ausstellung vom 16.1. bis 11.4.2009 im aut. architektur und tirol im adambräu . lois welzenbacher platz 1 . 6020 innsbruck Üffnungszeiten di - fr 11.00 bis 18.00 uhr do 11.00 bis 21.00 uhr sa 11.00 bis 17.00 uhr an feiertagen geschlossen
eine spurensuche in brasilien von gĂźnter richard wett artigas . bo bardi . mendes da rocha
HALOTECH L I C H T F A B R I K
I N N S B R U C K
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Der Essayist Franz Schuh hat die Einladung der Redaktion angenommen, auf die Textbeiträge, die
auf den rechten Seiten dieser Ausgabe abgedruckt sind, unmittelbar zu reagieren. Als erster Leser
und auf seine eigene Weise. Schuh platzierte – angeregt durch die Lektüre – auf allen linken Seiten
seine philosophischen Betrachtungen, Kommentare, Notate, Glossen. In Summe ergibt das ein Heft
im Heft: Wenn Sie also Ihre Lektüre mit Franz Schuh beginnen wollen – stellen Sie das Heft auf den
Kopf und lesen Sie von hinten nach vorne ab Seite 130. — //
Inhalt
Heidrun Holzfeind Friday Market Halotech Lichtfabrik Franz Schuh Inhalt Brenner-Gespräch (3): „Dauernde Liebe ist nichts anderes als Trotz.“ Jörg Steiner und Peter Bichsel im Alpenzoo Die Perspektive der Differenz Jorge Reynoso Pohlenz über die Arbeit von Heidrun Holzfeind
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Leben ohne Hilfsverben Der Schauspieler Jens Harzer besucht die Dostojewskij-Übersetzerin Swetlena Geier
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Eigenwerbung
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Gutachten. Diesmal: Unangepasstheit Vier Abweichungsversuche von Stefan Hunstein, Thomas Mießgang, Clarissa Stadler und Thomas Feuerstein 88–97
6–15 Berühmt werden – jetzt! Der Komponist Moritz Eggert über Grüppchenbildung in der Musikwelt
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16–21 22–31
Landvermessung No. 2, Sequenz 8 Vom Reschensee nach Müstair Ilija Trojanows Tiroler Pilgerfahrt
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Fremdenverkehrsordnung Der Buchstabe im Tourismus. 3 Bildtableaus von Thomas Parth
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Alois und Eva Oder: Luis Trenker, der Fälscher. Von Roman Urbaner
40–53
Versteckte Ermittlungen Erika Wimmer inspiziert Bernhard Kathans „Hidden Museum“ 124–131
Der Nebel liegt tief Nick Oberthalers Reise ins Liniengeflecht
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Tirols Architekten und Ingenieurskonsulenten 132 Schiekmetall 133
Heidrun Holzfeind Friday Market Ha zwei O! Selbstversuch mit Grander-Wasser. Von Walter Müller
Am Anfang war das Murmeltier Monolog der Sagenforscherin Ulrike Kindl, aufgezeichnet von Susanne Barta 66–73 Werner Feiersinger Originalbeilage Nr. 13
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Höfle Offsetdruckerei BTV
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Besetzung, Impressum
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Hypo Tirol Bank
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gendwann einmal im Jahr ein paar Literatursendungen aus dem Boden gestampft, Mahnmale des Desinteresses, die auf eine fast schon künstlerische Weise jeder Literaturbeflissenheit Hohn sprechen. Das ist halt das Erbe des großartigen österreichischen Aktionismus, in dessen Rahmen man einst im Hörsaal I der Wiener Universität, und zwar mit Recht, auf das Podium gackte. Wenn man genau hinsieht, erkennt man im österreichischen GeistesFernsehen diesen alten Aktionismus und seine Scheiße wieder. Sie hat einen verschämten, etwas hygienischeren Anschein angenommen, während der deutsche Literaturbetrieb seine unverschämten Rituale („Das Literarische Quartett“, „Literatur im Foyer“, „Lesen!“) zum Maß der Dinge erklärt. Es ist die Ritualisierung, diese permanente Wiederkehr des Gleichen und der Gleichen, die mir den deutschen Literaturmarkt zum Graus macht. Gewiss, der Mensch benötigt Rituale, aber nicht alles, womit sie einem kommen, ist zu brauchen, bloß weil es auch ein Ritual ist. Dies wollte ich nur gesagt haben, sollte mir eines Tages jemand Peter Bichsel als „Schweizer Schriftsteller“ vorstellen.
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Brenner-Gespräch (3): „Dauernde Liebe ist nichts anderes als Trotz.“
So viele Leute fahren über die Alpen. Quart bittet herausragende Persönlichkeiten an den Straßenrand zu einer Jause mit Gespräch. Folge 3: die Schweizer Autoren Jörg Steiner und Peter Bichsel, die gemeinsam den Alpenzoo in Innsbruck besuchten. Robert Renk: Nach unserem Spaziergang durch die Tierwelt des Alpenraumes interessiert uns natürlich, warum Sie, Herr Steiner, ausgerechnet der Waldrapp so fasziniert? Jörg Steiner: Als ich ihn zum ersten Mal sah, habe ich nur bemerkt, dass er unheimlich stank. Dann beobachtete ich ihn, wie er mit einem Grashalm im Schnabel ratlos herumlief und nicht mehr wusste, was er mit diesem Halm eigentlich will. – Es fällt mir jetzt auch ein Gedicht ein, das Walter Gross, ein leider völlig vergessener Schweizer Schriftsteller, dem Waldrapp gewidmet hat. Der Waldrapp ist ja ein Ibis und der Ibis gilt als heiliger Vogel. Er war ein Begleiter des Gottes Toth, der die Lebensgeschichten der Menschen aufschrieb. Somit kann man behaupten, dass der Ibis auch der Begleiter des Gottes der Schreiber ist. Der Satz von Gross lautet: „Der Waldrapp – wie alles Heilige gewöhnlich“. So habe ich ihn länger angeschaut und wenn man etwas länger anschaut, dann verliert es die Gewöhnlichkeit und wird durch die Betrachtung zu etwas Außergewöhnlichem. Daran erinnere ich mich jetzt. Später kam dann ein anderer Waldrapp, auch mit einem Halm im Schnabel, und weitere und plötzlich, wie ein gemeinsam aufflammendes Gedächtnis, wussten alle wieder, dass sie eigentlich ihre Nester ausbauen wollten. Peter Bichsel: Ich erinnere mich, wie Jörg zurückgekommen ist damals und vom Waldrapp erzählt hat, als ob es das Allerwichtigste der Welt wäre. Das habe ich ihm selbstverständlich nicht ganz geglaubt. Dann ist er eine Woche später wieder mit dem Waldrapp daher gekommen. Liebe ist ja eine Entscheidung. Und wenn die Entscheidung sehr kurzfristig und heftig ist, nennen wir es „Liebe auf den ersten Blick“. Das
hat mit dem Blick sehr wenig zu tun, sondern viel mehr mit der Heftigkeit. Ich kenne Jörg, ich mag seine Freunde und deshalb mag ich jetzt den Waldrapp auch. Und es ist eine Entscheidung, den Waldrapp anzuschauen, fünf Minuten, zehn Minuten und dann zu sagen: Ich mag diesen Vogel, basta. Da gibt es keine Begründung, es braucht sie auch nicht. Es gibt auch keine Begründung für Liebe. Ich liebe diese Frau, weil sie so gescheit ist, weil sie so schön ist – alles Quatsch! Es ist eine Entscheidung: Ich liebe diese Frau, basta. Jörg ist ein sehr trotziger Mensch und dauernde Liebe ist nichts anderes als Trotz. Ich habe mich entschieden und basta. R.: Werden solche Entscheidungen nicht hinterfragt? B.: Wir Autoren werden immer mit Lebensfragen konfrontiert. Ich sitze z. B. in einer Kneipe in Solothurn und trinke zufälligerweise einen Kaffee mit Mineralwasser. Da kommt ein Fremder rein und sagt: Sie sind doch der Herr Bichsel, und meint vorwurfsvoll: Warum trinken Sie keinen Rotwein? Weil er gehört hat, der Bichsel trinkt immer Rotwein. Und würde man nun Jörg Steiner vor dem Gehege des Braunbären antreffen, kommt sicher einer und sagt: Was suchen Sie hier, Sie lieben doch den Waldrapp? Immer dieses Entweder/Oder! Wenn ich sage, ich mag Goethe, dann kommt schon die Frage: Was haben Sie gegen Schiller? Das sind Festlegungen. Es gibt zwar Gründe dafür, weil der, der behauptet, ich liebe den Waldrapp, setzt ja auch eine absurde Behauptung in die Welt – die dann allerdings nach und nach Gewicht bekommt. Ich habe das z. B. heute erlebt, als wir im Alpenzoo waren. Der Waldrapp ist auf den ersten Blick
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kommt einem Degradierungsritual gleich, das unausgesprochen von den Beteiligten hingenommen und zugleich verdrängt wird. Der deutsche Inhaber, es ist der wunderbare Michael Krüger, hat sich mit Deuticke und dem Zsolnay Verlag einen kleinen Pool österreichischer Schriftsteller zugelegt. Aus dem Pool fischt er dann gelegentlich einen heraus, den er für den deutschen Markt – im Hanser Verlag – groß herausbringt. Wen er für eine solche Größe nicht geeignet hält, der darf sich, wenn er Glück hat, im einheimischen Pool weitertummeln. Wen er rausfischt, der bekommt eine Chance, im wahren Element des Schriftstellers, im deutschen Literaturbetrieb, herumzuschwimmen. // Aber ach, wie ambivalent ist doch alles: Ich bin mit Zsolnay glücklich und verachte reinen Herzens nicht wenig am deutschen Betrieb. Keine sauren Trauben, auch deshalb nicht, weil ich ja gar kein Fuchs bin – der deutsche Literaturbetrieb, der im deutschsprachigen Raum der maßgebliche ist, kommt mir gespenstisch starr vor. Bei Tellkamps Buch „Der Turm“ habe ich ein paar hundert Seiten der Lektüre benötigt, um dann doch einzusehen, dass das Ganze nicht ausschließlich eine Einreichung für den Buchpreis der Frankfurter Buchmesse ist. Die Art und Weise, wie das deutsche Fernsehen literarische Angelegenheiten verhandelt, routiniert und anödend, und so leidenschaftlich (ach, die Protagonisten treten ja so entschieden für Lektüre ein), das lässt mich den diesbezüglichen Dilettantismus des österreichischen Fernsehens lieben: Da werden unwillig ir-
ein hässlicher Vogel, je länger man ihn beobachtet, umso schöner, umso vertrauter wird er. Durch die Vertrautheit wird er schön, das ist ein Teil des Geheimnisses.
der elterlichen Gewalt über die Kinder z. B., oder die Gewaltentrennung in der Verfassung … Es ist offenbar immer noch normal, Gewalt anstatt Macht zu sagen.
R.: Für welches Tier würden Sie gerne die Patenschaft übernehmen?
B.: Wer in irgendeiner Form tätig ist mittels Gewalt – da gibt es ein Wort, das wir alle kennen –, der ist gewalttätig! Und das einzige Mittel, mit dem die Gewalt umgesetzt werden kann, ist das Mittel der Angst. Wir drei sind heute morgen mit der Nordkettenbahn zum Alpenzoo ohne gültigen Fahrschein gefahren, weil der Automat kaputt war. Wir hatten gar keine Chance, einen gültigen Fahrschein zu ziehen. Trotzdem hatte jeder von uns auf der kurzen Strecke in dem Bähnchen Angst. Wir sind gedrillt darauf, vor der Macht, auch vor der Staatsmacht, die hier eventuell eingegriffen hätte, Angst zu haben. Ich habe einmal für einen Bundesminister gearbeitet, der auch mein Freund war. Der hat gern gesagt, er habe ein gesundes Verhältnis zur Macht. Und ich habe ihn jedes Mal angeschrien: „Wenn du das noch einmal sagst, sehen wir uns nie mehr!“ Natürlich braucht der Staat seine Macht, natürlich braucht er eine gewisse Disziplinierung oder Schulung der Leute oder wie immer das heißt. Aber sich zu freuen über die Macht und ein „gesundes, freundschaftliches Verhältnis“ zur Macht zu haben, das geht nicht.
B.: Das fällt mir heute etwas schwerer, in bin jetzt älter und in meinen Behauptungen nicht mehr so heftig. Früher wäre es sicher das Nashorn gewesen. Ich habe einmal die Behauptung aufgestellt: Ich liebe das Panzernashorn! Und zwar nur, weil das Panzernashorn mir zufälliger- und blödsinnigerweise bei einer meiner „Kindergeschichten“ eingefallen ist. Der Mann, der sich zum Schluss für das Panzernashorn entscheidet. Auch so eine Entscheidung! Nur muss ich sagen, diese Entscheidungen werden mit zunehmendem Alter etwas milder. Wir sind nicht mehr so heftig. R.: Sie hatten auch – wenn man Ihr letztes Buch „Heute kommt Johnson nicht“ ein wenig autobiografisch liest – gewisse Erfahrungen mit einem Stier. B. (lacht): Ja … „Vom Stier, der auch nur ein Mensch war“. R.: Durch diese Geschichte kämen wir nun auf ein Thema, das Sie beide seit jeher beschäftigt. Das Thema Macht. Sie, Peter Bichsel, schreiben in dem soeben erwähnten Buch: „Jede Macht lebt von der Angst, die sie verbreitet. Es will mir heute noch nicht in den Kopf gehen, dass es Menschen gibt, denen es Lust bereitet, mächtig zu werden und mächtig zu sein, denen es Lust bereitet, gefürchtet zu sein. Denn wer Macht will, muss vorerst mal Angst verbreiten.“ Ähnlich haben Sie, Jörg Steiner, es auch einmal formuliert. S.: Ich habe eine Gleichsetzung gemacht, die ungerecht ist, zu einfach im Grunde genommen; aber für mich ist sie brauchbar. Ich setze power mit violence gleich, Macht ist gleich Gewalt. Und das Wort „Macht“ kommt in diesem Kontext oft genug vor: der Begriff
R.: Herr Steiner, Sie haben sich 1967 dafür eingesetzt, dass auch die Schweiz einen Ersatzdienst zum Militärdienst bekommt. S.: Und ich war naiv. Ich habe nicht gemerkt, dass das schon genügen würde, um vom Staat überwacht zu werden. Ich habe nichts getan, was illegal wäre. Man darf etwas zur Debatte stellen, sollte man meinen. Es war aber doch genug, um über Jahre hinweg einen Überwachungsapparat in Gang zu setzen. Ohne diese Konsequenzen wie in der DDR natürlich. Aber es hat mich immerhin dazu gebracht, den Satz zu schreiben: „In der Schweiz kann jeder sagen, was er will, aber er muss die wirtschaftlichen Folgen tragen können.“ Ich wurde auch darauf hingewiesen, dass
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Aufsichtsbehörde, also der deutsche Literaturbetrieb, im Griff zu haben wähnt. Ja, wenn ich jetzt schon so weit gegangen bin, veröffentliche ich hier auch den kurzen Sinn der langen Rede: Ich glaube, es gibt so was wie einen deutschen Kulturimperialismus. // Gewiss, diese Behauptung ist zwiespältig, schon allein, weil man sie schwerlich ohne Ressentiment äußert. Quod erat demonstrandum. Aber der aufgeklärte Ressentimentale kennt die Antwort auf solche Anwürfe: Erst unterdrücken sie einen und dann, wenn sie einen hässlich und klein gemacht haben, werfen sie einem vor, dass man hässlich und klein ist, also Ressentiments hat. Damit ist man mit seinem Ressentiment fein raus, allerdings nur fürs erste, denn es gibt zweitens ein Argument, mit dem man den ressentimentgeladenen Protest in den Schatten stellt; es lautet: Dem Tüchtigen gehört die Welt, also auch die literarische. Wer hindert denn wen daran, so feine Verlage wie Hanser oder Suhrkamp zu gründen, um dann über die literarische Welt zu bestimmen? Niemand, es gibt kein Hindernis außer der eigenen Schwäche. Mir fällt als Antwort, und das passt ja zum Ressentiment, nichts als eine Art von Mitleidston ein: Kleines Land und so … // Aber selbst, wenn der Mächtige, dieser tüchtige Betreiber der guten Geschäfte, im Recht ist, gehört es doch zur zivilisierten Auseinandersetzung mit ihm, dass man sein Recht in Frage stellt. Ich zum Beispiel bin in einem österreichischen Verlag, der einem deutschen gehört, und wie der deutsche Inhaber entscheidet,
da eine Überwachung stattfindet. Und wenn Peter und ich damals telefoniert haben, haben wir immer einen kleinen Kanon für die Überwacher gesungen. B.: Das ist übrigens sehr schwer, am Telefon einen Kanon zu singen, wenn man den anderen nicht sieht! Aber wir haben es geschafft, weil wir dem Abhörer eine kleine Freude machen wollten. S.: Wir haben es auch immer deklariert: „Das ist jetzt für den Abhörer: Nun will der Lenz uns grüßen … Beide (singen): … von Mittag weht es lau, auf allen Wiesen sprießen, die Blumen rot und blau.“ R.: In welcher Zeit wurden Sie abgehört? S.: Das war Ende der 60er Jahre. In den 90ern wurde dann übrigens der Ersatzdienst eingeführt, etwa 30 Jahre hat es also gedauert. Immerhin: Es gibt ihn jetzt und seit heuer auch ohne Gewissensprüfung. Und zwar, weil man keine Gewissensprüfer mehr fand! B.: Trotzdem ist die Schweiz keine schlechte Demokratie, sondern eigentlich eine recht beachtliche. Mit der Einschränkung, dass in allen Demokratien der Welt eine Mehrheit von Leuten wohnt, denen die Demokratie völlig wurscht ist. Die Systeme sind demokratisch, aber die Bürger sind es zunehmend nicht mehr. Ich lebe in einem demokratischen Land, in dem sehr wenige Demokraten wohnen. Und dann sehe ich hier in Österreich Strache, bei uns Blocher, in Italien Berlusconi und weitere kleine Diktatörchen. Und dann sehe ich auch diese Leute, die total verliebt sind in einen Blocher, die die ganze Rettung der Welt in diesem Blocher sehen und nur in ihm alleine und sagen: Sieben solche sollten wir haben! 200 solche sollten wir haben! S.: Mir ist nie ein Italiener begegnet, der mir gesagt hätte, er habe Berlusconi gewählt. Ich war damals, bei der ersten Wahl von Berlusconi, zufälligerweise an einer Universität in der Nähe von Rom. Und die
haben alle gesagt: Berlusconi kann man nicht wählen! Ca. 70 % von denen müssen ihn aber gewählt haben, wenn man die Wahlergebnisse hinterher angeschaut hat. B.: Ich habe einen Freund, der in einem kleinen Dorf in Oberitalien lebt, ein Schweizer, ein Linker. In diesem Dorf leben fast nur Kommunisten und in der kleinen Dorfkneipe verkehren auch nur solche. Und dann wurde gewählt und im ganzen Dorf haben nur drei Leute nicht für Berlusconi gestimmt. Anderntags ist mein Freund in die Kneipe gegangen und da saßen die 50 Männer, die jeden Tag in der Kneipe sitzen, und die fragten jetzt: Welcher Idiot hat Berlusconi gewählt? Ihr alle, hat mein Freund gesagt! 50 sitzen hier und nur drei haben Berlusconi nicht gewählt, also sitzen hier mindestens 47, die ihn gewählt haben! Keiner wollte es gewesen sein. Und 14 Tage später haben dieselben Männer drei Busse organisiert und sind mit ihren roten Fahnen nach Rom zur großen Demonstration gegen Berlusconi gefahren. Sie wussten also, dass sie das Übel gewählt hatten, und vollzogen bereits die Reinwaschung. S.: Man müsste sich überlegen, was passieren würde, wenn man z. B. den Schweizern die Demokratie wegnehmen würde. Ich bilde mir ein und kann nur hoffen, dass ich recht habe: Das würde nicht geduldet werden! Eine Mehrheit der Bevölkerung, auch eine Mehrheit der Kantone in der Schweiz würde das nicht akzeptieren. Die Gefahr für das demokratische Denken heute ist eher, dass die Politik jetzt immer mehr hinter die Wirtschaft zurückgedrängt wird, dass eigentlich nur mehr die Wirtschaftspolitik Politik ist und alles nur noch für die Wirtschaftspolitik da sein sollte. R.: In Österreich haben wir inzwischen zwei Rechtsparteien, die gemeinsam fast stimmenstärkste Partei sind. Könnte das in der Schweiz auch passieren? B.: Die Schweizer haben bei fast allen Dingen zuerst gemeint: Das kann bei uns nicht passieren! Atom-
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auf. Dabei hat er in meinen Augen den sympathischen Zug, mit seinem Dienstverhältnis nicht deckungsgleich zu sein, er wirkt vielmehr autonom („wie aus einer anderen Welt“), wenngleich eben andererseits die Routine des Servierens in ihn eingegangen ist. Er kann seine Subordination perfekt verkörpern, ohne von ihr beeindruckt zu sein – er ist also nicht zuletzt durch diese Ambivalenz ein „echter Wiener“ Oberkellner. // Ich wundere mich, ja, es nimmt mich Wunder, dass mich so ein Kellner in seiner Funktion als titelgebendes Bild auf dem Umschlag stört. Ich lege doch auf Wiener Traditionen Wert, darunter nicht zuletzt auf solche, die ich zu „vertreten“ gar nicht zu beanspruchen wage, und „Vertreten“ tut sie ein Kellner dieser Art ja auch. Ach, jederzeit wäre ich mit der Kellnerfigur am Umschlag zufrieden, hieße das Buch nicht „Schreibkräfte“, und mit Schreibkräften hat die Figur nun gar nichts zu tun. Das Bild ist dem Buch angeklebt wie man in einer Schulklasse dem Klassentrottel eine Inschrift mit einer fragwürdigen Behauptung anklebt: „Ich bin ein Depperter!“ Mir klebt eben ein deutscher Verlag, bevor irgendwer noch ein Wort von mir vernommen hat, „Wiener“ an. Und ein „Wiener“ ist im deutschen Sprachraum ein noch billigerer Exot als ein Schweizer. // Das ist die Gefahr, in der ich Schweizer Schriftsteller leben sehe: dass ihre Herkunft ein Etikett ist, ein Markenzeichen im Literaturgeschäft, und dass alle, die sich unter dieses Etikett subsumieren lassen (müssen), eine Fraktion bilden, einen übersichtlichen Sektor, den die
kraftwerke, die versagen? Das könnte in der Schweiz nicht passieren! Eine Revolution? In der Schweiz absolut unvorstellbar! Sogar Lawinenabgänge sind eigentlich in der Schweiz unvorstellbar. Und Hochwasser? Ebenfalls. Auch wenn es passiert. Dieser kindliche Bündeglauben, der vor 100 Jahren noch ganz stabil war, ist heute eingebrochen. Mehr und mehr sehen Schweizer ein, dass in der Schweiz alles passieren kann, was in der Welt passiert. Noch vor 30 Jahren war jeder Schweizer davon überzeugt, dass es im Staate Schweiz keine Korruption gibt. Inzwischen wissen wir, dass es in der Schweiz so viel Korruption gibt wie in Italien. Nur mit anderen Preisen: Korruption ist bei uns etwas billiger. Dieses Wissen, dass die Schweiz zur Welt gehört, das nimmt zu und das ist eigentlich der erfreulichere Teil der Globalisierung. R.: In den 50er Jahren, einer Zeit, in der noch nicht so vieles global zugänglich war wie heute, haben Sie beide für sich etwas entdeckt, das neben dem Schreiben einen großen Stellenwert einnahm: den Jazz. B.: Aber es ging auch dabei – wie beim Waldrapp – um eine Entscheidung: Wir sind jetzt die, die Jazz hören! Wir hören jetzt ganz andere Musik als unsere Eltern. S.: Bei mir war es schon auch die Musik, die ich als meinen eigenen Ausdruck empfand. Nicht nur als Revolte gegen die Eltern, die Haydn und Mozart hörten. B.: Wir haben damals auch andere Musik gehört, Igor Stravinsky z. B. und Arthur Honegger, und wir fanden das verrückt. Ich bin mir nicht so sicher, ob uns das so sehr gefallen hat, wie wir getan haben. Aber wir hatten uns dafür entschieden und durchs mehrmalige Hören begann es uns zu gefallen. Wir lebten beide – Jörg noch etwas mehr, da er ja fünf Jahre älter ist – in einer Zeit mit sehr wenigen Informationen. Das hatte den Vorteil für uns, dass wir glaubten, wir hätten die Sache selbst entdeckt. Ich persönlich, ich ganz alleine habe Stravinsky entdeckt und niemand anderer!
S.: In Wahrheit hast du deinen Stravinsky entdeckt. B.: Natürlich, ich kannte doch keinen anderen! S.: Ich kenne auch nur meinen Waldrapp. Aber es ist eben diese Begegnung. Du begegnest auch dir selbst in etwas. Vor allem, wenn du dir mit einer Begegnung Zeit lässt. Das macht Einigkeit, das macht auch Treue aus. R.: Sind Sie ürbigens einem Ihrer Jazz-Idole auch einmal persönlich begegnet? B.: Ja. Ich saß in Los Angeles in einer Hotelbar. Am Abend zuvor hatte ich in diesem Hotel ein Konzert mit Charlie Mingus gehört. Und dann kam dieser Mingus herein und setzte sich neben mich. Mit ihm hatte ich eines der schönsten und tiefsten Gespräche in meinem Leben. Ich habe gesagt: Good morning, Mr. Mingus. Und er hat gesagt: Good morning, Sir. Das war alles! Das war wunderbar, ich hatte am Abend noch Gänsehaut. R.: Bleiben wir in den 50er und 60er Jahren. Damals gab es auch intensive Auseinandersetzungen zur Frage der Wechselwirkung zwischen Ästhetik und Politik. Sie beide waren damals nicht immer einer Meinung. B.: Wir haben die Moderne als etwas absolut Politisches verstanden, ohne direkt an Politik interessiert zu sein. Wir stellten uns vor, dass eine Schweiz, ein Europa der modernen Architektur – also ein Europa, gebaut von Mies van der Rohe – ein menschlicheres und anständigeres Europa wäre. Ich übertreibe, ich habe schon damals übertrieben, um auf den Punkt zu bringen, was ich meinte. Die Bauhaus-Idee ist mir heute noch viel wert und wenn ich mir Solothurn jetzt anschaue … wer weiß, vielleicht wäre es wirklich besser gewesen, alles wäre abgerissen und von Mies van der Rohe neu gebaut worden? Dass aber die Rettung der Welt ein ästhetisches Problem ist, wie wir damals glaubten, das bezweifle ich inzwischen doch sehr.
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Kulturimperialismus Ich glaube, dass alle Schweizer Schriftsteller in einer großen Gefahr existieren. Umso größer ist die Gefahr, als es unsicher ist, ob die Schweizer Schriftsteller sich in dieser Gefahr nicht wohlfühlen, ob sie sich nicht gerade in dieser Gefahr selbst lieben – die Gefahr ein Aphrodisiakum. Habe ich nicht oft gesagt, habe ich es nicht auf den höchsten Bergen meiner Heimat, zum Beispiel auf der Spitze des Großglockners, ausgerufen: Ich liebe die Schweiz! Die Schweiz ist die Antwort auf Fragen, die Österreich stellt! Himmel, vielleicht ist es gar keine Schweizer Gefahr, sondern zum Schluss nichts als eine persönliche Bedrängnis, verallgemeinert (und die Schweizer sind immer unschuldig) auf Unschuldige, die mir zum Selbstschutz in Bedrängnis erscheinen. // Sehen Sie sich bitte, sehr verehrte Leserinnen und Leser, einmal, ein einziges Mal nur, den Umschlag meines Buches „Schreibkräfte“ an. Ich muss das Buch aus dem Gedächtnis beschwören, ich besitze kein Exemplar mehr. Aber damals hat ein deutscher Verlag, gewiss ohne mich zu fragen, ein fotografisches Gemälde, ein Sittenbild auf den Umschlag machen lassen: Man sieht einen grauhaarigen Herrn, groß gewachsen, aber spürbar subaltern; er ist offensichtlich ein Kellner, ein in Österreich sogenannter „Ober“, der serviert, und das ist, so weit ein Bild eine solche Interpretation zulässt, durchaus auch im übertragenen Sinn gemeint: Der graumelierte rüstige Alte in seiner historisch längst überholten, in seiner nostalgischen Eleganz tischt auf meinem Buchumschlag etwas
S.: Wir hatten damals die Idee, dass Ästhetik schon etwas bewirkt. Und wir reden hier nicht von Purismus, sondern von Ästhetik, das darf man nicht verwechseln. Das war für uns Mies van der Rohe, das war das Bauhaus. Und wir hatten auch den Citroën 2CV, der gehörte dazu! Das ist kein schönes Auto gewesen, nie. Der 2CV ist ein typisches WaldrappAuto, eine Ente … B.: Und wir waren uns sicher, dass ein Besitzer eines Braun-Plattenspielers, dass der Liebhaber von Jazzmusik ganz sicher keine rechtsradikale Partei wählt, sondern ziemlich sicher eine Neigung zur Sozialdemokratie hat. Wir hatten insofern Vertrauen in die Ästhetik, dass die Ästhetik anständige Menschen um sich versammelt. Und vielleicht hat es damals sogar ein bisschen gestimmt. 1968 reichte uns diese leichte Neigung zum Sozialismus nicht mehr. Wir wollten es wissen! Und dabei sind mir dann schon die Augen aufgegangen. Viele Sachen, die ich vorher als Zufälle erkannte, nahm ich plötzlich nicht mehr als solche wahr. Ich musste feststellen: Das ist so gewollt. Das ist so organisiert. S.: Ich pflichte dem bei, bin aber nicht so pessimistisch. Der Wunsch nach mehr Freiheit wird immer in den Menschen sein und dafür stehen sie auch ein. 1968 – das war eben nicht nur Paris oder Deutschland oder der Studentenverein. In der Tschechoslowakei zum Beispiel war das keine lustige Revolution, da ging niemand aus Spaß ein bisschen auf die Straße und das Fernsehen filmte Mädchen in kurzen Röcken mit Slogans. Die Leute hatten wahnsinnige Angst, sich zu exponieren. Und Alexander Dubček war ein naiver Politiker … B.: … er hat an die Anständigkeit der Menschen geglaubt! S.: … er hat – sagen wir es so – an Mies van der Rohe geglaubt, an die Ästhetik. Er war naiv, naiv wie wir. Das ist kein Grund stolz zu sein. Auch kein Grund, sich zu ärgern. Jedenfalls kam der 21. August,
Dubček wurde mit seinem ganzen Stab verhaftet. Er hat seinen Bürodiener gebeten: Bitte achten Sie auf diese Tasche, es sind wichtige Dokumente darin! Er wusste aber nicht, dass eben dieser Bürodiener schon die Schlüssel an die Gegenseite ausgeliefert hatte, also ein Spitzel war. Während dieser ganzen Zeit der Revolution war der Kommunismus sowjetischer Prägung bereits im Hintergrund aktiv und hat alles überwacht. Das hat mich geprägt im 68er Jahr. All diese irrsinnigen Geschichten … R.: Welche Geschichten? Erzählen Sie uns eine! S.: Zum Beispiel die Geschichte des Stalindenkmals, die ein polnischer Journalist aufgeschrieben hat. Der größte Stalin, den es je gab, stand in Prag. Es gab nie einen größeren, nie einen schwereren; ich weiß nicht, wie viele Tonnen er wog. Um es zu sprengen brauchte es – glaube ich – 7000 Sprengladungen. Es erging der Befehl an den Sprengmeister, er solle das Denkmal mit Würde sprengen. Spreng einmal etwas mit Würde! Wie macht man das? Diese Aufgabe ist unlösbar. Er wurde nachher übrigens in ein Irrenhaus gebracht. Das Ideal einer Partei stellt sich als Kitsch und Schund heraus – das ist eine große Enttäuschung, eine Verstörung. R.: Wenn Sie zurückschauen – sind Sie mit Ihrem Engagement im Großen und Ganzen zufrieden? B.: Man hat schon hie und da den Eindruck, man kann sich engagieren, wo man will, man wird immer enttäuscht. Aber – man verstehe mich nicht falsch – ich bin für Engagement, man kann ja doch nicht anders. Ich leide nicht so sehr an meiner Biografie, aber immer mehr an den Biografien derer, denen ich zuschauen muss. S.: Ich bin eigentlich nicht zufrieden. Die Frage ist doch immer: Was bleibt? Nun ja: Man muss sich beim Rasieren ins Gesicht schauen, das tue ich mit wachsender Unruhe. Und dann gibt es eben Tage, an denen rasiere ich mich nicht.
