen Wegen suchen, mich selbst zu definieren, anderswo Kraft zu schöpfen, mein Heil in der Meditation, dem Sport, der Religion oder anderen menschlichen Krücken zu

finden oder gar ganz einfach zu verzagen. Alleine aus dem Grund, weil ich es nicht will und auch nicht brauche. Und vor allem, weil ich es nicht zulassen möchte. Mein persönliches Credo lautet demnach wie folgt: Die Zeit diktiert nicht mich, sondern ich sie. Und dies will mir größtenteils ganz gut gelingen. Natürlich bedarf es, um wieder einen unsäglichen Begriff bemühen zu müssen, eines wohl durchdachten und gut kalkulierten Zeitmanagements, damit das Zusammenleben von zwei frei arbeitenden Partnern, zwei kleinen Kindern und die „Abdeckung“ all ihrer persönlichen Bedürfnisse so gut es eben geht funktioniert. Diese Aufgabenstellung erfordert für alle Beteiligten natürlich immens viel Kraft und Opferbereitschaft. Aber darin liegt ja auch gerade die Schönheit des Ganzen. Die investierte Kraft und Energie scheint in hohem Maße, einem Bumerang gleich, immer wieder zu einem zurückzukehren. Da brauche ich doch keinen Jakobsweg, keinen Triathlon und keine fernöstlichen Meditationsübungen, die mir eigentlich so fremd sind wie nur was. Früher, da war Leben in unserer westlichen Welt frei von möglichen alternativen Lebensmodellen und demnach, man verzeihe mir, wohl eher auch stumpf. Klassische Rollenverteilung: arbeitende Väter, Mütter mit dem Fulltimejob Haushalt und Kinder und in vielen Fällen eine Nebenerwerbsarbeit, wenig bis keine Zeit für Persönliches, wenig bis kein Dialog, wenig bis keine Aussicht auf Veränderung. Eben stumpf. Heute aber, so scheint es mir, haben wir zumindest die Möglichkeit und Wahl, dem Stumpfsinn zu begegnen, ihn zu umgehen und zu bekämpfen. Mit Beziehungen, in denen beide Partner einer – im besten Fall selbst gewählten – Tätigkeit nachgehen, mit der gemeinsamen Erziehung der Kinder, mit persönlichen Freiräumen für beide Partner und stets möglichen anderen Lebensmodellen, die mehr oder minder erfolgreich umgesetzt werden. So sieht das heute aus. All dies erscheint mir so stressfrei wie nur möglich. Die Überpräsenz moderner, gern bemühter Schlagwörter wie Mehrfachbelastung, Zeitmanagement, Burn-out, Spa und dergleichen sowie das vermeintliche Wissen um diese Dinge – das erscheint mir für alle der Stress zu sein. Dennoch – der Stumpfsinn ist stressig. Die Möglichkeit, die Wahl, kann es niemals sein.


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Die Stimmen und das Schweigen Von Andreas Kriwak Kultur ist Stress! So lautet zumindest die Behauptung der Psychoanalyse. Der Eintritt in die Kultur überfordert den Menschen. Sigmund Freud spricht von einem grundsätzlichen „Unbehagen“, welches der Kultur immer schon anhaftet. Das entspricht nicht psychoanalytischer Gesellschaftskritik. Vielmehr sind damit traumatischer Verzicht und Verdrängung der dem Menschen konstitutiven Aggressivität gemeint. Für ein einigermaßen friedliches Zusammenleben bedarf es der Zähmung, d. h. der Wendung der aggressiven Triebe gegen das eigene Ich. Am Ende dieses Prozesses steht die Spaltung des Subjekts. Die nach außen strebende aggressive Regung wandelt sich in eine innere psychische Instanz, das ÜberIch: die Geburtsstunde des Schuldgefühls, der „verhängnisvollen Unvermeidlichkeit“, so Freud. Das Ich ist von nun an der permanenten Kontrolle dieser Gewissensstimme ausgeliefert. Je nach Strenge und Härte derselben lebt das Ich in einer mehr oder weniger spannungsgeladenen Situation. Und dieser innere Stressor verurteilt nicht allein verbotene Taten, sondern schon die bloße Absicht dazu. Freud sah die große Gefahr darin, dass dieses – für die Kultur notwendige – Schuldgefühl aufgrund immer größer werdender Verzichtsanforderungen in Höhen gesteigert wird, die für den einzelnen Menschen schwer erträglich sind. Die gegenwärtige westliche Kultur zeichnet sich hingegen gerade durch den Niedergang jener rigiden patriarchalen Stimme aus, wie sie noch zu Zeiten Freuds vorherrschend war. Wir leben heute im sogenannten „postödipalen“ Zeitalter, welches die Auflösung traditioneller gesellschaftlicher Lebensformen mit sich bringt. Auf das Glück des Menschen, worum es laut Freud schlecht bestellt ist, müsste sich das eigentlich positiv auswirken. Heute wird uns eingeflüstert, dass alles frei gewählt werden kann, von der Freizeitaktivität über den Kleidungsstil bis hin zu Beruf und sexueller Ausrichtung. Die Wahlmöglichkeiten im Zeitalter der freien Marktwirtschaft haben sich enorm gesteigert. Und ist es nicht genau das, was die Psychoanalyse seit Freud predigt und einfordert: die Befreiung von sexueller Unterdrückung, damit der Preis, den wir für die Kultur immer schon zu zahlen haben, so gering wie möglich ist? Das Problem besteht allerdings darin, dass mit

dem Untergang der väterlichen Autorität ein neues Zwangsverhältnis auf den Plan tritt. Die Befreiung des Subjekts von dieser autoritären Stimme ermöglicht nicht ein freieres und gemeinschaftlicheres Leben, sondern führt zur Unterordnung unter einen neuen „Herren“ – der Logik des Kapitals. Anstatt also im Zuge der Auflösung der alten symbolischen Ordnung zu Freiheit und Verantwortung zu gelangen, wird das heutige Subjekt von der Stimme der kapitalistischen Marktwirtschaft beherrscht. Diese fordert die Trennung von Vergangenheit und Tradition sowie freie Verfügbarkeit, um immer und überall dem Produktionsprozess angeschlossen werden zu können. „Flexibilität“ lautet das neue Zauberwort, das uns, so die kapitalistischen Verheißungen, Arbeitsplätze, Reichtum und Glück – letztlich für alle – bringen soll. Die Kehrseite der Flexibilität, d. h. der Abwesenheit klarer symbolischer Vorgaben, hat die Ausbildung extrem narzisstischer Subjektstrukturen zur Folge. Die schier grenzenlosen Möglichkeiten der Selbstfindung bewirken eine rastlose und zwanghafte Aktivität der von allen Traditionen freigesetzten und vereinzelten Individuen, mit dem erklärten Ziel einer neuen, besonderen Identität, abseits der alten Rollenbilder. Geleitet und getragen wird diese Suche einzig von dem medial verbreiteten Ideal, jung, agil und dynamisch zu sein und für immer zu bleiben – sowie Spaß zu haben. Kein Wunder, dass Stresssymptome zu den Phänomenen unserer Zeit geworden sind und dass Burn-out, die totale Erschöpfung, inzwischen in allen Lebensbereichen anzutreffen ist. Nach dem Motto: „Kein Symptom, das nicht gewinnbringend in den Markt integriert werden kann“, wird aber sogleich die Antwort auf diese Stresszustände bereitgestellt – natürlich nur für jene, die sich das auch leisten können: Entspannung und Entlastung für Körper, Seele und Geist, oder kurz: Wellness! Mit dem Ziel, die Menschen körperlich und geistig wieder fit zu machen, für den Markt, versteht sich. Und die Psychoanalyse? Was bietet sie an zur Stressbekämpfung? Welche Antwort präsentiert sie uns auf die neuen Leiden der Seele? Tendiert sie zu einem Zurück zu strengen und klaren Verboten bzw. Rollenbildern oder protegiert sie die Laissez-faireMethode der Marktlogik? Weder noch! Die Psychoanalyse hält nichts von einer Re-

ödipalisierung und versteht sich auch nicht als Reparatur-Service der Seele, um die Subjekte wieder markttauglich zu machen. Letztlich besteht ihr Ziel in der Erfahrung radikaler Freiheit und Verantwortung. Die grundlegende Situation der Analyse präsentiert einen Sprechenden, den Analysanden, der zum freien Assoziieren aufgefordert wird, und einen, den Analytiker, der sich im Prinzip auf das Schweigen beschränkt, zumindest die meiste Zeit. Letzterer gilt dem Analysanden als Medium der Wahrheit über sein Leiden, sein Symptom. Von ihm erwartet er Antworten und Hilfe. Idealerweise bekommt er aber nur eines „zu hören“, nämlich nichts, die stille Stimme des Analytikers, sein Schweigen. Das Ziel der Analyse besteht also letztlich nicht darin, den freien Assoziationen des Analysanden durch die Deutung des Analytikers Sinn zu geben. Der Analytiker ist nicht ein neuer Herr und Meister, der bestimmte, als wahr angesehene Antworten präsentiert und somit zur Identifikationsfigur wird. Der Analytiker soll vielmehr eine unmögliche, weil schweigende Stimme verkörpern. Das Angebot der Psychoanalyse beschränkt sich sozusagen auf eine Stimme. Diese Stimme hat aber keinen Inhalt, gibt keinen Halt und spendet auch keinen Trost. Es ist die Stimme, die nichts sagt, nichts vermittelt, eine stumme, lautlose Stimme, die einzig dazu aufruft, Verantwortung zu übernehmen, die Position des Subjekts einzunehmen. Vor dieser Stille bzw. Leere, diesem psychoanalytischen Stressor, flieht der Analysand. Um ihr auszuweichen, um das Schweigen zum Schweigen zu bringen, ist er bereit, alles zu sagen, was ihm durch den Kopf geht. Dabei ist der Prozess der Analyse vielleicht einzig dazu da, diese Stimme, diesen Abgrund im Analytiker auf sich zu nehmen. Die Psychoanalyse steht also nicht für die Akzeptanz irgendwelcher konkreter Gesetze und Verbote. Die Psychoanalyse ist ein Prozess, der um den Verlust jeglicher äußeren Wahrheit, jeglichen Sinn gebenden Halts, kreist. Es geht, so könnte man sagen, um die unvermittelte Übernahme jener grundlegenden Überforderung, die die Kultur immer schon auszeichnet, also einer Subjektposition, die von keinem „Herren“ mehr gestützt wird und den Moment der Erfahrung absoluter Freiheit darstellt. Die Psychoanalyse eröffnet dadurch einen Spielraum, eine Transzendenz, worauf hin sich das Subjekt (neu) entwerfen kann.


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„Diese war am Anfang bei Gott.“

Wer es noch nicht weiß – es gibt eine „Bibel in gerechter Sprache“. Stellvertretend für alle unsere Leserinnen und Leser hat Wendelin Schmidt-Dengler das Werk untersucht. Befund: „Ein Monument der Selbstgefälligkeit.“ Als er gefragt wurde, von welchem Buch er am meisten gelernt habe, antwortete Bertolt Brecht: „Sie werden lachen: von der Bibel.“ Nicht deren theologische oder religiöse Substanz hat er in sich aufgenommen, sehr wohl aber die Fülle des Erzählten und vor allem die Kraft der Sprache. Das war die Sprache der Bibel in der Übersetzung Doktor Martin Luthers, die trotz der Anpassung an die jeweilige Zeit in ihrer Sprachsubstanz mehr oder weniger unberührt blieb. So spricht heute keiner mehr, aber irgendwie hat sich dieser Tonfall in unseren Ohren festgesetzt, eine Sprache, die so ganz anders ist, als das, was wir tagaus tagein brauchen und durch den Gebrauch auch korrumpieren. Die Kraft dieser Sprache hat sich über die Jahrhunderte erhalten – davon ist auszugehen, und nicht von der Feststellung, dass Luthers Bibeldeutsch schon bedenklich unzeitgemäß sei. Freilich mag die Fremde dieser Sprache in unserer Gegenwart jenen, die Gottes Wort verkünden wollen, bei ihrem Tun einige, ja große Schwierigkeiten bereiten, aber sie müssen ja auch von etwas anderem reden, als die Alltagssprache und vor allem die Sprache der Medien üblicher Weise transportieren. Dass sich gerade dieser Abstand, der die Bibelsprache von der unsren trennt, produktiv machen lässt, haben viele Theologen erkannt und somit ihrer Gemeinde auch eine Welt erschlossen, die eben eine andere ist als die der Alltagszwänge. Aber dieses Problem soll uns nicht beschäftigen, denn wer hören kann, der kann aus dem Bibeltext für sein Denken und für seine Rede eine Fülle von Anregungen gewinnen. Für jeden, der sich in unseren Breiten mit Literatur auseinandersetzt, stellt die Bibel, über alle Konfessionsgrenzen hinweg, einen gewaltigen Sprachfundus bereit; von hier lässt sich auch zur Sprache der Literatur die Brücke schlagen, denn auch diese bietet zur Sprache des Alltags eine belebende Alternative. Gerade dort, wo sie sich so ganz natürlich gibt, lässt sie nie vergessen, dass die Kunst

der Sprache immer einer Sprache der Kunst sich unterwirft. Evident wird dies etwa in der Sprache Georg Büchners, deren hohe Kunst gerade in der Ökonomie der Mittel liegt. Wer sich auf die Literatur einlässt, dem muss die Aufgabe angelegen sein, Wege zu dem je spezifischen Umgang mit der Sprache in den einzelnen Werken zu erschließen, zum Bilderreichtum Shakespeares, zu Goethes souveräner Erfassung von Sachverhalten, zur Höhenlage der Lyrik Hölderlins, zu Nestroys Sprachwitz, zu Kafkas spröder und beklemmender Treffsicherheit. Das Beharren der Philologen auf dem Wortlaut entspringt nicht einem aberwitzigen Originalitätsanspruch, sondern vielmehr der Mühe, den dichterischen Anstrengungen und damit auch der künstlerischen Ökonomie gerecht zu werden. Ökonomisch verfährt die Bibel – gerade in der Übersetzung Luthers, anhand derer man die optimale Kombination von Präzision und Prägnanz studieren kann, selbst wenn sie in Wiederholungen und Bildern schwelgt. Offenkundig aber gibt es ein Unbehagen gerade an diesem Text, das sich in dessen verschiedenen Adaptationen niederschlägt. Die Texte Shakespeares, Schillers und Kleists können in einer möglichst integralen Form erworben werden; an ihnen versucht sich allenfalls das Regietheater. Da ergeht es der Bibel schon anders: „Bibel in gerechter Sprache“ lautet der Titel eines Wälzers, der 2006 das Licht der Welt erblickte und von einem zehnköpfigen Kollektiv – fünf Frauen, fünf Männer – herausgegeben wurde. Unzählige Hände haben darüber hinaus daran gearbeitet. Umfang: genau 2400 Seiten. Das Unternehmen wurde nicht öffentlich subventioniert; man arbeitete selbstlos und war auf Spenden angewiesen. Nun – Frühjahr 2008 – ist das Werk schon in der dritten Auflage zu haben. Die Sprache der Bibel war ungerecht, das kann man bereits dem Titel entnehmen. Ungerecht war Hiero-