Leiden: Kunst kommt aus dem Leiden des Künstlers, das leidende Künstler-ich Phalaris, Tyrann von Agigent auf Sizilien, schon von Cicero in de republica und de officiis erwähnt als Urbild der Grausamkeit. Pindar erwähnt das berüchtigte Folterinstrument, den Stier, in dem der Tyrann Menschen rösten ließ. Näheres: 554 vor Christus ist er durch Volkserhebung gestürzt worden. Phalaris, willensstark und verhasst, förderte Künstler und Philosophen. Seine Grausamkeit war sprichwörtlich. Allen voran ist die Sage vom bronzenen (ehernen) Stier bekannt, den der Künstler Perilles für jenen Tyrannen hergestellt haben soll, um Fremdlinge und ihm verhasste Personen darin auf einem langsamen Feuer zu rösten, wobei ihre Schmerzensschreie wie das Brüllen eines Stieres klangen. Die Stierfigur deutet auf die Heimatstadt von Phalaris, Kreta, und auf das Stiergebilde des Dädalus hin, ebenso wie eine Verbindung zu dem nahen Karthago, mit dem Gott Moloch geschlagen werden kann, dem ebenfalls in glühender Stiergestalt Menschen geopfert wurden. Als erstes Opfer sperrte Phalaris den Künstler selbst in den Leib des Stieres. Der Witz der Foltervorrichtung besteht darin, dass die Umwandlung menschlicher Schmerzensschreie in ein Stiergebrüll in den Ohren des Tyrannen weniger schmerzlich klang. Die Vorrichtung erspart dem Tyrannen nicht nur die Schmerzensschreie seiner Opfer – sie klingen durch die Umleitung im Folterinstrument ganz gut. Und Kierkegaard hat in „Entweder-Oder“ dieses antike Bild für den Künstler verwendet, dessen Schmerzen niemand hört, weil die Kunst sie in Wunderschönes verwandelt hat: „Was ist ein Dichter? Ein unglücklicher Mensch, der heiße Schmerzen in seinem Herzen trägt, dessen Lippen aber so geartet sind, dass, während Seufzer und Geschrei ihnen entströmen, diese dem fremden Ohr wie schöne Musik ertönen. Es geht ihm, wie einst jenen Unglücklichen, die in Phalaris’ Stier durch ein sacht brennendes Feuer langsam gemartert wurden, deren Geschrei nicht bis zu den Ohren des Tyrannen dringen konnte, ihn zu erschrecken: ihm klangen sie wie heitere Musik. Und die Leute umschwirren den Dichter und sprechen zu ihm: ‚Sing uns bald wieder ein Lied;‘ das heißt: mögen neue Leiden deine Seele martern, und mögen deine Lippen bleiben, wie sie bisher gewesen; dein Schreien würde uns nur ängsten, aber die Musik, ja, die ist lieblich. Und die Rezensenten treten herzu und sprechen: So ist es richtig; so soll es gehen nach den Regeln der Ästhetik. Nun, das versteht sich, ein Rezensent gleicht einem Dichter auf ein Haar, nur dass er nicht die Pein im Herzen, nicht die Musik auf den Lippen hat. Siehe, darum will ich lieber Schweinehirte sein auf Amagerbro und
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von den Schweinen verstanden werden, als Dichter sein und von den Menschen mißverstanden werden.“ // (Hm, wer weiß, vielleicht kann man den modernen Künstler als einen verstehen, der sich sowas nicht mehr antut, kein Schöngesang, von Schmerzen dirigiert. Nie wieder! Das „Projekt der Moderne“, nämlich die Verbesserung aller Lebensbedingungen, hat auf den Künstler durchgeschlagen. Gewiß, der Künstler leidet – aber wie alle anderen, und während der Rezensent sich früher ganz nach dem Künstler kleidete, kostümiert der Künstler sich heute ganz nach dem Rezensenten, bis aufs Haar, und beide haben mit dem „Markt“ genug zu tun und zu leiden.)
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Die Perspektive der Differenz
Heidrun Holzfeind hat den Umschlag dieser Ausgabe gestaltet und fünf Doppelseiten im Heftinneren (S. 22–31): Sie zeigt den Marktplatz an sich – gealtert wirkende, tatsächlich aber aktuell aufgenommene Fotos vom Freitagsmarkt in Kairo. Nicht vergessen: Kaum ist die Unübersichtlichkeit ersichtlich, ist schon wieder Samstag. Ein Porträt der Künstlerin von Jorge Reynoso Pohlenz In vielen Teilen der Welt werden regelmäßig fliegende Märkte installiert, die den Verlauf und die Wege der Stadt stören. Trotz der Beschwerden von Autofahrern und der Interventionen von Stadtplanern passt sich der Markt den Anforderungen der offiziellen Gesellschaftsstruktur nicht an, sondern richtet sich vielmehr nach einer traditionellen Logik. Diese Logik brachte vielfach bereits lange vor der Gründung einer formalen Stadt die räumliche Anordnung des Marktes hervor. Jenseits vom „malerischen“ Erscheinungsbild, das sich dem fremden Blick darbietet, entspringt der vergängliche Raum des Marktes einer Aussöhnung zwischen Tradition und praktischer Notwendigkeit, die staatliche Normen missachtet und zwischen Händlern und Käufern Beziehungen ermöglicht, die nicht den Zoll- und Steuerrechten der formellen Ökonomie folgen. Die Spannungen zwischen dem Urbanismus, der formellen Ökonomie und dem scheinbaren Informalismus des Marktes sind durchaus nicht neu: Phönizische und mesopotamische Aufzeichnungen bekunden eine mehr als 3000-jährige Auseinandersetzung zwischen Regierungsinstitutionen und gesellschaftlichen Initiativen für fliegende Märkte. Obwohl der okzidentale Blick die islamische Welt zumeist als ungeteilten homogenen Block wahrnimmt, ist doch der Freitagsmarkt in Kairo, den die österreichische Künstlerin Heidrun Holzfeind (* 1972) zum Thema ihres jüngsten, für Quart geschaffenen Projekts FRIDAY MARKET macht, ein Beweis für die Mannigfaltigkeiten solcher Märkte und zugleich ein Hinweis auf lateinamerikanische oder ostasiatische Entsprechungen. Um das Jahr 640, kurz nach dem Tod Mohammeds, nimmt der arabische Islam Ägypten ein und errichtet in der künftigen Stadt Kairo ein Lager. Seitdem war Kairo arabisch, Teil der AlmohadenDynastie, türkisch, französisch, britisch, sozialistisch, fundamentalistisch, tolerant, intolerant, touristisch, kriegerisch und friedlich. In Ägypten trafen über Jahrhunderte hinweg komplexe Beziehungen zwischen Europa, Asien und Afrika aufeinander. Der Freitagsmarkt ist zugleich Folge und Widerstand ge-
gen diese historischen Übergänge und dabei ein Residuum, in dem sich Personen und Zeiten mischen. Viele dieser Aspekte von Holzfeinds Projekt FRIDAY MARKET ermöglichen einen Bezug zu ihren früheren Arbeiten. Holzfeind gehört zu einer Generation von Künstlern, die durch die Mittel des Dokumentarismus breitgefächerte Zusammenhänge herstellt und so dem historischen und zeitgenössischen Kontext mehr spezifisches Gewicht verleiht. Der Dokumentarismus der Gegenwartskunst entwickelt sich zunehmend zu einer genreübergreifenden Verknüpfung unterschiedlicher Medien, Techniken und Strategien und verpflichtet die Künstler in kritischer Weise einer Realität, in der das Reale als Konstruktion von Subjektivitäten erkannt wird. In der Tendenz zum Dokumentarischen streben die Künstler nach einem intensiveren Gespräch mit dem Publikum und versuchen, über die Vorstellungen jenes Publikums der zeitgenössischen Kunst hinauszugehen, das die charakteristischen Formate und Sprachen von Museen und Galerien der Gegenwartskunst kennt und schätzt. Holzfeinds Projekte fordern das Publikum heraus, seine passive kontemplative Haltung aufzugeben, um sich aktiv an der Interpretation zu beteiligen. Die dokumentarische Untersuchung rettet überdies die Zeugnis ablegende Erzählung als unmittelbare Gesprächsform. Die audiovisuelle Aufzeichnung geht über das Pittoreske hinaus und ermöglicht dem Publikum eine engere Verbindung zu den Erfahrungen, die durch Künstlerin und Kunstraum vermittelt werden. Ein wesentlicher Aspekt unterscheidet Holzfeinds Arbeit von ihren künstlerisch-dokumentarischen Vorläufern am Ende der 20er und zu Beginn der 30er Jahre des vergangenen Jahrhunderts. In der Zwischenkriegszeit waren die Tendenzen zu einer neuen Objektivität eine Antwort auf die kreativen und ideologischen Programme der Moderne. Ob diese Programme nun sozialistisch, faschistisch oder kapi-
Schwäche der Fiktion mit den Schreibtischtätern, die in der Tat vom Schreibtisch aus die Wirklichkeit, und sei es nur für eine Zeit, besiegt haben; es kommt nämlich in dem Phantasiegebilde von Koflers Text „Am Schreibtisch“ zu einer Führung durch eine Museumslandschaft, in der nicht zuletzt die Schreibtische der Täter seligen Angedenkens ausgestellt sind: „Hier der Schreibtisch eines Leutnants – der Führer mußte kurz nachdenken –, eines Leutnants oder Oberleutnants Waldheim, er ist gerade nicht da. Dieser Schreibtisch wiederum, ein besonders schönes Stück, gehört einem gewissen Lerch in Lublin, er vertritt allerdings im Augenblick seinen Kommandanten, der sich irgendwo außerhalb über den Baufortschritt eines Verbrennungsofens informiert. Der Schreibtisch des Kommandanten hat sich leider nicht erhalten, der Kommandant schrieb sich übrigens Globotschnigg, auch er ein Österreicher, erstaunlich, nicht wahr? – War das jener Globotschnigg, mein Lieblingsmassenmörder, wollte ich wissen. Das ist möglich, sagte der Kustos.“ // Diese Führung durch die Schreibtischabteilung des Museums wertet in meinen Augen das Fiktive wieder auf – gerade weil alle vom Schreibtisch aus aufgestellten Forderungen des ich-Erzählers sicher nicht erfüllt werden, und das ist, verglichen mit den erfüllten Forderungen, mit deren „Realismus“ human. Wie auch immer, Macht und Ohnmacht formt den Künstler / die Ohnmacht seiner Macht, die Macht seiner Ohnmacht. Das weltbeste Gedicht aller Zeiten: „Der Tabakladen“ von Fernando Pessoa beginnt daher so und nicht anders: // „Ich bin nichts. Ich werde nie etwas sein. Ich kann nicht einmal etwas sein wollen. Abgesehen davon, trage ich in mir alle Träume der Welt.“ // Das Gleiche, nur umgekehrt, also mit dem Akzent auf
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der Euphorie, alle Träume der Welt austragen zu können, fand ich in einem spiegel-Interview, das Leon de Winter, wie so schön heißt, „gab“; er schildert zunächst seine Lage, in der er versucht hatte, durch politische Artikel die Wirklichkeit zu beeinflussen – und dann das Glück, als er sich von solchen Versuchen befreit hat: „Sie können sich nicht vorstellen, wie herrlich, wie befreiend es ist, einen Roman zu schreiben …. Es ist eine Wohltat, die Wirklichkeit bestimmen zu können, statt von ihr veschlungen zu werden. In meinen Romanen bin ich Gott. Alles hört auf mein Kommando.“ Dieser metaphorische Gebrauch des Wortes „Gott“ (Gott oder Verschlungenwerden – das ist schon eine bezeichnende Daseinsalternative) hat einen vergessenen ideengeschichtlichen Hintergrund: In der Antike, für Aristoteles, war Kunst Nachahmung der Natur – also jedes Artefakt war so gemacht, wie die Natur es gemacht hätte, würde die Natur Artefakte machen. Künstler irrelevant, Vollzugsgehilfe. Für Plato war jedes Artefakt Abbild der Idee. Künstler irrelevant, Vollzugsgehilfe der Idee. Erst die christliche Theologie mit ihrem Begriff vom Schöpfer hat die Substitution Künstler/Gott plausibel machen können. Gibt’s auch modifiziert – in Form der „Inspiration“ – einem ursprünglich theologischen Begriff. // Thomas Bernhard Der Kulturkritiker muss uns über den Betrieb auch den Tratsch erzählen – denn so wie der Mensch, ich glaube, aus 90 % Wasser besteht, besteht die Kultur gewiss aus 90 % Tratsch. „Wir saßen“, so zitiert Reichensperger Karl Ignaz Hennetmair, Thomas Bernhards zeitweiligen Weggefährten, „gemeinsam vor dem Apparat, als die Meldung kam, dass Doderer gestorben sei. Wie elektrisiert sprang Thomas vom Sessel, klatschte in die Hände und rief erfreut: Der Doderer ist gestorben. Auf meine Frage, warum ihn das so freue, sagte er: Doderer war doch in Österreich das Renommierpferd, und solange der lebte, konnte keiner hochkommen. Jetzt ist die Bahn frei, jetzt komme ich.“ // Niemand komme mir mit einer Literaturgeschichte, das ist sie ja im Großen und im Ganzen!
talistisch waren, sie forderten von den Künstlern, ihre Vision der Welt den sozialen Erneuerungsprojekten einer wohltätigen, befreienden und letztlich die Differenzen homogenisierenden Moderne anzupassen. Die Standardisierung der sozialen Projekte sowie die vornehmlich okzidentale und männliche Sichtweise der Moderne haben eine Reihe historischer und sozialer Spuren hinterlassen, die in Holzfeinds Projekten auf vielfache Weise präsent sind. Funktionalistische Architektur und Städtebau sowie die Ideen von moderner Standardisierung und sozialer Utopie (die vornehmlich auf den von Bauhaus und Le Corbusier formulierten Theorien gründen) waren seit dem Bevölkerungswachstum und der Zunahme der Migration nach 1945 eloquente, international wirksame Artikulationen. Holzfeind beschäftigt sich in mehreren Projekten mit Architektur und Urbanismus: So vereint etwa das Video CORVIALE, il serpentone (2001) Erzählungen und Aufzeichnungen von Bewohnern eines Gebäudekomplexes in der Nähe von Rom, einer niemals fertiggestellten Siedlung von 1972, in der die sozialen Randschichten einer fragmentierten europäischen Arbeiterklasse planlos untergebracht wurden. Corviale sollte die Theorien einer besseren Gegenwart und einer modellhaften Zukunft verwirklichen. Da es jedoch unvollendet blieb, wurde den Bewohnern die Gestaltung einer nicht nur in Lateinamerika oder Afrika aufgeschobenen Moderne überlassen. Die glanzvolle und saubere funktionalistische Utopie ist in Corviale weder mit der sozialen Dynamik noch mit den kulturellen Ausdrucksformen vereinbar. Es wird ein Handlungsspielraum geschaffen, der eine Marginalisierung zur Folge hat und zugleich eine kulturelle Bereicherung darstellt. Auch in den Ländern des sozialistischen Blocks prosperierten Wohnsiedlungen, die vom Staat als Ausdruck von Fortschritt und sozialer Gerechtigkeit gepriesen wurden. Strikte polizeiliche Kontrolle und staatlicher Ansporn zu nachbarschaftlicher Spionage lösten in den Wohnanlagen des Sowjetblocks komplexe soziale Dynamiken aus, die eine Selbstmarginalisierung, Geheimniskrämerei und eine umfangreiche „unterirdische“ Kultur hervorbrachten, die sich für Künstler seit zwei Jahrzehnten als stimulierend erweist. ZA ZELAMA BRAMA („Hinter dem eisernen Vorhang“) ist ein im Prozess befindliches Projekt von Holzfeind über eine Wohnsiedlung in Warschau, die
etwa zur selben Zeit wie Corviale errichtet wurde. Dieses Projekt veranschaulicht den komplexen Übergang von der Planwirtschaft zur freien Marktwirtschaft als einem System, das sogar in jene informellen Mikroökonomien eingreift, die im Sozialismus planlos wucherten. Das Thema von Holzfeinds Diainstallation C.U. (Mexico City, August 2006), einer Doppelprojektion von Aufnahmen der Universitätsstadt C.U., ist die Ausprägung des Funktionalismus im mexikanischen Modernisierungsprojekt. Die nationale autonome Universität von Mexiko (UNAM) ist einer der ehrgeizigsten Architektur- und Bildungsprojekte Lateinamerikas, in dem öffentlich zugängliche Kunst (in Mexiko am Ende der 40er Jahre ein bedeutendes Thema) und funktionalistische Architektur zusammengebracht werden sollten. Mehr als ein halbes Jahrhundert nach ihrer Errichtung wird die C.U. von hunderttausenden Studenten, Forschern und Akademikern in einer Weise bewohnt und benützt, die für die einstigen Gestalter unvorhersehbar war. Das ist ein Aspekt, den Holzfeind in ihren Diapositiven durch die schlichte Darstellung der Räume einer seltsam unbewohnten Universitätsstadt enthüllt. Sie zeigt damit das Phantasma, das über 50 Jahre lang den funktionalistischen Traum geprägt hat. Die Installation wurde im Oktober 2008 in der Sala de Arte Público Siqueiros in Mexiko-Stadt in Verbindung mit dem Projekt Mexico 68 (2007–2008) präsentiert, einer Sammlung von Interviews, Dokumenten und Fotografien der Studentenbewegung im Vorfeld der mexikanischen Olympiade von 1968, die am 2. Oktober von der Regierung grausam niedergeschlagen wurde. Diese Bewegung ist nach 40 Jahren noch immer Anlass für Spekulation und Polemik, auch wenn Museen und Institutionen versuchen, eine vereinfachte und positive Perspektive von historischer Aussöhnung anzubieten. Holzfeinds intensive Recherche gewinnt der Studentenbewegung ihre Komplexitäten, Widersprüche und Nuancen zurück, was insbesondere in den Erzählungen der Frauen dieser Bewegung offenbar wird: Trotz der politischen Orientierung ihrer männlichen Gegenüber, die vorwiegend aus der extremen Linken kamen, war es üblich, den Frauen Aufgaben zuzuweisen, die den häuslichen und machistischen Kontext der mexikanischen Familien widerspiegelten. Da es andererseits aber schwieriger war, junge, akademisch gebildete Frauen der Mittelschicht zu verhaften, wurden sie
Vorläufige Notizen zum Künstler-ich (Fortsetzung)
Eine der Folgen professionell überempfindlicher Selbstbezogenheit will ich nicht aussparen. Wenn es stimmt, dass das ich bei Künstlern eine deformation professionelle und zugleich ein Produktionsmittel ist, dann werden die biographischen Details dazu gebraucht, dazu einsatzfähig, um eine künstlerische Produktion nachzuzeichnen. Das Privatleben wird Kunstgeschichte. Das partikuläre Künstler-ich wird verallgemeinert, stellvertretend für das Gesamtmenschliche oder für ein bestimmtes Zeitproblem. Also: Bachmann / Celan …, das tragische Gerangel wird in die Theorie der künstlerischen Produktivität eingearbeitet, nicht ohne pathetischen Tonfall, der eventuell verdeckt, dass das tragische Gerangel zumindest potentiell bei allen Menschen das gleiche ist, und deshalb auch bei Bachmann/ Celan so verdammt ähnlich dem Tratsch klingt, dem man füreinander, ob gegenüber Künstlern oder Autoverkäufern, bereithält … (Also die – in den obszönen Augen der Betrachter – Ingeborg/Paul-Show: „Ingeborg wollte – als sie fast noch ein Mädchen war – den Existenzrahmen für beide schaffen …“ Oder: „Celan hat aus Bachmann etwas gemacht, das sie nicht war, wozu sie sich aber aus freien Stücken hergab …“). Künstler-ichs werden gehandelt, ihnen drohen die Deformationen der „Prominenz“. // Aber, behaupte ich, die eigentliche Schwierigkeit der Behauptung von der ich-Verschlossenheit der Künstler ist, dass sie auf merkwürdige Art nur eine Halbwahrheit sein kann. Denn wer bitte beschäftigt sich in dieser Gesellschaft überhaupt mit dem Anderen und den Anderen. Als Kafkas Vater ihm vorwarf, er, der Sohn, wäre abnormal, erwiderte dieser schließlich zu Selbstbewußtsein – auch gegenüber dem Vater – gekommene Sohn, abnormal sei nicht das Schlechteste – normal ist der Weltkrieg! ich, das schneidende Wort. Aber nun doch ja – der Künstler, von Berufs wegen zum Egomanen deformiert, Ausnahmen halt ausgenommen (nicht weil ich glaube, dass es sie gibt, sondern, weil’s aus dem Begriff der Ausnahmen hervorgeht, eben dass sie ausgenommen sind), und das Publikum, das sich darüber tröstet mit frommen Sprüchen a la Die wirklichen Stars sind ganz unkompliziert, / und sowas wie die Forschung, die den Skandal der spezifischen Egomanie ans Tageslicht bringt: Brecht war ein Ausbeuter, Canetti ein Dämon, Wolfgang Köppen ein Schwindler, der fast ein Leben lang immerhin (mit einem Manuskript, das nicht
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geschrieben war) den robusten Unseld hineingelegt hat, ihn an der Stange hielt …. Und dann doch: dieses Künstlerich: es ist für das Andere und für den und die Andere auf der Welt – allerdings nicht, wie die Flüchtlingshelferin Ute Bock, für den realen Anderen, für das real Andere. Die Kunst arbeitet mit Fiktionen – und ich schwöre, als ich (um aus der Schule zu plaudern), als ich das Buch: „der stadtrat“ schrieb, als ich dafür eine fiktive Welt schaffen musste, mir Charaktere anverwandeln musste und auch die Gegen-Charaktere – da hatte das keine gute Wirkung auf mich als moralische Person in der (sozialen) Wirklichkeit, die einen Charakter fordert, der sich außerdem gut und richtig entscheiden soll / sprich: einen Charakter, der sich verwirklicht und der nicht im Element des Fiktiven sich ungebunden wähnt. // Macht: Künstler-ich will Macht, das Künstler-ich möchte Am Schreibtisch kann man alles hin und her schieben. Alles leistet dem Künstler am Schreibtisch Folge, er ist der Chef – allein die Wirklichkeit, die am Schreibtisch so gefügig erscheint, ist in Wirklichkeit unerbittlich-eigengesetzlich. Werner Kofler hat in einem seiner großartigen Bücher, in „Am Schreibtisch“ zu dieser Frage nicht etwa einfach eine Position eingenommen, sondern der Text von „Am Schreibtisch“ arbeitetet grundsätzlich die Positionierung des Künstlers in der Macht/Ohnmacht-Dichotomie durch: „Kunst muss die Wirklichkeit zerstören, so ist es, die Wirklichkeit zerstören statt sich ihr unterwerfen, auch was das Schreiben anlangt …. Aber das Entsetzliche, müssen Sie wissen, das Entsetzliche ist: Die Wirklichkeit macht ungeniert weiter, die Wirklichkeit schert sich keinen Deut um die Zerstörung, die ihr in der Kunst zugefügt wird, die Wirklichkeit ist schamlos, schamlos und unverbesserlich …. Immer wieder sage ich: Komme her, Du Wirklichkeit, jetzt wird abgehandelt, ich traktiere sie auch, Sie wissen nicht, wie und doch: sie macht umso unverfrorener weiter.“ // Das kann man auch lesen als Schwäche der Fiktionen, als Schwäche eines Lebens, das sich am Schreibtisch dem Fiktiven zuwendet. In meiner Lesart konfrontiert Kofler diese
bevorzugt auch mit dem Verteilen von Flugzetteln beauftragt. Abseits von städtischen Komplexen und politischen Bewegungen gilt Holzfeinds Aufmerksamkeit der Mikrogeschichte, dem Verhältnis vom Familiären oder Individuellen zur Welt. Das Video DIE RUMÄNEN. Leben wie ein König (2002) zeigt die Sichtweise eines ehemaligen rumänischen Flüchtlings, der mit seiner Familie in Österreich wohnt. Paradoxerweise rühmt die zufriedene Familie das liberale, wohltätige System ihres Aufenthaltslandes und behält doch Gesten und kulturelle Traditionen Rumäniens bei, die im habsburgischen Imperium systematisch unterdrückt und in Ungarn während der Annexion Siebenbürgens missbilligt wurden. Der ungarische Komponist Béla Bartók beklagte vor mehr als 80 Jahren, die Nationalismen und Totalitarismen würden die kulturellen Besonderheiten Osteuropas homogenisieren. Die politischen und ökonomischen Veränderungen der Nachkriegszeit beschleunigten das Verschwinden von ländlichen Besonderheiten und verwandelten sie in marginale urbane und suburbane Exotismen, in kulturelle Residuen innerhalb einer „technologischen“ Gesellschaft. Das Verhältnis zwischen industrieller Modernisierung und Individuum wird in Holzfeinds Video EXPOSED (2005) radikalisiert: Es zeigt die Fallgeschichte einer Frau, die an multipler Chemikalienüberempfindlichkeit leidet. Diese Frau kämpft mit einer schweren chronischen Allergie gegen eine große Bandbreite von chemischen Produkten, die in der Umwelt verteilt sind. Das Video regt an zum Nachdenken über die biologische oder psychosomatische Natur dieser Krankheit sowie zur Reflexion über unser Vermögen, auf die Zustände der gegenwärtigen Welt zu reagieren oder sich ihnen anzupassen. Abseits der Forderung nach Anpassung oder der Ausgrenzung Unangepasster könnte die Alternative in der Gestaltung von Räumen und Projekten bestehen, in denen Differenz mobilisiert und anerkannt wird. Im dichten transnationalen sozialen und ökonomischen Gewebe müssen Öffnungen gefunden werden, die eine Kritik an der Homologisierung ermöglichen. Obwohl Kunst zu institutioneller und kommerzieller Assimilation von Differenz tendiert, besitzt sie trotzdem die Fähigkeit, solche Öffnungen herzustellen. Holzfeind konzipiert seit 2002 das Wanderprogramm ALIEN als kuratorisches Projekt, das audiovisuelles Material über Migration, Arbeitsausbeutung, Rassismus
sowie politische und individuelle Machtverhältnisse versammelt. Alien wurde in Italien, Holland, Belgien, Dänemark und in den Vereinigten Staaten gezeigt. LESERAUM (2007), dicht bei Alien angesiedelt, ist eine Art von bewohnbarer Skulptur, ein Zufluchtsort, der derzeit in Kärnten, nahe der italienischen Grenze installiert ist. Dieser Leseraum befindet sich hoch über dem Boden und parodiert in gewisser Weise die minimalistischen Skulpturen der 80er Jahre. Leseraum verbindet formal die Funktionen von Überwachungsstation und Zufluchtsstätte – man kann darin entweder die Landschaft betrachten oder die vorhandene Literatur heranziehen: Texte zu Feminismus, Globalisierung und Migration. Die bewohnbare Skulptur macht Holzfeinds kritische Nähe zur philosophischen und künstlerischen Tradition Mitteleuropas in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts deutlich. Das Werk und sein Umfeld unterscheiden sich kaum von der Zufluchtsstätte, die sich Gustav Mahler einrichtete, um im Sommer – von der Welt und seiner talentierten Frau abgewandt – zu komponieren, oder von den entlegenen Bibliotheken, die Nietzsche während seiner einsamen Reisen auf der Flucht vor dem deutschen Spießertum aufsuchte. In Zeiten großer Konflikte begriffen Künstler und Philosophen den Kurort oder das „Landhaus“ angesichts des politischen Wahnsinns der Zeit als eine Möglichkeit des politischen oder spirituellen Exils. Die von Holzfeind im Leseraum präsentierte Buchauswahl ist also Hommage und zugleich Parodie einer eremitischen Tradition: Es ist, als würde man den vor der schwarzen Pest Geflohenen in Bocaccios Decamerone Berichte über die schwarze Pest anbieten. Kehren wir zum Freitagsmarkt in Kairo zurück, den Holzfeind mit kinematografischen Mitteln in raumgreifenden Kamerabewegungen und weitwinkeligen Ansichten dokumentiert. Die Ausarbeitung der Dias in Ägypten, bei der wohl zu lange gelagerte und deshalb schadhafte Chemikalien verwendet wurden, verursachte eine Tönung der Bilder, die an alte Fotografien erinnert. Die durch diesen Unfall „plötzlich gealterte“ zeitgenössische Aufzeichnung und der panoramische Blick erzielen einen epischen Effekt, der die in dieser Region unvermeidlichen Brüche zwischen sozialer Wirklichkeit und sozialem Projekt aufzeigt. (Aus dem Spanischen frei übertragen von Birgit Mennel und Tom Waibel)
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Ein Dichter: „Das schreibt mir keiner nach.“ // Glatte Sache. „Eine serbische Prostituierte (35) versprach einem Pensionisten (79) in Marchtrenk (OÖ) eine schöne Zukunft. Sie entlockte ihm 75.000 Euro und verschwand.“ // Ein Künstler: „Ich bin kein Genie. Ich habe nur komplexere Bedürfnisse als andere.“ // Anonyme Beratung: „Grenz dich ab. Es ist wichtig, dass du dein eigenes Leben gelebt bekommst.“ // Ein Reisender: „Chicago kann sehr kalt sein, Bad Ischl auch.“
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Ha zwei O!