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nymus, ungerecht natürlich Martin Luther, seine katholischen Kollegen und wohl auch das Team, das für die „Einheitsübersetzung“ verantwortlich war. Ein edles Bekenntnis schicken die Herausgeber ihrer Arbeit voraus: „Mit der ,Bibel in gerechter Sprache‘ wird das Spektrum deutscher Übersetzungen der biblischen Bücher bereichert. Die vorliegende Übersetzung ist in mehrfacher Hinsicht der ‚Gerechtigkeit‘ verpflichtet. Neben dem Ziel jeder Übersetzung, dem Ursprungstext gerecht zu werden, ist Gerechtigkeit in drei Hinsichten besonders intendiert. Einerseits soll die Übersetzung der Geschlechtergerechtigkeit besonders entsprechen, dass und wie Frauen an den Geschehnissen und Erfahrungen der biblischen Texte beteiligt und damals wie heute von ihnen angesprochen sind. Gleichgewichtig geht es um Gerechtigkeit im Hinblick auf den christlich-jüdischen Dialog, d. h. um eine Übersetzung, die versucht, auf antijudaistische Interpretationen zu verzichten. Dazu kommt der Aspekt der sozialen Gerechtigkeit, indem die sozialen Realitäten im Wortlaut der Übersetzung deutlich werden.“ So verkündet es Prof. Dr. Dr. h.c. Peter Steinacker in seinem Vorspruch. Ein leises Unbehagen befiel mich sofort, als ich den Titel las, und es wurde laut bei der Lektüre dieser Worte: Hier scheint jemand ganz genau zu wissen, dass er im Besitze der Gerechtigkeit ist. Das Wort „Gerechtigkeit“ fließt ihnen offenkundig leicht von den Lippen und in den Laptop. Die Schwierigkeiten beginnen mit dem Namen Gottes, der eben auch der Herr (kýrios) ist. Schwierigkeiten bereitet das Wort Vater und natürlich auch das Wort Sohn; man setzt daher einfach statt „Vater“, „Vater und Mutter“, statt Sohn „Kind“. So wird Jesus zum ewigen Kind von Vater und Mutter. Alle Akteure sind zu einem geschlechtergerechten Auftritt verurteilt. Da gibt es Zöllnerinnen und Zöllner, Pharisäerinnen (welche es, so versichern mir die Theologen, nie gegeben hat) und Pharisäer, Jünger und Jüngerinnen, Apostelinnen und Apostel, und das Jesus-Baby wird von Hirtinnen und Hirten aufgesucht. Das Vaterunser muss nun lauten: „Du, Gott, bist uns Vater und Mutter im Himmel.“ (Matth. 6, 9)

Zu vielen Substantiven schleicht sich nun ein Adjektiv: Es heißt nicht „Dein Reich komme“, denn in dieser gerechten Sprache muss es heißen: „Deine gerechte Welt komme.“ (Matth. 6, 10) Damit geht man einer Unannehmlichkeit aus dem Wege, nämlich das griechische Wort „basileia“ (lat. „regnum“) übersetzen zu müssen: Da würde das männliche „König“ drinnen stecken. Auch soll man fürder nicht in Versuchung geführt werden; es heißt: „Führe uns nicht zum Verrat an dir, sondern löse uns aus dem Bösen.“ (Matth. 6, 13). Und so erlebt man seine Überraschungen, wenn man sich auf eine genaue Lektüre einlässt. Immer wenn es um das Verhältnis der Geschlechter geht, sind die Übersetzerinnen und Übersetzer nervös geworden. Adam wird nach der Erschaffung der Eva aus der „Seite“ (also nicht mehr „Rippe“) des Mannes zum „Rest des Menschenwesens“, und man fragt sich nicht ohne Grund, wo denn das in der Vorlage stünde (Gen. 2, 22). Bei Luther wird die darauffolgende Stelle stimmig übersetzt: „Da sprach der Mensch: Das ist doch Bein von meinem Beine und Fleisch von meinem Fleisch; man wird sie Männin heißen, darum dass sie vom Manne genommen ist.“ Das geht nun so einfach nicht mehr: „Dieses Mal ist es Knochen von meinen Knochen, und Fleisch von meinem Fleisch! Die soll Ischscha, Frau genannt werden, denn vom Isch, vom Manne wurde sie genommen.“ (Gen. 2, 23) Einige Stellen sind nicht zum wiedererkennen. Das Neue und Überraschende könnte Fortune machen, doch handelt es sich hier um problematische Abmilderungen, die mit der Aussage der Bibel nichts zu tun haben. In Luthers Übersetzung heißt es in guter Übereinstimmung mit der griechischen Vorlage: „Der Jünger ist nicht über seinen Meister, noch der Knecht über den Herrn.“ In der gerechten Sprache – und es geht hier offenkundig um soziale Gerechtigkeit – wird daraus: „Jüngerinnen und Jünger können kein besseres Schicksal erwarten als ihr Lehrer, und Sklavinnen und Sklaven sind nicht in einer besseren Situation als die, denen sie gehören.“ (Matth. 10, 24) An solchen Stellen wird der Unfug dieser Übersetzung besonders. Er liegt nicht zuletzt in der Inkonsequenz, mit der der Gegensatz von Herr und Herrin auf der einen und Knecht und Magd auf der anderen Seite herab-


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gemildert und dann doch wieder bestätigt wird. Die Bibel – und mit ihr auch Jesus Christus – kündigen von diesen ungerechten Voraussetzungen. Darauf kann man im Kommentar hinweisen und auf die Distanz zu unserem Verhältnis von Klassengesetzen verweisen. Aber mit solchen halbherzigen und also vermeintlichen Verbesserungen wird der Bibel und ihren Lesern ein Bärendienst erwiesen; denn sowohl dem theologisch Versierten als auch dem laienhaft Informierten muss es sonderlich vorkommen, dass „Glaube“ schlicht durch „Vertrauen“ ersetzt und damit die Dimension des Glaubens aus dem Ganzen herausgenommen wird. Kommt einem da nicht sofort die Devise in den Sinn, dass Vertrauen gut, Kontrolle aber besser sei? Das Wort „Fleisch“ war den Übersetzerinnen und Übersetzern offenkundig zu unappetitlich, als es um eine Stelle ging, die sich wie nur wenige andere in die europäische Geistes- und Kulturgeschichte (und nicht nur in diese) eingeschrieben haben. Es geht um den Beginn des Johannesevangeliums: „Im Anfang war das Wort und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort.“ Wir wissen, dass Goethes Faust seine lieben Schwierigkeiten bei der Übersetzung dieser Stelle hatte und in der Folge für das griechische „Logos“ Wort, Sinn, Kraft und Tat vorschlägt. Auf „Weisheit“ allerdings verfällt er nicht, wohl wissend, dass es dafür mit „sophia“ doch auch ein eigenes und gar nicht so unbekanntes griechisches Wort gibt. Aber Weisheit entspricht der „Geschlechtergerechtigkeit“ mehr und kann so als Femininum auch das nächste Personalpronomen bestimmen: „Diese war am Anfang bei Gott. Alles ist durch sie entstanden, und ohne sie ist nichts entstanden.“ (Joh. 1, 1 – 2) Der philosophisch-philologische Galimathias erlebt jedoch seinen Höhepunkt, wo es um das Fleisch geht: „Und die Weisheit wurde Materie und wohnte unter uns, und wir sahen ihren Glanz, einen Glanz wie den des einziggeborenen Kindes von Mutter und Vater voller Gnade und Wahrheit.“ (Joh. 1, 14) So schwillt der Text an, der Sohn muss zum Kind werden, das „eingeboren“ wird zu „einziggeboren“ und die Mutter muss auf jeden Fall dazu. Dass aber das griechische Wort „sarx“ zu „Materie“ wird, kann nur als gewaltiger Unfug qualifiziert werden. So ist der Sarkophag also ein Materiefresser. Aber Fleisch sei eben, so sagte

mir eine der Herausgeberinnen, zu krude, die Studentinnen und Studenten hätten dabei an den Metzger und ein Schnitzel gedacht. Und diese Studentinnen und Studenten haben richtig und gut gedacht, denn es geht hier in der Tat um die Präsenz Jesu im Fleische. Denn auch für die Materie gibt es mit „hylä“ einen vielverwendeten Terminus in der griechischen Philosophensprache. Konsequent sind die Übersetzer auch nicht, denn in ihrer Version von 1 Tim. 3, 16 ist davon die Rede, dass Gott „im Fleisch“ (en sarki) geoffenbart sei – und da steht eben nicht „Materie“ – wäre ja auch wirklich schwachsinnig. Noch ein Beispiel sei hier angeführt, das ratlos stimmt. In dem gedankenschweren Gespräch mit Nikodemus sagt Jesus in der Übersetzung Luthers zu seinem Gesprächspartner: „Wahrlich, wahrlich, ich sage Dir: Es sei denn, dass jemand geboren werde aus Wasser und Geist, so kann er nicht in das Reich Gottes kommen. Was vom Fleisch geboren wird, das ist vom Fleisch; und was vom Geist geboren wird, das ist vom Geist.“ (Joh. 3, 5 – 6). Das hört sich in der gerechten Sprache an wie folgt: „Amen, amen, ich sage dir: Alle, die nicht aus Wasser und Geistkraft geboren werden, können nicht in das Königreich Gottes hineingehen. Was aus der Materie geboren ist, ist Materie; und was aus der Geistkraft geboren ist, ist Geistkraft.“ Das griechische „pneuma“ (und das lateinische „spiritus“) lässt sich im Deutschen nur schwer als Femininum fassen, wie es offenkundig das hebräische Urwort war. Doch muss man deswegen aus dem Mond im Deutschen partout ein Femininum machen, nur weil er es in anderen Sprache auch ist? Oder aus dem Tod unbedingt eine Tödin? Oder aus der Sonne ein Maskulinum – „der Sonn“ etwa? Vollkommen verkehrt ist die ungewöhnliche Prägung „Geistkraft“, die wohl besser „Geisteskraft“ lauten sollte. Als Analogie zu Wasserkraft, Fliehkraft und Schwerkraft mag sie hingehen, aber hier wird das Gewollte und die Absicht nur zu deutlich und verstimmt. Luther übersetzt Pneuma einmal mit Geist, ein andermal mit Wind, und das stört weniger, als wenn es für „Der Wind bläset, wo er will, und du hörest sein Sausen wohl“ in der gerechten Sprache heißt: „Geistkraft weht, wo sie will, und du hörest ihre Stimme.“ (Joh. 3, 8) Man mag dieser Übertragung zugute halten, dass sie das griechische „phone“ mit „Stimme“ exak-


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ter wiedergibt als Luther mit „Sausen“ – aber wenn es um die Kraft der Metapher geht, da wirkt Luther viel konkreter: Die „Stimme der Geistkraft“ einem Gemeindemitglied näher zu bringen – wirkt das etwa verständlicher, als von dem Sausen des Windes zu sprechen? Der gute Wille ist allenthalben erkennbar, der Arbeitseinsatz aller Beteiligten muss gerühmt werden. Was aber dabei herausgekommen ist, schadet allen jenen, denen es dienen möchte. Vor allem den Frauen, denn diese werden zu einem unfreiwilligen Paarlauf verurteilt. Unversehens werden da ganze Kompanien von weiblichen Statisten wie Jüngerinnen, Hirtinnen, Pharisäerinnen und Apostelinnen aufgeboten. Dabei gibt es so viele Geschichten, mit denen sich die Fragen der Genderproblematik trefflich anschneiden ließen: Man denke an Martha, an Maria Magdalena, an Moses’ Schwester Miriam, an Judith und an die seltsame Anrede, die sich Maria von ihrem Sohn bei der Hochzeit von Kanaa gefallen lassen muss. Die aufwändige „Bibel in gerechter Sprache“ taugt, wenn zu überhaupt etwas, am besten als ein Objekt der Satire. Man hat den Frauen über die Jahrhunderte unrecht getan, an den Juden sind Verbrechen verübt worden – doch durch diese Art von Übersetzung wird nichts gut gemacht. Grundfalsch, weil verfälschend, ist der Umgang der „Bibel in gerechter Sprache“ mit den historischen Katastrophen: Durch eine eigentümliche euphemistische Praxis in der Wortwahl wird über die Widersprüche und Risse in der Geschichte verharmlosend hinweggetäuscht. In der Tat müssten sich gerade die Frauen über diese Art, mit ihrer Geschichte umzugehen, empören. Wer sich in der Literatur umsieht, wird allenthalben solche Ungerechtigkeiten in der Sprache und im Denken erblicken, und ich schlage daher vor, nun endlich auch Homer, Aischylos, Shakespeare, Baudelaire und Günter Grass in eine gerechte Sprache zu übersetzen. Ernst Jandl hat einmal sehr witzig unter dem Titel „mann & frau in der welt des deutschen“, zu Worten, die es nur als Femininum gibt, ein Maskulinum dazu gedichtet. Das liest sich dann so: „der drus – die drüse / der dun – die düne / der durr – die dürre / der dus – die düse / der gor – die göre / der gratsch – die grätsche /“ usw. Worum es Jandl in einem aufhellenden Scherz geht, das wird in der „Bibel in gerechter Sprache“ zum

bitteren Ernst und damit eben auch unfreiwillig komisch. Dass es jedoch Jandl auch sehr ernst um das Wort war, geht aus dem Gedicht „fortschreitende räude“ hervor, worin eben der Beginn des Johannesevangeliums eben von dieser Krankheit befallen wird. In diesem beklemmenden Verfahren wird klar, wohin es mit dem Wort gekommen ist und wie sehr wir alle, die wir Fleisch sind, eben auch dem Verfall anheim gegeben sind: him hanfang war das wort hund das wort war bei gott hund gott war das wort hund das wort hist fleisch geworden hund hat hunter huns gewohnt him hanflang war das wort hund das wort war blei flott hund flott war das wort hund das wort hist fleisch gewlorden hund hat hunter huns gewlohnt schim schanflang war das wort schund das wort war blei flott schund flott war das wort schund das wort schist fleisch gewlorden schund schat schunter schuns gewlohnt schim schanschlang schar das wort schlund schasch wort schar schlei schlott schund flott war das wort schund schasch fort schist schleisch schleschlorden schund schat schlunter schluns scheschlohnt s------------------------------c--------------------------h s------------------------------c--------------------------h schllls-----------------------c--------------------------h flottsch Aus der „Bibel in gerechter Sprache“ hätte Brecht nichts gelernt. Aber gelacht hätte er.


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Peter Kogler Originalbeilage Nr. 12

Graupappe Luxline 3 mm, Format: 240 x 300 mm, blindtiefgeprägt


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Der letzte Versuch Landvermessung No. 2, Sequenz 7 Vom Hochjoch bis zum Reschensee

Geschichten kann man auch durch geometrische Operationen auf der Landkarte generieren: In Quart folgen unterschiedliche Autoren mit unterschiedlicher Kondition unterschiedlichen Linien (s. Übersichtskarte auf der vorhergehenden Doppelseite). Derzeit befinden wir uns auf einer Geraden, die von Garmisch-Partenkirchen Richtung Oberes Vinschgau führt. In der aktuellen Folge ist Thomas Ballhausen der vorgegebenen Linie vom Hochjoch zum Reschensee gefolgt. Die Reise hat eine Erinnerung in Gang gesetzt: „Der Abdruck, den Du auf mir hinterlassen hast, kommt mit dem Setzen der Schritte zu mir zurück.“ „Das Bild hebt sich heraus; es ist klar und deutlich wie ein Brief: es ist der Brief über das, was mir wehtut.“ (Roland Barthes) Dies sind die Zeilen, die ich nie den Mut fand, Dir zu schreiben. Dies ist der Brief, die Erläuterung, die ich Dir schuldig geblieben bin. Das ist alles. So erinnere ich mich an die Dinge, so und eben nicht anders. Es ist vielleicht also nicht so, wie alles tatsächlich passiert ist, sondern bloß so, wie ich es empfunden habe. Aber das ist alles, das sollte doch reichen. Das reicht. Dieser Versuch, von meiner Unlesbarkeit abzurücken, braucht die geheimnisloseste Schrift, die mir möglich ist. Sendung und Sicht, damit möchte ich beginnen, damit beginne ich. Eine Sendung also, etwas, das doch aus der Mode gekommen zu sein scheint wie vielleicht auch unsere Gefühle. Ich möchte mich, in der Befürchtung nicht anzukommen, direkt an Dich richten. Diese unkuvertierte Form der Gültigkeit eines notwendigen, eines gewagten Risikos, diese Reinschrift des Herzens ist, was ich hier bieten kann. Dir soll etwas Verbrieftes zukommen, wenngleich die Worte sich nur zäh finden lassen, sich mit ungewohnter Schwere einstellen. Bin ich denn nun wahrer, wahrhaftiger, weil ich sie nicht finde? Ich klebe, während ich das Gepackte umschichte, in einer steten, unaufgelösten Unfertigkeit. Es ist vielleicht eine Sendung von unterwegs; das heißt, ich bin nicht da, ich bin nicht hier, sondern woanders. Was sich in diesen bereits vorab geöffneten, aufgeschnittenen Sei-

ten überlagert, zumindest hier kann es auf der Oberfläche kein Geheimnis mehr geben. Das Hermetische, das Chiffrierte, die an Dich gerichteten Zeilen liegen darunter, dazwischen, während die Landschaft immer noch an mir vorüberzuziehen scheint. Ich versuche nicht, noch nicht, auf die Umgebung zu achten. Sendung und Sicht, so könnte es gehen, so könnte es vielleicht enden. Nachdem meine lahmende Deckung aufgeflogen, mein nachlässig konstruiertes Lügengebäude eingestürzt war, kamen die Erleichterung und der Winter nach Wien. Ich war das Versteckspiel schließlich ebenso müde geworden wie die eingeschränkte Bewegung in abgezirkelten Gebieten, die Erschöpfung und den immer schlimmer werdenden Verrat. Der Wetterumschwung kam nur einen Tag, nur einen kurzen Tag nach unserem letzten Gespräch, nur einen Tag seit Deiner letzten Umarmung und diesem unendlich traurigen und doch auch zornigen Blick. Das Licht veränderte sich in dem Moment, in dem die schwere Eingangstür ins Schloss fiel und Du verschwandest, als hätte Dich die Erde verschluckt, als hättest Du nie existiert. Wie um mich Deiner Wirklichkeit zu versichern war ich, da ich Dich nicht mehr sehen konnte, zum nächsten Spiegel gehastet und hatte die Markierungen an meinem Hals betrachtet, die Du mir noch in der Nacht zuvor zugefügt hattest. Dieses verkehrte Bild sollte mir beweisen, dass wir zumindest in unseren engen Räumen vorhanden gewesen waren. Auch das ist ein Gebrauch, den wir von Geheimnissen ma-


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chen. Einerseits nutzen wir sie, um einander diverse Dinge glauben zu lassen, wir wenden sie an wie Instrumente, an denen man sich schneiden kann und wird. Andererseits prägen uns Geheimnisse, was wir voneinander wissen und ahnen, bestimmt uns. Die Blicke der mich nun meidenden Leute, die angeblich von allem wussten und sich überlegen fühlten, ohne tatsächlich etwas zu verstehen, waren von ihren anmaßenden Urteilen, ihren bezogenen Positionen geprägt. Zeugenschaften und das perfide System einer Gerechtigkeit, die es uns unmöglich macht, in der Schuld zu verharren, schwebten wie Rauch über dem Tuscheln in den Gängen und an den Tischen. Es gab ein sich breit machendes Bewusstsein, dass man nach den bisher vorgelegten Schriften und begangenen Taten wohl vorsichtiger mit mir würde umgehen müssen. Die Konsequenz des öffentlichen, des veröffentlichten Geheimnisses ist die Moral oder was man gemeinhin darunter versteht, was die Allgemeinheit darunter zu verstehen glaubt. Was weiß man von den Geliebten, hält es dennoch nicht für wahr und wohin treibt es mich? Ich bin gewiss nicht besser als sie, wahrscheinlich sogar viel schlechter. Doch diese Ausmaße will ich nicht anerkennen, will ich schlussendlich weder für mich noch für irgendjemand anderen gelten lassen. Die Fragen der konventionellen Moral und der Wahrheit interessieren mich nur bedingt. Wenn Du also etwas über die verborgene, geradezu versunkene Wahrheit über mich wissen möchtest, darfst Du nie mich, sondern immer nur andere fragen. Aus der schlammigen Vielzahl der Geschichten suche Dir die Extrempositionen heraus, sie sind die einzig zutreffenden Fakten, die man je über mich finden kann.

Reglementierungen hinter mir lassen – und sei es auch nur für kurze Zeit. Ressentiments reichen an diesem Punkt nicht mehr aus, alles verlangt nach einem tatsächlich reinen Moment, der mit stiftender Kraft ans Ende gesetzt werden soll. Alles verfällt, gerade eben bin ich älter als jemals zuvor, bin ich aus meiner Raserei gekippt. Was bleibt jetzt noch? Keine Körperbeherrschung, keine Sprachbeherrschung, alles liegt im Argen. Die anzusteuernde, abzugehende Route und die vorgeschriebenen Eckpunkte, das Hochjoch und der Reschensee, freilich liegen im Westen. Diese Reise kann eine notwendige Auszeit sein, das eingelöste Gieren nach Licht und Veränderung. Was hier passiert, ist ohne Konsequenz, denn es passiert jenseits von allem Verordneten. Hier und jetzt verkehren sich die Verhältnisse für einen eingeschränkten Zeitraum. Was geht dem Reisen voraus, was weiß ich angeblich darüber? Kurz muss dies noch ausgeblendet, unterdrückt werden, damit ich eine Verbündete vor meinem Aufbruch treffen kann. Sie ist ebenfalls auf dem Weg davon, sie spricht von ihrer Abreise, die sie in eine gänzlich andere Richtung führen wird, wie vom Beginn eines Ausflugs, aber wir beide wissen, dass dem nicht so ist. Sie befürchtet, ihren Zug aus der Stadt zu versäumen, und fragt mich deshalb immer wieder nach der Uhrzeit. Schließlich nehme ich meine Armbanduhr ab und lege sie um ihr linkes Handgelenk, das breiter ist als meines. Das metallene Band umschließt fest das Fleisch darunter, kurz zögert sie, ob sie das annehmen kann und will. Schließlich tut sie es, wir wollen beide diesen Abschied nicht künstlich verlängern oder erschweren. Ich lasse sie gehen, ohne ein tröstendes Wort gesprochen oder empfangen zu haben.

Es geht hier also auch um meine nun erweiterte Unfähigkeit zur Ruhe. Hier kann ich nicht bleiben, hier werde ich nur zappelig bis zur Unausstehlichkeit. Hier kann ich nicht bleiben, nicht jetzt, vielleicht auch in Zukunft nicht für längere Zeit. Kämpfen wir, um zu verlieren, reisen wir, um zu entkommen oder gar zu verstehen? Es mag ein naiver Ansatz sein, doch ich darf, ich muss dieser drängenden Einladung nachkommen, ich muss meine Basis, die Stadt und ihre

Wenig später packe ich die mir notwendig erscheinenden Gegenstände in einen für den voraussichtlich sehr kurzen Zeitraum meiner Abwesenheit viel zu großen Koffer, kontrolliere mehrfach, ob auch alles da ist. Es ist dies ein Vorgang der Selbstberuhigung, der Disziplinierung. Dann nehme ich einen kleinen Rucksack und stecke hinein, was mir unterkommt, und gehe, den Koffer in einem der Zimmer zurücklassend. Ich muss diese Reise allein und mit möglichst


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leichtem Gepäck antreten, mit schlechtem Schuhwerk und dem Gedanken, ja dem Vorsatz, die Kälte nicht leid zu werden. Das Kartenpapier ist glatt und voller Markierungen, es lässt mich ebenso hoffen wie meine Unauffälligkeit. Fast schon unsichtbar sitze ich alleine im komfortablen Abteil, den eingeschlagenen Kurs in den Unterlagen und dem für die Passagiere ausgelegten Informationsfolder mitverfolgend. Die Weststrecke hat mich im Gegensatz zu den anderen Strecken durch das Land, die ich in Gedanken zumeist mit Arbeit verbinde, immer schon beruhigt. Die passierten Städte bringen kleine Erinnerungen mit sich, flackernde Bilder auf der spiegelnden Oberfläche der Fenster. An Salzburg hing, so ich mich nicht auch in dieser Hinsicht täusche, irgendwann einmal sogar mein Herz. Mit zunehmender Geschwindigkeit nähere ich mich dem Zustand des Gestrandetseins, der Unsicherheit. Dies ist nicht meine erste Reise, ich habe also eine Ahnung vom Uneingelösten, vom Verschobenen. Sind die Differenzen zu groß, geht man unter, wird man versetzt und versenkt unter einem zementfarbenen Himmel. Das trübe Oben spannt sich über ein getrübtes Darunter während ich mich weiter nach unten bewege, mich wie ein neugieriges Kind an den Bergen nicht satt sehen kann. Hier, in der schaukelnden Dynamik des Waggons, setzt etwas wie die Variante einer Wiederholung ein. Als ich in Innsbruck umsteige, eine kurze Pause mache und entlang des Inns und der parallel verlaufenden Hauptbahnstrecke weiter meinem ersten Ziel zustrebe wird mir klar: Dies ist mein letzter Versuch. Die zumindest für meine Augen natürliche Wildheit Deiner Heimat, die sich mir nun wieder darbietet, hatte mich schon bei früheren Gelegenheiten erschreckt. Nur durch Dich war sie mir zugänglich, ja begehbar gemacht worden. In unpassender Kleidung war ich mit Dir durch die verschneite Menschenleere gestolpert, voller Verständnis für Dein Verzweifeln mit mir und Deinen kleinen Verrat. Er war eben alles gewesen, was ich nicht war, nie werde sein können. Der Weg verschluckte die Vorwürfe, die Frage nach dem Erleben und dem Machen von Geschichte. Der Wunsch nach ein wenig Bedeutung war zum letzten,

alles verschlingenden Gegenentwurf zu den Kränkungen geworden. Nichts sollte mehr geschaffen oder ausgeglichen werden, während der Boden unter unseren Schritten knirschte. Das unbändige Wünschen war zu Zorn geworden, den wir uns nicht mehr nehmen konnten. In der Landschaft und in unseren Gesichtern waren die Empfindungen verborgen, damit sie nicht einkassiert werden konnten, nichts sollte Zinsen abwerfen, etwas hervorbringen. Der Druck war unerträglich, die Luft war dünn geworden, die Last verlangte nach ihrem Abwurf. Doch dieses verwaltete Elend, diese Empörung, dieser Stolz, all das gehört zu mir, macht mich immer noch aus, warum soll ich mich davon abwenden wie von der Gegend, die jetzt an mir vorüberzieht. Hier war und ist noch etwas wie Leidenschaft, die nur zum Schein gezähmt worden war, hier liegt ein Rausch, ein Rasen, das vor niemandem halt macht, nach Verpflichtungen und Folgen nicht fragen lässt. Unbekannte gehen an mir vorbei, Tausende, die ich nicht gesehen habe, Abertausende, die ich nicht mehr sehen werde. Ob man ein Scheusal, ein Monster nicht doch auch annehmen könnte, wie man ein dunkles, böses Herz nicht doch kosten wollen würde. Bitter wäre sein Geschmack, gewiss, aber es wäre immer noch ein Herz. Ich vermutete Dein Gesicht unter dem Wollschal, denn sehen konnte ich es damals nicht. Dein Körper konnte unter all den schweren Stoffen nur erahnt werden, die herauszuschälenden Lippen, der herauszuschälende Rest. Wir alle wissen, wohin das führte. Da war dann plötzlich Dein Blick, der mich auch jetzt wieder einholt und die Bilder zu Überlagerungen treibt, Dein Blick, der mir bedeutete, dass Du Dich nur zurückgehalten hattest, da ich mich von der vollen Wahrheit wohl nie erholt hätte. Schwache Momente wie diese erlaubten mir den Gedanken, dass ich Dir mit meinen Fehlern nur zuvorgekommen wäre. Wurden wir damals verfolgt, werde ich jetzt verfolgt? Ein Schatten scheint an mir zu kleben, während ich meinem eigentlichen Bestimmungsort zueile, ein Schatten, der vielleicht auch nur in meiner Vorstellung an mir haftet. In dieser Umgebung, das merke ich beim Verlassen des Zugs, gibt es kein Kalkül mehr, das mir Deckung bieten könnte. Ist dies das erste Ziel, das ich


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angestrebt habe? Der Aufstieg war Dank technischer Hilfsmittel leichter als erwartet, fast schon hätte ich mir mehr Strapazen und Zumutungen gewünscht. Ich beschließe, kaum bin ich am Grat angekommen, zumindest einen Teil des Weges zurückzugehen. Die Aussicht ist hervorragend, aber ich bin enttäuscht, denn es scheint mir nur ein weiterer Schauplatz zu sein, der mich nicht innehalten lässt. Mit freundlicher Gleichmut starre ich auf die Gipfel, versuche, die mich umgebenden Menschen zu ignorieren, denen ich mit meinem abgewetzten Mantel, der schief sitzenden Brille und den viel zu leichten Sportschuhen höchstwahrscheinlich einen völlig absurden Eindruck von mir vermittle. Ohne Mütze wäre ich, still vor mich hin talwärts stolpernd, wohl verloren. Später im Bus, der mich zumindest ein kleines Stück weiterbringt, lege ich mit einer theatralischen Geste einen Finger auf die Karte, fahre damit die vorgegebene, vorgeschriebene Route nach. Beim nächsten Halt steigen alle aus und mit beeindruckender Schnelligkeit, die mich an freigesetztes Quecksilber erinnert, stieben die Fahrgäste auseinander. Kein Gleis reicht bis hier. Ich muss und möchte nun gehen, wandern. Mich fortbewegen wie einer, der all das neu zu erlernen hat. Die Erinnerung an die einst so gewohnten, tiergleichen Bewegungen stellen sich erst nach und nach ein, doch zumindest hier kann ich mich auf mein Körpergedächtnis verlassen. Der Abdruck, den Du auf mir hinterlassen hast, kommt mit dem Setzen der Schritte zu mir zurück. Es gilt weiterzugehen, ich trotze dem Wind mit der Haltung des Beleidigten. Ich meide fragwürdige Unterkünfte, deren Namen nach fragwürdigeren Verlockungen klingen. Ich bin nicht bereitwillig genug, jetzt schon den Tod – oder Schlimmeres – zu empfangen, nicht schon wieder. Einen Gedanken verschwende ich, während ich die Gebäude passiere, an die Daheimgebliebenen, die jetzt wohl nervös am kalten Kamin sitzen werden und die leeren Martinigläser zwischen ihren Fingern kreisen lassen. Ich ziehe weiter nach Südwesten, den Blick auf den Boden geheftet, sehe mich in Gedanken mit dem Hintergrund verschwimmen, mich im Rhythmus der Schritte beinahe verlierend und auflösend, bis ich in

aller Aufrichtigkeit und Erleichterung sagen könnte: Ich bin gar nicht da. Vom Wunsch beflügelt, schwerelos zu sein, laufe ich los, immer die steinige Strecke entlang. Ich stelle mir vor, dabei mehr und mehr Gewicht zu verlieren und schließlich den ersten Fuß in die Luft zu setzen und darauf vertrauen zu können, dass sie mich tragen wird. Das Licht durchbricht, wesentlich schöner als sein Zweck und Nutzen es vermuten lassen, in breiten Strahlen die himmlische Schwere, ein billiger und doch wirksamer Spezialeffekt. Es liegt alles da, breitet sich vor mir aus: Der Reschensee, mit seinem hervorstehenden Kirchenturm, ein denkmalgeschütztes Mahnmal für die Moderne und die in ihrem Namen verschlungenen Orte. Ob man, trotz der Schübe der Historie, immer noch Tote aus dem überschwemmten Gebiet herauszieht, ob man ihre Namen herausfinden kann und vielleicht sogar irgendwo vermerkt? Versuchen wir, die zweifelhafte Schönheit begradigter, zivilisierter Natur schätzen zu lernen und die von den Sprengungen zurückgelassenen Ruinen am Grund des künstlich angelegten Stausees zu verdrängen. Der Boden am Rande des Sees ist kalt und feucht. Der Winter steckt hier noch in der Erde, ein klammes Echo, das sich wie ein hungriges Lebewesen anfühlt, das von mir Besitz ergreifen möchte, dann aber doch angewidert von mir ablässt, ganz so, als hätte es in mir einen unliebsamen Verwandten erkannt. Ich bleibe an diesem Gewässer sitzen, das weniger kühl aussieht als es wohl ist. Ich warte ab, bis die Sterne gut zu sehen sind, funkelnd und in der Schwärze der beginnenden Nacht gut aufgehoben. In der Ferne scheint etwas Gewaltiges zu ächzen, doch ich kann den Ursprung des Geräuschs nicht ausmachen. Du hattest mir das Firmament immer und immer wieder neu beschrieben, doch ich war nie in der Lage gewesen, die Sternbilder zu erkennen. Doch spätestens hier, immer noch unterwegs, gedanklich aber immer noch an diesem Ufer unter der kalten Schönheit des Alls, vervollständigt sich das Bild wieder und ich weiß, was zu tun ist.