Der ehemalige Tankstellenbesitzer und Gemeindepolitiker Johann Grander hat das Prinzip der „Wasserbelebung“ entwickelt, mit dem er vom Tiroler Jochberg aus einen Welterfolg landete. Die Methode, bei der laut Eigenwerbung „die ursprüngliche Stabilität und Ordnung des Wassers“ zurückgewonnen wird und „gestresstes Wasser“ zum „Informationswasser“ mutiert, ist bis heute streng geheim und ziemlich umstritten. Im Auftrag der Redaktion unternahm Walter Müller einen Selbstversuch mit Grander-Wasser. Jetzt hocke ich in der „Hölle“ und trinke GranderWasser. Draußen nieselt es, Novembernieseln; die Kastanien im Gastgarten haben fast alle Blätter abgeworfen. Hocke ich also in der „Hölle“, Wintergarten, und schau hinaus auf die rostroten Ziegelwände. Friedhofsmauer. Zwischen der „Hölle“ und dem Salzburger Kommunalfriedhof liegen nur eine enge Zufahrtsstraße und ein schmaler, steil ansteigender Wiesengrund. Hocke ich im Gasthaus „Hölle“ und trinke. Zuerst den Junker, dann das Wasser? Zuerst das Wasser, den ersten Schluck. Ich bin Trauerredner, und einmal pro Woche verschlägt es mich auf den Kommunalfriedhof, und dann in die „Hölle“. Außer die Trauerfamilie zieht in die „Hölle“, zum Leichenschmaus. Da bin ich nicht dabei, da muss die Familie unter sich sein; dann geh ich halt ins Witwencafé. Das Grander-Wasser kriegt man in der „Hölle“ gratis. Auf der Speisekarte steht: Grander-Wasser, ¼-Liter – Euro 0.00, ½-Liter – Euro 0.00. Das Wasser ist kühl, ich lasse den Schluck durch meine Mundhöhle wandern … fühlt sich gut an. Oder ist das mein Speichel, der das Wasser veredelt und weich gemacht hat? Außerdem: durstig wie ich war, nach zwanzig Minuten Trauerrede … Man müsste jetzt einen Gegenschluck trinken! Kellner, ein Glas Leitungswasser! Aber in der „Hölle“ kommt aus der Wasserleitung Grander-Wasser. Der Junker schmeckt wunderbar. Ich habe soeben einen Mann verabschiedet, der sein halbes Leben lang in einer Brauerei gearbeitet hat, mit großem Einsatz und großer Treue zur Firma, und jetzt mit 54 Jahren an Leberzirrhose gestorben ist. Mein letzter Satz in der Zeremonienhalle im Krema-
torium: „Ich wünsche für den Florian, aber auch für mich selber und für uns alle, dass es diesen Himmel gibt, in dem das Bier genauso schmeckt, wie ein Bier schmecken muss, das von gewissenhaften Brauern gebraut wurde. Und dass es so gesund ist wie ‚Kamillentee mit Schaum‘, wie der Florian das geliebte Bier manchmal genannt hat.“ Der zehnte oder zwölfte Schluck – ich hab den halben Liter bestellt – schmeckt ein bisschen bitter. Aber das ist meine Zahnbrücke, garantiert. Ich bin für WasserTrink-Versuche nicht geeignet. Ich müsste meine kleine einzementierte Zahnbrücke entfernen lassen. Und den Salatteller mit gegrillten Truthahnfiletstreifen samt Joghurtdressing hätte ich auch nicht bestellen sollen. In meiner Mundhöhle mischt sich dies und das, der Junker schmeckt sensationell. Florian, hab ich in der Trauerrede für den viel zu jung verstorbenen Brauereimitarbeiter Florian gesagt, der heilige Florian ist der Schutzpatron aller, die mit Wasser zu tun haben: Bierbrauer, Schnapsbrenner, Seifensieder, Töpfer, Müller, Feuerwehrleute. Vor allem der Feuerwehrleute. Bei den Feuerwehreinsätzen, probehalber oder echt, gibt es ja einen der kuriosesten Befehlssätze der deutschen Sprache: „Wasser, marsch!“ Als hätte das Wasser Stiefel an! Grander-Wasser aus den Feuerwehrschläuchen – belebt das die Flammen? Oder dämpft es das Feuer, belebt und entspannt wie es ist, leichter aus? Ich frage ja nur! Der heilige Florian soll als Kind ein Feuer durch nichts als Beten zum Erlöschen gebracht haben, ganz ohne Wasser, durch gedankliche Inbrunst. Feuersbrunstdurch durchInbrunst Inbrunstbekämpfen bekämpfen– wenn – das Eine Feuersbrunst
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streckt auf dem Zeitungspapier zu der Stelle. Es ist eine Sendung der ard, die den Titel trägt: „Wie Hunde die Welt verändern“. „Heißt das nun“, bellt er mich an, „wie Hunde die Welt verändern, oder ist es eine an uns gerichtete Aufforderung, wie Hunde die Welt zu verändern …“ Ich weiß die Antwort nicht, entscheide mich aber für das erstere, nein, schließlich doch für … // Ein denkender Schauspieler: „Älterwerden ist ein biologischer Prozess, der vor niemandem haltmacht.“ // Nicht. „Wenn dem Neunzigjährigen die Melancholie der Todesgedanken ankam, holte die Lustigkeit des Sohnes ihn wieder zurück.“ Genauso war es bei meinem Vater und mir nicht. // Ein Manager dieser Tage: „Am Ende des Tages zählt das Ergebnis.“ // Österreichs Literatur: „Österreichs Literatur ist so gut wie lange nicht.“
wenn man das mankönnte!!! könnte!!!Da Dawär wärich ichgern gern dabei dabei gewesen, so wie der ungläubige Thomas bei der Erscheinung des Herrn gern dabei gewesen wäre. „Weil du mich gesehen hast, glaubst du. Selig, die nicht sehen und doch glauben.“ Ist schon klar, Herr, aber nichts für ungut: ein bisschen Sehen würde die Sache unendlich leichter machen. Ich bin binjajader derPfarrerersatz Pfarrerersatz sozusagen. sozusagen. Wenn Wenn die Andie Angehörigen gehörigen im Gespräch im Gespräch mit der mit Bestattungsfirma der Bestattungsfirma zum zum Stichwort Stichwort „Religion“ „Religion“ kommen kommen und „ohne und „ohne BekenntBekenntnis“ nis“ angeben, angeben, dann werden dann werden wir Trauerredner wir Trauerredner beaufbeauftragt. tragt. Warum Warum „o. B.“?, „o.frage B.“?,ich frage beimich Trauergespräch, beim Trauergespräch, zwei, drei zwei, Tage vor dreider Tage Verabschiedung. vor der Verabschiedung. Wegen der Wegen Kirchensteuer! der Kirchensteuer! Das ist fast immer Das so. ist Manchmal: fast immer weso. Manchmal: gen der Kirchenpolitik. wegen der Kirchenpolitik. Und der Glaube? Und der Geglaubt Glaube? hat er Geglaubt schon. Ja, hatanereinen schon. Gott Ja,hat an sie einen geglaubt, Gott hat unbesie geglaubt, dingt. Aber unbedingt. die Kirche,Aber die Amtskirche! die Kirche, die UndAmtskirdie Kirche! chensteuer! Und die IchKirchensteuer! glaube, der halbe Ich Liter glaube, hatder mirhalbe ganz Liter gut getan. hat mir ganz gut getan. Der junge Kellner trinkt das auch. Er sagt: in der Früh Mineralwasser, am Abend ein Bier, aber dazwischen immer wieder Grander-Wasser. Es erfrischt, tut einfach gut. Und wie funktioniert das? Das Wasser wird belebt, umgedreht, von rechts nach links. Hat er gesagt: von rechts nach links? Oder von links nach rechts? Ich müsste nachfragen, aber jetzt kommt gerade eine Trauergesellschaft in die „Hölle“ und ich hab ja auch schon gezahlt. Erfrischt jedenfalls, tut gut. Ich war schon das eine oder andere Mal bei einer Leichenwäsche dabei, ein letzter Dienst, der sehr viel Behutsamkeit und Pietät erfordert. Man wäscht, sanft, in der Regel liebevoll, den Körper, die Arme, das Gesicht mit lauwarmem Wasser. Für die einen ist das reine Hygiene, für die anderen ein schönes Ritual. Es ist jedenfalls ein Liebesdienst. Angenommen, man würde Leichen mit Grander-Wasser waschen, solche Gedanken kommen einem, wenn man für eine Bestattung arbeitet und grad auf die Friedhofsmauer draußen vor der „Hölle“ starrt – was würde das bewirken? „86-jährige Tote bei Leichenwäsche wieder aufgewacht!“ Das war in Israel und kommt überall einmal in zwanzig Jahren vor, aber das hab ich nicht gemeint, natürlich nicht!
Ich habe gemeint: Hilft belebtes Wasser bei der Verwesung? Das hat ja auch mit Würde zu tun. Geht das Körperliche dann schneller, langsamer, entspannter vonstatten? Gibt es Anwendungsgebiete für, sagen wir: belebtes Wasser, wo es völlig wurscht ist? Notieren: den Grander-Schinken (leichter für mein Wohlbefinden durch Verwendung von belebtem Wasser nach dem Verfahren der Original Grander Technologie) unbedingt besorgen, bloß wo? Der würde mich reizen! Grander-Bier, also aus einer mit Grander-Wasser arbeitenden Brauerei, hab ich schon getrunken. Hat geschmeckt. Müsste man natürlich vergleichen. Aber einer allein kann ja nicht beliebig lang Versuchsreihen durchstehen, schon gar nicht, wenn Alkohol im Spiel ist. Leichenwaschen mit belebtem Wasser. Geschäftsmäßig sicher zu vernachlässigen. Aber von der Geste her? Im Hospiz verwendet man die besten Öle, selbst nach dem Eintritt des Todes. Ich glaube ja auch an eine sanfte Wirkung, wenn ich Stirn, Brust und Schultern mit Weihwasser benetze. In Berlin – ich war im Sommer vier Wochen in Berlin – hat die Pfarrerin bei der Hostienausgabe gefragt: Wein oder Saft? Wie hab ich mich da nach dem katholischen Brimborium gesehnt: Weihrauch, Wandlung und Geheimnis! Der letzte irdische Liebesdienst mit lauwarmem GranderWasser. Die Wirkungen wären noch schwerer beweisbar als alles andere. Wenn die Trauergäste vor der Verabschiedung und vor der Beerdigung dieses belebte Wasser getrunken haben, heulen die dann am offenen Grab (oder wenn die eiserne Türe im Krematorium zu „Time to say goodbye“ beispielsweise zugeht): Rotz- und GranderWasser? Und wenn ich jetzt, nach dem halben Liter, die Toilette aufsuche … Grander-Wasser-Lassen? Schon erforscht? Ein ehemaliger Freund hatte in Kärnten einen kleinen Bauernhof, keine Tiere, nur Obst und Gemüse für den Hausgebrauch. Im Garten standen zwei selbstentworfene Toilettenhäuschen – eines für Vegetarier, eines für Fleischesser. Er machte da irgendwelche, mir nicht näher bekannte Düngeversuche. Die Fleischessertoilette war zugig, ungemütlich und mit keinem
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Die Liste. „Die Liste der Kindermorde ist endlos.“ // Ein liberaler Angestellter der „Kronen-Zeitung“: „Ich bin ein rechter Liberaler, ich denk mir, ein jeder soll nach seiner Facon. Ich werd nur rabiat, wenn mir die Gutmenschen auf die Zehen steigen. Und wenn sich die Plassnik bescheuert benimmt, dann kriegt’s auch eine.“ // Schwarm. „Schwärme von Selbstmordattentätern machen sich schon bereit.“ // Sprache und Politik. „Die deutsche Sprache gedeiht nur fern der Politik.“ // Wie Hunde die Welt verändern. „Das meiste, fast alles, hat gar keinen Sinn, und dann erscheint der Unsinn auch noch als Doppelsinn.“ „Was, was?“, frage ich ihn und er reibt mir im buchstäblichen Sinn das Fernsehprogramm unter die Nase. Sein Zeigefinger der rechten Hand fährt pädagogisch ge-
Lesestoff bestückt. Wehe, ein Fleischesser hat die Vegetariertoilette aufgesucht, und sei es heimlich, des Nachts gewesen! Pure Notdurft-Bespitzelung. Auch so ein Feld-Versuch, und unsere Freundschaft ist bald den Bach runtergeschwommen.
in der Zeremonienhalle am Friedhof, dass ich zum schwarzen Anzug doch wieder, völlig ohne Absicht, dunkelblaue Socken angezogen habe. Merkt aber keiner außer mir.
Natürlich ist Hochwasser was Bedrohliches. Aber Hochwasser trägt und schiebt auch die faszinierendsten Materialien aus den Gebirgsgauen in die Stadt. Bei Hochwasser hockt Elfriede, Malerin, Objektkünstlerin und Heilerin, am Ufer der Salzach, mitten in der Stadt Salzburg, linksseitig, zwischen Makartsteg und Müllnersteg, und fischt Unmengen an Schwemmholz heraus, Büsche, Äste, Zweige, Baumstämme, kleine Bäume. Die lässt sie dann trocknen, zersägt oder zermalmt sie in ihrer Atelierhöhle in der Mönchsbergwand und klebt und presst sie, wann immer ihr danach ist, in ihre Bilder und Objekte ein.
Die andere Schwachstelle ist gravierender: Ich kann nicht unterscheiden, was gesund und was ungesund ist. Ich dreh in der Früh den Wasserhahn in unserer Zehn-Parteien-Altbauwohnung auf, lass das Wasser fünf Minuten rinnen, bis es halbwegs Wasserfarbe angenommen hat, trinke das erste Glas, das noch immer ein wenig trüb ist, und manchmal schmeckt es auch nach Metall. Ich reinige mein Inneres von den Schlacken der Nacht, denke ich beim Trinken, wie ich gleich unter der Dusche mein Äußeres vom Schweiß der schlechten Träume und vom Sand in den Augen reinige. Vielleicht genügt dieser Gedanke ja schon. Vielleicht wendet sich da was?
Also, ein Grander-Wasser, bitte! Elfriede findet im Moment das „Staberl“ nicht und stellt einen Krug voll mit Wasser und ein paar Steinen darin auf den Tisch. (Rosenquarz kenne ich. Einen Rosenquarz hab ich in der linken Außentasche meines Wintersakkos.) Die Handtasche mit dem „Staberl“ ist ihr einmal gestohlen worden, sie hat aber nachgekauft, mehrmals schon. Wir telefonieren manchmal miteinander, und ziemlich oft liegt sie dabei in der Badewanne. Und so gut wie immer hat sie ein Grander-„Staberl“ im Badewasser versenkt. Heute wirkt es, morgen nicht, sagt sie.
Das mit dem Wenden fasziniert mich. Was für ein schönes Wort! Nicht Drehen. Der Wetterhahn dreht sich, krumme Dinge werden gedreht. Wenden hat das Brimborium in sich. Wenden klingt irgendwie christlich, fast ein bisschen katholisch, im besten Sinne. Wohin soll ich mich wenden? Die schönsten vier Zeilen aller Messgesänge. „Wohin soll ich mich wenden / wenn Gram und Schmerz mich drücken? / Wem künd’ ich mein Entzücken / wenn freudig pocht mein Herz?“ Lauter aussterbende, ausgestorbene Wörter: wenden, Gram, drücken, Entzücken, freudig, pocht. Wenden aber ist das Geheimnisvollste daraus.
Du als Heilerin …, will ich sagen. Aber sie unterbricht mich und ruft: Wenderin. Sie bezeichnet sich als Wenderin. Wir trinken Steinwasser, reden über Grander-Wasser, und ich hab mich in ein Wort verliebt!
Es gibt immer wieder Anhängsel, die ein grundsauberes, großes Wort klein machen. Wende-Kanzler, Wende-Hals, Wende-Marke. Wende-Manöver ist auch nicht so toll. Bis zur letzten Wende lag Markus Rogan noch eine Armlänge voran. Mein Gott, wie lang bin ich schon nicht mehr geschwommen. Gut, vor drei Jahren im östlichen Mittelmeer. Aber in einem Hallenbad! Das Hallenbad im Sporthotel in Mittersill ist mit Grander-Wasser gespeist. Vor mehr als zwanzig Jahren hab ich dort, nicht im Hallenbad, aber im Tonstudio neben der Diskothek des Sporthotels meine ersten Kinderlieder aufgenommen. Wenn man im provisorisch gebastelten „Sängerkammerl“ durch ein Glasfenster in der Seitenwand schaute, sah
Ich bin ja so ein Schwergläubiger, ich könnte kein Steinwasser von einem Grander-Wasser unterscheiden, aber ich vertraue Menschen, die mir was bedeuten. Elfriede bedeutet mir viel. Und dass sie das Grander-„Staberl“ grad nicht findet, macht sie mir unendlich sympathisch. Ich habe ja zwei Schwachstellen. Eine ausgeprägte Schwarz-Dunkelblau-Wahrnehmungsstörung; das heißt: ich merke manchmal erst
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Ein Phäake: „Wenn es schmeckt, dann ist es keine Sünde.“ // „Sein eigen Fleisch und Gut.“ // Eine telemedialer Heiler: „Sorgenmachen ist die Produktion von destruktiven Gedanken.“ // Frage an den bedeutenden Mann. „Von welchen Klischees, die über Sie im Umlauf sind, sind Sie nachhaltig geprägt worden?“ // Theologie und Prozentrechnung. „Er war ein hundertprozentiger Mann, und kein hundertprozentiger Mann kann ein Heiliger sein.“ // Die Krise ist ein Zeichen. „Die Krise ist ein Zeichen der Gesundung.“
man – wenn er nicht gerade im Einsatz war – den Mittersiller Leichenwagen. Die örtliche Bestattung ist auch von der tüchtigen Hotelierfamilie betrieben worden. Jetzt schwimme ich meine ersten Hallenbadtempi seit dem Jahre Schnee und könnte mich in den Arsch beißen, dass ich so lange auf diesen hübschen Spaß verzichtet habe. Ich schwimme ja nicht, um fit zu werden, mich zu entspannen, um etwas für meinen 58-jährigen Körper zu tun. Ich schwimme wegen dieser Geschichte. Eine Art literarisches Schwimmen. Spür ich schon was? Ein auch schon seit Ewigkeiten nicht mehr gesehenes Ehepaar, das „so oft wie möglich“ zum Schwimmen hierher kommt, erzählt, dass man sich nach den Schwimmrunden im GranderWasser-Bassin einfach frischer fühlt, nicht zuletzt, „weil ja auch weniger Chemikalien verwendet werden müssen“ und so. Das Wasser belebt, erzählen sie, die Haut fühlt sich weicher an. Gibt es schon, wieder nur so eine Frage, jetzt wo mir das Wasser bis zum Hals steht, Schwimmwettbewerbe in Grander-Wasser-Becken? Das wissen die beiden nicht. Ich glaube, ich fühle mich auch entspannt irgendwie, aber das könnte auch das Bier an der Bar sein, nach dem Verlassen des Wellnessbereiches. Mein Gott, was haben wir alles getrunken, bis die ersten Kinderlieder im Kasten waren! Schwimm-EM in Grander-Wasser, gesponsert von … sagen wir: Grander-Wasser. Da wären garantiert neue Fabelweltrekorde fällig. Oder wenn sich einer, Markus Rogan zum Beispiel, ein „Staberl“ in die Badehose stecken würde, beim Wettschwimmen im ganz normalen, chlorreichen Sportschwimmerbecken – würde das kleinräumig das Wasser um seinen Körper aktivieren und ihn schneller machen? Ist das schon getestet worden? Ist das nachweisbar? Deine Haut fühlt sich so weich an, sagt meine Frau. Hätte meine Frau garantiert gesagt, aber sie ist auf Kur. Und wen anderen lass ich nicht an meine Haut ran. Nur meine Frau, Kernseife und Grander-Wasser. Wasser vergisst nicht – Wasser hat ein Gedächtnis. Meine Frau auch. Wäre das eine Werbegeschichte? Mit George Clooney?
Wasser ist nicht gleich Wasser. Das weiß ich auch. Das hat mir neulich mein Journalistenfreund wieder einmal erzählt, der, von dem ich auch den Rosenquarz im Wintersakko habe. Wasser reagiert auf dich, auf mich also. Wenn du Wasser hasst, hasst es zurück. Wenn du es magst, mag es dich. Ich mag dich, Wasser, ehrlich. Aber noch mehr mag ich Menschen. Menschen, die anders sind, mag ich am liebsten. Im Raurisertal, wo ich gerne bin und als Marktschreiber literarisch gearbeitet habe, sagt man zu so einem Menschen „B’sunnana“, Besonderer. Das heißt auch: Spinner, Außenseiter, Weiser. Als Trauerredner gerät man in unterschiedlichste Menschenleben hinein, etwas Besonderes steckt in jedem und jeder Besondere hat einen Platz in meinem Herzen. Wenn er durch seine Ideen keinem anderen schadet, bin ich auf seiner Seite. Ich kenne Herrn Johann Grander nicht, nur aus den unzähligen Berichten, die über ihn verfasst werden. Ob er ein Heiliger oder ein Geschäftsmann ist, beschäftigt mich nicht. Seine Lebensgeschichte berührt mich, als Trauerredner gehen mir Biografien immer nahe. Wer so wie ich in einer Geschichte herumtümpelt, zwischen „Amen, so sei es“ und „Wer’s glaubt, wird selig“, sollte keinen Stab brechen. Sie hat das „Staberl“ gefunden! Elfriede sitzt schon wieder im Badewasser und entspannt sich. Wir haben vergessen, wer und was wir sind, wir müssen uns einfach wenden, sagt sie. Das Wasser kann man ja nicht fragen, sagt sie. Aber dass unsere Gedanken wirken, da sind wir uns einig, oder? Sind wir uns einig. Zu dumm! Eben erst erfahre ich, dass die Zahnärztin in unserem Zehn-Parteien-Altbauhaus eine GranderWasser-Anhängerin ist; vielleicht kann sie mir irgendwann einmal meine einzementierte Zahnbrücke lockern, dass ich wertfreier testen kann. Aber jetzt hocke ich ohnehin schon wieder in der „Hölle“ (die Frau, über die ich sprechen durfte, war eine Tierfreundin und Wohltäterin) und hab mir diesen köstlichen Junker bestellt. Wenn ich an Wasser denke, wertfrei, sammelt sich Speichel in meiner Mundhöhle. Ein weiches, gutes Gefühl. Besser als ein trockener Hals. Vor allem für einen Trauerredner.
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Sich. „Wir wollen uns halt sich amüsieren.“– (Da denkt einer nicht „sprachlich“, also nicht in dynamischen Verbindungen, sondern in Wortbrocken). // Meinl am Graben. „Ein Mekka für Feinschmecker.“ // Kleines Glücksspiel, großes Leid. // Fiat. „Die Fiat-Aktie ist ebenfalls nach unten geprügelt worden.“ // h. c. Strache: „Seit ich 2005 die fpö mit drei Prozent in den Umfragen und Schulden meiner Vorgänger übernommen habe, habe ich gezeigt, welche Persönlichkeit ich mit meiner Mannschaft darstelle.“ // Ein Tierpfleger. „Die Tiere setzen schon mal Moos an.“ //
Alois und Eva
Das „Tagebuch der Eva Braun“, 1948 als Sensationsfund publiziert, wurde bald als Schwindel entlarvt. Die Spuren zum Urheber der Fälschung führten nach Südtirol – zu Luis Trenker. Eine Bestandsaufnahme mit neuen Erkenntnissen von Roman Urbaner Mit einem lauten Knall trat am 3. September 1948 das neue bayrische Blatt Wochenend in die Welt: Gleich in seiner ersten Nummer begann die „Bilderzeitung zur Erholung vom Alltag“ mit der Veröffentlichung des neu entdeckten „Tagebuchs der Eva Braun“. „Natürlich nicht um der Sensation willen“, wie die Herausgeber geflissentlich anmerkten.1 In einer Artikelserie wurden nun die privaten – und mitunter schreiend komischen – Aufzeichnungen der Lebens- und Todesgefährtin Adolf Hitlers aus dem Zeitraum 1937 bis 1944 abgedruckt, die alles auftischten, was eine schmuddelige Sex-and-Crime-Kolportage ausmacht. Bei den intimen Einblicken ins lächerliche Privatleben der NS-Artistokratie wurde jedoch so dick aufgetragen, dass es schwer fällt zu glauben, irgendjemand habe die Notizen für bare Münze genommen.
seiner ersten Pflicht gehört habe, überall zuerst ein heißes Bad zu richten“.5 Die Herausgeber hingegen hatten als „Original“ nur ein mit Schreibmaschine getipptes Manuskript vorzuweisen, das weder eine Unterschrift noch handschriftliche Vermerke aufwies.
Schon nach der zweiten Nummer erwirkte der Anwalt der Familie Braun beim Landgericht München eine einstweilige Verfügung, die den weiteren Abdruck untersagte.2 Die Kläger, denen sich auch Leni Riefenstahl anschloss, hatten eine Reihe von Zeugen aufgeboten, die das Tagebuch rasch als Fälschung entlarvten: Traudl Junge3, die inzwischen zu Filmruhm gelangte Hitler-Sekretärin, die im Führerbunker mit Eva Braun zusammengelebt hatte, widersprach den Angaben, Hitler habe seine Geliebte gezwungen, rehlederne Unterwäsche zu tragen („Ihre Wäsche unterschied sich in nichts von den üblichen Stücken und war keinesfalls aus Leder!“). Die Behauptung, Hitler habe seine Körperhygiene auf Fußbäder beschränkt, widerlegte sein Chauffeur4, der angab, dass es „zu
Die Wochenzeitung konnte den Abdruck daraufhin nur noch unter dem geänderten Titel „Das geheimnisvolle Tagebuch – sensationelle Aufzeichnungen aus der Umgebung Hitlers“ zu Ende führen.6 Hohn und Spott ergossen sich in der Folge vor allem über Luis Trenker, der als Urheber der Fälschung zwar ins Visier der Presse geriet, aber von der deutschen Nachkriegsjustiz als Ausländer damals nicht strafrechtlich belangt werden konnte. Der Südtiroler Bergsteiger, Buchautor und Filmemacher hatte sich, wie die Wochenend-Herausgeber nicht müde wurden zu betonen, für die Echtheit des „Zeitdokuments“ verbürgt. Niemand anders als Eva Braun selbst habe ihm das Manuskript im Winter 1944 in Kitzbühel anvertraut – für den Fall, dass ihr etwas zustoßen würde. Erst Ende 1945 habe sich Trenker dann des verschnürten und versiegelten Pakets erinnert und es im Beisein des Bozner Notars Max Fioresi und des Italienvertreters der US-Agentur Cosmos-Aga geöffnet. Was zum Vorschein kam, war ein 89 Blatt umfassendes Bündel: das geheime Tagebuch der Eva Braun.7 Dass Trenker und Braun einander tatsächlich mehrmals begegneten, ist bekannt. Etwas abenteuerlicher wird es freilich, wenn es um die delikaten Umstände ihrer Treffen geht. Folgt man Trenkers Angaben,
1 Wochenend, 03. 09. 1948, Nr. 1, S. 1; zit. in: Brigitte Sokop, Jene Gräfin Larisch. Marie Louise Gräfin Larisch-Wallersee, Vertraute der Kaiserin – Verfemte nach Mayerling, Wien u. a. 1985, S. 518. 2 Wochenend, 17. 09. 1948, Nr. 3, S. 5. Laut Auskunft des Bayerischen Staatsarchivs sind diesbezüglich keine Akten mehr erhalten. 3 Gertraud „Traudl“ Junge, 1920–2002. 4 Erich Kempka, 1910–1975. 5 Der Spiegel, 18. 09. 1948, Nr. 38, S. 5– 6.