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„Man muss froh sein, dass es das gibt.“

Gottfried Rainer begleitet Krebspatienten aus Osttirol auf der Fahrt zur Bestrahlung ins Landeskrankenhaus Klagenfurt. Protokoll einer Reise mit dem Roten Kreuz. „Also um fünf vor sechs, pünktlich.“ Noch während ich anderntags dem Treffpunkt zustrebe, rollt im Morgengrauen ein auffällig beschrifteter Kleinbus heran: das Rote Kreuz. Im Scheinwerferlicht überholender Autos gleißen die reflektierenden Streifen auf der Dienstuniform, als der Lenker eiligen Schrittes seinen Wagen umkurvt und die Schiebetür aufreißt. „Guten Morgen. Und danke fürs Mitnehmen.“ „Kein Problem. In der Mittelreihe ist der Fensterplatz frei, weil heute eine nicht mitfährt. Und bitte anschnallen!“ Neben dem Rotkreuzmann am Volant sitzt mit vornübergeneigtem Kopf ein älterer Mann. Er wird den ganzen Tag kein Wort sagen. Wir halten nach einigen hundert Metern bei einer Einfahrt an. Eine Frau mittleren Alters steigt ins Wageninnere. „Guten Morgen!“ Die Stimme klingt energisch. Der Lenker kurvt quer durch die Stadt. Aus dem Radio trieft eine Frauenstimme: „… mitten im Paradies“. Doch der Frühnachrichtensprecher führt in die irdische Wirklichkeit zurück: George W. Bush möchte die Nato weit gegen Russland vorschieben. Beim Haus des Roten Kreuzes warten eine Frau und ein Mann auf den Bus. Sie sind von der Rettung aus einem Seitental gebracht worden. Am anderen Ende der Stadt der nächste Morgengruß einer Zusteigenden. Schließlich macht, nach zwanzigminütiger Fahrt, eine freundliche Dame unsere Reisegesellschaft komplett. Sie nimmt ihren Stammplatz im Fond ein und beginnt sofort ein Gespräch mit ihrer Sitznachbarin. Man kennt einander zwar noch nicht lang, doch tägliche gemeinsame Fahrten schaffen Vertrautheit. Der Lenker strebt nun zügig dem Ziel zu – der Klinik in Klagenfurt. Genauer: dem Institut für Strahlentherapie / Radioonkologie des Kärntner Landeskrankenhauses.

Die Männer und Frauen im Bus sind aus Osttirol und Oberkärnten und fahren zur Bestrahlung. Sie leiden an Krebs. Im Vorjahr hat unser Fahrer, der frühere Polizist Peter Ortler (63), als Rettungswagenlenker mehr als 50.000 Kilometer zurückgelegt. Verunglückte Urlauber waren nach Hause zu bringen, nach Berlin und Paris unter anderem. Und dann die vielen Fahrten nach Klagenfurt. Diesmal ist er eingeteilt, weil ein Bewohner aus seinem Heimatdorf im Defereggental der Strahlenbehandlung bedarf. Also startet er jeden Tag – Samstag und Sonntag ausgenommen – vor halb sechs Uhr den Rettungswagen vor dem Haus, nimmt den kranken Nachbarn an Bord und sammelt im Lauf der Fahrt die weiteren Patienten ein. Noch vor Mittag sind sie alle wieder zu Hause. Seit 24 Jahren hilft Ortler dem Roten Kreuz – „seit eben bei uns eine Ortsstelle besteht.“ Er ist ausgebildeter Sanitäter und ganz allein für die Kranken im Bus zuständig. „Passiert ist, Gott sei Dank, noch nie was. Höchstens, dass jemandem vom Fahren schlecht geworden ist.“ Die täglichen Fahrten nach Klagenfurt, hin und zurück immerhin mehr als 350 Kilometer, führt er noch so lange weiter, wie sein Nachbar die Strahlenbehandlung benötigt. Danach übernimmt ein anderer Fahrer – oder eine Fahrerin – die Transporte der Strahlenpatienten. Ein Dutzend Freiwilliger steht bereit. Das Rote Kreuz schaut sich an, wo die Kranken wohnen und welche Art der Bestrahlung ihnen die Ärzte im Bezirksspital empfehlen. Nach diesen Vorgaben wird die günstigste Route ausgetüftelt. Auf Kostenbewusstsein legen die Zahler, die zuständigen Sozialversicherungen, Wert. Für unsere Fahrt mit sechs Patienten wird das Rote Kreuz rund vierhundert Euro verrechnen.


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Inzwischen ist es hell geworden, die Landschaft hat Gestalt angenommen. Aber die Businsassen verschwenden keinen Blick auf die Froschzäune und die Auwälder, die alten Bahnhöfe und die rostigen Gewerbezonen, die verschlafenen Dörfer und die noch tief verschneiten Höhenzüge. Sie kennen die Gegend zur Genüge. Sie reden über alles, außer über das Eigentliche. Sie wissen ohnehin Bescheid. In der vierseitigen Patientendokumentation ist, übrigens in vorbildlich verständlicher Sprache, ihr Problem ausführlich dargelegt. Sie wissen, dass ionisierende Strahlen die krankhaft veränderten Zellen in ihrem Körper zerstören sollen. Auf ihrer Haut sind die Eintrittsfelder der Strahlen genau markiert. Sie haben eine Menge Fragen über Vorerkrankungen, Lebensweise und Medikamenteneinnahme beantwortet. Sie wurden über die möglichen Nebenwirkungen unterrichtet, haben die Risiken von Spätfolgen abgewogen und schließlich der Strahlenbehandlung zugestimmt. Damit ist das Thema abgehakt. Das K-Wort fällt in der Unterhaltung nicht. In Italien haben sie jetzt gestreikt, weil die Pasta so teuer geworden ist. – Zuerst habe ich gar nicht gewusst, was das heißt: al dente. – Meine Oma macht sie immer super, aglio e olio, weißt du. Von hinten ein freundliches Tippen auf die Schulter. Bitte weitergeben! Ah, die Zuckerln kommen! Danke! Eigentlich wollte ich ja Lehrerin werden. Mein Vater war Lehrer, eine Zeitlang auch in Arriach. Kennst du das? Das ist der Mittelpunkt von Kärnten! Aus der Perspektive des Fahrgastes eines Rotkreuzwagens wirken die Autofahrer seltsam diszipliniert, fast liebenswert. Respekt vor dem Einsatzfahrzeug? Oder entsteht der friedliche Eindruck nur, weil wenig Verkehr herrscht und unser Lenker so ganz und gar nicht dem verbreiteten Faible frönt, die Fahrweise der Straßenkameraden lautstark zu kommentieren? Slowenische Lastzüge dröhnen vorbei. Ein Wahnsinn, was das Benzin jetzt kostet! – Dabei: Früher war es bei uns in Osttirol am teuersten, jetzt ist es relativ günstig. – Ja, aber erst, seitdem die JetTankstelle da ist. – Wir haben früher oft in Kitzbühel

getankt. – Da können sie lang Lohnsteuer kassieren, bis sie so viel einnehmen wie durch die Steuern auf die Benzinpreise. – Kann man sich alles nicht mehr leisten. – Beim Schlecker kriegst du zwei Zahnbürsteln um 99 Cent. Natürlich nicht weiß Gott was für Qualität. Aber man hat sie ja eh nicht so lang. – Mein Mann hat gesagt: wegen dieser 50 Cent! Aber es läppert sich zusammen! Auf der linken Seite bedeckt wie ein Wellenmeer ein gewaltiges Rundholzlager den Talboden. Auch kein Anlass für gute Laune bei der Sitznachbarin: „Wahnsinn, wie die da ausbauen! Und bei uns in Sillian ist alles weg. Und was noch da ist, kaufen die Südtiroler auf!“ Es geht auf die Autobahn. Das Tempo steigt, das Dröhnen im Auto nimmt zu. Allmählich werden das Reden und das Zuhören und das Kopf-Verrenken zum besseren Verständnis anstrengend. Das Gespräch schläft ein. Alle hängen ihren Gedanken nach. Bleifarben liegt der Wörthersee da. Vorne dudelt: „Du bist für mich das Leben.“ Ein Morgengruß von Radio Kärnten an der falschen Adresse. Um 7.30 Uhr ist Klagenfurt erreicht und kurz später auch das Ziel. „Rettung Lienz“, sagt der Fahrer, und der Schranken des Landeskrankenhauses geht augenblicklich hoch. Eine Rezeption, helle Sitzgarnituren und Glastische, auf denen Magazine liegen. An den Wänden Landschaftsfotos und Bilder von Blumen. Der Naturfilm über die Mauritiustaube im Fernsehen findet wenig Beachtung. Das Zentrum der Strahlenstation im Tiefparterre gleicht der Lounge eines Hotels. Doch führen rundum beschriftete Türen zu Therapieräumen, und Weißkittel huschen herum. Und den Gästen fehlt der Übermut von jungen Urlaubern ebenso wie die Eleganz von Kongresstouristen und die handyversessene Geschäftigkeit von reisenden Führungskräften. Gespräche in gedämpftem Ton, dann und wann ein lauteres Begrüßungswort. Nacheinander, in rascher Abfolge, werden die Leute zur Behandlung gebeten. Sie dauert nicht lang, wenn das Gerät erst einmal auf


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den Patienten eingestellt ist. Ein Prostatakarzinom wird von fünf bis sieben Richtungen bestrahlt, jeweils etwa zwanzig Sekunden lang. Nach längstens fünf Minuten steigt der Kranke im Routinefall wieder vom Behandlungstisch. Die Dauer des Bestrahlungsvorgangs steht in einem grotesken Verhältnis zum Zeitaufwand der An- und Heimreise, jedenfalls für Bewohner peripherer Landstriche. In der Hauptstadt wohnende Patienten radeln vor der Arbeit einmal schnell zum Bestrahlen. Der mit einer bösartigen Wucherung geschlagene Bewohner eines Osttiroler Seitentals legt die Strecke Tirol– China zurück in der Hoffnung, das Leiden loszuwerden. „Man muss froh sein, dass es das gibt“, sagt einer aus unserer Busgesellschaft, auf die Beschwerlichkeit der täglichen Fahrten angesprochen. Und er meint wohl auch: dass es das gratis gibt. Denn die Bestrahlung etwa eines Prostatakarzinoms kostet zwischen zweiund achttausend Euro. Voraus geht die Bestrahlungsplanung, ein Teamprozess, der nicht bei jedem Patienten an einem Tag abgeschlossen ist. Radiologietechnologen, Medizinphysiker und Ärzte legen die Behandlungsweise fest. Sie richtet sich nach der Krankheitssituation und nach der anatomischen Eigenheit der zu behandelnden Person. „Die Behandlungsdauer hängt von der Tumorart ab und davon, ob die Bestrahlung ergänzend zur Operation durchgeführt wird“, erläutert der Chef des Klagenfurter Instituts, Wolfgang Raunik. „Erfolgt die Bestrahlung nach der Operation, geht sie über fünf Wochen. Wird nur bestrahlt, so dauert das sieben bis acht Wochen.“ Das wären dann also bis zu 40 Fahrten zur Klinik. Ein Teil der Strahlenpatienten aus Osttirol wird zur Behandlung nach Innsbruck gebracht. Es hängt von ihrem Wohnort und von der Tumorart ab. „Am liebsten fahren unsere Chauffeure aber nach Klagenfurt“, sagt Andreas Stotter vom Roten Kreuz in Lienz. „Das nicht nur, weil’s weniger weit ist und nicht über Pässe geht: In Klagenfurt kommen die Osttiroler Patienten sofort nach ihrem Eintreffen dran.“

Meistens ist die Gruppe schon um 8.30 Uhr wieder abreisefertig. Diesmal dauert’s länger. Eine Frau wartet immer noch auf ihren Aufruf. Haben sie die heute vergessen? Die Verzögerung gibt Gelegenheit zu Gesprächen. Bereitwillig teilen sich die Heilung Suchenden mit, auch jene, die ihr Los noch nicht angenommen haben. Erika (Patientennamen verändert), eine ältere Frau, der man ansieht, dass ihr das Leben nichts geschenkt hat, sagt: „Ich habe mein Lebtag nie geraucht und auch nie Schnaps getrunken. Und jetzt das!“ Sie hat Zungenkrebs. Erna, eine Frau mittleren Alters, fühlte sich ausgebrannt. Es wird wohl die Doppelbelastung sein, dachte sie. Neben der Familie hatte sie noch eine betagte und pflegebedürftige Angehörige zu betreuen. Mann und Kinder wurden aufmerksam, als sie seltsame Antworten gab. Dann fiel ihnen bei einer Wanderung der schleppende Gang auf. Sie drängten auf einen Arztbesuch. Die Nervenärztin verwies die Frau sofort ans Krankenhaus. Dort der Hammerschlag: Gehirntumor! Sie wurde sofort operiert. Bestrahlungen sollen den Heilungserfolg nun sicherstellen. Bei Ludwig, dem man den nahen Achtziger nicht ansieht, ist Prostatakrebs festgestellt worden. Man hat ihn vor die Wahl gestellt: Operation oder Bestrahlung. Er hat sich für die weniger radikale Variante entschieden und ist sehr zuversichtlich. Zumindest haben ihm die Diagnose und die täglichen Bestrahlungsfahrten Humor und Geselligkeit noch nicht geraubt. „Haben Sie einmal einen Unfall gehabt?“, fragte der Arzt Brigitte. „Sind Sie vielleicht einmal gestürzt?“ Die Frau verneinte: „Ich wüsste nicht wann und wo.“ Erst viel später, im Familienkreis, kam die Erinnerung. „Mama, du bist doch damals im Bus gestolpert und gegen die Klinke der Toilettentür gestoßen.“ Als dieser längst vergessene Vorfall wieder ins Bewusstsein trat, kannte sie bereits die schreckliche Bedeutung des Wortes SARKOM. Viele Monate nach dem Missgeschick im Bus bildete sich auf dem Rücken eine Geschwulst, die Brigitte für eine Art Talgdrüse hielt. Später suchte sie doch


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einen Hautarzt auf. „Das ist keine Talgdrüse“, sagte der Doktor ernst. „Sie müssen ins Spital!“ Dort besah sich der leitende Arzt den Fall und bemerkte: „Sie können jetzt für ein paar Tage nach Hause gehen und ihre Angelegenheiten ordnen. Dann werden Sie operiert.“ Der Frau blieb fast die Luft weg: ihre Angelegenheiten ordnen! Warum nicht gleich: ihr Testament machen! Kurz später wurde ihr im Krankenhaus ein fast eineinhalb Kilogramm schweres Gewächs herausgeschnitten. Es folgte eine zweite Operation bei einem bekannten Chirurgen in der Klinik von Salzburg. „Sie haben weitere Teile des Tumors entfernt. Dann hat mich der Doktor gefragt, ob er sich für einen Moment neben mir aufs Bett setzen darf. Und dann hat er gesagt: ‚Es ist ein Sarkom.‘“ Er erklärte ihr den Begriff, und sie erlitt einen Schock. „Ich habe eine Stunde lang nicht mehr reden können, habe kein Wort herausgebracht.“ Die Angehörigen richteten sie wieder auf. Nach einer Chemotherapie erhält sie jetzt Bestrahlungen. Die Frau mit der Brustoperation redet über ihre Therapie mit einer Gelassenheit, als ob es sich um die Routine eines technischen Services handelte. „Mein Mann hat diese Fahrten vor ein paar Jahren auch machen müssen: Prostata. Und jetzt bin eben ich dran.“ Sie weiß über die Krankheit genau Bescheid, beschreibt sie präzise wie eine Außenstehende. Beim Eintreffen in der Klinik kümmert sie sich immer darum, dass die Gruppe rasch angemeldet ist. Und sie analysiert die Stimmungslage: „Heute war es bei der Anreise etwas stiller im Bus als sonst. Das kommt von der Umstellung auf die Sommerzeit: Es war noch dunkel, das schlägt sich aufs Gemüt.“ Auf der Heimreise ist die Stimmung gelöster. „Unterwegs eingekehrt sind wir aber noch nie“, erzählt später der Chauffeur. „Die Leute wollen rasch heim zu ihren Familien.“ Aber niedergeschlagen, nein niedergeschlagen wirkten die Patienten auch nicht. Das bestätigt der Augenschein. „Bis morgen“, verabschie-

den sich die Aussteigenden. Es klingt wie unter Arbeitskollegen. Einmal sei sogar gesungen worden im Bus der Strahlenpatienten, erinnert sich eine Rettungsfahrerin. Eine Ausnahme. Krampfhafte Lustigkeit ist ebenso wenig gefragt wie gegenseitiges Bemitleiden und der langatmige Austausch von Krankengeschichten. „Vor kurzem hatten wir einen Mölltaler mit, der hat bis Klagenfurt nur Witze gerissen. Alle haben sich unter der Gürtellinie abgespielt. Es war richtig peinlich.“ Manchen Patienten vermittelt die Schicksalsgemeinschaft im Bus eine Art von Geborgenheit. Andere belastet es hingegen, mit sichtbar schwer Leidenden gemeinsam unterwegs sein. Für die Fahrt im Privatauto zahlt die Gebietskrankenkasse die Hälfte des offiziellen Kilometergeldes. Taxifahrten werden zu einem Sondertarif vergütet. Der Lienzer Hans Auer hat etliche Jahre lang Tumorpatienten im Taxi zu den Kliniken, bevorzugt nach Klagenfurt, gebracht. „Das waren angenehme Fahrten mit angenehmen Menschen“, erinnert er sich. Und schildert zum Vergleich Erlebnisse als Nachttaxifahrer, in denen Rauschige, Rauflustige und Fuhrlohnpreller die Hauptrollen spielen. Manchmal trifft er sich noch mit seinen ehemaligen Fahrgästen auf einen Kaffee. Es sind Freundschaften entstanden. „Ich weiß fast von allen, wie es ihnen weiter ergangen ist.“ Nach der Statistik ist die Überlebenschance der Tumorpatienten allerdings bei weitem geringer als nach den Erfahrungen des Taxifahrers Auer. Er zählt seine trotz der Strahlenbehandlung verstorbenen Kunden auf und benötigt dafür nicht einmal alle Finger seiner Rechten: „Es waren vier.“ Viele Male ist Auer mit einer Frau zur Therapie nach Klagenfurt gefahren, mit der er in gewisser Weise kollegial verbunden war. Auch sie hatte Krebskranke zur Therapie gebracht – als Rotkreuzfahrerin. Und dann hatte es sie selbst erwischt.


Quart Nr. 01–11

Marlene Haring

Milena Meller

Fred Schreiber

Nathan Aebi

Michael Hausenblas

Bernhard Mertelseder

W. G. Sebald

Andreas Altmann

Krista Hauser

Klaus Merz

Christian Seiler

Architekten Moser Kleon

Clementina Hegewisch

Wolfgang Mitterer

Walter Seitter

Clemens Aufderklamm

Werner Heinrichmöller

Philipp Mosetter

Peter Senoner

Ludovic Balland

Heinz D. Heisl

Paul Nagl

Q. S. Serafijn

Othmar Barth

Peter Herbert

Olga Neuwirth

Martin Sieberer

Christoph W. Bauer

Ralf Herms / Rosebud

the NEXTenterprise

Christoph Simon

Ruedi Baur

Margarethe Heubacher-

architects

Alessandro Solbiati

Wolfgang Sebastian Baur

Sentobe

Walter Niedermayr

spector cut+paste

Sven-Eric Bechtolf

Klasse Hickmann

Michaela Nolte

Thomas Stangl

Julia Bornefeld

Richard Hoeck

Thomas Nußbaumer

Martina Steckholzer

Kurt Bracharz

Candida Höfer

Peter Oberdorfer

Karl Stockreiter

Maria E. Brunner

Robert Holmes

Walter Obholzer

Bernhard Studlar

Ferdinand Cap

Anton Holzer

Walter Pamminger

Rudolf Taschner

Ernst Caramelle

Stefanie Holzer

Karin Pernegger

Paul Thuile

Michael Cede

Albert Hosp

Hans Karl Peterlini

Susanne Titz

Günther Dankl

Johannes Huber

Robert Pfaller

Ernst Trawöger

Hans Danner

Sebastian Huber

Andreas Pfeifer

Heinz Trenczak

Georg Diez

Barbara Hundegger

Marion Piffer Damiani

Thomas Trummer

Dimitré Dinev

Helmut Jasbar

Hans Platzgumer

Wolfgang Tschapeller

Klaus Doblhammer

Ivona Jelcic

Wolfgang Pöschl

Erdem Tunakan

Fred Einkemmer

Ulrike Kadi

Gerald Preinfalk

Sandra Unterweger

Olafur Eliasson

Fabian Kanz

Manuela Prossliner

Roman Urbaner

William Engelen

Bernhard Kathan

Irene Prugger

Katrien van der Eerden

Carsten Fastner

Leopold Kessler

Carl Pruscha

Andrea van der Straeten

Friederike Feldmann

Walter Klier

Thomas Radigk

Rens Veltman

Ellinor Forster

Gerhard Klocker

Bernhard Rathmayr

Joseph von Westphalen

Katja Fössel

Margit Knapp

Helmut Reinalter

Klaus Wagenbach

freilich landschafts-

Alfred Komarek

Robert Renk

Martin Walde

architektur

Florian Kronbichler

riccione architekten

Peter Warum

Martin Fritz

Gustav Kuhn

Alice Riegler

Vitus H. Weh

Marta Fütterer

Martin Kus̆ej

Katharina Rutschky

Hans Weigand

Heinz Gappmayr

Ulrich Ladurner

Peter Sandbichler

Lois Weinberger

Michael Glasmeier

Bernhard Lang

Benedikt Sauer

Gabriele Werner

Rolf Glittenberg

Patrizia Leimer

Hans Schabus

Günter Richard Wett

Christian Gögger

Paul Albert Leitner

David Schalko

Roman Widholm

Peter Gorschlüter

Clemens Lindner

Lukas Schaller

Martin Widschwendter

Martin Gostner

Christine Ljubanovic

Peter Scheer

Erika Wimmer

Barbara Gräftner

Ove Lucas

Elisabeth Schlebrügge

Robert Winkel

Georg Gröller

Sepp Mall

Eva Schlegel

Heinz Winkler

Sabine Gruber

Fritz Magistris

Nikolaus Schletterer

Franz Winter

Gebhard Grübl

Andreas Maier

Fridolin Schley

Robert Woelfl

Egyd Gstättner

Urs Mannhart

Birgit Schlieps

Erich Wucherer

William Guerrieri

Dorit Margreiter

Hanno Schlögl

Erwin Wurm

Ernst Haas

Raimund Margreiter

Ferdinand Schmatz

Anton Würth

Georg Friedrich Haas

Barbara Matuszczak

Gunter Schneider

Andrea Zanzotto

Händl Klaus

Friederike Mayröcker

Roland Schöny

Stefan Zweifel

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In Quart wird ein eigenwilliger, aus dem Regionalen entwickelter, auf internationalem Niveau ausformulierter Kulturbegriff gepflegt.

Daniel Buren: Skizze Coverentwurf für Quart 12

Profil / Wien

Wer Quart abonniert, bekommt sicher ein Heft (bevor es vergriffen ist, was vorkommt). Soweit Argument Nummer eins. – Zweitens: Es kommt billiger! Zwei Hefte kosten 18,– (statt 24,–). Und drittens gibt es als Abogeschenk ein Buch aus dem Haymon-Programm (siehe Rückseite der eingeklebten Postkarte). Wenn Sie einen neuen Abonnenten werben, gibt’s gleich 2 Geschenke: eines für den neuen Abonnenten und eines für Sie!


Der Dichter Johann Chrysostomus Senn wäre heute vergessen, hätte nicht Franz Schubert zwei seiner Gedichte vertont. Dabei hatte der Ex-Revoluzzer Immer wieder hat die einst weitab von den kulturellen und politischen Zentren gelegene Gegend um Landeck bedeutende Persönlichkeiten hervorgebracht, die auswärts ihre Bestimmung fanden, wie den großen Barockbaumeister Jakob Prandtauer (1660 – 1726) aus Stanz bei Landeck oder den vor allem mit seinen Opern und Liedern international erfolgreichen Komponisten Joseph Netzer (1808 – 1864) aus Zams – und den Dichter-Philosophen Johann Chrysostomus Senn. Er wurde 1795 in Pfunds im Oberen Gericht als Sohn des Landrichters und Abgeordneten zum Tiroler Landtag Franz Michael Senn (1759 – 1813) geboren.1 Sein Vater tat sich als Hauptmann der Pfundser Schützen und Verfasser programmatischer Streitschriften in den Tiroler Freiheitskämpfen hervor, verlor mit der Angliederung Tirols an Bayern 1806 sein Amt als Landrichter und organisierte einen Aufstand gegen die bayerische Regierung. Die Aussichtslosigkeit der Lage erkennend, ging Franz Michael Senn als „alleinerziehender Vater“ – die Mutter des Dichters war depressiv gewesen und hatte 1802 Selbstmord begangen – nach Wien und erhielt eine Beamtenstelle. Johann Chrysostomus Senn

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besuchte ab 1807 das Wiener Akademische Gymnasium und kam nach dem frühen Tod des Vaters ins von den Piaristen geführte Wiener Stadtkonvikt, wo er Freundschaft mit einem weiteren später berühmten Zögling schloss: Franz Schubert. Schon damals fiel der Tiroler zum einen als streitbarer Heißsporn und zum anderen als großes dichterisches Talent auf. Senn inskribierte Philosophie, Medizin und Rechtswissenschaften an der Universität Wien, schloss aber keines dieser Studien ab. Vielmehr etablierte er sich als eine der Zentralfiguren des Freundeskreises um Franz Schubert, zu dem als besondere Vertraute Senns auch Franz von Bruchmann und Franz von Schober gehörten – das Triumvirat der „Dioskuren im SchubertKreis“.2 1819 schloss sich Senn einer verbotenen Studentenverbindung an und zog bald das Misstrauen des Metternich’schen Regimes auf sich: Das Interesse am Deutschen Idealismus Schellings, die Verehrung Goethes und der Frühromantiker um Schlegel und Tieck3, liberales Gedankengut und die Abscheu vor dem allgegenwärtigen Polizei- und Zensurwesen einten die


Schuberts Gefährte

Der Dichter Johann Chrysostomus Senn wäre heute vergessen, hätte nicht Franz Schubert zwei seiner Gedichte vertont. Dabei hatte der Ex-Revoluzzer noch ganz anderes zu bieten. Von Franz Gratl Immer wieder hat die einst weitab von den kulturellen und politischen Zentren gelegene Gegend um Landeck bedeutende Persönlichkeiten hervorgebracht, die auswärts ihre Bestimmung fanden, wie den großen Barockbaumeister Jakob Prandtauer (1660 – 1726) aus Stanz bei Landeck oder den vor allem mit seinen Opern und Liedern international erfolgreichen Komponisten Joseph Netzer (1808 – 1864) aus Zams – und den Dichter-Philosophen Johann Chrysostomus Senn. Er wurde 1795 in Pfunds im Oberen Gericht als Sohn des Landrichters und Abgeordneten zum Tiroler Landtag Franz Michael Senn (1759 – 1813) geboren.1 Sein Vater tat sich als Hauptmann der Pfundser Schützen und Verfasser programmatischer Streitschriften in den Tiroler Freiheitskämpfen hervor, verlor mit der Angliederung Tirols an Bayern 1806 sein Amt als Landrichter und organisierte einen Aufstand gegen die bayerische Regierung. Die Aussichtslosigkeit der Lage erkennend, ging Franz Michael Senn als „alleinerziehender Vater“ – die Mutter des Dichters war depressiv gewesen und hatte 1802 Selbstmord begangen – nach Wien und erhielt eine Beamtenstelle. Johann Chrysostomus Senn

besuchte ab 1807 das Wiener Akademische Gymnasium und kam nach dem frühen Tod des Vaters ins von den Piaristen geführte Wiener Stadtkonvikt, wo er Freundschaft mit einem weiteren später berühmten Zögling schloss: Franz Schubert. Schon damals fiel der Tiroler zum einen als streitbarer Heißsporn und zum anderen als großes dichterisches Talent auf. Senn inskribierte Philosophie, Medizin und Rechtswissenschaften an der Universität Wien, schloss aber keines dieser Studien ab. Vielmehr etablierte er sich als eine der Zentralfiguren des Freundeskreises um Franz Schubert, zu dem als besondere Vertraute Senns auch Franz von Bruchmann und Franz von Schober gehörten – das Triumvirat der „Dioskuren im SchubertKreis“.2

1 Zur Biographie Senns siehe u. a. „Senn, Johann“, in: Constant von Wurzbach, Biographisches Lexikon des Kaiserthums Österreich, Wien 1877, Band 34, 119–1229; „Senn, Johann“, in: Vinzenz Gasser, Biographisches Schriftstellerlexikon von Tirol, Band 3, 267; Adolf Pichler, „Johann Senn. Ein Beitrag zur deutschen Literaturgeschichte“, in: Deutsches Museum. Zeitschrift für Literatur, Kunst und öffentliches Leben, Nr. 31, 153–171, Moriz Enzinger, „Zur Biographie des Tiroler Dichters Joh. Chrys. Senn“, in: Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen 156 (1930), 169–183 und zuletzt Sigurd Paul Scheichl, „Senn, Johann Chrysostomus“, in: Österreichisches Biographisches Lexikon, 56. Lieferung, Wien 2002. 177–78.

2 Ilja Dürhammer, „Dioskuren im Schubert-Kreis: Senn, Bruchmann und Schober – das philosophische Triumvirat“, in: Schubert durch die Brille (Juni 1997), 64–80.

1819 schloss sich Senn einer verbotenen Studentenverbindung an und zog bald das Misstrauen des Metternich’schen Regimes auf sich: Das Interesse am Deutschen Idealismus Schellings, die Verehrung Goethes und der Frühromantiker um Schlegel und Tieck3, liberales Gedankengut und die Abscheu vor dem allgegenwärtigen Polizei- und Zensurwesen einten die

3 Senn und Bruchmann wurden besonders von der „pantheistischen Phase der Jenenser Romantiker“ angezogen und konnten deren Hinwendung zum Katholizismus nicht nachvollziehen, wie Ilja Dürhammer betont; siehe ders., Schuberts literarische Heimat. Dichtung und Literaturrezeption der Schubert-Freunde, Wien 1999, 101. Senn blieb sein Leben lang antiklerikal und pantheistisch gesinnt, während Bruchmann ab 1822 eine Wendung vollzog und später in den Redemptoristenorden eintrat.