6 Am 24. 09. 1948 endete das Verfahren mit einem Vergleich, der festhielt, „daß Eva Braun weder die unmittelbare noch die mittelbare Urheberin des Tagebuchs ist (…) und das Tagebuch eine völlig freie Darstellung hinsichtlich der Beziehungen zwischen Eva Braun und Adolf Hitler durch die Feder eines noch unbekannten Autors im Tagebuch-Ich-Stil enthält“. Wochenend, 01. 10. 1948, Nr. 5, S. 1. 7 Fioresi bestätigt nachträglich diese „vor einiger Zeit“ erfolgte Öffnung am 21. 12. 1945. Das Dokument ist abgedruckt in: Wochenend, 10. 02. 1948, Nr. 11, S. 5 u. 10. hier: S. 10.
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Gestern. „In Kärnten ist heute die Sonne vom Himmel gefallen.“ // Sicher. „Ja, da kriegt der liberale Gutmensch wieder Sodbrennen, wenn wir Sicherheit für Österreich fordern.“ // Sicher. „Ganz Afrika ist nicht sicher – beim Wandern im Salzkammergut lauern weder Taliban noch Al-Kaida oder räuberische Tuareg.“ // Sich. „In der öffentlichen Meinung lädt Israel mit seinen Angriffen auf Gaza schuld sich.“ – (Hier ist es ein Stilist, dem es gegen sein Stilgefühl geht, zwei Mal „auf“ zu schreiben. Also lässt er es das zweite Mal, auch wenn es hingehörte, weg. Außerdem ist „schuld sich“, besonders hauptwörtlich verwendet und endlich groß geschrieben: „das Schuld-Sich“, die Reflexion der Schuld im Individuum oder im Kollektiv, eine Wendung an der Zeit. Aber was ist schon der sprachliche Fehler gegen die Sache, mit der er gemacht wird?) //
lernte er Braun erstmals 1937 bei einer Einladung in einer Münchner Villa kennen: „Sie hat sich beim Tanzen etwas angeschmiegt, das hat man ja ganz gern. Ich habe ihr ein bißchen auf den Hintern geklopft und sie ein wenig an mich gedrückt, wie man das halt so macht. Erst auf dem Nachhauseweg im Auto erfuhr ich von meinem Freund, dem Bildhauer Thorak, daß sie Eva Braun heiße und die Geliebte Adolf Hitlers sei. Thorak sagte: ‚Heut’ hast du dich aber sauber danebenbenommen – du hast der Geliebten des Führers auf den Hintern auffi klopft.‘“ Hitler habe seiner Eva daraufhin „eine fürchterliche Szene gemacht“.8 Trenker setzte alle Hebel in Bewegung, um das Tagebuch an die Öffentlichkeit zu bringen: „Sie werden verstehen, daß so wichtige Aufzeichnungen (…) von mir nicht versteckt oder verbrannt werden konnten.“9 Und seine Bemühungen hatten Erfolg: Im Juli 1948 gingen zunächst die italienische und die französische Ausgabe in Druck. Die französische erschien, mit einigen Fotografien versehen, in Paris in einer Auflage von 2.000 Stück.10 Die italienische Übersetzung, die Franz Glaentzer11 besorgte, brachte der Verlag Faro unter dem Titel „Il mio Diario“ in Rom heraus.12 Dem eigentlichen Tagebuch wurde nun in beiden Fällen ein Aufsatz über Hitlers Liebesleben vorangestellt, der offenbar eigens als Begleittext zur Edition verfasst worden war; als Autor zeichnet ein gewisser Douglas L[awrence] Hewlett, der als Deutschland-Vertreter des US-Medienkonzerns Hearst Press gearbeitet haben will, über den aber darüberhinaus nichts in Erfahrung gebracht werden konnte.13
8 Luis Trenker im Interview, in: Die Zeit, 30. 09. 1977, Nr. 41. Vgl. dazu auch ausführlich: Luis Trenker, Alles gut gegangen. Geschichten aus meinem Leben, 3. Aufl., München 1979, S. 349–352. Trenker kommt auch im Begleittext zum Tagebuch zu Wort: The Women in Hitler’s Life, in: Eva Braun, The Diary of Eva Braun. With a commentary by Alan Bartlett, Bristol 2000, S. 24–25. 9 Wochenend, 05. 11. 1948, Nr. 10, S. 1. 10 Eva Braun, Le Journal Intime d’Eva Braun – Hitler et les Femmes, par Douglas L[awrence] Hewlett, La Société Française des Editions du Cheval Ailé: Paris 1948. In der Pariser Zeitung France-Soir dürfte es zu einem Vorabdruck gekommen sein. Auch in deutschen Zeitungen könnten einzelne Auszüge noch vor dem Abdruck im Wochenend publiziert worden sein. Wochenend, 17. 09. 1948, Nr. 3, S. 5 bzw. 10. 12. 1948, Nr. 11, S. 10. 11 Glaentzer ist ansonsten als Übersetzer von Büchern über Dschingis Khan und marianische Theologie in Erscheinung getreten. 12 Eva Braun, Il mio Diario (= Collezione Storica „Echi del Tem-
Die englische Ausgabe gelangte erst ein Jahr später, nämlich 1949, in die Buchhandlungen.14 Nun enthält zwar auch dieser Band den einleitenden Aufsatz; allerdings fehlt plötzlich jeder Hinweis auf dessen angeblichen Autor Douglas Lawrence Hewlett, stattdessen nennt das Titelblatt jetzt Paul Tabori als Herausgeber.15 Dies legt zwar nahe, dass Tabori (übrigens der Bruder George Taboris) die Übersetzung vorgenommen hat, doch lässt sich daraus nicht ohne weiteres ableiten, dass Tabori auch bei der Herstellung des Manuskripts seine Finger mit im Spiel hatte. Ganz auszuschließen ist dies aber nicht; schließlich war Tabori dem Erotikgenre16 und publizistischen Schelmenstücken nie ganz abgeneigt, wie das Beispiel eines frei erfundenen Thomas-Mann-Interviews im Pester Lloyd beweist.17 Ein Vergleich der Editionen ist auch in anderer Hinsicht aufschlussreich: Während die französische Ausgabe – ebenso wie die englische – ausdrücklich Luis Trenker als Gewährsmann für die Echtheit anführt, bringt die italienische Ausgabe eine zweite Überlieferungsgeschichte ins Spiel. In der Einleitung zu „Il mio Diario“ erklärt Hewlett, dass dem Buch ein Typoskript zugrunde liege, das Angehörige der alliierten Militärpolizei im Sommer 1945 in einer Kiste mit Geheimunterlagen aus dem Reichssicherheitshauptamt entdeckt hätten. Die Erklärung, Braun selbst habe Trenker das Tagebuch zugesteckt, wird zwar auch hier – ohne Trenker namentlich zu erwähnen – vorgebracht, doch nur, um die exakte Übereinstimmung beider Kopien zu unterstreichen.18
po“, 8), Editrice „Faro“: Roma 1948. Als Inhaber des Copyrights führt das Buch Cosmos-Aga an; der Druck erfolgte in Perugia. 13 Auch im Katalog der British Library ist kein Autor dieses Namens verzeichnet. Die italienische Ausgabe nennt versehentlich Douglas W. (sic) Hewlett; das Vorwort ist jedoch korrekt mit Douglas Lawrence Hewlett gezeichnet. 14 Paul Tabori (Hg.), The Private Life of Adolf Hitler. The Intimate Notes and Diary of Eva Braun, edited by Paul Tabori, Aldus Publications: London 1949. 15 Paul Tabori (1908–1974), Journalist und Autor, arbeitete für Presse, Radio, Film und Fernsehen; lebte seit Mitte der 1930er Jahre in London. 16 Das Buch, das Tabori parallel zum Braun-Tagebuch ebenfalls 1949 bei Aldus veröffentliche, trägt beispielsweise den bezeichnenden Titel „History of Adultery“. 17 Siehe dazu: George Tabori, Autodafé, Berlin 2002, S. 20. 18 Douglas Lawrence Hewlett, Prefazione, in: Eva Braun, Il mio Diario, S. 5–6.
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Der junge Entdecker. „Obwohl er so jung ist, hat er schon vieles für sich entdeckt.“ // Ein Reporter. „Wie hat er reagiert?“ – „Er hat mir das Mikrophon aus der Hand genommen und versucht, es mir in den Mund zu stecken.“ – „Und Sie?“ – „Hab’ mich geweigert, es zu schlucken.“ // Los. Mit dem Leben ist was los; es heißt Tod. // Science. „Die Wissenschaft ignoriert mich nur, weil das geklonte Schaf zwei Köpfe hatte.“ // Unstrittig in Fachkreisen. „Traurigkeit ist eine universelle Emotion, zu der auch ein allgemein bekannter Gesichtsaudruck gehört, der in vielen verschiedenen Kulturen erkannt wird.“ //
In der gesamten italienischen Ausgabe sucht man, obwohl die englische Fassung wiederholt Luis Trenker als Quelle anführt, jede namentliche Erwähnung Trenkers vergebens. Statt Trenker zitiert das italienische Buch nur einen „österreichischen Filmkünstler“ mit den Initialen „B. C.“. Nimmt man nun auch die französische Ausgabe unter die Lupe, wird klar, dass sich hinter dem Pseudonym Hewlett kein anderer als Luis Trenker (bzw. sein Ghostwriter) verbirgt. Denn just bei jenen Abschnitten, in denen die englische Ausgabe ausführlich Luis Trenker zu Wort kommen lässt (und die den Lesern später auch in dessen Memoiren wieder begegnen werden), tritt in der französischen Version der Autor D. L. Hewlett als Ich-Erzähler auf. Wo Eva Braun in der englischen Fassung ihr Gegenüber einmal als „Dear Herr Trenker“ (S. 35) anspricht, tut sie dies in der Pariser Ausgabe mit „Cher monsieur Hewlett“ (S. 49).19
zu neuen Seitenhieben gegen Riefenstahl ausholt, kann man darin eine Retourkutsche gegen Trenkers ehemalige Film- und Bettgefährtin vermuten. Und Riefenstahl nahm die Angriffe durchaus persönlich: Nach so vielen Lügen seien „diese Diffamierungen (…) nun die böswilligsten (…), dümmsten.“20 Das unechte Tagebuch fand jedenfalls reißenden Absatz21. Nerin E. Gun, der eine Biografie über Eva Braun22 verfasste, hegte ebenfalls keine Zweifel an der Urheberschaft Trenkers und meinte noch 20 Jahre später, gegen das Zerrbild anschreiben zu müssen, das sich infolge des Tagebuchs festgesetzt habe. Dieses „führte nicht nur die Leser im In- und Ausland, sondern auch ernsthafte Historiker in die Irre. Obwohl das Buch aus den Katalogen aller seriösen Bibliotheken inzwischen gestrichen wurde, hat es in der Vorstellungswelt der breiten Öffentlichkeit eine Eva Braun geschaffen, die es nie gegeben hatte.“23
Nun ist erklärlich, dass sich der italienische Staatsbürger Luis Trenker 1948 in Italien nicht zu sehr exponieren wollte und es deshalb vorzog, alles zu vermeiden, was seine Nähe zu Hitlers Hofstaat in Erinnerung rufen könnte. Offen bleibt hingegen, warum man 1949 in London plötzlich meinte, auf die früheren Vorsichtsmaßnahmen (die Nennung Hewletts als Herausgeber und die Nicht-Nennung Trenkers als Quelle) verzichten zu können. In ihrer englischen Fassung war zudem die Erörterung von Hitlers Liebesleben um einige boshafte Absätze über Leni Riefenstahl erweitert worden. Schon im Jahr zuvor, als die Presse genüsslich aus dem „Journal Intime“ zitiert und dabei auch nicht Lenis angebliche Nackttänze auf dem Obersalzberg zu erwähnen vergessen hatte, machte dies ihre Bemühungen, die Alliierten zur Freigabe ihres beschlagnahmten Vermögens zu bewegen, zunichte. Daraufhin hatte Riefenstahl beim Prozess energisch Partei für die Familie Braun ergriffen. Wenn das Buch nun wenig später plötzlich
Jahrzehnte später hat sich dann ein englischer Verlag des Tagebuchs erinnert und es im Jahr 2000 neu aufgelegt. Davon, dass der Schwindel eigentlich schon 1948 aufgeflogen war, erfährt der Leser nichts.24 Dabei hatte sich schon im Münchner Prozess herausgestellt, dass es sich beim Tagebuch nicht nur um eine plumpe Fälschung handelte, sondern auch um ein Plagiat. Wer auch immer das Buch verfasst hatte, er hat auf jeden Fall kräftig bei den skandalträchtigen Memoiren der Gräfin Larisch (1858–1940), der Nichte von Kaiserin Elisabeth, abgekupfert. Larisch, der eine unselige Rolle bei der Tragödie von Mayerling nachgesagt wurde und die daraufhin bei Sissi in Ungnade fiel, hatte mit der Drohung, die k. u. k.Schmutzwäsche öffentlich auszubreiten, jahrelang Unsummen erpresst.25 Als der Geldstrom aus der kaiserlichen Schatulle dann aber versiegte, brachte sie 1913 ein Erinnerungsbuch heraus, das den Mayerling-Skandal in neuem Licht erscheinen ließ.26
19 Auf Italienisch (S. 44) wendet sie sich an ihren („caro amico“). 20 Leni Riefenstahl, Memoiren. 1945–1987, Frankfurt / M. u. a. 1992, S. 37– 40; Zitat: S. 37. 21 Das Tagebuch gilt als Pionierwerk „einer Literaturgeschichte der Eva Braun“. Marcel Atze, „Unser Hitler“. Der Hitler-Mythos im Spiegel der deutschsprachigen Literatur nach 1945, Göttingen 2003, S. 236. 22 Nerin E. Gun, Eva Braun-Hitler. Leben und Schicksal, o. O. 1968, S. 11. 23 Gun, Eva Braun-Hitler. S. 67/68.
24 Statt Tabori tritt jetzt Alan Bartlett als Herausgeber auf, der sich auf einen neuen Kronzeugen beruft: Ein Agent des Militärgeheimdiensts mit dem Decknamen „Mad Irishman“, der 1945 in den Führerbunker vorgedrungen sei, habe ihm die Echtheit bestätigt. Alan Bartlett, Preface, in: Eva Braun, The Diary of Eva Braun, Spectrum International: Bristol 2000, S. VII. 25 Sokop, Jene Gräfin Larisch, siehe insbes. S. 356–361. 26 Marie Louise von Wallersee-Larisch, Meine Vergangenheit, hrsg. v. Maria Freiin von Wallersee, Berlin 1913. Auch Larischs Bericht stammt nicht nur aus ihrer eigenen Feder, sondern ent-
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President Bush: „Lassen Sie mich klarstellen: Arme Leute sind nicht unbedingt Mörder. Nur weil man zufälligerweise nicht reich ist, bedeutet das nicht, dass man töten will.“ // street cred (abbr. credibility). // Ein zurückhaltender Schauspieler in der Zeitung: „Natürlich würde ich gerne im Fernsehen was machen. Aber solang kein Ruf an mich ergeht, dräng’ ich mich auf.“ // Ein Spiel. „Ich spiele Tennis mit meiner Prothese.“ // Ein Skilehrer über Après-Ski: „Es muss nicht immer alles passieren, aber manchmal passiert doch alles.“ //
Es bedarf nun keiner ausgefeilten philologischen Expertise, um im angeblichen Braun-Manuskript das gräfliche Original wiederzuerkennen. „Baronesse Marie Vetsera wurde zu Eva Braun, Kronprinz Rudolf zu Hitler, das Jagdschloß Mayerling zum Berghof“, merkt der Historiker Leopold Steurer dazu an.27 So fanden die exzentrischen Vergnügungen von Erzherzog Otto fast wortwörtlich Eingang in das Tagebuch der Eva Braun (wobei es nun der fränkische Gauleiter und Stürmer-Herausgeber Julius Streicher war, der sich solcherart die Zeit vertrieb). Bei Larisch heißt es: „Eines Abends soupierte der Erzherzog mit einigen Damen bei Sacher (…). Plötzlich erschien er stockbetrunken auf der Treppe des Restaurants, nur mit Handschuhen, Mütze und Säbel bekleidet. (…) Eine Hauptbelustigung Ottos bestand darin, einen Ochsen tage- und nächtelang dürsten, ihn dann übermäßig trinken und qualvoll sterben zu lassen.“28 Im Braun’schen Tagebuch liest sich das dann so: „Streichers Lieblingsspiel ist es (…), einen großen Ochsen tagelang in der Hitze dürsten zu lassen und ihm dann so lange zu saufen zu geben, bis er platzt. (…) Abends gab es natürlich eine furchtbare Sauferei, die damit endete, daß Streicher um Mitternacht zur allgemeinen Erheiterung nur mit Gauleitermütze, Handschuhen, Stiefeln und einem umgeschnürten Säbel bekleidet auf der Treppe erschien.“29
sich der verwirrte Bayernkönig inzwischen in Joseph Goebbels verwandelt hat: „Wenn man mit Joseph zu zweit ißt, gibt es keine Bedienung. Das hat er sich für seine zahlreichen privaten Abenteuer ganz schlau ausgedacht. Er drückt nur auf einen Knopf und der runde Eßtisch verschwindet langsam in der Versenkung durch eine Oeffnung im Fußboden. Drunten wird der nächste Gang draufgestellt und dann erscheint der Tisch wieder oben. (…) Jemand hat mir erzählt, dass Joseph meistens den Wein neben sich stehen hat und in seiner Ungeduld gelegentlich eine Flasche in die Versenkung pfeffert, wenn das Servieren zu lange dauert.“31
An einer anderen Stelle widmet sich Gräfin Larisch den Marotten von König Ludwig II.: „In Neu-Schwanstein ließ sich der König bei Tische nicht bedienen. Wenn er auf eine Feder drückte, versank sein runder Eßtisch durch eine Öffnung im Fußboden, der nächste Gang wurde hingestellt, und der Tisch stieg wieder zum Eßzimmer empor. Etliche Flaschen Sekt standen in Eiskühlern neben dem König, und wenn der Tisch nicht schnell genug wiederkehrte, schleuderte er einige Flaschen durch das Loch hinunter.“30 Und auch diese Zeilen finden sich im Tagebuch wieder; nur dass
Von solchen Beweisen wollte Trenker auch später nichts wissen. Er habe, gab er noch 1976 an, „nie im Leben etwas von einem Tagebuch der Gräfin Larisch gelesen oder gehört“, außerdem sei er überzeugt, dass „das angebliche Werk der Gräfin Larisch gar nicht existiert“.32 Dass die Spur der Fälschung nach Südtirol führt, ist freilich kein Zufall. Inmitten eines zerstörten Europas diente das „Niemandsland“ Südtirol, von dem noch niemand wusste, ob es bei Italien verbleiben würde, als Drehscheibe für allerlei obskure Aktivitäten, an denen auch Luis Trenker seinen Anteil hatte. Als er 1945 nach Südtirol zurückkehrte und vorerst vergeblich versuchte, seine Filmkarriere wieder in Schwung zu bringen, musste er zusehen, sich und seine Familie – alles in allem ein Neunpersonenhaushalt – finanziell über die Runden zu bringen.33 Er verkaufte Zitronen und Rucksäcke nach Österreich und schmuggelte im Gegenzug Salz nach Südtirol. „In unserem Hinterhof“, erinnerte sich sein Sohn später an den blühenden Schwarzhandel, „stapelten sich Lastautoladungen mit Speisesalz aus Ebensee, außerdem Autoreifen und Schreibmaschinen; mit allem möglichen wurde gehandelt.“34 So auch mit Fälschungen mittelalterlicher Kunstwerke, die Trenker mit seinem Wagen in die
stand in Zusammenarbeit mit der englischen Autorin Maude Mary Chester Ffoulkes. (Sokop, Jene Gräfin Larisch, S. 357). 27 Leopold Steurer, Der „König der Berge“ als „Chamäleon politicon“ der Weltgeschichte, in: Köpf, Ezra & Luis, hrsg. v. Chr. Karafiat / F. Kametz, Innsbruck 1994, S. 137–153, hier: S. 150. Vgl. auch Gun, Eva Braun-Hitler, S. 68. 28 Wallersee-Larisch, Meine Vergangenheit, S. 101. 29 Wochenend, 10. 09. 1948, Nr. 2, S. 5; vgl. The Diary of Eva Braun, S. 65f. Vgl. insbes.: Sokop, S. 518 f. In Riefenstahls Memoiren ist eine ähnliche, allerdings nicht gleichlautende Passage
abgedruckt. Riefenstahl, S. 51. 30 Wallersee-Larisch, Meine Vergangenheit, S. 109. 31 The Diary of Eva Braun, S. 80. 32 Luis Trenker, zit. nach: Sokop, S. 520. Eine präzise Quellenangabe bei Sokop fehlt; es dürfte sich hierbei um eine Sokop erteilte schriftliche Auskunft handeln. 33 Florian Trenker, zit. in: Stefan König/Florian Trenker, Bera Luis. Das Phänomen Luis Trenker. Eine Biographie, München 2006, S. 227. 34 Ebenda, S. 227.
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Ein Politiker: „Die Zukunft ist weiblich. Wir brauchen mehr weibliche Attribute.“ // Heinrich Breloer: „Ich habe den Figuren die Tiefe gelassen.“ // Sanierung. „Der Tod des Unternehmers hat keine weiteren Auswirkungen auf den Sanierungsprozess.“ // Lauf. „Er konnte kaum noch gehen; das ist der Lauf der Dinge.“ // Reim. „Dann fuhr er im Schiff / über ein Korallenriff.“ // Ein Erzähler: „Sergej hat seinen alten Beruf als Seemann an den Nagel gehängt.“ //
Schweiz brachte. Nach der Herkunft der Stücke fragte damals wohlweislich niemand. „So stehen heute einige Dutzend solcher ‚alter Meister‘ in Schweizer Domizilen und erfreuen ihre ahnungslosen Besitzer.“35 Schon gegen Kriegsende hatten viele Nazigrößen ihre Familien nach Südtirol in Sicherheit gebracht, nun folgten ihnen tausende NS-Verbrecher, belastete Nationalsozialisten und Kollaborateure. Durch ihre Flucht nach Südtirol, wo sie von kirchlichen Stellen und Rotem Kreuz mit falschen Identitäten ausgestattet wurden, entzogen sie sich dem Zugriff der Alliierten und der Gerichte. Neue Aktenfunde legen nahe, dass auch das ehemalige NSDAP-Mitglied36 Trenker hierbei eine aktive Rolle gespielt haben könnte37 – was im Übrigen auch in seinen Memoiren recht offen zur Sprache kommt.38 Zudem erwies sich diese Halbwelt natürlich auch als fruchtbares Biotop der Geheimdienste.39 Gleichsam über Nacht war Südtirol zu einem Eldorado für Agenten und Nazis, für Fälscher, Schmuggler und Schieber geworden.40 Echte und falsche Kunstgegenstände, Schmuck und Schriftstücke aus NS-Besitz, vieles davon Raubgut, überschwemmten von Südtirol aus den internationalen Markt.41 Inmitten dieser Szenerie erblickte auch das Tagebuch der Eva Braun das Licht der Welt. Immer wieder wurde das Auftauchen des Manuskripts denn auch mit den geheimnisumwitterten Kisten des „Bormann-Trecks“ in Zusammenhang gebracht, die gegen Kriegsende, voll gepackt mit Schätzen und 35 Ebenda, S. 230. 36 Trenker hatte im Juli 1940 die Parteimitgliedschaft beantragt und wurde im Oktober 1940 mit der Mitgliedsnummer 8.181.851 aufgenommen. Steurer, König der Berge, S. 146; vgl. Florian Leimgruber (Hg.), Luis Trenker. Regisseur und Schriftsteller. Die Personalakte Trenker im Berlin Document Center, Bozen 1994. 37 Gerald Steinacher, Nazis auf der Flucht. Wie Kriegsverbrecher über Italien nach Übersee entkamen, Innsbruck u. a. 2008, S. 38. 38 Darin berichtet Trenker, dass er im Auftrag eines befreundeten SS-Mannes einen vom alliierten Militärgericht verurteilten Mann über den Brenner schmuggelte, mit neuen Papieren versah und ihm obendrein auch noch dessen geheime Goldvorräte hinterher lieferte. Trenker, Alles gut gegangen. S. 455– 458. 39 Siehe dazu detailliert: Gerald Steinacher (Hg.), Im Schatten der Geheimdienste. Südtirol 1918 bis zur Gegenwart, hrsg. unter Mitarb. von Leopold Steurer, Innsbruck u. a. 2003; bzw. ders., Südtirol und die Geheimdienste 1943–1945, Innsbruck u. a. 2000. 40 Steinacher, Nazis auf der Flucht, S. 60. 41 Vgl. etwa: Tilmann Lahme/Holger R. Stunz, Wo sind Richard
Schriftstücken aus dem innersten Zirkel der NSElite, nach Südtirol verfrachtet worden waren.42 Als sich Trenker nach der Tagebuch-Affäre im Dezember 1948 erstmals selbst zu Wort meldete, gab auch er die Version vom Fund in der Kiste des Reichssicherheitshauptamts zum Besten: Neben seinem in Kitzbühel von Eva Braun erhaltenen Manuskript, das er auch den US-Behörden zur Prüfung vorgelegt habe, habe demnach noch eine Kopie existiert, die im Umfeld des Bormann-Trecks nach Südtirol gekommen und nach Kriegsende in Gröden sichergestellt worden sei, was am 29. August 1945 vom Bozner Präfekten amtlich bestätigt worden sei. Bei Trenker waren es jetzt allerdings nicht mehr – wie in „Il mio Diario“ – Militärpolizisten, sondern Partisanen, die sich des Funds bemächtigt hätten.43 „Dieses zweite Exemplar des Tagebuchs war es, das, lange bevor das in meiner Verwahrung befindliche Paket überhaupt geöffnet wurde, den Weg zu einer amerikanischen Nachrichtenagentur und damit in die Weltöffentlichkeit fand.“44 Trenkers Braun-Tagebuch war also nur ein „Sensationsfund“ mehr, und dessen Spur scheint direkt ins zwielichtige Agentenmilieu zu führen: In seiner Studie über die aus italienischen Geheimtöpfen finanzierte Propagandazeitung Der Standpunkt verweist Philipp Trafojer jedenfalls auf eine Verbindungslinie zum 1945 in Südtirol gestrandeten Journalisten und Standpunkt-Gründer Louis Barcata.45 Barcata, der Wagners Noten?, in: FAZ, 28. 07. 2007, Nr. 173, S. Z1f.; hier: Z2. 42 Auf dunklen Kanälen gelangten auf diese Weise Dokumente wie Martin Bormanns Briefe oder Hitlers Tischgespräche in die Hände des Schweizer Verlegers und Hitler-Verehrers François Genoud (1915–1996). Vgl.: ebenda, Z1. 43 Das Protokoll 3321/11 nennt die Partisanen Giovanni Micheluzzi, Pietro Longhi und Giancarlo Vedovi. Darin ist jedoch nicht von einem „Tagebuch“ die Rede, sondern nur von einem „Bündel mit Akten, die mit der Schreibmaschine geschrieben waren (Aufzeichnungen einer Eva Braun)“. Das Dokument ist abgedruckt in: Wochenend, 10. 12. 1948, Nr. 11, S. 5. 44 Luis Trenker, Mein Herz schlug immer für Tirol, in: Münchner Illustrierte, Nr. 31– 42, Aug.– Okt. 1953; zit. nach: Curt Riess, Lügt Luis Trenker?, in: Der Stern, 06. 04. 1957; vgl. König/ Trenker, Bera Luis, S. 231. 45 Philipp Trafojer, „Der Standpunkt“. Politisch-historische Analyse über Funktion, Form und Wirkungsweise eines Propagandamediums, Dipl.-Arbeit, Innsbruck 1999; bzw. ders., La Voce del Patrone. Der Standpunkt: Ein italienisches Propagandamedium in Südtirol 1947–1957, in: Steinacher, Im Schatten der Geheimdienste, S. 161–186.
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Ein Systematiker: „Ja, es gibt Luft im System.“ // Ein Unterhalter: „Ja, das ist für alle da, das ist Stimmung!“ // Ein Beliebter: „Hass ist die höchste Form der Anerkennung.“ // Höchstes Lob. „Er misstraute der Wirklichkeit.“ // Ein Brautwerber: „Ich sehe vor mir, wie ich abblitze, hämisches Lachen ernte oder die kalte Schulter gezeigt bekomme.“ // Im Hotel. „Wo kann man sich hier anmelden für Yoga?“ – „Einfach hingehen“, antwortete der Rezeptionist gelassen. //
bis 1944 als Rom-Korrespondent für das NS-Blatt „Das Reich“ tätig war, habe bald nach Kriegsende „kurzzeitig als Ghostwriter für seinen Freund Luis Trenker“ gearbeitet und dürfte in dieser Zeit (Trafojer nennt Ende 1945, Anfang 1946) über Trenkers Vermittlung mit den geheimen Kontaktstellen der Bozner Präfektur in Verbindung getreten sein.46 Der spätere Standpunkt-Mitarbeiter Otto F. Beer gab in einem Zeitzeugengespräch mit Trafojer an, gehört zu haben, dass der Schwindel „hauptsächlich von Barcata ausgegangen sein soll“. Allerdings vermutet auch Beer nicht in Barcata die treibende Kraft, sondern in Luis Trenker, dem sein Redaktionskollege nur die Hilfsdienste seiner flinken Feder (und seiner pikanten Einfälle) geliehen habe: „Aber wie dann die ganze Geschichte ruchbar wurde und niemand die Finger daran rühren wollte, habe ich mir gedacht: Na, wahrscheinlich hat er das für den Trenker geschrieben. Und diese erotischen Phantasien, die waren ein bißchen nach Barcatas Geschmack.“47 Der Verdacht, Trenker und Barcata hätten beim Tagebuch-Schwindel unter einer Decke gesteckt, ist nicht neu.48 So sah sich Trenker etwa 1954 in einem Interview gezwungen, derartige Mutmaßungen als Unsinn abzutun.49 Auch die Tiroler Landesbehörden, die auf den Fälschungsskandal aufmerksam geworden waren, hatten Nachforschungen angestellt. Diese Unterlagen seien aber, wie die langjährige Leiterin des Südtirol-Referats der Tiroler Landesregierung, Viktoria Stadlmayer, beteuerte, „im Auftrage von Trenker oder Barcata gestohlen“ worden.50 46 Trafojer, Standpunkt, S. 31. Barcata war schon im Frühjahr 1945 in Meran an der Gründung eines dubiosen „Befreiungskomitees“ beteiligt, das für sich den Status eines österreichischen „Konsulats“ in Anspruch nahm. Steinacher, Südtirol und die Geheimdienste, S. 108/109; ders., Nazis auf der Flucht, S. 58–60. 47 Zit. nach: Trafojer, Standpunkt, S. 40. Zum Umfeld von Barcatas neuer Zeitung gehörten auch die Autoren Percy Eckstein (1899–1962) und Karl Springenschmid (1897–1981), die beide als Ghostwriter bzw. Mitautoren Trenkers tätig waren. 48 Laut persönlicher Auskunft von Barbara Gabrielli, der Bearbeiterin von Trenkers Nachlass im Museum de Gherdeina in St. Ulrich, finden sich im Nachlass keinerlei Hinweise bezüglich der Tagebuchaffäre. 49 Salzburger Nachrichten, 11. 09. 1954, S. 12. 50 Trafojer, Standpunkt, S. 40. 51 Hans Habe, eigentl. János Békessy (1911–1977): geb. in Budapest; Journalist, Schriftsteller und Drehbuchautor jüdischer Herkunft. 52 Hans (von) Tabarelli (1898–1956): geboren in Innsbruck;
Trenkers Langzeit-Ghostwriter Fritz Weber brachte im Zuge eines Gerichtsstreits, den er in den 50er Jahren mit seinem ehemaligen Freund um die Urheberschaft an Trenkers Romanen ausfocht (anscheinend auch, um gerichtlich klarzustellen, dass Trenkers Tagebuchfälschung nicht auf ihn zurückgeht) eine zweite Theorie ins Spiel: Demnach sollen die Autoren Hans Habe51 und Hans Tabarelli52, die mit Trenker in „vertrautem Umgang gestanden seien“, das Tagebuch verfasst haben. „Eine glatte Erfindung“, konterte Trenker, „denn ich habe mit beiden Herren in meinem Leben nie gesprochen, nie korrespondiert, nie irgendwelche Abkommen getroffen.“53 Hans Habe spielte allerdings im Vorfeld der Veröffentlichung tatsächlich eine etwas undurchsichtige Rolle: In der Schweizer Weltwoche bestätigte er – in Kenntnis einiger Originalbriefe – im Februar 1948 die Echtheit des Funds und empfahl die baldige Publikation.54 Im Wiener Samstag von 1954 trat Habe dann aber Webers Vorwürfen entgegen und behauptete, schon 1948 vor dieser Fälschung gewarnt zu haben. „Meine einzige Beziehung zu Herrn Trenker und seinen ‚Tagebüchern‘ besteht darin, daß ich zweimal – in meiner Expertise an den amerikanischen Verlag und in meinem Artikel in der ‚Weltwoche‘ – versuchte, seiner Fälschung in die Suppe zu spucken.“55 Nimmt man nun die Dokumente, die Trenker Ende 1948 als Entlastungsmaterial aus dem Hut zauberte und im Wochenend abdrucken ließ, genauer in Augenschein, stellt sich heraus, dass Louis Barcata tatsächlich schon von Anfang an als die zweite zentrale Schriftsteller, Redakteur und Verlagslektor in Wien. 53 Salzburger Nachrichten, 11. 09. 1954, S. 12. 54 „Der halbgebildete, kleinbürgerlich geschraubte und verschrobene Stil der Briefe entsprach durchaus der Schreibart des Tagebuchs. Dazu kam noch ein bedeutendes Indiz: Nur ein intim eingeweihter Kenner Hitlers konnte um eine wenig publizierte Eigenschaft des ‚Führers‘ wissen, nämlich um seinen ‚petit bourgeoise‘-Geiz. (…) Dieses Detail schien mir eine Bestätigung der Echtheit.“ Die Weltwoche, 13. 02. 1948; abgedr. in: Der Spiegel, 27. 10. 1954, Nr. 44, S. 35. 55 „Ich stellte Mr. Kerr (…) ein schriftliches Gutachten zur Verfügung, in dem ich ihm dringend von einer Publikation dieses (…) ‚Tagebuches‘ abriet. Der Vergleich dieser authentischen Briefe mit dem maschinegeschriebenen Manuskript bestärkte mich in der Annahme, dass es sich um eine Fälschung handle.“ Wiener Samstag, 11. 09. 1954, abgedr. in: Der Spiegel, 27. 10. 1954, Nr. 44, S. 35. Hier ist vom Verlag Farrar & Rinehart die Rede; im Abdruck in Wochenend, 10. 09. 1948, S. 5, jedoch von Reynal & Hitchcock.
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Aus der Büchse der Pandora Fortsetzung Die Notkreditaufnahme und die Nettokreditaufnahme. // Bericht. „Luxus“, sagte der Modeschöpfer Georgio Armani, „ekelt mich an.“ Ein Beobachter meldet: „Den Eindruck, dass die Leute angeekelt wären, hat man aber nicht.“ // Parteiintern. „Man muss sich in einer Partei jeder Aufgabe stellen.“ // Ein Leserbriefschreiber: „Niemand kommt auf die Idee, dass wir eventuell zu viele Menschen sind.“ // Ein anderer Leserbriefschreiber: „Es beschleicht mich das Gefühl von Untergang.“ //
Figur des Schwindels in Erscheinung trat. Der Italienvertreter der US-Agentur Cosmos-Aga hatte schriftlich bestätigt, dass die Agentur im Besitz der Kopie aus der Grödner Kiste sei, diese habe er persönlich mit dem Manuskript aus Kitzbühel verglichen und so den Nachweis der Echtheit erbracht. Und dieser mysteriöse Agenturvertreter entpuppte sich nun als kein anderer als Trenkers Freund Barcata. Schon bei der notariellen Paketöffnung war Barcata als Zeuge zugegen.56 Dass Barcata und Trenker gemeinsame Sache machten, steht also fest. Welche konkrete Rolle sie dabei aber jeweils gespielt haben, bleibt ein Rätsel. Dass Trenker, wie er selbst, 1976 noch einmal zur Affäre befragt, betont, mit der Veröffentlichung nichts zu tun gehabt hätte, dass es sich vielmehr um „eine Unterschiebung einiger Presseleute“ gehandelt habe, „die die angeblichen Tagebuchnotizen gegen meinen Willen unter meinem Namen veröffentlicht haben, weil sie dieselben dann leichter verkauft haben“, ist jedenfalls falsch.57 Dass Trenker den eigentlichen Fälschern nur als prominenter Gewährsmann diente, lässt sich weitgehend ausschließen. Viel wahrscheinlicher ist nämlich, dass Trenker schon bei der Fabrikation der Fälschung federführend beteiligt war. Er selbst war es, der Informationen über Braun einholte: Leni Riefenstahl druckt in ihren Memoiren ein Schreiben ab, in dem Trenker den Bergfilmer Wolfgang Gorter von Bozen aus um einige Nachforschungen über Eva Braun ersuchte. Die Informationen seien für eine Artikelserie über prominente NS-Persönlichkeiten bestimmt, die ihm von einer italienischen Zeitung angetragen worden sei. „Besonders interessiert die Zeitung sich für die Kindheit von Eva Braun, wo sie dieselbe verbracht hat, über ihr Verhältnis zu den Schwestern und zu den Eltern, Lebensverhältnisse daheim, einiges über Mitschülerinnen, welche Schule sie besuchte, einzelne kleine Anekdoten, Bekanntschaften, Liebschaften (…). Diese Fragen müßten Sie mir in einer ziemlich ausführlichen Weise und verläßlich beantworten. Sie
56 Wochenend, 10. 12. 1948, Nr. 11, S. 5. 57 Luis Trenker, zit. nach: Sokop, S. 520. 58 Der Brief ist mit 19. 11. 1946 datiert. Rätsel gibt hierbei allerdings der Widerspruch zur angeblichen Datierung des Notariatsakts (Dezember 1945) auf. Der Brief ist ungekürzt abgedruckt in: Riefenstahl, Memoiren. S. 44/45. Die Tennismeisterin und Autorin Paula Stuck von Reznicek (1895–1976) warf Trenker
können mir die Briefe dann in getrennten Abschriften doppelt einmal nach Kitzbühel und einmal nach Bozen senden. Es müssen 15–20 Seiten sein. Schicken Sie nicht alles auf einmal, sondern immer 4–5 Seiten. Wenn Sie ein paar Bilder vom Wohnhaus oder von den Eltern beilegen können, wird es mir recht sein.“ „Aber Sie brauchen niemand davon etwas zu erzählen“, schärft er seinem Freund noch abschließend ein.58 Dazu passt auch, dass der Schauspieler Jan Boon später berichtete, er habe von Luis Trenker den Auftrag erhalten, ein geheimnisvolles „Paket über die Grenze nach Deutschland zu bringen“ das, wie ein heimlicher Blick in die Papiere ergab, obszöne Schilderungen aus dem „Liebesleben einer Dame im Zusammenhang mit Hitler“ enthalten habe.59 Alle Fäden scheinen also bei niemand anderem als bei Luis Trenker zusammenzulaufen. Aber hat er auch das Tagebuch verfasst? Bis irgendein glücklicher Zufall neue Quellen zutage befördert, bleibt man diesbezüglich auf Mutmaßungen angewiesen. Wer dem Ursprung der Fälschung auf den Grund gehen will, fischt bis dahin notgedrungen im Trüben, stolpert über Lücken und Ungereimtheiten. Fest steht zumindest, dass sich Trenkers Rolle nicht nur auf die eines arglosen Strohmanns beschränkte, der mit den Verlagen ins Geschäft kommen sollte und am Ende selbst den Kopf hinhalten musste. Ebenso klar ist, dass neben Trenker auch sein Freund Louis Barcata schon von Anfang an die Fäden (und vielleicht auch die Feder) in der Hand hatte. Wer den beiden in der Südtiroler Fälscherwerkstatt aber sonst noch so alles zur Hand ging und wer vor allem die Tagebuchnotizen zu Papier brachte, bleibt bis auf weiteres verborgen hinter einem Schleier aus Gerüchten.
1948 vor, die auf Gorters Vermittlung hin von ihr verfassten Unterlagen verwendet zu haben. Vgl. Alto Adige, 18. 11. 1948, S. 2. 59 Boon glaubte sich aber zu erinnern, dass es sich vermutlich nicht um ein Tagebuch, sondern um die Beobachtungen eines Dritten gehandelt habe. Rudolf Nottebohm / Hans-Jürgen Panitz, Fast ein Jahrhundert – Luis Trenker, München, Berlin 1987, S. 135.
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Der Nebel liegt tief
Die Zeichnungen und Collagen auf den folgenden Seiten hat Nick Oberthaler für Quart entworfen. Auf dem Beipackzettel ist zu lesen: „Meine Arbeit ist durch eine sehr assoziative Herangehensweise geprägt – am Beginn steht meist ein Fragment: ein Bild beispielsweise oder ein Zitat, das ich durch einen Prozess des Abwägens von Möglichkeiten und formale Entscheidungen einer neuen Bedeutung zuführe. Zum Teil sind die Arbeiten auf Millimeterpapier entstanden. Der vorgegebene Raster gibt der Zeichnung einen Rahmen, ein künstliches Liniengeflecht und macht sie sozusagen zu einem technischen Bauplan, einem möglichen Entwurf für eine reale Umsetzung.“
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in der Wochenend-Beilage des hochgehaltenen Blatts: „Wir gehen ins Café Ritter, wo sich Wien am ähnlichsten sieht.“ Wie fremd ist mir hier. Derselbe Artikel spricht von einem Herrn Weinmann, der auf die achtzig, wie der Artikel sagt, „zugeht“ (da geht’s erst so richtig zu) „und den wohl jeder in Wien kennt.“ Ich nicht. // Glück auf vier Hufen. „In der kalten Jahreszeit haben es die Fiakerpferde schwer: Sie frieren sich beinahe ihre Hufe ab.“ // Über einen Dichter. „Er war so bescheiden. Darin kann ihm keiner seiner Kollegen das Wasser reichen. Anmaßungen jedes Formats waren ihm immer fremd.“ // „Der Körper meines Sohnes kommt mit seiner Energie nicht klar.“
Fortsetzung S. 52
Am Anfang war das Murmeltier
Wie gelangen Vorstellungen von Gott und der Welt, die aus dem vorderen Orient stammen, in die Südtiroler Dolomiten? Im ladinischsprachigen Raum ist ein rätselhafter Mythenstoff überliefert, den Ulrike Kindl seit Jahren untersucht. Susanne Barta hat die Sagenforscherin an der Universität Venedig besucht und dabei den folgenden Monolog aufgezeichnet: „Ich bin auf die Sagen von Fanes als Kind gestoßen, habe sie gelesen, zum Teil auch erzählt bekommen und war von Anfang an sehr fasziniert. Diese Geschichten standen für mich gleichwertig neben den großen Erzählungen der Ilias, der Odyssee, den germanischen Göttersagen und in einer Reihe mit den Grimm’schen Märchen. Dennoch hatte ich das Gefühl: Das ist eine andere Welt! Ich habe die Erzählung, wie sie von Karl Felix Wolff überliefert ist, sehr gerne gelesen. Mir wurde aber bald klar, dass Wolff, als er die Dolomitensagen aufschrieb und ab 1913 veröffentlichte, besonders an die germanische Überlieferung gedacht haben muss. Für die Sagen vom Reich der Fanes hatte er anscheinend das Nibelungenlied, Siegfrieds Geschichte vor Augen. Zwar spürte ich, dass diese Spur nicht stimmen kann, doch bis mir bewusst wurde, dass die Fanes-Sagen ja keine deutschsprachige Überlieferung sind, war ich schon um die zwanzig und hatte begonnen, mich mit Soziologie, mit Mythen- und Erzählforschung, mit Archäologie und Frauenforschung auseinanderzusetzen. Wir lesen diese Geschichten zwar in deutscher Sprache. Land, Leute, Sprache und Überlieferung im Kerngebiet der Dolomiten aber sind ladinisch. Das Sagenund Märchengut Ladiniens wurde allerdings erst um 1900 auf Deutsch und Italienisch aufgezeichnet. Die gesamte Erfassung des ladinischen Überlieferungsgutes folgte also Kriterien, die nicht ladinischem Erzählverständnis entsprachen. Dennoch müssen wir Wolff sehr dankbar sein, denn er hat diesen Stoff im
letzten Moment gerettet. Heute weiß kein Mensch mehr etwas darüber. Die Überlieferung ist verloren gegangen. Wolff hat die Geschichten im guten Glauben bearbeitet, aus seinem spezifischen kulturellen Hintergrund heraus. Unsere Aufgabe ist es nun, das wieder auseinanderzuklauben. Die eigentlichen Inhaber dieser Überlieferung sind Romanen, Ladiner, die Dolomitenladiner. Die Ladiner sind bis ins 19. Jahrhundert hinein – vorsichtig ausgedrückt – ein geschichtsloses Volk im großen Zusammenhang der Donaumonarchie. Sie haben keine eigene schriftliche Tradition; diese taucht erst Mitte des 19. Jahrhunderts auf. In der isolierten Randlage konnte sich das alte Sagengut erhalten, doch liegt es uns in der Bearbeitung des frühen 20. Jahrhunderts vor. Natürlich sind diese Geschichten älter – aber wie alt sind sie wirklich? Geistesgeschichtliche Archäologie ist etwas vom schwierigsten überhaupt. Die klassische Archäologie hat Funde und kann sie auch genau verorten, die philologische Buddelei, wie wir sie betreiben, braucht Texte und wenn es die nicht gibt, kann man nur mit strukturaler Anthropologie arbeiten. Dieses Handwerk habe ich bei Claude LéviStrauss gelernt. Es ist sehr aufwändig. Man kann nicht einfach hergehen und sagen, das gehört in dieses Jahrhundert und das in jenes. Man muss sich Schicht für Schicht nach unten arbeiten. Und da kommt man bald in nicht indoeuropäische Kulturkreise. Die Ladiner sprechen zwar eine romanische Sprache, man
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Da sieht man, was ein Mythos ist: Die Übersetzung von Grunderfahrungen in eine Geschichte. Die abstrakte These, dass es auf Erden furchtbar zugeht und dass die Hoffnung bei dem Wirbel nicht zuletzt stirbt, sondern zuletzt kommt, beschreibt das Weltgeschehen definitiv. Aber die Erzählung, der Mythos, macht die Erfahrung anschaulich und erzählbar, das heißt: allen mitteilbar, darunter eben auch solchen, die von abstrakten Thesen, von „Ideologien“ nichts hören wollen. Die Erzählung hat Bestand. Heute braucht man nur eine Zeitung zu öffnen, einen Sender anzustellen oder sich bloß anzuhören, was man selber sagt, und schon kommt alles heraus wie aus der Büchse der Pandora. // Ein Bonvivant: „Affären sind die schönste Nebensache der Welt, sodass man daneben nichts Ernstes anfangen möchte.“ // Nicht. Ratlos, die „Süddeutsche Zeitung“ ihrer Größe wegen in die Höhe haltend – das erspart Platz auf dem Tisch – sitze ich im Café Ritter und lese
muss aber in die Zeit vor der Romanisierung zurückgehen. Dabei stellt sich die Frage, woher mitten im Dolomitengebiet Vorstellungen herkommen, die wahrscheinlich aus dem vorderen Orient stammen, vielleicht auch aus Etrurien. Damit verbunden sind weitere Fragen, zum Beispiel: Wann und wo beginnt die Siedlungsgeschichte des Alpenraumes? Wie sind diese sehr frühen Vorstellungen zuerst ins Lateinische und dann ins Frühladinische gekommen? Hat es überhaupt eine Kulturkontinuität in den Alpen gegeben? Man hat keine Beweise, nur Hypothesen. Und die können zunächst einmal nur davon ausgehen, dass in Dolomitenladinien Motive auftauchen, die in Europa keine vergleichbare Basis haben. Sie sind zwar dort angesiedelt, können aber unmöglich an diesem Ort entstanden sein. Denn dazu braucht es große Kulturzentren und die gab es dort nicht. Die Motive wurden also auf irgendeine Weise dorthin gebracht und sind in Rückzugsgebieten isoliert erhalten geblieben. Das Ursprungsmotiv ist das wichtigste im gesamten Sagenkreis: Die Stammmutter ist eine Tochter der Murmeltiere, sie stammt aus dem Murmeltiervolk. Es handelt sich also um eine genealogische Ursprungssage, die die Herkunft aus einer Tierlinie erklären soll. Nun ist das Murmeltier als emblematisches Tier, als Wappentier nicht bekannt. Als Wappentiere haben wir Löwen, Bären, Wölfe, Füchse, auch mythische Tiere wie das Einhorn, jedoch kein Murmeltier. Wenn wir aber ein Struktogramm anlegen, ergibt sich folgendes: Das Murmeltier ist ein Tier, das viele Monate im Jahr unter der Erde schläft, es ist also ein chthonisches Tier, ein Tier, das Verbindung mit der Erde hat. Es ist ein friedliches Tier, ein Grasfresser, ein sich zurückziehendes Tier und gleichzeitig auch ein Tier, das Männchen macht, also anthropomorph ist. Die Herleitung aus dieser Linie ist also nicht emblematisch, nicht über eine heraldische Identifikationsfigur zu deuten, sondern tatsächlich als Totem. To-
temistische Vorstellungen hat es in Europa gegeben, sie sind aber sehr alt. Dass sich diese Vorstellungen in Dolomitenladinien erhalten haben, ist außerordentlich. Es handelt sich also um eine Ursprungssage des archaischen Europa, die in Richtung Asien weist. Zeitlich gehören totemistische Vorstellungen zu Jäger- und Hirtenvölkern. Trotz alledem würde ich nie sagen, dass es eine kontinuierliche, durchgehende Weitergabe dieser alten Vorstellungen am Ort gegeben hat. Es ist viel wahrscheinlicher, dass diese Vorstellungen damals sehr weit verbreitet waren und dann allmählich in kultureller Weitergabe überformt wurden. Der Fanes-Sagenkomplex ist in seinem Grundkern also ein Ursprungsmythos – der da sagt: Am Anfang waren die Murmeltiere. Und die Murmeltiere haben sich angesiedelt und ein Reich gegründet. Dieses Reich war zunächst ein Reich des Friedens. Allmählich kommen Verfall, Krieg und Verrat in die Welt. Der älteste Kern der Fanes-Sage erzählt eine Geschichte wie sie auch die Bibel erzählt, natürlich in den viel einfacheren Worten der Sage: Es ist die Erzählung vom „Fall in die Zeit“, vom Verjagtwerden aus dem Paradies, vom Mysterium der Urschuld, der Erbschuld. Das Fanes-Reich ist groß und mächtig, doch dann heiratet die letzte Prinzessin einen fremden Prinzen, verschweigt ihm aber das Geheimnis der Murmeltier-Abstammung. Das war wohl die Erbschuld. Und damit beginnt der Verfall. Aber hinter dem Untergang steht immer die Verheißung. Die Fanes-Sagen sind eine mythische Erzählung von Leben und Tod, von Werden und Vergehen, von Anfang und Ende. Die wichtigste Figur ist sicher Dolasilla. Die kriegerische Prinzessin, die gleichzeitig aber sehr weiblich ist. Die Gegenfigur ist Tsikuta, Herrin und Hüterin der Unterwelt. Das entspricht dem griechischen My-
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heiß des Göttervaters Zeus von Hephaistos aus Lehm geschaffen, um Rache für den Feuerraub des Prometheus zu nehmen. Um diese Frau verführerisch zu gestalten, wird sie von den Göttern mit vielen Gaben (Schönheit, musikalischem Talent, Geschicklichkeit, Neugier, Übermut usw.) ausgestattet. // Schließlich tauft Hermes sie auf den Namen Pandora, den bereits Hesiod als die „Allbeschenkte“ erklärt. Hermes bringt sie auf Geheiß des Zeus zu Epimetheus, dem Bruder des Prometheus. Letzterer („der vorher Bedenkende“) hatte davor gewarnt, Geschenke des Zeus anzunehmen, doch der Bruder („der nachher Bedenkende“) ignoriert die Mahnung. Pandora (oder ihr Mann Epimetheus) öffnet das Vorratsfass, das ihr von Zeus mitgegeben wurde, und die darin aufbewahrten Plagen kommen in die Welt. Bevor auch die Hoffnung aus der Büchse entweichen kann, wird diese wieder geschlossen. So wird die Welt ein trostloser Ort, bis Pandora die Büchse erneut öffnet und auch die Hoffnung in die Welt lässt. Aber das Goldene Zeitalter, in dem die Menschheit von Arbeit, Krankheit und Tod verschont blieb, ist endgültig vorbei.
thos von Persephone, die ja eine Tochter der Demeter ist, der Göttin der fruchtbaren Erde. Dolasilla ist von Wolff gänzlich missverstanden worden. Er sieht in ihr Brünhilde, sieht die Walküre. Sie ist zwar mit einem undurchdringlichen Panzerhemd aus weißem Fell bekleidet, offiziell als Hermelin ausgewiesen, aber sie trägt natürlich das Kleid des Murmeltiers. Dolasilla ist die Personifizierung der Ahnengottheit. Artemis, die göttliche Jägerin, ist die Grundfigur, die dahintersteht. Dass Dolasilla Pfeil und Bogen trägt, hängt nicht mit ihrer Rolle als Kriegerin zusammen, sondern mit ihrer Artemis-Natur. Pfeil und Bogen waren in Europa nie Kriegswaffen, das waren Schwert und Lanze. Dolasilla trägt Pfeil und Bogen, weil sie eine Mondgottheit ist. Der Mond wird dargestellt als Sichel, also als Bogen, und die Pfeile beziehen sich darauf, dass sie Herrin über Leben und Tod, Gesundheit und Krankheit ist. Es sind Herrschaftsinsignien. Dolasilla ist aber auch die helle, weiße Göttin, eine jungfräuliche, erwachsene Frau, die fruchtbar sein und Kinder bekommen muss, damit die Welt weitergeht. Der vorgeschriebene Übergang in die Rolle als Frau und Mutter gelingt ihr allerdings nicht. Da ist der fatale Bruch. Es wird erzählt, dass sie sich unglücklich verliebt, sie darf aber nicht heiraten und das führt ihren Tod herbei. Ihr leuchtendes Kleid wird schwarz, sie wird zur Todesgöttin. Es fehlt also die Umfärbung in die Farbe Rot, in die rote Gottheit der Fruchtbarwerdung. Diese Figur findet sich jedoch in der Tsikuta, sie hat die Mohnblumen der DemeterPersephone in der Hand. In der Rekonstruktion des Mythos gibt es natürlich Brüche. Wenn man aber die restliche Dolomitenüberlieferung mit einbezieht, wird klar, dass überall Splitter stecken, die man zu einem großen Weltbild zusammenziehen muss. Ein Mythos ist nie eine einzige, zusammengeschweißte Geschichte, es sind Motive, Sequenzen, die variiert werden. Also: Grundvor-
stellung und Variation. Nicht Motiv und Evolution. Das ist unser heutiges Weltbild. Die Grundlage des Fanes-Sagenstoffes ist ein Ahninnenkult. Das Murmeltier ist im Ladinischen ein weibliches Tier, die Ahngottheit wird also weiblich imaginiert. Das sagt aber noch nichts über die soziale Organisation dieser frühen Gesellschaft aus. Normalerweise wird Herrschaft männlich imaginiert und Fruchtbarkeit weiblich. Meistens sind die Gottheiten ja doppelt, ein Zwillingspaar oder ein Ehepaar, eine männliche und eine weibliche Figur. Die männliche ist normalerweise der Herrschaftsträger, die weibliche die Inhaberin von Fruchtbarkeit und Segen. Dass wir hier eine ausgesprochene Betonung von weiblichen Gottheiten haben, weist darauf hin, dass wir es mit sehr alten Kulturen zu tun haben. Das heißt nicht, dass der Mann keine Rolle gespielt hätte. Er hatte auch in der Fanes-Welt die Macht in der Hand, aber dass er keinen Namen trägt, ist sehr bezeichnend. Einer der wenigen, der einen Namen hat, ist Ey-de-Net, der Geliebte Dolasillas. Was mich an dieser Figur immer sehr berührt hat und was mich schließlich auch auf die richtigen Spuren gebracht hat, ist seine Position zwischen Dolasilla und Soreghina, der Tochter der Sonne. Er liebt die zwei Seiten dieser weiblichen Imagination, die kriegerische Dolasilla und die weiche, feine, lichtvolle Soreghina. Ey-de-Net verliert beide, nicht aus eigenem Verschulden, sondern auf Grund schicksalhafter Zusammenhänge. Ey-de-Net ist für mich eine wirklich tragische Figur, die alles auf eine Karte setzt und verliert. Erstaunlicherweise ist es hier der Mann, der alles verliert. Ey-de-Net bekommt seinen Namen auf sehr merkwürdige Art und Weise: Er wird vom Zauberer Spina-de-Mul rituell mit diesem Namen bedacht. Der Name Ey-de-Net bedeutet soviel wie „Auge der Nacht“ und ist unschwer als eine Indikation des Mondes zu erkennen. Die Zuordnung zu Dolasilla ist damit schon klar. Die Verbindung
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Aus der Büchse der Pandora // Ich habe es vergessen, zumindest die Details der Geschichte, aber ich erinnere mich, dass ich damals vierzehn Jahre alt war, als ich zum ersten Mal von ihr hörte. Es war ein Junitag und das Schuljahr arbeitete überhitzt dem Ende entgegen. An diesem Junitag erklärte Professor Vacek den Schülern der 4c diese Geschichte mit der „Büchse der Pandora“. Vacek war ein kleiner Mann mit einer großen schnabelartigen Nase, an die er sich oft fasste, mit dem Finger die Krümmung entlangfahrend. Sieht man von dem Nasentick ab und auch von seinem äußerst scharfen Rasierwasser, war Professor Vacek ein eleganter Herr, zumindest gemessen an den Standards eines Wiener Vorstadtgymnasiums. Er trug englische Anzüge mit Weste und knarrende Maßschuhe, die (während er auf und ab gehend „ambulo ergo sum“ aus dem Lateinischen übersetzte) einen beifälligen Rhythmus erzeugten. Die Büchse der Pandora – ich habe eine blasse Ahnung von der Geschichte behalten, aber die Details, auf die’s ankommt, musste ich aus dem Wikipedia herausholen: Als erste Frau, so steht es geschrieben, wird Pandora auf Ge-
zwischen den beiden ist auch keine Geschichte zwischen Mann und Frau, keine Liebesgeschichte, sondern die Geschichte eines Zwillingspaares. Die beiden sind eine doppelte Gottheit; dass die Frau als Ahnin im Vordergrund steht, ist bezeichnend, vor allem, wenn man diese Tatsache auch auf andere Figuren bezieht, auf Dindia, auch sie ist eine königliche Figur, oder die Wintergottheit Samblana. Die Imagination des Numinosen in Form von weiblichen Kräften ist sehr eindeutig. Wie kam es dazu, dass dieser Mythos im Bereich der Hochalpe Fanes angesiedelt wurde? Man spricht in diesem Zusammenhang von einer Ökotypisierung, angeschwemmtes Erzählgut wird irgendwo verortet. Der Mythos wird immer an einem Ort verankert, der der einheimischen Bevölkerung entweder als unheimlich gilt, als göttlich oder als unzugänglich. Wenn man sich diese Hochalpe ansieht, dann ist klar, dass da oben auf 2700 m ü. d. M. kein blühendes Reich existiert hat. Der Mythos ist auch nicht dort entstanden, er wurde aber dort etwa um 1200 n. u. Z. endgültig verankert. Die Überlieferungen erzählen also ziemlich sicher nichts über die wirkliche Vergangenheit in den Dolomiten, aber sie erzählen recht genau, wie sich das Volk in den Dolomiten die Zeit vor der Gegenwart vorstellte. Eine zentrale Figur in diesem Zusammenhang ist der schon erwähnte Spina-de-Mul. Er ist eine sehr vielschichtige Gottheit, alles andere als ein Sympathieträger. Er ist der Herr der Unterwelt, wird als halbverwestes Maultier dargestellt, als Zauberer, ist aber keine Personifizierung des Teufels. Auch das spricht für eine sehr alte Vorstellung von Sakralität: Sie unterteilte nicht in gut und böse, sondern kannte nur sacrum, das Numinose. Obwohl man es brauchte, war es immer mit Angst besetzt. Die Götter der Antike hatten negative Elemente, sie konnten geradezu
böse sein, aber nicht im Sinne des moralisch Bösen, nicht als Teufel, sondern als Kräfte der Natur. Sie sind moralisch indifferent, weil sie Naturvorgänge darstellen. Diese alte Vorstellung steckt hinter Spinade-Mul. Seine Beziehung zu den übrigen Figuren aber ist nicht ganz klar. Meine Vermutung ist, dass es sich dabei um den Priester handelt, um den eigentlichen Vertreter der Stammesreligion, um den Schamanen, wenn man es genau ausdrücken will. Zu dieser Schamanenfigur gehört auch das Geheimnis um die Rajeta, den Strahlenstein, die ladinische Variante des gesamtalpinen Karfunkelsteins. Die Rajeta ist wahrscheinlich eine Schwundstufe des Steins der Weisen, des magischen Steins, des Kultobjektes, mit dem die Gottheiten gezwungen wurden, ihr Wissen herauszugeben. Die Fanes-Sagen erreichen eine Dimension, wie man sie in anderen alpinen Sagen nicht findet, da diese meistens aus relativ später Zeit stammen und überwiegend aus nur einem Motiv bestehen. Die Erzählungen vom Reich der Fanes auf der gleichnamigen Hochalpe hingegen erreichen eine epische Wucht, die in die Nähe der klassischen Mythen gehört. Zur Entstehung von großen Epen braucht es allerdings irgendwann einmal einen Sänger, einen Hof, ein Gesellschaftssystem, das einen Sänger ernährt, der eben diese langen Geschichten erzählt. Den großen Dichter hat es in Ladinien nicht gegeben; die waren nur in den Stadtkulturen zu finden, auf dem Land in der Einsamkeit saß er eben nicht. Hätte im 14., 15. oder 16. Jahrhundert ein Hof existiert, wäre der Sprung in die schriftliche Form möglich gewesen. Wenn die Verschriftlichung der Sagenstoffe nicht rechtzeitig geschieht, sind sie weg. Bei den Fanes-Sagen wurde mit äußerster Mühe einiges herübergerettet. Karl Felix Wolff hat zwar viele Fehler gemacht, aber er hat wie gesagt im letzten Augenblick zugehört und aufgeschrieben.“
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Werner Feiersinger Originalbeilage Nr. 13
In den Arbeiten von Werner Feiersinger spielt das Material eine wichtige Rolle, auch wenn (oder gerade weil) er dieses oft manipuliert und zum Verschwinden bringt, aus gewohnten Zusammenhängen herauslöst. Zwei gebrauchte Buntstifte werden an beiden Enden auf ca. 4–5 cm Länge gespitzt. Durch die Länge der Stifte bekommt das Objekt seine Form. Ähnlich wie bei einem Liegestuhl zeigt das Objekt die Bewegung von der Fläche in den Raum. Das Schneiden als skulpturale Methode wird spielerisch zitiert. Das Material – Messing – verändert die Oberflächenfarbe: mit der Zeit und durch Fingerabdrücke.