Schar Gleichgesinnter. Senn, stets der Rädelsführer und geistige Kopf aller aufrührerischen Ideen, geriet 1820 in offenen Konflikt mit den Behörden, wurde verhaftet und verbrachte einige Zeit im Kerker. In einem Dekret der Polizeidirektion Wien wurde „über das unanständige Benehmen des Verhafteten bey der angeordneten Visitation und Beschlagname seiner Schriften sowie über die gegen die Reg[ierun]g von ihm ausgestossenen Beleidigungen“ berichtet.4 Senn wurde schließlich nach Tirol abgeschoben, also gewissermaßen vom geistigen und politischen Zentrum des Reiches an die Peripherie. Alle Aussichten auf eine Karriere wurden damit zunichte gemacht, Senn musste für einen Advokaten einfache Schreiberdienste leisten, seine finanzielle Situation verschlechterte sich zusehends und er geriet in Schulden. Diese Umstände bewirkten eine zunehmende Verbitterung des einstigen Feuerkopfes – Anton Edlinger bezeichnete Johann Chrysostomus Senn als „ein Opfer des vormärzlichen Österreich, vielleicht das größte, edelste“.5 In seiner tristen Lage trat Senn 1823 anstatt eines vom Los bestimmten Italieners in das Militär ein, wodurch seine Schulden getilgt wurden. Nach acht Jahren Dienst bei den Tiroler Kaiserjägern musste er 1832 als Leutnant aus gesundheitlichen Gründen austreten. Die folgenden Jahre war er wieder als Schreiber und Winkeladvokat zunächst in Salzburg und ab 1836 in Innsbruck tätig – arm und resigniert, dem Alkohol verfallen und ohne Aussicht auf Anerkennung fristete er die letzten 25 Jahre seines Lebens.

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Schwer traf ihn der Misserfolg der gesammelten „Gedichte“ aus dem Jahr 1838, die bei Wagner in Innsbruck erschienen und die einzige Druckausgabe von Werken Senns blieben. Die „Gedichte“ sind geprägt von Senns philosophischer Gedankenwelt des frühromantischen Idealismus, besonders die Epigramme; die griechische und römische Antike bestimmt nicht nur die Thematik, sondern prägt auch häufig die Form, indem Senn klassische Versmaße benutzt. Hinzu kommen zahlreiche klar autobiographisch intendierte Gedichte – Senn sah sich zum Beispiel als an die Berge Tirols angeschmiedeter, gefangener Prometheus – sowie poetische Hommagen an Dichterkollegen, Komponisten und Freunde Senns. Nicht nur der Misserfolg der ambitionierten Publikation, sondern auch die Anfeindungen der in Tirol dominierenden Ultramontanisten setzten Senn in den späten Innsbrucker Jahren zu; der Einsatz von Hermann von Gilm und Adolf Pichler, die Senn als Vaterfigur der Tiroler Dichtkunst verehrten, bewirkte wenig in einem reaktionären, restaurativen und von politischer Repression bestimmten Klima. Johann Chrysostomus Senn starb am 30. 09. 1857 in Innsbruck. Die Senn-Vertonungen Franz Schuberts Die Vertonungen der beiden Senn-Gedichte Selige Welt und Schwanengesang entstanden vermutlich im Herbst oder Winter 1822 und wurden 1823 zusammen mit Die Liebe hat gelogen auf eine Textvorlage August Platens und Schatzgräbers Begehr auf ein Gedicht des Schubert-Freundes Franz von Schober als Opus 23 veröffentlicht. Man mag in dieser Zusammenstellung eine Hommage Schuberts an die „Dioskuren“ Senn, Bruchmann und Schober sehen: Bruchmann hatte den Komponisten auf Platen aufmerksam gemacht. Möglicherweise erhielt Schubert das Manuskript mit den beiden Senn-Gedichten aus der Hand Franz von Bruchmanns, der den Dichter


Schar Gleichgesinnter. Senn, stets der Rädelsführer und geistige Kopf aller aufrührerischen Ideen, geriet 1820 in offenen Konflikt mit den Behörden, wurde verhaftet und verbrachte einige Zeit im Kerker. In einem Dekret der Polizeidirektion Wien wurde „über das unanständige Benehmen des Verhafteten bey der angeordneten Visitation und Beschlagname seiner Schriften sowie über die gegen die Reg[ierun]g von ihm ausgestossenen Beleidigungen“ berichtet.4 Senn wurde schließlich nach Tirol abgeschoben, also gewissermaßen vom geistigen und politischen Zentrum des Reiches an die Peripherie. Alle Aussichten auf eine Karriere wurden damit zunichte gemacht, Senn musste für einen Advokaten einfache Schreiberdienste leisten, seine finanzielle Situation verschlechterte sich zusehends und er geriet in Schulden. Diese Umstände bewirkten eine zunehmende Verbitterung des einstigen Feuerkopfes – Anton Edlinger bezeichnete Johann Chrysostomus Senn als „ein Opfer des vormärzlichen Österreich, vielleicht das größte, edelste“.5 In seiner tristen Lage trat Senn 1823 anstatt eines vom Los bestimmten Italieners in das Militär ein, wodurch seine Schulden getilgt wurden. Nach acht Jahren Dienst bei den Tiroler Kaiserjägern musste er 1832 als Leutnant aus gesundheitlichen Gründen austreten. Die folgenden Jahre war er wieder als Schreiber und Winkeladvokat zunächst in Salzburg und ab 1836 in Innsbruck tätig – arm und resigniert, dem Alkohol verfallen und ohne Aussicht auf Anerkennung fristete er die letzten 25 Jahre seines Lebens. 4 Wiedergabe des Dekrets bei Moritz Enzinger, „Franz Bruchmann, der Freund J. Chr. Senns und des Grafen Aug. v. Platen. Eine Selbstbiographie aus dem Wiener Schubertkreise nebst Briefen“, in: Veröffentlichungen des Museum Ferdinandeum 10 (1930), 117–379, hier 286–87. 5 [Anton Edlinger], „Beiträge zur deutschen Literaturgeschichte. Aus Alt-Österreich. I. Hermann von Gilm“, in: Literaturblatt, herausgegeben von Anton Edlinger, I. Band, Nr. 6 (2. August 1877), 81–84, hier 81.

Schwer traf ihn der Misserfolg der gesammelten „Gedichte“ aus dem Jahr 1838, die bei Wagner in Innsbruck erschienen und die einzige Druckausgabe von Werken Senns blieben. Die „Gedichte“ sind geprägt von Senns philosophischer Gedankenwelt des frühromantischen Idealismus, besonders die Epigramme; die griechische und römische Antike bestimmt nicht nur die Thematik, sondern prägt auch häufig die Form, indem Senn klassische Versmaße benutzt. Hinzu kommen zahlreiche klar autobiographisch intendierte Gedichte – Senn sah sich zum Beispiel als an die Berge Tirols angeschmiedeter, gefangener Prometheus – sowie poetische Hommagen an Dichterkollegen, Komponisten und Freunde Senns. Nicht nur der Misserfolg der ambitionierten Publikation, sondern auch die Anfeindungen der in Tirol dominierenden Ultramontanisten setzten Senn in den späten Innsbrucker Jahren zu; der Einsatz von Hermann von Gilm und Adolf Pichler, die Senn als Vaterfigur der Tiroler Dichtkunst verehrten, bewirkte wenig in einem reaktionären, restaurativen und von politischer Repression bestimmten Klima. Johann Chrysostomus Senn starb am 30. 09. 1857 in Innsbruck. Die Senn-Vertonungen Franz Schuberts Die Vertonungen der beiden Senn-Gedichte Selige Welt und Schwanengesang entstanden vermutlich im Herbst oder Winter 1822 und wurden 1823 zusammen mit Die Liebe hat gelogen auf eine Textvorlage August Platens und Schatzgräbers Begehr auf ein Gedicht des Schubert-Freundes Franz von Schober als Opus 23 veröffentlicht. Man mag in dieser Zusammenstellung eine Hommage Schuberts an die „Dioskuren“ Senn, Bruchmann und Schober sehen: Bruchmann hatte den Komponisten auf Platen aufmerksam gemacht. Möglicherweise erhielt Schubert das Manuskript mit den beiden Senn-Gedichten aus der Hand Franz von Bruchmanns, der den Dichter


1822 in Tirol besuchte. Beide Texte finden sich nicht in der späteren Buchausgabe der Gedichte Johann Chrysostomus Senns. Das Autograph des Schwanengesangs befindet sich in Senns Nachlass in der Ferdinandeums-Bibliothek (W 5496).6 Das Lied Selige Welt wirkt wie eine Vorstudie zu Der stürmische Morgen und Mut! aus der Winterreise, den letzten impulsiven Ausbrüchen schwindender Lebensenergie, dominiert von der Wut der Verzweiflung. Senns Gedicht ist bestimmt von Resignation und somit ein Spiegel seiner Befindlichkeit im Tiroler Exil; die „selige Welt“ schwebt dem Getriebenen als Utopie vor.

chendes Dasein in pekuniär prekären Umständen. Den Schwanengesang hat Schubert vielleicht auf sich selbst bezogen und ein selten zu hörendes Meisterwerk geschaffen; insbesondere die reiche Chromatik wirkt wie eine Vorwegnahme spätromantischer Tonsprache. Schwanengesang „Wie klag’ ich’s aus, das Sterbegefühl, Das auflösend durch die Glieder rinnt? Wie sing’ ich’s aus, das Werdegefühl, Das erlösend dich, o Geist, anweht?“

Selige Welt Ich treibe auf des Lebens Meer, Ich sitze gemut in meinem Kahn, Nicht Ziel, noch Steuer, hin und her, Wie die Strömung reißt, wie die Winde gahn. Eine selige Insel sucht der Wahn, Doch eine ist es nicht, Du lande gläubig überall an, Wo sich Wasser an Erde bricht. Alle Lieder aus Schuberts Opus 23 sind düster gestimmt; Verzweiflung und Ausweglosigkeit prägten die Situation Schuberts wie Senns zu jener Zeit: Schubert wurde definitiv mit der Diagnose Syphilis konfrontiert, Senn fristete ein in keinster Weise seinem Wesen und seinen intellektuellen Fähigkeiten entspre-

Er klagt’, er sang, Vernichtungsbang, Verklärungsfroh, Bis das Leben floh. Das bedeutet des Schwanen Gesang! Senn hat überdies seinem Freund Schubert in dem Gedicht An Franz Schubert – so der Titel im Autograph, in der Gedichtausgabe von 1838 heißt es An S. den Tondichter – ein Denkmal gesetzt, das von großer Wertschätzung Senns für den verstorbenen Freund und Komponisten zeugt und auf Gestalten der antiken Mythologie Bezug nimmt, wie bei Senn so häufig. Senn-Vertonungen von Tiroler Komponisten Unter den Gedichten Johann Senns wurden insbesondere die Adlerlieder 7 und vor allem Der rote Tiroler Adler populär und in unterschiedlichen Melodiefassungen zu einem Volkslied. In seinem Bericht über eine Reise durch „Tyrol und Steiermark“ um 1845 zitiert Johann Gabriel Seidl diesen Text und preist ihn als „eines Könners würdig“8. Das nationale Pathos und der kriegerische Ton des Gedichtes berüh-

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1822 in Tirol besuchte. Beide Texte finden sich nicht in der späteren Buchausgabe der Gedichte Johann Chrysostomus Senns. Das Autograph des Schwanengesangs befindet sich in Senns Nachlass in der Ferdinandeums-Bibliothek (W 5496).6 Das Lied Selige Welt wirkt wie eine Vorstudie zu Der stürmische Morgen und Mut! aus der Winterreise, den letzten impulsiven Ausbrüchen schwindender Lebensenergie, dominiert von der Wut der Verzweiflung. Senns Gedicht ist bestimmt von Resignation und somit ein Spiegel seiner Befindlichkeit im Tiroler Exil; die „selige Welt“ schwebt dem Getriebenen als Utopie vor.

chendes Dasein in pekuniär prekären Umständen. Den Schwanengesang hat Schubert vielleicht auf sich selbst bezogen und ein selten zu hörendes Meisterwerk geschaffen; insbesondere die reiche Chromatik wirkt wie eine Vorwegnahme spätromantischer Tonsprache. Schwanengesang „Wie klag’ ich’s aus, das Sterbegefühl, Das auflösend durch die Glieder rinnt? Wie sing’ ich’s aus, das Werdegefühl, Das erlösend dich, o Geist, anweht?“

Selige Welt Ich treibe auf des Lebens Meer, Ich sitze gemut in meinem Kahn, Nicht Ziel, noch Steuer, hin und her, Wie die Strömung reißt, wie die Winde gahn. Eine selige Insel sucht der Wahn, Doch eine ist es nicht, Du lande gläubig überall an, Wo sich Wasser an Erde bricht. Alle Lieder aus Schuberts Opus 23 sind düster gestimmt; Verzweiflung und Ausweglosigkeit prägten die Situation Schuberts wie Senns zu jener Zeit: Schubert wurde definitiv mit der Diagnose Syphilis konfrontiert, Senn fristete ein in keinster Weise seinem Wesen und seinen intellektuellen Fähigkeiten entspre6 Siehe E[llen] H[astaba], „An Franz Schubert – Schwanengesang“, in: Sammellust. 175 Jahre Tiroler Landesmuseum Ferdinandeum [Ausstellungskatalog], Innsbruck und Wien 1998, 92–93, mit Faksimile der Autographen der im Titel genannten Gedichte Senns. 7 Johann Chrysostomus Senn, Gedichte, Innsbruck 1838, 84– 115, Der rote Tiroler Adler: 114–115.