das Wissen komplizierter ineinander verschlungen, miteinander verklammert sind, als unsere Schulweisheit es sich träumen lässt. Ich rede dem Unbekannten, dem Undurchsichtigen nicht das Wort – kein romantischer Schauder diesmal, im Gegenteil, ein Plädoyer für das rationale Kalkül, welches besagt, dass das Unbekannte auf viele Arten, die alle nicht zu seiner Auflösung führen, unserer Erkenntnis zuarbeiten kann; ein Beispiel, das das klarstellt, stammt von dem Dirigenten Nikolaus Harnoncourt. „Es ist doch merkwürdig“, sagte dieser über musikalisch bespielte Häuser, „dass alle Häuser, die gebaut worden sind, bevor es Akustiker gab, akustisch gut sind. Wenn ich weiß, dass ein Saal im 19. Jahrhundert gebaut wurde, muss ich mir keine Sorgen machen.“
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als wissenschaftlich nachweisbare Gewissheiten. Daraus darf man freilich keine Ideologie machen, weil es weder allein um das eine noch allein um das andere geht, also weder um das schlicht Bewusste einerseits, noch um das verrätselt NichtBewusste andererseits – es geht um den Zusammenhang, der, wie schon gesagt, nicht einzig und allein einer des reinen, erledigenden Aufdeckens auf Kosten des Nicht-Bewussten sein kann. Das Nicht-Wissen erzeugt ja nicht bloß den Trieb zu wissen, um damit ein für alle Mal erledigt zu sein – sondern es kooperiert; es leistet – in einer Art von Übersetzungsarbeit – dem Noch-Nicht-Gewussten Schützenhilfe, indem es Momente der eigenen Aufhebung darbietet.
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Ich verwende diese ehrenwerte Ansicht, um zu behaupten, dass das Wissen nicht naturgemäß ein Teil der Lösung, geschweige denn der Erlösung sein muss. Es gibt Formen von Erfahrungen, die nicht in den Stand der Bewusstheit erhoben sind, zum Beispiel akustische Erfahrungen, die nicht die Höhe einer systematisch ausgearbeiteten Akustik haben, die aber dennoch (oder gerade deswegen) Orientierungspunkte abgeben, die in der Praxis sicherer sein können
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Leben ohne Hilfsverben
Jens Harzer spielte bei der Bühnenadaptierung von Dostojewskijs Jahrhundertroman „Verbrechen und Strafe“ die Hauptfigur Raskolnikow, uraufgeführt 2008 im Rahmen der Salzburger Festspiele. Swetlana Geier wurde berühmt für ihre Neuübertragung von Dostojewskijs Romanen ins Deutsche. Der Schauspieler besuchte im Auftrag von Quart die Grande Dame der Übersetzungskunst zu Hause in Freiburg im Breisgau. Gegen Ende eines großzügigen Mahles kam das Aufnahmegerät zum Einsatz: Jens Harzer: Wie muss man sich das genau vorstellen – das Übersetzen? Sie beschreiben es in dem Buch, das kürzlich erschienen ist*, als innere Inbesitznahme des Stoffes. Aber wie ist der konkrete Vorgang? Sie schreiben Ihre Übersetzung ja nicht selbst nieder – Swetlana Geier: Eigentlich hat es vor 78 Jahren angefangen. Ich hatte eine Deutschlehrerin, die eine Ostpreußin war, eigentlich eine wenig gebildete Frau. Aber sie wusste, was Ordnung ist. Man sprach ein Gedicht, man wurde die Vokabeln abgefragt, man las einen Aufzug aus „Wallenstein“ oder etwas anderes. Und das, was man gelesen hatte, musste man übersetzen. Sie saß neben mir und sagte: „Nase hoch beim Übersetzen!“ Ich habe sie gehasst. Aber es ist vollkommen richtig: So muss man übersetzen! Nase hoch. Darum schreibe ich auch nicht selbst beim Übersetzen. Ich sehe einfach nicht gerne, was ich schreibe. Bei den ersten Büchern – zum Beispiel bei „August Vierzehn“ von Alexander Solschenizyn – hab ich alles selbst mit der Maschine geschrieben, weil es unmöglich war zu diktieren. Und dann ist ein Freund gestorben, und ich habe seine Frau so gerne gehabt und habe ihm versprochen, dass ich sie und die Kinder nie aus den Augen verlieren würde. Aber ich konnte nicht jeden Tag mit ihr Kaffee trinken! Also hab ich sie gefragt: „Können Sie schreiben?“ Daraufhin kam sie vier- oder fünfmal in der Woche zu mir an die Uni. Ich hatte von acht bis halb zehn Vorlesung und dann tranken wir Tee. Ich hatte einen dänischen Plunder in der Länge durchgeschnitten. Und dann weinte sie. Und dann hab ich diktiert. * Swetlana Geier – Leben ist Übersetzen: Gespräche mit Lerke von Saalfeld. Zürich 2008
Das ging viele Jahre so. Bis sie Osteoporose in den Armen bekam. H.: Wenn der Zeitpunkt gekommen ist, dass sie eine Vorstellung haben von dem zu übersetzenden Buch, dass sie sagen, jetzt kann’s losgehen, dann sitzt … G.: … dann sitzt sie (zeigt auf ihre Mitarbeiterin) … H.: … dann sitzt sie da und tippt – oder? Ja? Und Sie sitzen mit dem Original da? G.: Ja. Ja. H.: Ohne … G.: … ohne Hilfe (lacht). H.: Ohne Hilfe! Sie übersetzen eigentlich, was aus Ihnen … G.: … mhm … dann kommt was aus mir. H.: Das ist unglaublich! Und wieviel schaffen Sie in einer Sitzung? G.: Drei, vier Seiten. Ich bin vom Schicksal wahnsinnig verwöhnt, denn ich hab jemanden, der schreibt. Das ist für mich notwendig. Ich selbst würde nicht über eine Seite pro Tag hinauskommen, weil ich sofort anfange zu verbessern. Jedenfalls bleiben die drei, vier Seiten, die wir jeden Tag machen, mehrere Wochen liegen. Dann kommt ein Freund des Hauses, der ist Musiker von Beruf – und Leser. Und er liest mir kommentarlos mit unbeteiligter Stimme …
mit Recht) eine große Angst vor dem Unbekannten der Triebkräfte und der Verletzungsgründe. Erst wenn man sich auskennt, wenn es bewusst geworden ist, herrscht angeblich Ruhe, zumindest halbwegs Ruhe. Deshalb können die Erlebnisberichte von Psychoanalytikern auch derartig aussehen: „Nach Kriegsende hatte eine Patientin, sie war damals drei Jahre alt gewesen, gesehen, wie ihre Mutter von Soldaten vergewaltigt worden ist. Die Frau habe sich bewusst nicht mehr daran erinnern können, auch ihre Mutter habe über das Erlebnis nicht mehr gesprochen. Die Patientin hatte die ganze Zeit über Schwierigkeiten, eine lustvolle Sexualität zu erleben. Mit einer Psychoanalyse konnte das Erlebnis schließlich aufgearbeitet werden. Heute ist die Frau wieder verliebt. “
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zweitgrößten Luftlinie Deutschlands zu gering war. Aber es gibt viele Papiere mit glatt gegangenen Heilsgeschichten, sie bilden nahezu eine eigene Literaturgattung, deren wesentliches Merkmal eben sein soll, dass jedes Trauma, einmal bewusst gemacht, schon abzuschreiben wäre: Das erkannte Unbekannte hat über uns Leidende keine Macht mehr. Erkenne dich selbst, Patient, mit Hilfe deiner Ärzte, und schon bist du gesund. Aber der Konnex, der Zusammenhang von Erkanntem und Unbekanntem ist in solchen Geschichten zu einfach, nämlich propagandistisch gestrickt. Das Erkannte löst das Unbekannte ab, setzt sich an dessen Stelle, und diese Transubstantiation wirkt im Betroffenen als Erlösung.
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Heute ist die Frau wieder verliebt. Dieser Schematismus einer Heilsgeschichte wurde von der Psychoanalytikerin Marianne Leuzinger-Bohleber, einer geschäftsführenden Direktorin am Sigmund Freud Institut in Frankfurt am Main, der Zeitschrift welt kompakt, dem Fluglinienblatt der Air Berlin weitergegeben, und das in der Zeit, da die Air Berlin ihren Börsengang verschieben musste, weil die Nachfrage nach den Papieren dieser
Ich denke, diesbezüglich hat man es in der Welt mit zwei gegenläufigen Irrläufern zu tun: Die einen lassen das Unbekannte lieber unbekannt, rühren nicht daran und verteidigen ihre böhmischen Dörfer, wenn’s sein muss mit aller Gewalt. Andere glauben, diese Dörfer wie nichts schleifen zu können – sie sind Kontrollfreaks, die das Wort „bewusst“ auf ihre Fahnen geschrieben haben. Es scheint aber mit den menschlichen Wissensmöglichkeiten so zu sein, dass in vielen Fällen das Unbekannte, das Nicht-Gewusste und
H.: … das alles vor! Und hören Sie zu oder lesen Sie mit? Beides?
Schreibtisch enstanden ist. Übersetzen ist bei Ihnen ein Vorgang, der durch Sie hindurchläuft.
G.: Nein, ich überlege mit. Manchmal gibt es Stellen, an denen ich entsetzlich leide. Vor meiner Mitarbeiterin geniere ich mich nicht. Wenn ich diktiere, stehe ich sozusagen nackt da. Das macht mir aber nichts. Wenn hingegen der Musiker liest, ist das ein anderes Bewusstsein – jemand anderer, der das liest. Da wird mir schon ein wenig unbehaglich. Aber wir praktizieren das seit mindestens 50 Jahren.
G.: Das hat sich einfach so gefügt. Meine Arbeitsweise ergab sich, da ich unabhängig war. Ich arbeitete an der Uni. Man konnte mich nicht erpressen. Nicht mit Terminen und nicht mit Geld. Und – ich genier mich, das zu sagen – ich bin unordentlich mit meinen Verträgen. Ich habe noch nie irgendwelche Gespräche über Honorare geführt. Das Übersetzen ist so schwer, dass ich nicht noch darüber verhandeln kann, ob ich zwei oder drei Euro mehr pro Seite bekomme. Ich weiß, das ist nicht richtig, das ist falsch. Aber man kann nicht Dostojewskij übersetzen und sich mit solchem Zeug herumschlagen. (Kurzes Schweigen.) Ich erlebe so schöne Sachen. Wir sind vorgestern abends mit einem Taxi zu meiner ältesten Tochter gefahren, die wohnt hier in der Nähe. Ich sollte das Zimmer meines Urenkels bewundern – ein fabelhafter pädagogischer Effekt. Und dann beim Nachhausekommen: Ich bezahle den Taxichauffeur, gebe ihm ein Trinkgeld und er wirft mir das Trinkgeld zurück ins Portemonnaie und sagt: „Nein, es war eine Freude für mich, Frau Geier, Sie zu fahren.“ Das sagt ein Taxichauffeur! Ich hab ihn in der Dunkelheit gar nicht besonders betrachtet … Jetzt gibt es zum Nachtisch entweder Eis mit einer selbst eingelegten Cognacpflaume oder einen noch nicht ganz kalten französischen Apfelkuchen, gebacken von meiner englischen Schwiegertochter.
H.: Und dann nehmen Sie Ihre Korrekturen vor. Muss es danach noch jemand lesen? G.: Dann korrigier ich das und manchmal, so wie gestern, steh ich in der Nacht auf und überprüfe noch einmal, ob ich auch alles richtig korrigiert habe. Dann schreibt meine Mitarbeiterin die Übersetzung noch einmal ab. Und ich lese sie wieder. Meistens tut das der Musiker auch. Schließlich schick ich das Ganze weg. Das ist der Moment, wo Hans-Jürgen Balmes ins Spiel kommt … H.: … Ihr Lektor, der Ihnen schon beim AmmannVerlag ewige Treue geschworen hat. G.: Er war mit Schuld daran, dass ich „die fünf Elefanten“ – also die fünf großen Romane von Dostojewskij – für den Ammann-Verlag neu übersetzt habe. „Verbrechen und Strafe“ und „Der Idiot“ waren bereits erschienen und ich arbeitete an den „Bösen Geistern“. Da hörte ich, dass Herr Balmes von Ammann weggehen wolle. Und ich rief ihn an und sagte: „Was soll denn das? Wer soll Ihnen nun Rindfleisch mit Meerrettichsauce kochen?“ Nicht einmal dieses Druckmittel half. Er hielt es bei Ammann nicht aus und wechselte schließlich zum Fischer-Verlag, wo er große Karriere machte. Mir blieb er allerdings als Lektor erhalten, denn der Fischer-Verlag wurde Gesellschafter bei Ammann. Und so kommt Herr Balmes immer noch alle zwei Jahre für zwei Tage nach Freiburg und isst Rindfleisch mit Meerrettichsauce. H.: Am meisten fasziniert mich, dass der neue Ton, den Sie für Dostojewskij gefunden haben, nicht am
H.: Ich nehm’ gerne den Kuchen. G.: Oder wollen Sie Eis mit Kuchen? H.: Das überlass ich ganz Ihnen, wie Sie das gestalten … Was mir aufgefallen ist: Wie nahe Ihr Begriff vom Übersetzen – diese Mischung aus höchster Kenntnis und einer lotenden Intuition – dem Übersetzungsvorgang des Schauspielers ist. Auch er ist einer, der etwas schon existierendes Schöpferisches auf seine Weise nachvollziehen muss. G.: Novalis sagt: „Am Ende ist jede Poesie Übersetzung.“ Und unter Poësie – mit zwei Pünktchen auf
von Schönheit zuständig war, hat das bitter gelernt – zuerst mit der Konsequenz, mit der sie das Hässliche inkorporiert hat und dann, indem sie’s überhaupt sein ließ und sich allmählich gegenüber schön/unschön neutral, gleichgültig verhielt, sehr zum Hass einiger Schönheitsanbeter, einiger Schönheitsberater der Gesellschaft, die sich von der Kunst, die sie die „moderne Kunst“ nennen, zu wenig bedient fühlen und die daher gegen das ihnen „modisch“ erscheinende Kunstleben einen Kanon des Altmodischen aufstellen, der sich dadurch auszeichnet, dass man sich darin auskennt und dass er nichts verzeichnet, was irritierend, also gegen den ordnenden Schönheitsbegriff wäre. „Ah, wie schön!“ ist ja eine Wiedererkennungsparole. Aber die Schönheit, die einen ergreift, der man ausgeliefert ist wie dem Erhabenen der Natur oder dem Kunstwerk seines Lebens, wenn man es zum ersten Mal sieht, will man nicht durchschauen, man kommt gar nicht auf die Idee. Später lernt man, das Phänomen zu erforschen, ohne dabei den ersten Eindruck aufs Spiel zu setzen. Diese besagte Neutralisierung, dieses Gleichgültig-Werden der Kunst gegenüber der Schönheit erscheint mir dennoch als ein unaufhaltsamer Prozess, und zum Beispiel Stifters ungeheure Anstrengung, das Naturschöne und das Kunstschöne jenseits einschlägiger Idyllen in einem Werk zusammenzuzwingen, hatte nicht „umsonst“ den bekannten Preis der zerklüfteten Autorenexistenz zur Voraussetzung und zur Folge.
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Ein böhmisches Dorf ist also für mich schön, besser: schön genug, weil die Wirrnis, die die zum Nicht-Zurechtfinden gehörende Ästhetik erzeugt, produktiv sein kann, zum Beispiel gerade in dem entgegengesetzten Sinn, dass sie Vorstellungen produziert, „Orientierungsleistungen“, und seien es solche, die – wie im folgenden – das Dorf böhmisch sein lassen oder das Böhmische im Dorf lassen, die also das Unbekannte als Orientierungspunkt nehmen (oder, polemisch gesagt, die das Unbekannte als Orientierungspunkt verkaufen). Solche Verkaufsanstrengungen sind durchaus nicht originell, ganz große, weltberühmte Theorien stehen dahinter, stehen dafür ein, dass es Steuerungen gibt, die – wenngleich in Kraft – unbekannt bleiben, und zwar in erster Linie denen, die von ihnen gelenkt werden, also denen, die’s eigentlich besser wissen müssten. Die Kraft dieser Steuerungen resultiert daraus, dass sie’s eben nicht wissen, und es ist, sagt man, keine geringe Kraft. Ebenso sagt man, der beste Weg damit zu Rande zu kommen, sei es, sich dessen, was man nicht weiß, bewusst zu werden; das sei seelisch heilsam.
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Ich meine, unter Fachleuten der Psychologie herrscht anscheinend (und wenn, dann gewiss
dem e – verstand Novalis Kunst. Am Ende ist jede Kunst eine Übersetzung. H.: Man muss in sich einen dichterischen Vorgang in Bewegung setzen, um die Dichtung nachvollziehen zu können. G.: Novalis sagt, man muss ein Dichter des Dichters sein … Gibt es eigentlich unter den großen alten Schauspielern, die auch ein so unerfahrener Mensch wie ich kennt, jemanden, der für Sie prägend war? H.: Ja, die gab es. Aus Ihrer Generation zum Beispiel Rolf Boysen. G.: Den kenn ich sogar. Für mich war ja das prägende Theatererlebnis, wie ich in einem vollkommen zerbombten Düsseldorf den jungen Gustaf Gründgens als Hamlet gesehen habe. Daraufhin hab ich drei Nächte nicht geschlafen. Ich bin sogar einmal ins Kino gegangen wegen Gründgens. Und er hat wunderbar gesprochen. Aber er hatte – ich rede jetzt auf Dienstmädchen-Niveau – so neue Kunstzähne. Und wenn er sprach, musste ich immer auf diese strahlenden Zähne gucken. Das war furchtbar. Ich konnte den Film gar nicht genießen … Was ist das Allerschönste für Sie, was Sie jemals auf einer Bühne gesprochen haben? Einen Text, den Sie jeden Tag, bis an Ihr Lebensende spielen möchten? H.: Den hab ich noch nicht. Mein innerer Hausdichter ist Kleist. S.: Ach! H.: Ja. Und zuletzt hatte ich zwei Begegnungen mit russischer Literatur. Vor Dostojewskijs „Verbrechen und Strafe“ in Salzburg hab ich in Berlin bei Tschechows „Onkel Wanja“ mitgespielt … G.: Wenn mir doch jemand erklären könnte, was die Deutschen mit Tschechow haben! H.: Mögen Sie ihn nicht? G.: Diese Begeisterung kann ich nicht verstehen!
Wenn ich vor dem Regal stehe und ich habe gar nichts zu lesen, Tschechow würde ich trotzdem nicht nehmen. H.: Können Sie sagen, warum? G.: Vielleicht weil bei den Tschechow-Dramen zwischen der Bühne und dem Zuschauerraum der einzige Unterschied darin besteht, dass die Leute auf der Bühne viel besser erzogen und rücksichtsvoller sind als die im Zuschauerraum. Ansonsten ist es genau dasselbe. Aus meiner Sicht ist der Sprung zur Kunst, zur Poesie, bei Tschechow nicht vorhanden. Ich finde, dieser Taxichauffeur, der mir das Geld zurück ins Portemonnaie gesteckt hat, ist viel besser als alle Dramen von Tschechow. Kennen Sie seine berühmte Erzählung „Die Dame mit dem Hündchen“? H.: Ja. G.: Da kommen nur so gut erzogene Leute vor! Und dann frag ich mich, ob sich denn der ganze Aufwand lohnt? Verstehen Sie? H.: (lacht) Kann sein, ja. G.: (theatralisch) Dieses andauernde „Nach Moskau, nach Moskau!“ – Und dann kommt man nach Moskau. Und dann ruft man: „Nach Petersburg! Nach Petersburg!“ Da geht’s ja zu wie im Hühnerstall. Moskau, Petersburg – es ist doch genau dasselbe, der Umzug lohnt sich doch gar nicht. H.: Würden Sie noch einmal nach Russland zurückgehen? G.: Ich halte Russland für ein nicht zu betretendes Land. Ich liebe die russische Sprache, da sie im Gegensatz zu der deutschen keinen römischen Hintergrund hat. Das Deutsche ist immer noch ein Haus mit Streben – ein Fachwerkhaus mit einem festen Gerüst, die Zwischenräume sind mit irgendeinem Konglomerat aus Stein ausgefüllt. Und die russische Spracharchitektur? Eine Erdhöhle! Ich lebe in einer Erdhöhle. Im Deutschen gibt es wie im Lateinischen die Hilfsverben, wobei das Hilfsverb „haben“ als Sy-
sich selbst noch etwas zu erwarten. Ich weiß es nicht, aber ich glaube, er hieß „Mandi“ – Mandi ist eine Koseform von Manfred. Er stand oft Stunden und Stunden vor seinem ausrangierten Geschäft, dem funktionslos gewordenen Laden; es schien nur, als hätte er nichts zu tun. Das war eine Täuschung, denn er war vollkommen mit dem Warten auf den Tod beschäftigt.
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Es ist das Gegenteil von Geringschätzung, das ich mit den „böhmischen Dörfern“ im Sinne habe; etwas bleibe einem ein „böhmisches Dorf“ will ja sagen, in diesem Dorf kenne man sich nicht aus. Nur ein Dummkopf, der seine eigene Ordnung und nur sie fest umrissen im Kopf hat, wertet alles ab, worin er sich nicht auskennt. Die Ordnung, gleichgültig nach welchen Prinzipien sie hergestellt wird, übt auf manche Menschen eine Faszination aus. Die Faszination kommt aus meiner Sicht aus der Übersichtlichkeit, die einem eine Ordnung einräumt, und die Übersichtlichkeit wiederum gewährt Eingriffsmöglichkeiten. Kontrolle: Eine Einheit, die man auf Dauer identifizieren kann, durchsetzen gegen den Pluralismus der Erscheinungen. Zentralperspektiven bis zur Zentralmatura, also einheitliche Fragen zur gleichen Zeit für alle Kandidaten, die, wenn sie bestanden
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haben, durch einen uniformen Geist miteinander verbunden bleiben können. Aber ich will hier keine Schulreform dramatisieren, ich habe nur in meinem Leibblatt gelesen, es ginge bei der Zentralmatura um das „Sprießen von Bildung“. Da kann man nichts machen, aber die in der Zeitung darauffolgende Generalisierung ist blühender Unsinn: „Und wer dafür einheitliche Standards sät, wird ausgezeichneten Erfolg ernten.“
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Für andere mag der ästhetische Reiz der Unübersichtlichkeit groß sein: So ein Dorf, dessen Gesetz und Organisation sich nicht dem ersten Blick anbietet (und sich anbieten ist eine allgemein durchgesetzte Strategie), so ein Dorf kann schon deshalb als schön erscheinen. Schönheit hat etwas mit dem Nicht-Durchschauen zu tun, damit, dass man sich Eindrücken ausliefert. Sie entsteht dadurch, dass der Blick sich dem schönen Schein zuwendet, von ihm gefesselt, hingehalten, sein will und ihn gerade nicht durchdringen möchte. Deshalb hat Schönheit, falls sie sich unserem Blick überhaupt noch zeigt, auch niemals das letzte Wort. Irgendeiner will immer – auch mit Blicken – durchdringen, auf den Grund kommen. Die Institution der Kunst, die einst – neben dem Naturschönen – für die Produktion
nonym für „besitzen“ gebraucht wird. Das gibt es in Russland nicht. Auf deutsch sage ich: Ich habe eine Schwiegertochter. Was heißt hier haben? Ich habe einen Löffel oder eine Gabel, ich habe Kaffee in der Tasse, aber ich habe nicht meine Schwiegertochter. „Ich habe eine Schwiegertochter“ ist ein klassischer Hauptsatz – Subjekt, Prädikat, Objekt. Das Subjekt steht immer im Nominativ; das bezeichnete, geliebte Objekt ist ein Akkusativ. Und was mach ich als Russin, wenn ich eine Schwiegertochter habe und kein Hilfsverb? Ich tausche mit meiner Schwiegertochter den Platz. Sie sitzt hier und ich sitze da. Der entsprechende Satz im Russischen bedeutet wörtlich übersetzt: Sie ist bei mir. Ich verliere den Nominativ und „sie“ behält ihre Souveränität. Ist das nicht fantastisch? H.: Ja. G.: Werden Sie Russe, es ist ein ganz anderes Leben. Allerdings – die Lebensbedingungen sind einfach miserabel. Das hat man davon, wenn man keine Hilfsverben hat. Das Leben ist nicht organisiert. Und es ist nicht organisierbar. Das hat seinen Charme, ist aber wahnsinnig schwierig. Und ein Mensch kann allein nicht durchkommen. Der Sohn arbeitet, die Schwiegertochter arbeitet, die Kinder gehen zur Schule und die Großmutter zieht Tomaten auf dem Balkon. Einmal hat in einer Russisch-Einführungsvorlesung ein Student gesagt: „Damit es in Russland endlich Ruhe gibt, muss man die Sprache ändern.“ Er hat’s verstanden! H.: Wie hat Ihnen eigentlich die Aufführung von „Verbrechen und Strafe“ in Salzburg gefallen? G.: Für mich war wichtig an der Aufführung in Salzburg, dass wir nicht mehr in Petersburg waren; es war der Versuch, die Handlung in ein Nirgends reizustellen. Ödipus, Parzival, Don Quijote, Faust, Raskolnikow – sie alle handeln ja nicht in Spanien oder in Petersburg oder sonstwo. Sie handeln in der menschlichen Geschichte. Jede Frage oder jedes Problem in diesem Roman ist eigentlich losgelöst von der russischen Folklore oder russischen Spezialitäten und russischem Leben zu betrachten. Es geht um das
Bewusstsein. Und zwar um ein typisches Bewusstsein. Weltliteratur ist Literatur, die das Nationale zum Typischen erhebt. Die Voraussetzungen bei Raskolnikow sind natürlich russisch, aber wichtig ist sein Bewusstsein in einer bestimmten Situation: Er will aus eigener Kraft entscheiden, ob es Ziele gibt, die kriminelles Handeln rechtfertigen – eine Frage unseres Jahrhunderts. H.: Das war meine Grundhaltung zu der Figur – jemand, der einfach zu viel Bewusstsein hat, der sich so sehr beim Leben und Denken zuschaut, dass er beschließt, sich selber zum Gegenstand eines Experiments zu machen. G.: Ja, natürlich. Das ist Raskolnikow … (spricht russisch:) „Ich habe für mich selbst gemordet. Einzig und allein um meinetwillen.“ H.: Allerdings finde ich, dass wir die Theorien Raskolnikows in der Rezeption nicht überbewerten dürfen. Unter welchen Umständen darf ich wie Napoleon eine Grenze überschreiten und der Überzeugung sein, menschliches Leben wiege nicht mehr als das einer Laus? – All diese Fragen sind wichtig für das Verständnis der Figur, aber sie greifen zu kurz. Raskolnikow ist viel zu klug – oder viel zu ahnend klug – und durchschaut schon von Anfang an selbst alles, was ihm nicht gelingen wird. G.: Und vor allem weiß er, wie ein Dichter geboren wird. Man kann kein Dichter werden. Man kann erleben, was man will, man wird nicht zum Dichter. Auch nicht zum Genie. Goethe hat es die „dämonische Persönlichkeit“ genannt … Ich finde, wir essen jetzt ein Stück Kuchen. H.: Der Kuchen ist ganz hervorragend. G.: Ja, schnell essen. Wir haben genug da, Sie haben noch viel zu tun! Und es gibt noch etwas Wichtiges zu sagen: Im russischen Märchen gibt es eine Gestalt, die im deutschen Märchen nicht vorkommt. In Osteuropa haben wir keine Hexe, keine Frau Holle, aber wir haben die Baba-Jaga. Was „Jaga“ heißt, weiß man nicht, das ist vielleicht nur ein Reimwort. Die Baba-
Fragment über böhmische Dörfer
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chen, aber unterschwellig verächtlichen Folklore, andererseits als plumpe soziale Diskriminierung: Ein Herrenvolk fixierte seine Diener.
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Ich verwende das Wort „böhmisch“ unabhängig von der dichterischen Wendung, ganz Böhmen sei einst am Meer gelegen; es gibt die alte umgangssprachliche Metapher von den „böhmischen Dörfern“ – ich fürchte vom Ursprung her ist diese Metapher mit einer Geringschätzung der Österreich angrenzenden Fremde verbunden. Ich besaß einmal das Buch „Lauter böhmische Dörfer. Wie die Wörter zu ihrer Bedeutung kamen“, der Autor heißt Christoph Gutknecht, und er ist auch der Verfasser von: „Lauter blühender Unsinn: Erstaunliche Wortgeschichten von Aberwitz bis Wischiwaschi“, und das ist eine Provokation, es selber zu versuchen, ganz ohne die Hilfe von Christoph Gutknecht, zumal sein Buch über die böhmischen Dörfer unter meinen Sachen verschwunden ist wie so vieles andere. Ich glaube, die Bedeutung der böhmischen Dörfer kommt daher, dass sie tschechische Namen tragen, und das heißt, sie klingen für ein von der deutschen Sprache eingeschultes Ohr unverständlich. Aber darauf kommt es nicht an, sondern darauf, dass ich mich noch erinnern kann, wie das „das Böhmische“ zumindest in Wien einen ambivalenten Ruf hatte: Er erschallte einerseits in einer liebli-
Der böhmische Schneider, wie ich ihn noch kannte, hatte kein hohes Sozialprestige gepachtet, und das Letzte an Geltung, das ihm sprichwörtlich oder in Liedern des Heinz Conrads noch zugestanden wurde („Wie Behmen noch bei Öst’reich war, bei Öst’reich war“), nahm ihm die Kleiderindustrie mit ihrem Billiggewand. Der soziale Typus des böhmischen Schneiders war funktionslos geworden; „da Behm“, wie der Wiener zugleich geringschätzig und abstandslos sagt, hatte seine Schuldigkeit getan. Jetzt denke ich an einen „Behm“, und als Kind – das heißt in dem Zustand, in dem ich vom Sterben keine Ahnung hatte – als Kind hatte ich den alten, den sehr alten Herren oft gesehen. Er sprach dem Alkohol zu, aber er konnte nicht viel zusprechen, weil er nur wenig Geld hatte. Dafür hatte er eine strenge Frau, vor der er manchmal fliehen musste, und da saß er nicht selten auf einer Bank in dem Gemeindebau, in dem meine Eltern und ich untergebracht waren. Wie müde musste er gewesen sein vom Leben im zwanzigsten Jahrhundert, und als es sozialpartnerschaftlich aufwärts ging, war er zu alt, um für
Jaga bewegt sich in einem Mörser voran, den Stößel benutzt sie wie ein Ruder und wischt die Spur hinter sich mit einem Reisigbesen aus. Sie wohnt am Rande des Waldes, ist Herrin über die Tiere und über die Planeten. Sie ist die Hüterin des Goldes. Und wenn man mit ihr umzugehen weiß, verrät sie einem, wie man zum Gold kommt. Wenn nicht, landet der Kopf auf einem Zaunpfahl vor ihrem Haus. Sie wohnt in einem Haus, das auf Hühnerbeinen steht. Und bei Dostojewskij gibt es die Stelle … ich weiß nicht, ob ich das so schnell finde …
Freitag? 18:57 Uhr, das sollte ich schaffen. Wenn ich um halb sieben mit dem Taxi fahre, müsste das reichen?
H.: Was suchen Sie?
H.: Da klingt schön! Irgendwas mit Schnee haben Sie gesagt, stimmt’s?
G.: Die Alte, wenn Raskolnikow zu ihr kommt und sie das erste Mal genau beschrieben ist … (sucht) H.: Hier hab ich’s! … (liest) „Die Alte stand schweigend vor ihm und sah ihn fragend an. Es war ein winziges dürres Weiblein, etwa 60 Jahre alt, mit stechenden und bösen Augen und einer kleinen spitzen Nase. Ihr unbedecktes weißblondes, kaum ergrautes Haar war reichlich eingeölt. Um den dünnen langen Hals, der an ein Hühnerbein erinnerte, – G.: (lacht) Ist das gut, nicht? H.: – war ein Flanellfetzen gewickelt und um die Schultern schlotterte ungeachtet der Hitze eine völlig abgetragene und vergilbte Pelzweste.“ G.: Ja. Die Herrin des Waldes. Das ist die Baba-Jaga. Das finde ich so wahnsinnig interessant, dass die Figuren bei Dostojewskij mythische Wurzeln haben. Die führen uns in die russischen Märchen hinein. Bis jetzt hat das niemand entdeckt – außer Ihrer Verehrerin Frau Geier … Bitte essen Sie noch Kuchen! H.: Ich habe schon zwei Stück gegessen. Danke. G.: Wir haben nicht gezählt! Außerdem ist die Zwei die erste gerade Zahl und Sie müssen noch eine ungerade erreichen. H.: Meinen Sie? Wenn noch Zeit bleibt … ich schau mal kurz, wann der nächste Zug fährt. Ist heute
G.: Seien Sie nicht so vertrauensselig! Ich fahre während des Semesters jeden Mittwoch um 3 Minuten vor und bestell das Taxi immer auf 20 nach … Fahren Sie Auto? Fahren Sie ganz vorsichtig! … (Kurzes Schweigen. Daraufhin rezitiert G. ein russisches Gedicht.)
G.: Ja, das gebe ich Ihnen mit auf Ihren Nachhauseweg. Es ist ein spätes Gedicht von Puschkin, für Dostojewskij war es der wichtigste Text seines Lebens. Als er in der letzten Nacht vor seiner geplanten Hinrichtung einen Abschiedsbrief an seinen Bruder schrieb, schloss er mit diesem Gedicht. Das hat mich immer tief berührt. Ich dachte: Mein Gott, da ist einer so sprachgewaltig wie Dostojewskij, aber für den Abschied reichen ihm die eigenen Worte nicht. Er überlässt sie Puschkin. Und bei „Die Brüder Karamasow“, wenn Aljoscha und Iwan über den Großinquisitor reden, werden dieselben Worte als das letzte Argument für die Gnade und Wohltat des Lebens zitiert. Auf Deutsch heißt es: „Und bald an der lockigen Birke sich die klebrigen Blättchen entfalten. Noch wehen die kalten Winde und bringen den morgendlichen Frost. Aber auf den vom Schnee befreiten Stellen entfalten sich die ersten Blümchen. Und aus dem wunderbaren Wachsreich, auch der duftenden Honigzelle, kam das erste Bienchen geflogen und flog zu den ersten Blümchen, um zu schauen, ob bald der teure Gast kommt. Ob bald die Wiesen grün werden. Ob bald an der lockigen Birke sich die klebrigen Blättchen entfalten.“ Das find ich alles so wahnsinnig schön.
Quart Nr. 01–12
Georg Friedrich Haas
Milena Meller
W. G. Sebald
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Bernhard Mertelseder
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Andreas Altmann
Marlene Haring
Klaus Merz
Walter Seitter
Architekten Moser Kleon
Michael Hausenblas
Wolfgang Mitterer
Peter Senoner
Clemens Aufderklamm
Krista Hauser
Philipp Mosetter
Q. S. Serafijn
Ludovic Balland
Clementina Hegewisch
Paul Nagl
Martin Sieberer
Thomas Ballhausen
Werner Heinrichmöller
Olga Neuwirth
Christoph Simon
Othmar Barth
Heinz D. Heisl
the NEXTenterprise
Alessandro Solbiati
Christoph W. Bauer
Peter Herbert
architects
Gertrud Spat
Ruedi Baur
Ralf Herms / Rosebud
Walter Niedermayr
spector cut+paste
Wolfgang Sebastian Baur
Margarethe Heubacher-
Michaela Nolte
Thomas Stangl
Sven-Eric Bechtolf
Sentobe
Thomas Nußbaumer
Martina Steckholzer
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Peter Oberdorfer
Karl Stockreiter
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Walter Obholzer
Bernhard Studlar
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Candida Höfer
Ulrich Ott
Rudolf Taschner
Maria E. Brunner
Robert Holmes
Walter Pamminger
Paul Thuile
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Anton Holzer
Karin Pernegger
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Ernst Trawöger
Ernst Caramelle
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Günther Dankl
Sebastian Huber
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Wolfgang Tschapeller
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Barbara Hundegger
Hans Platzgumer
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Wolfgang Pöschl
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Walter Grond
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Georg Gröller
Andreas Maier
Hanno Schlögl
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Ferdinand Schmatz
Andrea Zanzotto
Gebhard Grübl
Dorit Margreiter
Wendelin Schmidt-Dengler
Jörg Zielinski
Egyd Gstättner
Raimund Margreiter
Gunter Schneider
Stefan Zweifel
William Guerrieri
Barbara Matuszczak
Roland Schöny
Ernst Haas
Friederike Mayröcker
Fred Schreiber
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„ … und alles ist beim guten, immer überraschenden Alten geblieben ... Ein Heft, das man haben sollte.“ Der Standard
Wer Quart abonniert, bekommt sicher ein Heft (bevor es vergriffen ist, was vorkommt). Soweit Argument Nummer eins. – Zweitens: Es kommt billiger! Zwei Hefte kosten 18,– (statt 24,–). Und drittens gibt es als Abogeschenk ein Buch aus dem Haymon-Programm (siehe Rückseite der eingeklebten Postkarte). Wenn Sie einen neuen Abonnenten werben, gibt’s gleich 2 Geschenke: eines für den neuen Abonnenten und eines für Sie!
keinen Fall wären seine Schuhe unangepasst, ich sollte überhaupt zu keinem Schuster wie ihm gehen, Maßschuhe passten ja zu mir überhaupt nicht. „Humanic“, schlug er mir vor, „gehen Sie zu Humanic, heißen eh Franz.“ // Na gut, seit mich diese Sache mit den Knien beherrscht, trage ich
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eh nur Camper, diese Super-Schuhe mit der tellerartigen Rundung an der Spitze, ich kauf’ sie bei „Humanic“ und sie passen mir wie angegossen.
— //
Hier die Fortsetzung der Serie „Gutachten“: In dieser Rubrik werden Vertreter einer oder verschiedener Berufsgruppen eingeladen, auf einer einzigen Heftseite kompakte Bestimmungen einer zeittypischen Erscheinung zu entwerfen.
Diesmal: Unangepasstheit
Zeittypische Erscheinung: Jeder ist ein Abweichler! Reizwörter: Aufstieg der Minderheiten, queer, Fashion Blogger, Otto Normalabweicher (© Jürgen Kaube), Freak Style, Flashmob, Krocha, Stil-Puzzle Aufgabenstellung: Es steht Ihnen eine Quartseite zur Verfügung – seien Sie anders! Vier Beiträge von Stefan Hunstein, Thomas Mießgang, Clarissa Stadler und Thomas Feuerstein
heit: Der große Zeh war so eingezwängt, dass über kurz oder lang der Nagel von ihm abfiel und ein hässlich gerötetes Nagelbett entstand, auf das eine Zeit lang überhaupt kein Schuh mehr passte. Diesen Abfall meines Zehennagels habe ich bis heute noch nicht überwunden, seelisch schon, seelisch ist mir so etwas doch vollkommen gleichgültig, aber körperlich, also gleichsam physisch, habe ich einen verkrüppelten rechten großen Zeh. Ich
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nehm’s nicht tragisch, auch wenn die sozialen Folgen nicht ohne waren: Dem Schuster führte ich meinen Zeh vor Augen und ich musste mitansehen, wie ihm dieses physische Unheil, die von ihm verursachte Verkrüppelung, gar nichts bedeutete. Nichts davon, so sagte er, hätte mit seinen Bemühungen, mir Schuhe anzupassen zu tun. Vielmehr hatten meine Füße sozusagen von Natur aus diese unmögliche Passform mitgebracht. Aber auf
Foto: Stefan Hunstein
… in diesem Vorgefühl der Hölle begegnet mir plötzlich im Auge des Taifuns ein Gesicht, das mich aus der Zeit herausreißt, weil es anders, ein anderer, ein anderes Gegenüber ist, wie aus einer anderen Welt. Und für einen Moment spiegle ich mich in diesem Gesicht, beginne in den Augen zu lesen, begegne einem fremden, rätselhaften Kontinent, empfinde in der Entfernung Nähe und erlebe mit einem Mal Gegenwart – Stefan Hunstein
geschweige denn mir passten. // Er, der Schuster, hatte sie meinen Füßen nicht angepasst und so hatte ich eben zwei Schuhe, die mir jeweils nicht nur nicht passten, sondern die auch ganz und gar unangepasst waren. Besonders unangepasst war der rechte Schuh: Während mein Fuß
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im linken Schuh wackelte, keinen Halt fand, umschloss der rechte, der rechte Schuh, den Fuß so eng, dass ich das schmerzliche Gefühl hatte, den Abschluss meiner Beine, die ground control, bildete keineswegs ein Fuß, sondern ein heißer Klumpen. // Ich leide heute noch an der Nachwirkung dieser Unangepasst-
Beiselanarchie vs. Corporate Cannibals Von Thomas Mießgang
Ich hatte vor kurzem das Vergnügen (?), die Pflicht (?), die Qual (?), an einer Diskussion zum Thema „Anarchie und Alltag“ teilzunehmen (siehe auch You Tube: Anarchie und Alltag), die vom erstaunlich zahlreich erschienenen Publikum gleich in „Anarchie und Alter“ umgetextet wurde. Denn auf dem Podium saßen überwiegend reifere Herren mit mehr oder weniger wilder Vergangenheit: Stefan Weber (Drahdiwaberl), Robert „Räudig“ Wolf (Chuzpe), Ronnie Urini (himself) et al., Ikonen eines individualromantischen Lebensstiles jenseits der Ö-Norm, Punk-Bakunins einer „Beiselanarchie“, die als eine – auf die Verbalinjurie „motschkern“ fokussierte – wienerische Variante politischer Dissidenz identifiziert werden kann. Mag dies wie etwa im Falle von Robert Räudig zu einer Schizo-Existenz geführt haben – im bürgerlichen Leben Amtsrat bei der Post, nach Dienstschluss forever Punk – so galt und gilt doch für alle Beteiligten bei „Anarchie und Alltag“ die Frage: Gibt es ein richtiges Leben im Falschen? Hilft das Bekenntnis zur Unversöhntheit mit dem politisch-gesellschaftlichen Status Quo bei der Suche nach wünschenswerten Alternativen? Ist Abweichlertum nur eine subjektive Proklamation des Missvergnügens oder lässt sich darin die Keimzelle zur Konstitution neuer sozialer Milieus erkennen? Nicht, dass diese Themen bei der Diskussion geklärt worden wären. Etliche der Beteiligten glaubten es ihrem Ruf schuldig zu sein, von den Konventionen einer Diskussionsveranstaltung vor Publikum abzuweichen und durch erratische Wutausbrüche und haltlose Polemiken ihren Status als Rebels without a cause zementieren zu müssen. Trotzdem glaubte man zumindest den Nachschimmer einer goldenen Epoche der Dissidenz zu erkennen: Als die vom Wiener Aktionismus inspirierten Blut- und Beuschel-Attacken der Free-for-all-Anarchotruppe Drahdiwaberl von konservativen Milieus noch als potentiell staatsgefährdende Anti-Kunst gebrandmarkt und indiziert werden konnte. Heute machen Slipknot und Marilyn Manson Ähnliches, ohne dass irgendjemand sich bemüßigt fühlen würde, die Moralkeule zu schwingen. Die ehemals nicht-integrierbaren Elemente einer radikal divergenten Geisteshaltung sind mittlerweile Marketing Tools und Module von Werbekampagnen, mit denen immer treffsicherer und punktgenauer gesellschaftliche Teilgruppen anvisiert werden.
Was ist passiert mit dem guten alten situationistischen Détournement der sechziger Jahre, als es noch genügte, ein paar Zeichen zu verschieben und ein paar Schockaktionen auf die Bühne zu stemmen, und damit gleich den Staatsanwalt und andere Wächter über Sitte und Ordnung im Land auf den Plan zu rufen? Es mag sein, dass der Kapitalismus – jenes schwer entzifferbare Biest mit den vielen Gesichtern – heute ein anderer ist als noch vor zwanzig, dreißig Jahren. Damals sicherte das Abweichlertum, vor allem in subund popkulturellen Milieus noch einen Vorsprung an coolem Wissen, mittlerweile werden neue Stile in relevanten Zielgruppen über Recherche Units wie die Cool Hunters fast schon in Echtzeit erkannt und dingfest gemacht. Es ist schwierig, abweichende FashionStatements zu formulieren, wenn die subkulturelle Modeextravaganz der Saison übermorgen schon bei H & M zu finden ist. „Dieses proteische Monster, das wir Kapitalismus nennen,“ sagte Hans Magnus Enzensberger vor kurzem im SPIEGEL, „(hat sich) noch jedes Mal aufgerappelt, weil es verdammt lernfähig ist und weil keine Alternative in Sicht ist.“ Und gelernt hat es vor allem, gesellschaftlich-politische Makrotrends in Konsumstrategien zu übersetzen: War das 20. Jahrhundert die Epoche der Kollektivismen linker oder rechter Prägung plus darauf reagierender sozietär verfasster Gegenbewegungen (Hippies, Punks et al.), so machte seit einiger Zeit – zumindest bis zur Weltfinanzkrise – das Wort von der Ich-AG die Runde. Die neue Me-Generation ist gemeint, wenn es um Abweichen von der Norm geht, um idiosynkratische Innenausstattung einer wie auch immer gearteten Subjektivität. – Ich ist ja bekanntlich ein anderer. Brand yourself! Event yourself! Inscene yourself! Express yourself! Oder, ganz schlicht: Be yourself! Du bist gemeint, als fortgeschrittener Konsument, der um die feinen Unterschiede weiß und seine Patchwork-Identität aus Partikeln eines fein differenzierten Warenangebots komponiert. Individialismus und Konsum-Dissidenz sind zum gesellschaftlichen Imperativ geworden. Immer knapp neben dem Mainstream der schweigenden Mehrheit und doch im endlosen Zirkel des ständig sich erneuernden Kapitals gefangen. Wie singt doch Grace Jones in „Corporate Cannibals“? „I consume my consumers with no sense of humour.“
der Frage begleitet: „Hat’s gepasst?“ // Dagegen lob ich mir „unangepasst“. Also ich hatte einmal, bevor diese Knieprobleme akut wurden (bei denen man nicht weiß, soll man sie durch Operation beseitigen oder nicht, es könnte ja die Operation erst recht ein Problem sein oder eines nach sich
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ziehen), also damals, als ich noch unbesorgt ausschritt, vor mich hinging, besaß ich ein paar Schuhe, die nicht nur nicht passten, sondern die auch unangepasst waren. Das heißt: Eigentlich sollten sie angepasst worden sein, dafür hatte ich ja bezahlt, aber im entscheidenden Moment war der Schuster wohl unpässlich gewesen, und ich hatte am Ende ein paar Schuhe, die zwar handgemacht waren, die aber überhaupt nicht zueinander,
Was, wenn es kippt? Von Clarissa Stadler
„Eine Minderheit besteht, wenn eine Gruppe durch eine zahlenmäßig größere Gruppe eines Territoriums dominiert und minorisiert wird, ohne sich zu assimilieren.“ Minderheiten sind nicht stabil. Religionsgemeinschaften zum Beispiel können wachsen oder schrumpfen. So werden etwa die Parsen (oder Zarathustrier, Zoroastrier) – eine aus Persien stammende, in Indien (vor allem in Mumbai) vertretene monotheistische Religionsgemeinschaft, die sich auf Zarathustra beruft – weltweit immer weniger, weil die Religion ausschließlich über den Vater weitergegeben wird, man also nicht „beitreten“ kann. Außerdem gibt es seit Bestehen der Islamischen Republik Iran eine starke Tendenz zur Abwanderung (eine große Exil-Parsen-Community existiert etwa in Kanada). Die Parsen-Gemeinden werden überall kleiner und damit religionsinterne Ehen immer unwahrscheinlicher. Kinder von Frauen, die Andersgläubige heiraten, werden, wie schon erwähnt, nicht in die Religionsgemeinschaft aufgenommen. Linkshänder wiederum – zur Zeit sind das geschätzte 10 bis 15 % der Bevölkerung – werden ständig mehr. Früher wurden die meisten Linkshänder auf die rechte Hand umerzogen. Später erkannte man negative Begleiterscheinungen: psychische Probleme, schlechtere Schulleistungen oder Sprachstörungen; auch die Legasthenie könnte eine Folge der Umerziehung sein. Heute wird nicht mehr so häufig „umerzogen“, die Zahl der Linkshänder steigt (in Statistiken sind Linkshänder unter alten Menschen deutlich seltener). In arabischen Kulturen ist Linkshändigkeit schwer stigmatisiert, weil die Reinigung nach dem Stuhlgang üblicherweise direkt mit der linken Hand (und Wasser) ausgeführt wird. Die linke Hand gilt als unrein, sie wird nicht zum Essen oder für soziale Kontakte eingesetzt. Genetische Ursachen für die Linkshändigkeit sind wahrscheinlich, aber noch immer nicht schlüssig bewiesen. Auch bei einer Umerziehung wird der Linkshänder nicht zum Rechtshänder, es übernehmen nur andere Hirnareale die Steuerung des Bewegungsapparates. Gebärdensprachen sind wissenschaftlich als eigenständige und vollwertige Sprachen anerkannt. Seit 2002 haben gehörlose Menschen in Deutschland Anspruch auf Gebärdensprachdolmetschdienst. In Österreich ist die Gebärdensprache seit 1. September 2005 in der Verfassung als Sprache verankert. Das Erlernen dieser
Sprache ist auch für hörende Menschen möglich und vom Aufwand und Umfang her mit dem Erlernen einer Fremdsprache vergleichbar. Ein bemerkenswerter Unterschied zur Lautsprache ist, dass mit Gebärdensprache mehrere Informationen parallel übertragen werden können, z. B. mit der einzelnen Gebärde für den Satz „X fährt über eine Brücke“, während Lautsprache hier gezwungenermaßen sequentiell (mit aufeinanderfolgenden Informationen) arbeiten muss. Und was, wenn es kippt? Wenn Minderheiten also nicht stabil sind, dann könnten sie ja theoretisch zu Mehrheiten oder – im extremsten Fall zur Allgemeinheit werden? Lassen Sie sich auf die folgenden Gedankenexperimente ein: Laborsituation 1: Weil Linkshändern erhöhte Kreativität zugeschrieben wird, werden weltweit ab sofort Rechtshänder zu Linkshändern umerzogen. Laborsituation 2: Nach dem Ausbrechen verschiedener Tierseuchen ist der Verzehr von Fleisch sowie Geflügel nicht mehr möglich. Auch Eier dürfen nicht mehr in Umlauf gebracht werden. Die Welt isst ab nun vegetarisch. Laborsituation 3: Aus Kalifornien kommt ein neuer Trend, der die Kommunikation revolutioniert. Es wird plötzlich schick, in Gebärdensprache zu kommunizieren. Was Esperanto nicht geschafft hat, gelingt nun mit der „Internationalen Gebärdensprache“. Laborsituation 4: Weil bei der Fortpflanzung durch Klonen mittels Nukleustransfers sexueller Transfer überflüssig geworden ist, werden nur mehr Frauen gebraucht. Laborsituation 5: Nach dem Zusammenbruch des Internationalen Kapitalismus haben sich kommunistische Regierungen weltweit zusammengeschlossen. Ausgehend von China, Vietnam, Kuba, Nordkorea, Laos, Angola, Mosambik, Algerien, Mongolei und Moldawien kommt es nun doch zum in den fünfziger Jahren so gefürchteten Domino-Effekt, der zuerst Südamerika, dann Nordamerika, und schließlich Afrika und Europa erfasst.
Gegen die Unangepasstheit // Was ich in den letzten Jahren mit Hass erlebt habe, ohne mich zu rühren, es duldend und ständig vorhersehend (manchen sehe ich es an der Nasenspitze an, dass sie gleich damit herausplatzen werden), ist die Redewendung: „Passt!“ „Passt!“, dieser Aufschrei
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aus einer sprachlichen Bastelwelt, in der man irgendeine Materie gefügig gemacht hat, um dann aufzuschreien: „Passt!“ „Passt“ ist wohl ein Austriazismus, Signal in einem Lande, in dem es so vielen von uns so gut passt, es ist das Faustische in uns („Uns ist ganz kannibalisch wohl, / Als wie fünfhundert Säuen!“), und das Service, das dem Gast hier geleistet wird (und das sich dieser gefallen lassen muss, denn das heißt „Fremdenverkehr“), ist von
Freiheit nehmen. Raymond Chandler ist ein Sprachkünstler gewesen und ein Schriftsteller der Hochkultur wie Philip Roth schlampt – scheinbar – manche Passagen seiner Romane so hin, als wär’s ein Schundroman. Der deutschen Kritik, geschult an einem nicht selten äußerlichen Perfektionismus, wird das gelegentlich zu bunt. j. m. Coetzee zaubert in seinem ganz großen Buch „Elizabeth Costello“ ein paar Übergänge auf eine Art hin, dass man als deutschsprachiger Leser sagt: „Na bitte.“ Und selbst der unglaubliche Gemeinplatz, den Coetzee seiner Hauptfigur in den Mund legt: „Swift ist für mich ein faszinierender Schriftsteller“, macht rein gar nichts. // Ich weiß, das angestrebte Populäre ist nicht das Nachlässige. Aber dass ein Schriftsteller wie Coetzee, der die „höchsten“ Themen, die ersten und die letzten Fragwürdigkeiten der Humanität, adäquat abhandelt, dabei auch lässig agiert, zeugt von einer kulturellen Geborgenheit, in der man das Hohe und das Niedrige nicht gegeneinander ausspielen muss. So ein Schriftsteller tut sich nichts an, macht sich keine Umstände, wenn er gleich zum Wesentlichen kommen will. Aber die Kunst zur Ordnung zu rufen, sie möge die elitären Attitüden sein lassen und populär werden, ist eine alte Übung. Zuletzt hat sie – mit einem richtigen Slogan – Leslie Fiedler vorgeführt: „Cross the Border – Close the Gap.“ Gut, ich bin dabei, aber bei Fiedler, der seinerzeit die „Postmoderne“ ausrief, wird der hohe Preis der Abwertung der Moderne
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bezahlt. Das kann sich, glaube ich, in meiner Heimat, in der die Moderne sich nie so durchgesetzt hat, dass sie heute historisch wäre, keiner leisten. // Ich bin 1947 geboren (Zeit!) und die Klänge, die meine Zeit erfüllt haben, kamen von der angelsächsischen Pop-Musik. Diedrich Diederichsen hat diese Musik dadurch charakterisiert, dass ihr Format auf eigene Weise Öffentlichkeit herstellte, „indem es Bereiche des sozialen Lebens, der Sinnlichkeit, der politischen Ideen in hoher Geschwindigkeit und ungewöhnlicher Dichte miteinander verknüpft. In der Pop-Musik waren das Kritische, Anspruchsvolle, Radikale und der Massengeschmack, die Kulturindustrie und der Populismus einander in einer Weise nahe, wie es die ausdifferenzierte, parzellierte und kulturell in zahllose Milieus zerfallene postindustrielle Gesellschaft sonst nicht kennt. Das Durcheinander der Niveaus, der Medien, der Disziplinen und der sozialen Herkunft der Beteiligten lässt die Kultur der Pop-Musik in ihren interessanteren Phasen aussehen, wie einen Lehrversuch künftiger Gesellschaft.“ // Das war einmal und außerdem eh nur „in den interessanteren Phasen“. Aber es ist ein Modell dafür, dass eine Kunst über sich selbst hinauswachsen muss, die Musik über das Musikalische, wenn sie die nun einmal ausdifferenzierten Grenzen und Unterscheidungen der eigenen Branche überschreiten möchte.
— //
Berühmt werden — jetzt!