Er klagt’, er sang, Vernichtungsbang, Verklärungsfroh, Bis das Leben floh. Das bedeutet des Schwanen Gesang! Senn hat überdies seinem Freund Schubert in dem Gedicht An Franz Schubert – so der Titel im Autograph, in der Gedichtausgabe von 1838 heißt es An S. den Tondichter – ein Denkmal gesetzt, das von großer Wertschätzung Senns für den verstorbenen Freund und Komponisten zeugt und auf Gestalten der antiken Mythologie Bezug nimmt, wie bei Senn so häufig. Senn-Vertonungen von Tiroler Komponisten Unter den Gedichten Johann Senns wurden insbesondere die Adlerlieder 7 und vor allem Der rote Tiroler Adler populär und in unterschiedlichen Melodiefassungen zu einem Volkslied. In seinem Bericht über eine Reise durch „Tyrol und Steiermark“ um 1845 zitiert Johann Gabriel Seidl diesen Text und preist ihn als „eines Könners würdig“8. Das nationale Pathos und der kriegerische Ton des Gedichtes berüh-


ren heute eher unangenehm und haben dazu geführt, dass deutschnationale und konservative Kreise in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts dieses Gedicht ganz entgegen Senns eigenen liberalen, humanistischen Ansichten vereinnahmten 9. Der rote Tiroler Adler Adler, Tiroler Adler! Warum bist du so rot? Ei nun, das macht, ich sitze Am First der Ortlerspitze, Da ist’s so sonnenrot, Darum bin ich so rot. Adler, Tiroler Adler! Warum bist du so rot? Ei nun, das macht, ich koste Von Etschlands Rebenmoste, Der ist so feuerrot, Darum bin ich so rot. Adler, Tiroler Adler! Warum bist du so rot? Ei nun, das macht, mich dünket, Weil Feindesblut mich schminket, Das ist so purpurrot, Darum bin ich so rot. Adler, Tiroler Adler! Warum bist du so rot? Vom roten Sonnenscheine, Vom roten Feuerweine, Vom Feindesblute rot, Darum bin ich so rot. Im Jahr 1892 schrieb der Tiroler Sängerbund einen Kompositionswettbewerb über die Vertonung dieses Textes aus: 114/115

„(Vom Tiroler Sängerbund.) In der Delegirten-Versammlung des Tiroler Sängerbundes am 16. d. M. wurde unter anderem auch beschlossen, die Vertonung des bekannten Liedes von Johann Senn: ,Tiroler Adler‘ im Wege der freien Konkurrenz zur Ausschreibung zu bringen, unter welchen Modalitäten, ob mit oder ohne Preisgewinn, wurde noch nicht vereinbart. Diesem Beschlusse gegenüber wird in nahestehenden Sängerkreisen dagegen geltend gemacht, daß die beabsichtigten Bemühungen völlig zwecklos erscheinen, nachdem über obgenanntes Gedicht bereits zwei Vertonungen vaterländischer Komponisten vorliegen, und zwar das seinerzeit im Verlage bei Johann Groß in Innsbruck in Druck erschienene Lied von Freiherrn von Tschiederer, und ein zweites vom königlich preußischen Hofopernsänger Herrn J. Bletzacher in Hannover, welches vom Genannten in dessen ,Liederbuch des Deutschen und österreichischen Alpenvereins‘ aufgenommen wurde, daselbst beim Verleger Adolf Nagel für 3 Mark 50 Pf. im Jahre 1887 erschienen ist, und allen vaterländischen Gesangsvereinen wegen der vielen brauchbaren und noch wenig bekannten Original-Kompositionen zum Ankaufe bestens empfohlen wird. Mehr Anklang würde eine zeitgemäße patriotische Dichtung finden, welche den Helden von 1809 in einer schwungvollen Hymne oder Fest-Kantate bei Gelegenheit der Denkmal-Enthüllungsfeier am Berg Isel zum Gegenstande hat, wovon Herr Dr. Ludwig Frankl bereits im Jahre 1884 in dessen Sammlung ,Andreas Hofer im Liede‘ einen beachtenswerthen Behelf herausgab. Bei einer allfälligen Preis-Ausschreibung sollte nur auf einheimische Dichter und


ren heute eher unangenehm und haben dazu geführt, dass deutschnationale und konservative Kreise in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts dieses Gedicht ganz entgegen Senns eigenen liberalen, humanistischen Ansichten vereinnahmten 9. Der rote Tiroler Adler Adler, Tiroler Adler! Warum bist du so rot? Ei nun, das macht, ich sitze Am First der Ortlerspitze, Da ist’s so sonnenrot, Darum bin ich so rot. Adler, Tiroler Adler! Warum bist du so rot? Ei nun, das macht, ich koste Von Etschlands Rebenmoste, Der ist so feuerrot, Darum bin ich so rot. Adler, Tiroler Adler! Warum bist du so rot? Ei nun, das macht, mich dünket, Weil Feindesblut mich schminket, Das ist so purpurrot, Darum bin ich so rot. Adler, Tiroler Adler! Warum bist du so rot? Vom roten Sonnenscheine, Vom roten Feuerweine, Vom Feindesblute rot, Darum bin ich so rot. Im Jahr 1892 schrieb der Tiroler Sängerbund einen Kompositionswettbewerb über die Vertonung dieses Textes aus:

„(Vom Tiroler Sängerbund.) In der Delegirten-Versammlung des Tiroler Sängerbundes am 16. d. M. wurde unter anderem auch beschlossen, die Vertonung des bekannten Liedes von Johann Senn: ,Tiroler Adler‘ im Wege der freien Konkurrenz zur Ausschreibung zu bringen, unter welchen Modalitäten, ob mit oder ohne Preisgewinn, wurde noch nicht vereinbart. Diesem Beschlusse gegenüber wird in nahestehenden Sängerkreisen dagegen geltend gemacht, daß die beabsichtigten Bemühungen völlig zwecklos erscheinen, nachdem über obgenanntes Gedicht bereits zwei Vertonungen vaterländischer Komponisten vorliegen, und zwar das seinerzeit im Verlage bei Johann Groß in Innsbruck in Druck erschienene Lied von Freiherrn von Tschiederer, und ein zweites vom königlich preußischen Hofopernsänger Herrn J. Bletzacher in Hannover, welches vom Genannten in dessen ,Liederbuch des Deutschen und österreichischen Alpenvereins‘ aufgenommen wurde, daselbst beim Verleger Adolf Nagel für 3 Mark 50 Pf. im Jahre 1887 erschienen ist, und allen vaterländischen Gesangsvereinen wegen der vielen brauchbaren und noch wenig bekannten Original-Kompositionen zum Ankaufe bestens empfohlen wird. Mehr Anklang würde eine zeitgemäße patriotische Dichtung finden, welche den Helden von 1809 in einer schwungvollen Hymne oder Fest-Kantate bei Gelegenheit der Denkmal-Enthüllungsfeier am Berg Isel zum Gegenstande hat, wovon Herr Dr. Ludwig Frankl bereits im Jahre 1884 in dessen Sammlung ,Andreas Hofer im Liede‘ einen beachtenswerthen Behelf herausgab. Bei einer allfälligen Preis-Ausschreibung sollte nur auf einheimische Dichter und 8 Siehe Johann Gabriel Seidl, „Das malerische und romantische Deutschland. Zehnter Band: Tyrol und Steiermark“, Leipzig 1847, 73. 9 Sigurd Paul Scheichl, „Josef Leitgebs Essay über Johann Chrysostomus Senn“, in: Mitteilungen aus dem Brenner-Archiv 20 (2001), 125–138, hier 133.


Musiker Rücksicht genommen und der Wettbewerb beschränkt werden.“10 In der Ausschreibung wird die Vertonung Ernst von Tschiderers (1830 – 1916) für Männerchor erwähnt, die der Komponist 1863 zur 500-Jahr-Feier der Vereinigung Tirols mit Österreich für die Innsbrucker Liedertafel schrieb. Tschiderer, damals einer der renommiertesten Komponisten Tirols und außer mit Symphonischen Dichtungen besonders mit Liedund Chorkompositionen erfolgreich, komponierte ein überaus effektvolles, pathosgeladenes Chorstück (C-Dur, „Feurig“) mit fanfarenartiger Dreiklangsmotivik. Es ist auffällig, dass die drei bedeutendsten Vertonungen des Roten Tiroler Adlers – Tschiderer, Pembaur, Senn (ein entfernter Verwandter des Dichters Senn) – die Besetzung für Männerchor vorsehen. Die Laienchöre als gesellige Vereine und „Speerspitze“ nationalistischer Bewegungen erlebten ab ca. 1850 eine Blütezeit. Tschiderer war der 1842 gegründeten Innsbrucker Liedertafel sehr verbunden, Pembaur zeitweise ihr Chormeister, ebenso Karl Senn (1878 – 1964). Die Vertonung (A-Dur, „Schwungvoll“) des Innsbrucker Musikvereinsdirektors Josef Pembaur (1848 – 1923) ist musikalisch gehaltvoller als die primär auf äußere Wirkung zielende Komposition Tschiderers, aber von den gleichen musikalischen Elementen geprägt: Besonders der Beginn mit der wiederum fanfarenartigen Anrufung des Tiroler Adlers scheint an die Komposition des älteren, mit Pembaur befreundeten Tschiderer angelehnt. Die Fassung Josef Pembaurs wurde 1898 im Boten für Tirol und Vorarlberg begeistert rezensiert, wobei insbesondere die „volksthümlichen“ Qualitäten der Vertonung gelobt wurden. Zeittypisch ist die Bezugnahme auf das „alte urkräftige Volksthum“:

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„Das Lied ,Der rothe Tiroler Adler‘ von J. Pembaur, op. 65. (Gedicht v. J. Senn.) Welcher Tiroler kennt nicht das Lied vom Tiroler Adler, wie es Johann Senn vor einem halben Jahrhundert nur in Worten dem Volke gegeben, für das er einst seine Freiheit geopfert hatte, aber wer singt es? Das Volk, sonst nicht verlegen im Erdichten einer Weise für die ihm geläufige gebundene Sprache, fand hier noch keine Melodie, welche ebenso lebenskräftig geworden wäre wie das Gedicht selbst, und was jenem nicht gelungen war, gelang auch dem Einzelnen bisher nicht in bedeutenderem Maße, so dass die Worte ohne das schmucke Kleid der Melodie sich im Volksmunde erhalten mussten. So war Senns Tiroler Adler bisher weder ein Volkslied im musikalischen Sinne, noch ein volksthümliches Lied geworden. Wohl gibt es nicht bloß eine, sondern viele Compositionen über das Gedicht, aber keine ist über den Raum der Entstehung hinausgedrungen, um das Gemüth des Volkes zu erfreuen und sich in demselben heimisch zu machen. Nun erschien im Verlage ds Joh. Groß (S. Reiß) in Innsbruck vor kurzem eine Composition des akad. Musikdirectors Jos. Pembaur in Innsbruck, welche uns wirklich geeignet erscheint, mit größerem Glücke die Reise durch die Gaue unseres Vaterlandes anzutreten und ein wahres Gemeingut der Tiroler, wenigstens der musikalisch gebildeten, zu werden. Das Lied, ursprünglich für vierstimmigen Männerchor componiert, ist auch in der Bearbeitung für eine Singstimme mit Clavierbegleitung (auch mit Clavier allein ausführbar) in demselben Verlage erschienen. Aus dem Werke weht uns eine erquickende volkstümliche Frische entgegen, aber treffend, und voll Feuer wie die Worte sind die Töne, die ganze Anlage zeigt den Schwung des geübten Componisten, der es versteht, nicht nur in seiner eigenen, sondern auch in der Seele des Volkes zu lesen, wenn es gilt, für das Volk zu schreiben. Sehr gelungen erscheint uns die


Musiker Rücksicht genommen und der Wettbewerb beschränkt werden.“10 In der Ausschreibung wird die Vertonung Ernst von Tschiderers (1830 – 1916) für Männerchor erwähnt, die der Komponist 1863 zur 500-Jahr-Feier der Vereinigung Tirols mit Österreich für die Innsbrucker Liedertafel schrieb. Tschiderer, damals einer der renommiertesten Komponisten Tirols und außer mit Symphonischen Dichtungen besonders mit Liedund Chorkompositionen erfolgreich, komponierte ein überaus effektvolles, pathosgeladenes Chorstück (C-Dur, „Feurig“) mit fanfarenartiger Dreiklangsmotivik. Es ist auffällig, dass die drei bedeutendsten Vertonungen des Roten Tiroler Adlers – Tschiderer, Pembaur, Senn (ein entfernter Verwandter des Dichters Senn) – die Besetzung für Männerchor vorsehen. Die Laienchöre als gesellige Vereine und „Speerspitze“ nationalistischer Bewegungen erlebten ab ca. 1850 eine Blütezeit. Tschiderer war der 1842 gegründeten Innsbrucker Liedertafel sehr verbunden, Pembaur zeitweise ihr Chormeister, ebenso Karl Senn (1878 – 1964). Die Vertonung (A-Dur, „Schwungvoll“) des Innsbrucker Musikvereinsdirektors Josef Pembaur (1848 – 1923) ist musikalisch gehaltvoller als die primär auf äußere Wirkung zielende Komposition Tschiderers, aber von den gleichen musikalischen Elementen geprägt: Besonders der Beginn mit der wiederum fanfarenartigen Anrufung des Tiroler Adlers scheint an die Komposition des älteren, mit Pembaur befreundeten Tschiderer angelehnt. Die Fassung Josef Pembaurs wurde 1898 im Boten für Tirol und Vorarlberg begeistert rezensiert, wobei insbesondere die „volksthümlichen“ Qualitäten der Vertonung gelobt wurden. Zeittypisch ist die Bezugnahme auf das „alte urkräftige Volksthum“: 10 Tiroler Stimmen Nr. 242 vom 22. 10. 1892, o. p.

„Das Lied ,Der rothe Tiroler Adler‘ von J. Pembaur, op. 65. (Gedicht v. J. Senn.) Welcher Tiroler kennt nicht das Lied vom Tiroler Adler, wie es Johann Senn vor einem halben Jahrhundert nur in Worten dem Volke gegeben, für das er einst seine Freiheit geopfert hatte, aber wer singt es? Das Volk, sonst nicht verlegen im Erdichten einer Weise für die ihm geläufige gebundene Sprache, fand hier noch keine Melodie, welche ebenso lebenskräftig geworden wäre wie das Gedicht selbst, und was jenem nicht gelungen war, gelang auch dem Einzelnen bisher nicht in bedeutenderem Maße, so dass die Worte ohne das schmucke Kleid der Melodie sich im Volksmunde erhalten mussten. So war Senns Tiroler Adler bisher weder ein Volkslied im musikalischen Sinne, noch ein volksthümliches Lied geworden. Wohl gibt es nicht bloß eine, sondern viele Compositionen über das Gedicht, aber keine ist über den Raum der Entstehung hinausgedrungen, um das Gemüth des Volkes zu erfreuen und sich in demselben heimisch zu machen. Nun erschien im Verlage ds Joh. Groß (S. Reiß) in Innsbruck vor kurzem eine Composition des akad. Musikdirectors Jos. Pembaur in Innsbruck, welche uns wirklich geeignet erscheint, mit größerem Glücke die Reise durch die Gaue unseres Vaterlandes anzutreten und ein wahres Gemeingut der Tiroler, wenigstens der musikalisch gebildeten, zu werden. Das Lied, ursprünglich für vierstimmigen Männerchor componiert, ist auch in der Bearbeitung für eine Singstimme mit Clavierbegleitung (auch mit Clavier allein ausführbar) in demselben Verlage erschienen. Aus dem Werke weht uns eine erquickende volkstümliche Frische entgegen, aber treffend, und voll Feuer wie die Worte sind die Töne, die ganze Anlage zeigt den Schwung des geübten Componisten, der es versteht, nicht nur in seiner eigenen, sondern auch in der Seele des Volkes zu lesen, wenn es gilt, für das Volk zu schreiben. Sehr gelungen erscheint uns die


Gliederung in zwei rhythmisch verschiedene Theile, der zufolge die Frage ,Adler, Tiroler Adler, warum bist du so roth?‘ in schwungvollem Marschtempo in leuchtendem E-Dur beginnt und sich in erhöhtem Glanze nach Fis-Dur ausbreitet. In frischbewegtem Dreivierteltakt folgt in jeder Strophe die Antwort, ,vom rothen Sonnenscheine, vom rothen Feuerweine, u. s. w.‘, durch welchen Tactwechsel die Composition ungemein belebt wird. Einen Hauptvorzug werden alle kleinen Gesangsvereine darin erblicken, dass das Einstudiren wegen der leichten Abfassung absolut keine Schwierigkeiten verursacht, da die musikalischen Ideen in einem volksthümlichen Kleide, einfach, aber edel und deshalb wirkungsvoll erscheinen. Die Stimmführung ist überall angenehm fließend, die ganze Stimmung ist sonnig hell. So können wir dieses neue holde Kind unserer heimischen Kunst nur mit wärmstem Interesse begleiten auf seiner Reise durch das Tirolerland, damit es alle diejenigen erfreute, in denen das alte urkräftige Volksthum wurzelt, und die mit diesem Volksthume auch die Liebe zum Gesange als alte Hinterlassenschaft in ihrer Brust hegen. Glück auf zum Wege!“ 11 In der Reihe „Mein Heimatland Tirol“ des Verlages Adolf Robitschek (Wien und Leipzig) erschien um 1920 die Fassung Karl Senns, eines Schülers von Josef Pembaur. Die Tonsprache Senns ist moderner, dennoch stehen die unmittelbare Wirkung und leichte Ausführbarkeit als Grundlage der Verwendung im Bereich des Männerchorwesens wiederum im Vordergrund. Und wieder die Dreiklangsmotivik! – Eine Besonderheit dieser Fassung ist, dass die Autorenangabe lautet: „Komponist unbekannt. Bearbeitet von Karl Senn“ – offenbar hat Senn also eine verbreitete Volksmelodie für das Lied aufgegriffen und einen Satz

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dazu geschrieben. Karl Senn hinterließ eine weitere Vertonung eines Gedichtes seines dichtenden Namensvetters Johann Chrysostomus, Rätsel op. 137/6 („Kennst du der Lämmer schneeige Schar“), ein Lied für Singstimme und Klavier ohne alle volkstümlichen Anklänge. 12 Alle maßgeblichen Vertonungen des Roten Tiroler Adlers stammen von „vaterländischen“, also Tiroler Komponisten und gehören in die Blütezeit nationalistischen Gedankenguts, die von der 1848er-Revolution bis zum 2. Weltkrieg andauerte. Die Komponisten trafen mit ihren relativ leicht ausführbaren, effektvollen und nationales Pathos bewusst betonenden Chorliedern den Zeitgeschmack und die Erfordernisse des Laienchorwesens zielsicher, wie die zitierten Kritiken beweisen; dem Dichter Senn und seiner Gedankenwelt stehen Schuberts Vertonungen zweifellos näher. Schon zu Lebzeiten war Johann Chrysostomus Senn als Dichter ein Unzeitgemäßer, eine tragische Figur; nach seinem Tod wäre er wohl vollkommen in Vergessenheit geraten, wäre er nicht mit Franz Schubert befreundet gewesen und wären nicht Gedichte aus seiner Feder vom großen Liedkomponisten vertont worden; allerdings erlangte auch sein Roter Tiroler Adler zu einer bestimmten Zeit eine gewisse Popularität, die der eher sperrigen Lyrik des Tiroler Dichters sonst nie beschieden war.


Gliederung in zwei rhythmisch verschiedene Theile, der zufolge die Frage ,Adler, Tiroler Adler, warum bist du so roth?‘ in schwungvollem Marschtempo in leuchtendem E-Dur beginnt und sich in erhöhtem Glanze nach Fis-Dur ausbreitet. In frischbewegtem Dreivierteltakt folgt in jeder Strophe die Antwort, ,vom rothen Sonnenscheine, vom rothen Feuerweine, u. s. w.‘, durch welchen Tactwechsel die Composition ungemein belebt wird. Einen Hauptvorzug werden alle kleinen Gesangsvereine darin erblicken, dass das Einstudiren wegen der leichten Abfassung absolut keine Schwierigkeiten verursacht, da die musikalischen Ideen in einem volksthümlichen Kleide, einfach, aber edel und deshalb wirkungsvoll erscheinen. Die Stimmführung ist überall angenehm fließend, die ganze Stimmung ist sonnig hell. So können wir dieses neue holde Kind unserer heimischen Kunst nur mit wärmstem Interesse begleiten auf seiner Reise durch das Tirolerland, damit es alle diejenigen erfreute, in denen das alte urkräftige Volksthum wurzelt, und die mit diesem Volksthume auch die Liebe zum Gesange als alte Hinterlassenschaft in ihrer Brust hegen. Glück auf zum Wege!“ 11 In der Reihe „Mein Heimatland Tirol“ des Verlages Adolf Robitschek (Wien und Leipzig) erschien um 1920 die Fassung Karl Senns, eines Schülers von Josef Pembaur. Die Tonsprache Senns ist moderner, dennoch stehen die unmittelbare Wirkung und leichte Ausführbarkeit als Grundlage der Verwendung im Bereich des Männerchorwesens wiederum im Vordergrund. Und wieder die Dreiklangsmotivik! – Eine Besonderheit dieser Fassung ist, dass die Autorenangabe lautet: „Komponist unbekannt. Bearbeitet von Karl Senn“ – offenbar hat Senn also eine verbreitete Volksmelodie für das Lied aufgegriffen und einen Satz 11 Bote für Tirol und Vorarlberg vom 24. 03. 1898 (84. Jg., Nr. 67), 532–533.

dazu geschrieben. Karl Senn hinterließ eine weitere Vertonung eines Gedichtes seines dichtenden Namensvetters Johann Chrysostomus, Rätsel op. 137/6 („Kennst du der Lämmer schneeige Schar“), ein Lied für Singstimme und Klavier ohne alle volkstümlichen Anklänge. 12 Alle maßgeblichen Vertonungen des Roten Tiroler Adlers stammen von „vaterländischen“, also Tiroler Komponisten und gehören in die Blütezeit nationalistischen Gedankenguts, die von der 1848er-Revolution bis zum 2. Weltkrieg andauerte. Die Komponisten trafen mit ihren relativ leicht ausführbaren, effektvollen und nationales Pathos bewusst betonenden Chorliedern den Zeitgeschmack und die Erfordernisse des Laienchorwesens zielsicher, wie die zitierten Kritiken beweisen; dem Dichter Senn und seiner Gedankenwelt stehen Schuberts Vertonungen zweifellos näher. Schon zu Lebzeiten war Johann Chrysostomus Senn als Dichter ein Unzeitgemäßer, eine tragische Figur; nach seinem Tod wäre er wohl vollkommen in Vergessenheit geraten, wäre er nicht mit Franz Schubert befreundet gewesen und wären nicht Gedichte aus seiner Feder vom großen Liedkomponisten vertont worden; allerdings erlangte auch sein Roter Tiroler Adler zu einer bestimmten Zeit eine gewisse Popularität, die der eher sperrigen Lyrik des Tiroler Dichters sonst nie beschieden war.

12 Autograph im Nachlass Karl Senn, Tiroler Landesmuseen, Musiksammlung (A – Imf), M 7873. Die Vorlage fand Karl Senn wohl in der Gedichteausgabe von 1838, 59.


Besetzung

Thomas Ballhausen, Wien w Wien: Autor, Film- und Literaturwissenschaftler, Kurator. Literarische und wissenschaftliche Veröffentlichungen, u. a. „Die Unversöhnten“ (Skarabæus Verlag, 2007), „Delirium und Ekstase. Die Aktualität des Monströsen“ (Milena Verlag, 2008).

Ulrich Ladurner, Meran w Hamburg: Journalist. Arbeitet als Auslandsreporter für die Hamburger Wochenzeitung „Die Zeit“. Sein neues Buch heißt: „Bitte informieren Sie Allah! Terrornetzwerk Pakistan.“ Herbig-Verlag.

Johanna Bodenstab, Kempten w Connecticut (USA): freie Autorin. Bis 1997 in Berlin, Studium der Literaturwissenschaft an der Freien Universität Berlin und der psychoanalytischen Theorie bei der Western New England Society for Psychoanalysis in New Haven.

Philipp Mosetter, Schramberg / Schwarzwald w Frankfurt und Wien: Schrift- und Darsteller. Gründete 1989 „Das monolithische Theater“; Stücke, Dramolette, Monologe: u. a. 107 tragische Vorfälle; Faust Schiller oder Verrat, Verrat und hinten scheint die Sonne.; Ausstellungsbeteiligung an der Oberösterreichische Landesgalerie zum Thema „Scheitern“.

Daniel Buren, Boulogne-Billancourt w Paris: Bildender Künstler. Arbeitet vorwiegend im öffentlichen Raum, z. B.: das begehbare Kunstwerk Les Deux Plateaux (1985 / 1986) im Palais Royal (Paris); 2007 wurde Buren mit dem Praemium Imperiale ausgezeichnet.

Ulrich Ott, Wiesbaden w Wiesbaden: Diplom-Psychologe. Studium der Psychologie in Frankfurt. Promotion im Jahr 2000: Dr. phil. nat. Erforscht seit zehn Jahren an der Universität Gießen veränderte Bewusstseinszustände, derzeit im Bender Institute of Neuroimaging mit funktioneller Magnetresonanztomographie.

EOOS, Wien: Designschmiede. Gegründet 1995 von Martin Bergmann, Gernot Bohmann und Harald Gründl. EOOS macht Möbel- und Produktdesign, Shopdesign und Designresearch mit Hilfe der „Poetischen Analyse“, einer selbst entwickelten Recherchemethode.

Gottfried Rainer, Gaimberg / Lienz w Gaimberg / Lienz: Bis Ende 2005 Redakteur der Tiroler Tageszeitung, nebenher Textautor von drei Bildbänden („Großglockner“ gemeinsam mit Clemens Hutter, „Nationalpark Hohe Tauern – Tirol“, „Lebensbilder aus einer steilen Welt“). Kolumnist der Tiroler Tageszeitung.

Franz Gratl, Innsbruck w Ranggen: Musikwissenschaftler. Studium Musikwissenschaft und Geschichte in Innsbruck, Dr. phil. 2002 mit einer Arbeit über die Kirchenmusik Johann Zachs (1713–1773), seit 2002 freier Mitarbeiter des Internationalen Quellenlexikons der Musik (RISM) mit Katalogisierungsprojekten und Archivforschungen in Nord- und Südtirol, ab 2006 wissenschaftlicher Mitarbeiter und seit August 2007 Kustos der Musiksammlung des Tiroler Landesmuseums, Organisation von Konzerten, Publikationen zur Kirchenmusik, zur Musikgeschichte Tirols und zur Musikikonographie, musikjournalistische Tätigkeit.

Wendelin Schmidt-Dengler, Zagreb w Wien: Professor am Institut für Germanistik der Universität Wien und Leiter des österreichischen Literaturarchivs an der Nationalbibliothek.

Walter Grond, Aggsbach Dorf / Wachau w Aggsbach Dorf / Wachau: Schriftsteller und Herausgeber zahlreicher Reihen und Zeitschriften. Im Frühjahr 2002 Arbeit am Projekt „Schreiben am Netz“ am Collegium Helveticum der ETH Zürich in Zusammenarbeit mit der Neuen Zürcher Zeitung. Seit 2004 Projektleiter von www.readme.cc, ab 2005 Herausgeber (mit Beat Mazenauer) der Reihe „Lesen am Netz. Bücher, Websites“ im Studienverlag/Haymon Verlag, www.lesenamnetz.org. Bei Haymon zuletzt: Almasy. Roman (2002), Schreiben am Netz. Literatur im digitalen Zeitalter (gemeinsam mit Johannes Fehr, 2003), Drei Männer. Novelle (2004). Peter Kogler, Innsbruck w Wien: Bildender Künstler. Zahlreiche Einzelausstellungen, z. B.: Mamco, Genf; Kölnischer Kunstverein; Kulturforum Prag; Kunsthaus Bregenz. Ausstellungsbeteiligungen, z. B.: Documenta Kassel; MOMA New York, Biennale di Venezia – Österreichischer Pavillon. Alexander Kriwak, Innsbruck w Innsbruck: Politologe, Philosoph und Erziehungswissenschaftler. Dozent am Institut für Erziehungswissenschaften der Universität Innsbruck. Arbeitsschwerpunkte: Psychoanalyse, Erkenntnistheorie, Ethik. 126/127

Gertrud Spat, Eindhoven (Niederlande) w Innsbruck: Ausgebildete Pianistin, Studium der Musikwissenschaft. Konzerttätigkeit, Radio-, Platten- und CD-Aufnahmen. Beiträge zu kultur- und musikhistorischen Themen in Zeitschriften und im Rundfunk. Initiatorin und langjährige Organisatorin der Sommerkonzerte im Tiroler Landesmuseum Ferdinandeum, 10 Jahre Organisatorin der Schriftstellerbegegnung „Innsbrucker Wochenendgespräche“. Sie übersetzte die Autobiographie der Tochter Ezra Pounds Mary de Rachewiltz (Diskretionen, 1993) und veröffentlichte die fingierte Autobiographie der Mutter Georg Trakls (Maria T. – eine Mutter, 2003). Von ihrem unter dem Namen Gertrud Pfaundler erschienenen Tirol Lexikon (Nachschlagewerk über Menschen und Orte im Bundesland Tirol, 1983) kam 2005 im Studienverlag eine vollständig überarbeitete und ergänzte Neuausgabe heraus. Oliver Welter, Klagenfurt w Klagenfurt: Musiker (Naked Lunch). Lebt und arbeitet in Klagenfurt, stirbt voraussichtlich in Klagenfurt. Jörg Reinhard Zielinski, Berlin w Zürich: Ausstattungsleiter im Opernhaus Zürich. Studium der Theatertechnik in Berlin und Basel. Arbeiten im Theater u. a. für Herbert Wernicke, Anna Viebrock, Heinz Spoerli, Lin Hwai-Min, Rolf Glittenberg. Mitarbeit im Szenografieteam der Ausstellung „SwissLove“ der Expo.02, Yverdon-les-Bains. Mitarbeit bei der Rauminszenierung „Hotel Offen“, Baden. Weiterbildung an der Schule für Gestaltung, Zürich. Zusammenarbeit mit dem Shanghai Opera House und der National Academy of Chinese Theatre Arts, Peking. Beschäftigung mit Fotografie, Zeichnung und Computergrafik.


Quart Heft für Kultur Tirol

Herausgeber: Kulturabteilung des Landes Tirol Anschrift der Redaktion: Circus, Kochstraße 10, A-6020 Innsbruck, office@circus.at Chefredaktion: Heidi Hackl, Andreas Schett Anschrift des Verlags: Haymon Verlag, Erlerstraße 10, A-6020 Innsbruck, T 0043 (0)512 576300, order@haymonverlag.at, www.haymonverlag.at Geschäftsführer / Verleger: Markus Hatzer Aboservice: T 0043 (0)1 740407814, aboservice@haymonverlag.at Mitarbeiter dieser Ausgabe: Thomas Ballhausen, Johanna Bodenstab, Daniel Buren, EOOS, Franz Gratl, Walter Grond, Peter Kogler, Alexander Kriwak, Ulrich Ladurner, Philipp Mosetter, Ulrich Ott, Gottfried Rainer, Wendelin Schmidt-Dengler, Gertrud Spat, Oliver Welter, Jörg Reinhard Zielinski Kuratoren: Ruedi Baur, Othmar Costa, Karin Dalla Torre, Eduard Demetz, Georg Diez, William Engelen, Martin Gostner, Helmut Groschup, Franz Hackl, Hans Heiss, Stefanie Holzer, Sebastian Huber, Gabriele Kaiser, Otto Kapfinger, Walter Klier, Martin Kofler, Gustav Kuhn, Christoph Mayr-Fingerle, Milena Meller, Walter Methlagl, Wolfgang Mitterer, Walter Niedermayr, Thomas Nußbaumer, Dominique Perrault, Wolfgang Pöschl, Helmut Reinalter, Robert Renk, Arno Ritter, Benedikt Sauer, Benno Simma, Gerhard Steixner, Vitus H. Weh, Lois Weinberger, Maria Welzig u. a. Konzeption / Gestaltung der linken Seiten: Circus, Büro für Kommunikation und Gestaltung. www.circus.at Visuell-editorisches Basiskonzept: Walter Pamminger Farbkonzept: Peter Sandbichler Grafische Realisation: Circus, Büro für Kommunikation und Gestaltung Druck: Höfle Offsetdruckerei Ges. m. b. H., Dornbirn Verwendung der Karte „Tirol –Vorarlberg 1 : 200.000“ auf den Seiten 88 / 89 mit freundlicher Genehmigung von Freytag-Berndt u. Artaria KG, Kartografische Anstalt. Bild Seiten 108 – 118: Leopold Kupelwieser (1796–1862), Johann Chrysostomus Senn, 1820 Tiroler Landesmuseum Ferdinandeum, Bibliothek, W 5184 Sämtliche inhaltlichen Beiträge dieses Heftes sind Ersterscheinungen, Auftragswerke, Uraufführungen. ISBN 978-3-85218-576-7 · © Haymon Verlag, Innsbruck–Wien 2008 · Alle Rechte vorbehalten.





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