„Die Nachwelt wird’s verstehen!“ Der Komponist und Pianist Moritz Eggert polemisiert gegen die weitverbreitete Meinung, dass der wirkliche Künstler seiner Zeit voraus sei. Und liefert damit zugleich einen Zustandsbericht über das Musikdenken von heute – aus der Sicht eines Eingeweihten. Wenn ich über Komponisten zeitgenössischer Musik spreche, vergleiche ich sie manchmal mit Kühen. Irgendwann findet eine Kuh eine besonders saftige Stelle auf der Weide, sofort zieht es auch die anderen Kühe dorthin, und schon bald grasen alle an derselben Stelle, grasen und grasen bis auch nicht mehr der kleinste Grashalm übrig ist. Aber weil sie sich schon einmal dafür entschieden haben, an genau dieser Stelle zu grasen, macht es ihnen nichts aus, immer mehr in die nackte Erde zu beißen, und alles, was sie wiederkäuen, ist zunehmend Kies und ihr eigener Abfall. Ungefähr so steht es mit der Neuen Musik. Alle grasen und schaben auf ihren kleinen Fleckchen – und zwar immer genau dort, wo sie es sich gemütlich eingerichtet haben. Bei dem einen mag dieses Fleckchen „New Complexity“ heißen, bei dem anderen nennt es sich noch „Avantgarde“ (oder aus Modegründen auch „Zweite Moderne“), der andere wiederum hat es sich im mystischen Minimalismus bequem gemacht und bedient die allgemeine Sehnsucht nach Esoterik. Grasen tun sie alle. Und mitkriegen tut man davon im Allgemeinen nicht viel – in den Feuilletons muss man inzwischen fast mit der Lupe nach Berichten über Uraufführungen suchen, und sogar die lange stiefmütterlich behandelte moderne Lyrik führt im Vergleich zur Neuen Musik geradezu ein Leben im Rampenlicht. Was als eine notwendige Überwindung von bestimmten musikalischen Topoi begann, die schon in den 50er Jahren muffig anmutete, ist nun – noch mal 60 Jahre später – in eine Art fröhliche Grüppchenbildung umgeschlagen, die sich jeweils eifrig ihres kleinen Freundeskreises vergewissert.
Ich muss gestehen, dass mich diese Situation traurig macht, vor allem, wenn man sie in einen historischen Kontext bringt. Ich finde weder, dass heutige Neue Musik schlechter ist, noch dass ihre Protagonisten weniger können als früher. Wahrscheinlich ist sogar das Gegenteil der Fall – noch nie gab es z. B. so viele hervorragende Interpreten und Ensembles Neuer Musik und Gelegenheiten, neue Werke aufzuführen. Dennoch gibt es untrügliche Anzeichen dafür, dass etwas nicht in Ordnung ist. Seit einem Jahr schreibe ich die Kolumne „Neues vom Bad Boy“ in der Neuen Musikzeitung (NMZ), in der ich versuche, der Rätselhaftigkeit der Neuen Musikszene polemisch und humorvoll auf den Grund zu gehen. Seitdem ist mein Posteingang zuverlässig mit zornigen Emails meiner Zunft gefüllt. Es herrscht eine latente Humorlosigkeit in der Szene – während früher Debatten leidenschaftlich wie auch polemisch sein durften, ruft heute jeglicher Ansatz von ironischer Selbstkritik sofort die Inquisition auf den Plan. Ein weiteres Anzeichen ist der in der letzten Dekade lauter gewordene Ruf nach der dringend notwendigen „Vermittlung“ Neuer Musik. Was gibt es inzwischen nicht alles an Projekten: Neue Musik für Kinder, für soziale Randgruppen, für Strafgefangene; alles davon natürlich ehrenhaft und förderungswürdig. Man geht davon aus, dass eine zunehmende Vernetzung und Konfrontation neue Publikumsschichten erschließen kann, die dann später die Konzerte füllen sollen. Manche Festivals liefern inzwischen äußerst geschickt eine ganze Fülle solcher Angebote, die quasi hinter den Kulissen ablaufen und für einen guten Publikumsstrom sorgen – honi soit qui mal y pense.
macht. // Nun zu etwas ganz Anderem: Ich überlege, warum ich in wesentlichen Punkten, ja im Grundsätzlichen der von meinem Heftnachbarn vorgebrachten Kritik an der Esoterik der Musik zustimme, ohne aber, wenn ich das so sagen darf, sein Problem zu haben. Ich glaube, es liegt daran, dass ich viele Seiten der populären Kultur so sehr schätze und mich mit ihnen so sehr beschäftige, dass ich nicht wünschen muss, andere Sparten der Kultur sollten auch populär sein. Zu den vielen wichtigen, manchmal auch quälenden Erfahrungen, die ich in Schloss Wiepersdorf hatte – Wiepersdorf ist eine „Künstlerkolonie“, eine nicht nur unpeinliche Ansiedlung von Kunst-Stipendiaten in Brandenburg –, gehört auch das Gespräch mit einem Komponisten elektronischer Musik aus Amerika. Ich, der ich die eigenen Ohren davor stets in Sicherheit brachte, habe ihn gefragt, wer denn überhaupt elektronische Musik höre. Er antwortete lachend, ohne die geringste Bitterkeit, sondern mit Freude an der Sache: „Elektronische Musik hören nur Leute, die selber elektronische Musik machen.“ // Das ist eine im Prinzip richtige Übertreibung. Ich nehme an, dass der amerikanische Komponist gar nichts dagegen hatte, würde er mit einem seiner Werke populär; ich bin aber sicher, dass er eine solche Popularität niemals seiner nun einmal unpopulären Art zu komponieren vorziehen würde. Bleibt die Utopie, einer Kunst die Treue zu halten und vielleicht gerade dadurch, Nachwelt hin oder her, eine Ge-
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genwart zu haben, die sich sehen oder hören lassen kann. Dieser Eventualität gegenüber bin ich skeptisch. Nein, ausschließen sollte man das Populärwerden des Außerordentlichen nicht (auch weil ein solcher Ausschluss wie eine self-fulfilling prophecy wirkt). Aber ich denke, dass die Grenzen, die sich die Künste in ihrer Entwicklung eingehandelt haben, nicht einfach, vor allem nicht ohne Rückschritte, zu überschreiten sind. Dass im deutschen Sprachbereich das Problem besonders akut erscheint, ist keine willkürliche Setzung, der man erst mit einem Willensakt beikommen könnte. Mir kommt vor, dass im deutschen Sprachbereich der schlichte Wechsel ins Populäre besonders trostlos wäre. Die deutsche Populärkultur, in der Dieter Bohlen ein „Pop-Titan“ ist, meidet man zurecht. Da ist mir die Hochkultur, und sei sie auch steril, lieber. // Der eingebürgerte, für mich kaum aufzuhebende Gegensatz von „u und e“, der in diversen Reklamesprachen geleugnet wird, und der in der Tat unglücklich ist, bewirkt, dass man schwerlich ohne Obszönität mit einer Kunst populär werden kann. Das ist in angelsächsischen Ländern leichter. Und das wiederum erscheint mir als ein Beweis dafür, dass die Gesellschaft dort stärker emanzipiert ist: Wenn das Unterhaltende auf einem Niveau stattfindet, das die elitäre Kultur in ihrem Kunstanspruch einholt (und dadurch zugleich bestätigt), wenn in einer Gesellschaft so etwas möglich ist, dann kann man es als Zeichen geistiger
Hinter dieser Flut aus „Education Projects“ steht aber auch die bittere Wahrheit, dass es zunehmend schwieriger geworden ist, die staatlichen (und notwendigen) Subventionen für zeitgenössische Musik mit der Musik an sich zu rechtfertigen, und dass man daher neue Vermittlungswege bemühen muss, um den Geldgebern ein gutes Gewissen zu machen. Nicht dass wir uns falsch verstehen – ich finde auch, dass hier vieles in der Vergangenheit versäumt wurde, vor allem was Neue Musik für Kinder betrifft. Diese Projekte sind sicherlich gut und wichtig, nur suchen sie die Schuld an der fehlenden Kanonbildung von Neuer Musik allein in der Vermittlung, nicht in der Musik selber. Will sagen: Die Komponisten von heute fassen sich nicht genug an die eigene Nase, wenn sie über das Problem nachdenken, warum ihre Musik nicht mehr von selbst – also ohne Anstoß und hochspezifische Förderung – über die Rampe kommt. Ich muss hier erklären, was ich mit Kanonbildung meine. Anfang des 20. Jahrhunderts fanden vieldiskutierte Uraufführungen zweier sehr unterschiedlicher Komponisten statt: Arnold Schönberg und Richard Strauss. Über den einen schrieb ein zeitgenössischer Kritiker: „Seine hypermoderne Schule verwirft den Wohlklang, den hauptsächlichen Bestandteil des Musikalisch-Schönen und seine Lehre ist auf Kakophonie und Dissonanz begründet.“ Und nein, damit war nicht Schönberg, sondern Strauss gemeint, über dessen „Elektra“-Uraufführung genau dies von einem zeitgenössischen Kritiker geschrieben wurde. Natürlich gab es auch Kritiken ähnlichen Inhalts über Schönberg, dennoch gibt es einen Unterschied: Schon wenige Jahre später wurden die Opern von Richard Strauss von Opernhäusern auf der ganzen Welt gespielt (und das auch in den Provinztheatern), während sich die Werke von Schönberg bis heute im Konzertleben relativ schwer tun. Im Gegensatz zu Schönberg fand also bei Strauss – der
zuerst auf die Zeitgenossen ebenso radikal wirkte wie Schönberg – eine Kanonbildung statt, also eine Umdeutung des vormals als hässlich Wahrgenommenen in etwas, das große Attraktivität für den Hörer hat. Ich will hier keineswegs die beiden Komponisten gegeneinander ausspielen (ich liebe sie beide), aber die Theorie aufstellen, dass klassische Musik immer in gewisser Weise zum Überleben das benötigt hat, was ich als „kulturellen Durchsatz“ bezeichnen würde. Damit meine ich jenen Moment, in dem sich Inventionen der Hochkultur plötzlich im kulturellen Gedächtnis festsetzen und dadurch eine dauerhaftere Wirkung erzeugen, die man gerne etwas pathetisch als „unsterblich“ bezeichnet. So steht es ohne Zweifel fest, dass dies Stücken wie „Für Elise“ oder dem Finale der 9. Symphonie in großem Maße gelungen ist. Das C-Dur-Präludium von Bach war sicherlich wichtiger für seine Breitenwahrnehmung als „Die Kunst der Fuge“, die „Kleine Nachtmusik“ wichtiger für die Verbreitung von Mozart als zum Beispiel sein wunderschönes Bläserquartett mit Klavier KV 452, und auch Claude Debussy wäre ohne seinen Hit „Clair de Lune“ nicht der Debussy, den die Allgemeinheit kennt. Natürlich handelt es sich hierbei nicht um die wirklich wichtigsten Werke dieser Komponisten. Diese Stücke mit „kulturellem Durchsatz“ ermöglichen aber einem Neugierigen, sie als Schlüssel zur wunderbaren Welt ihrer restlichen Musik zu benutzen. Und das sollte man nicht unterschätzen, schließlich gibt es dieses Phänomen der „Schlüsselwerke“ auch in anderen Künsten, von der „Mona Lisa“ bis hin zu „Über allen Gipfeln ist Ruh“. Und weder da Vinci noch Goethe müssen sich dafür schämen. Wenn wir nun die Musik des 20. Jahrhunderts in ihrer Gesamtheit betrachten, so stellen wir fest, dass es einen seltsamen Widerspruch gibt. Auf der einen Seite stehen Komponisten wie Strauss, Stravinsky oder Schostakowitsch, denen durchaus das mit Er-
nur wichtig. Die komplizierte Dialektik, die in der Frage steckt: „Können wir aus der Geschichte lernen?“ ist mir bekannt, aber ich beantworte sie hier undialektisch: Nein, wir können aus der Geschichte nichts lernen. Das schränke ich ebenso undialektisch ein: Aus der Geschichte spezifisch können wir nichts lernen, denn aus der Geschichte können wir (für die Praxis) genauso viel lernen wie aus anderen Disziplinen, aus der Geographie zum Beispiel oder gar aus dem mathematischen Denken, mit dem man manche riskante Entscheidungssituationen, die sich unter Menschen ergeben, in die sich Menschen begeben, fast besser aufschlüsseln kann als durch Intuition. Aber manchmal lernt man eben auch aus der Geschichte – es ist nur nie zwingend, dass einem die Geschichte eine Lehre erteilt, geschweige denn die richtige. Die falschen Lehren, die aus der Geschichte gezogen wurden, sind dagegen Legion. In Anbetracht dieser Lage nimmt es sich seltsam aus, wenn man „die Nachwelt“ als Instanz wählt – von der „Nachwelt“ weiß man per se weniger als von der Vergangenheit. // Die „Nachwelt“ ist besonders für den polemischen Einsatz geeignet. Man kann sie – mehr oder weniger eitel – gegen die Gegenwart mobilisieren, die einem verständnislos und stumpf erscheint. Aber in der Nachwelt steckt auch dies (romantisch) Schöne: Eine Gegenwart, die die Menschen, aus denen sie besteht, fesselt, in ihren Bann schlägt, sie blind macht (betriebsblind), eine solche Ge-
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genwart wird in der Vorstellung von „der Nachwelt“ erlöst. In der Vorstellung von „der Nachwelt“, die jetzt schon eine entscheidende Instanz sein soll, traut man den Menschen zu, dass ihre Verblendung nur in der Gegenwart gilt; es werden andere kommen, die den vergangenen Unverstand nicht mehr haben. Es ist nicht schwer, spöttisch anzunehmen, dass dies eine fromme Hoffnung ist, zumal ja „Nachwelt“ behauptet, die auserwählten Eliten einer Gegenwart werden in der Zukunft die Welt bilden, also von einer Mehrheit verstanden werden. Es gibt historische Erfahrungen, dass es so kommen kann, und es gibt historische Erfahrungen, dass es nicht so gekommen ist. Aber in jedem Fall muss man gegen meine bisher gemütlichen Vorstellungen von der „Nachwelt“ eine verschärfte Variante ins Treffen führen: Zu Zeiten kann die Welt so unerträglich sein, dass sich die ganze Hoffnung darauf richtet, dass sie endlich untergeht und der „Nachwelt“ Platz macht. Dann hat der Topos eine humane Funktion; mit seiner Hilfe kompensiert man das Inhumane einer Gegenwart und hält es für möglich, dass es eines Tages verschwunden sein wird: „Die Nachwelt“ ist dann ein vorbereitendes Zeichen für die Wiederkehr des Humanen, ein Zeichen dafür, dass man selbst in den „Letzten Tagen der Menschheit“ die Menschen nicht aufgeben will. Ich sehe darin diese Verknüpfung von Romantik und Realismus, die einem das Leben nicht nur erträglich, sondern auch verständlich
folg gelungen ist, was ich als „kulturellen Durchsatz“ bezeichnet habe. Schon 1940 entschied sich Walt Disney, große Teile aus dem „Sacre du Printemps“ für seinen Film „Fantasia“ zu verwenden, immerhin einem der bedeutendsten Werke der Filmgeschichte, hier untermalt durch eines der bedeutendsten Werke der Musikgeschichte. Das ist keineswegs eine schlechte Kombination. Auch „Tea for Two“ oder der „Walzer“ von Schostakowitsch sind als Melodien so präsent, dass auch Laien sie sofort erkennen, selbst wenn ihnen dann nicht unbedingt sofort der Komponistenname einfällt. Auf der anderen Seite sind die Komponisten, die das Selbstverständnis der „Neuen Musik“ nach Adorno prägen, eben z. B. Schönberg, Webern, später Stockhausen oder Boulez. Alles hervorragende Künstler, die aber mehr oder weniger ihr ganzes Leben damit verbracht haben, tunlichst alles zu vermeiden, was auf oben beschriebene Weise „zu populär“ werden könnte. Ich muss noch einmal betonen, dass es mir in keiner Weise darum geht, diese beiden Seiten gegeneinander auszuspielen. Man ist nicht unbedingt ein besserer oder interessanterer Komponist, wenn einem der „kulturelle Durchsatz“ gelingt, bei manchen hat das ja auch mal ein paar Jährchen länger gedauert, wie man weiß. Bei manchen Guten gelingt es auch nie, und sie sind trotzdem gut, keine Frage. Man ist aber auch kein besserer oder interessanterer Komponist, wenn man sich der Möglichkeit, auch einmal etwas Unangestrengtes und sofort Zugängliches zu schaffen, sein Leben lang bewusst verweigert. Und das ist wirklich ein vollkommen neues Problem, das nur das 20. Jahrhundert (und leider auch noch das 21.) kennt: Komponisten, die sich dem verweigern, was eigentlich alle Komponisten bis dahin maßgeblich motiviert hatte: nämlich Musik zu schaffen, die einen jeden Menschen begeistern kann, ohne dass sich dieser vorher in irgendeiner Weise speziell dafür
bilden muss. Und diese Verweigerung wird nicht nur von großen Teilen des Neue-Musik-Establishments eilfertig vollzogen, sondern auch noch als Stärke ausgelegt, denn schließlich handelt es sich ja um einen „Akt des Widerstands“, man will sich halt nicht mehr von Populismus und Kommerz gängeln lassen (auch wenn diese beiden Begriffe eigentlich bei der Herstellung von wirklich guter Musik ohnehin nie eine Rolle gespielt haben). Und man verharrt in dieser Haltung, koste es, was es wolle. Um diese Linie durchzuhalten, muss eines der abgestandensten und entsetzlichsten Klischees der Romantik bemüht werden (zumindest still im Geiste, damit man nachts ruhiger schlafen kann): Die Vorstellung vom „Nachruhm“. Man sei halt seiner Zeit voraus, und erst kommende Generationen würden zu schätzen wissen, was man geleistet habe. Dass dieses Klischee z. B. für Schönberg sehr wichtig war, kann man leicht aus seinen Äußerungen herauslesen: Bekannt sind seine Sätze über die Sicherung der Vorherrschaft der Deutschen Musik bis auf die nächsten 100 Jahre. (Man mag es dem guten Arnold verzeihen, dass sein Enthusiasmus für seine Erfindungen ihn hier solch hochtrabende Worte finden ließ.) Inzwischen weiß man aber, dass die sogenannte Nachwelt nach wie vor vieles, ja eigentlich fast alles, was die Neue Musik im 20. Jahrhundert theoretisch geprägt hat, immer noch nicht verstanden hat. Und sie macht auch keine Anstalten es zu tun. Mehr als 100 Jahre hatte die „Nachwelt“ Zeit dafür, und es sieht nicht so aus, als würde morgen der große Verständnisdurchbruch kommen, eher das Gegenteil ist der Fall. Man muss sich das klar machen: So lange hat es noch nie in der Musikgeschichte gedauert, bis man verstanden hat, dass etwas doch gut ist, was man anfänglich als „shocking“ empfunden hat. Und wir leben in wesentlich schnelllebigeren Zeiten als früher. Und da eben nach wie vor ganz klar zwischen „guten“ (unpopulären aber würdigen) und „schlechten“
Nachwelt und Postmoderne // Das Wort „Nachwelt“ finde ich ungerecht behandelt, und selbst, wenn die Nachwelt nichts als ein Klischee wäre. „Natürlich“ kommt das in meinem Fall davon, dass ich die Epoche der Romantik und das Romantische aller Zeiten höher einschätze als alle ausgewogenen (oder dafür ausgegebenen) Perioden. Die romantischen Paradoxien, die (romantische) Vernunft, die an den seelischen Überhitzungen, an den neurotischen Deformationen einerseits Anteil hat und andererseits sich dabei als Vernunft selbst treu bleibt, scheint mir eine bewahrenswerte Utopie, paradoxerweise als eine Utopie des Realismus, der Realitätstüchtigkeit. Anders inspirierte Denkweisen, die ihre Rationalität vor sich hertragen, um damit gegen die Romantik ins Feld zu ziehen, verschleiern entweder – zum Beispiel durch demonstrierte Kälte und Härte, durch „Souveränität“ – ihre eigene Romantik. Oder solche unromantischen Denkweisen haben die Welt, die sie aufschlüsseln wollen, von vornherein „rationalisiert“ (ihr Rationalität unterstellt) – und dann müssen sie nur mehr die Züge des Rationalen, die sie der Welt unterstellt haben – nachzeichnen. Die Nachzeichner, die perfekt beweisen, wie all das Ungeheuerliche nicht ungeheuer ist, sondern auf einer von ihnen exklusiv durchschauten Rationalität beruht (der Irak-Kritik zum Beispiel auf den Ölinteressen einer amerikanischen Clique) übersehen, wie intensiv solche Interessen mit Romantizismen ver-
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bunden sind, und romantische Vernunft hat in meinen Augen ein Mensch, der dieses ungeheuerliche Gemisch aus rational nachvollziehbaren Interessen und den verrückten Energien, die dabei im bösen Spiel sind, begreifen und darstellen kann. Und für diese Darstellung ist eine Infektion mit der Verrücktheit nötig – bis zu einem gewissen Grad, ohne dass ich sagen könnte, wie hoch dieser Grad der Infektion sein sollte. Aber es ist klar, es gilt der Satz des Johann Gottlieb Fichte, eines Philosophen, der an der Romantik nicht unbeteiligt war: „Was für eine Philosophie man wählt, hängt davon ab, was für ein Mensch man ist.“ // Das Wort „Nachwelt“ drückt ein Verhältnis zur Zeit aus; es ist ein Verhältnis zur Zeit, in dem eine noch nicht eingetroffene Zeit jetzt schon zur Instanz gemacht wird. Diese in die Zukunft versetzte Instanz soll jetzt schon entscheidend sein und darüber bestimmen, was eigentlich von Wert, was also von bleibendem Wert ist. Davon später, zunächst aber ein paar Bemerkungen zur Zeit, aus persönlicher Sicht, denn ich hatte es mit der Zeit immer schon schwer. „Geschichte“ zum Beispiel ist meine Schwäche, für die ich – verzeihen Sie den Kalauer – keine Schwäche habe (sonst bin ich, weiß Gott für alle Schwächen zu haben). Ich sehe ein, wie wichtig Geschichte ist, aber Geschichte ist auch ein Wichtigmacher. Vergangene Zeiten haben eine Macht über uns, aber Historiker (aller Art), die diese Macht über uns ausspielen wollen, machen sich
(populären und unwürdigen) Komponisten unterschieden wird, haben wir also eine offizielle „Neue Musik-Szene“ (ohnehin ein schreckliches Wort), in der es nach wie vor als unglaublich gewagt gilt, auch mal die Leistungen von Janacek oder Sibelius als einen wichtigen Beitrag zur Musik des 20. Jahrhunderts anzuerkennen. Diese Schieflage korrigiert sich zuweilen von selbst, wenn nicht heute, dann eben zunehmend auch durch die viel zitierten „kommenden Generationen“, denen diese ganzen Abgrenzungsrituale nur ein Achselzucken entlocken wird, da sie die klingende Musik eines ganzen Jahrhunderts gelassen in ihrer Gesamtheit betrachten können und nicht nur einen kleinen Ausschnitt davon. Heißt denn radikal und „neu“ zu sein wirklich auch automatisch, kein größeres Publikum ansprechen zu dürfen als einen kleinen Kreis von Experten? Wenn man z. B. ins 19. Jahrhundert schaut, kann man kaum einen radikaleren und experimentelleren musikalischen Ansatz finden, als den von Richard Wagner. Hier hat jemand eine ureigene Vision und verfolgt diese mit absoluter und gelegentlich auch unsympathischer Unerbittlichkeit. Dennoch handelt es sich hier nie um die übliche Komplexitätsmasturbation, wie sie heute so oft bei Neue Musik-Festivals zu hören ist – nein, Wagner lag eindeutig viel daran, durch genaueste Kontrolle der theatralischen Mittel einen überwältigenden Gesamteindruck zu erzeugen, der absolut jeden dafür offenen Menschen zu faszinieren vermag, egal welche Vorbildung dieser besitzt. Der relativ niedrige Durchschnitts-IQ der meisten heutigen Bayreuth-Besucher ist dafür der beste Beweis. Seine Musik wurde zu seinen Lebzeiten zwar von vielen als kontrovers empfunden, letztlich konnte man sich aber dem Bann nicht entziehen. Man kann sogar argumentieren, dass z. B. gerade seine Arbeit mit Leitmotiven genau diesen Zweck erfüllt, nämlich auch „Nicht-Experten“ den Zugang durch simple Repetition einfacher Themen zu ermöglichen. Das mag
einem gefallen oder nicht, aber hinter der Anwendung dieser Mittel steht der Wunsch, ein Publikum direkt als Gegenüber anzusprechen. Und wenn der inzwischen vollkommen abgedroschene Walkürenritt mal wieder bei irgendeinem Kinofilm erklingt, weiß man, dass auch ein Wagner den „kulturellen Durchsatz“ erreicht hat. Ob dies auch seinem größten Nacheiferer im 20. Jahrhundert – Karlheinz Stockhausen – mit den Mitteln seiner Ästhetik gelungen ist, mag bezweifelt werden. Die Situation ist aber noch komplizierter. Denn was ich beschreibe, ist inzwischen fast ausschließlich ein Problem des deutschsprachigen Kulturraums, in dem sich die Szene zunehmend wie ein kleines gallisches Dorf geriert, das gegen die imaginierte Gesamtverflachung der Welt Widerstand leisten muss. Der Rest der Welt kann unsere ästhetischen Probleme kaum noch nachvollziehen. Wird daher wirklich alles flacher? Ist nicht das Warnen vor der zunehmenden Verflachung der Kultur so alt wie Kultur selbst? Ich bin sicher, dass schon zu Carl Philipp Emmanuel Bachs Zeiten manch alter Kontrapunktiker mahnend gegen die neue „simplere“ Musik der Jungen den Finger erhoben hat. Mir fällt es zugegebenermaßen auch schwer, manch heutigen angloamerikanischen Retrokitsch oder asiatischen Exotismus als einen gangbaren Weg für die Zukunft zu empfinden. Die dortigen Komponisten mögen mehr Freiheit beim Komponieren haben, besser sind sie dadurch auch nicht unbedingt. Was alles momentan en vogue ist, ist ja letztlich nicht so wichtig wie das, was am Ende die Besten unserer Zunft – egal wo – daraus machen. Und wenn es einem von diesen Besten gerade hier – weil ihnen nur hier der Zeigefinger entgegengestreckt wird – gelänge, den Graben der Eitelkeiten zu überspringen und einen Funken zu entzünden, der länger hält als zwei Zeilen einer Feuilletonkritik: Es wäre unendlich viel gewonnen.
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spricht, was Maria Kremser per E-Mail schon vor dem Post-Scriptum zu sagen hat. Es wäre höchstens ein kleiner Trost, wenn Maria Kremser als Ausländerfeindin auch einem diesbezüglichen Lager angehörte. In dem Fall brauchte man nicht zu fragen, was denn die Leute aus dem diesbezüglichen Lager denken, wenn schon die, die ihm nicht angehören, so denken wie Maria Kremser. // Merkwürdig ist aber das Hineinziehen der Kirche in diese ideologische Misere. Anders als unter Anführungszeichen scheint das selbst dieser Leserbriefschreiberin nicht möglich, die sich sonst phrasenhaft, aber doch immer direkt ausdrückt. Der Herr Bundespräsident ist, und auch hier hat er keine Kanten, bekanntlich ein Agnostiker, weil am Ende ja sein könnte, woran er jetzt noch nicht glaubt. Nichts liegt ihm ferner, als die Kirche nicht im Dorf zu lassen. Ich wette, er denkt, genau dort gehört sie hin. Das ist so sicher wie das Amen im Gebet. Wenn nun so ein Agnostiker in einer direkten Rede noch mehr Leute anspricht als die Österreicherinnen und Österreicher, nämlich alle sehr geehrten Damen und Herren, dann kann man nicht sagen, dass er „mit der Kirche ums Kreuz fährt“, auch nicht unter Anführungszeichen. Er meint halt – ohne Umwege und ganz
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direkt – jeden Menschen, der ihm zuhört. Deshalb will ich, sehr geehrte Damen und Herren, die Kirche im Dorf lassen und wähle etwas anderes zu meinem Post-Scriptum. „Ich hoffe sehr“, hieß es wiederum in einem Leserbrief an die „Krone“, „dass die ganze Familie Zogaj wieder dorthin geschickt wird, wo sie herkommt, denn man kann nicht einfach davon laufen, wenn einem etwas nicht passt.“ // Wie hart Menschen sind, die das Leben so weich geklopft hat, dass sie Entlastung finden, indem sie Leserbriefe an die „Krone“ schreiben. Glaube, Liebe, Hoffnung. Sie haben einen Hass auf Flüchtlinge, weil sie diese mit der Vorstellung identifizieren, solche Menschen würden, wenn ihnen etwas nicht passt, „einfach“ davon laufen. Da sind sie selber, die Leserbriefschreiber, anders, sie können ja nie weg, auch wenn ihnen gar nichts mehr passt.
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Von Kloster zu Kloster Landvermessung No. 2, Sequenz 8 Vom Reschensee nach Müstair
Geschichten kann man auch durch geometrische Operationen auf der Landkarte generieren: In Quart folgen unterschiedliche Autoren mit unterschiedlicher Kondition unterschiedlichen Linien (s. Übersichtskarte auf der vorhergehenden Doppelseite). Derzeit befinden wir uns am Ende einer Geraden, die von GarmischPartenkirchen Richtung Oberes Vinschgau führt. In der aktuellen Folge ist Ilija Trojanow der vorgegebenen Linie vom Reschensee Richtung Münstertal gefolgt. Reisebericht eines Vielgereisten: über Handelsströme, erzieherische Maßnahmen an der Natur und einen Prozess gegen Mäuse. Eine schiefe Ebene. Eine doppelte schiefe Ebene. Nach Norden aufsteigend, nach Osten abfallend. Eine Schneise, ein Durchgang. Sitzt man auf einer Weide unterhalb des Glurnser Köpfls (so etwa ab 2700 Höhenmeter gelten Gipfel im Vinschgau als ausgewachsen und heißen Kopf) und blickt man nordwärts in Richtung Reschenpass, sieht man die Rinne, durch die das Wasser der Geschichte geflossen ist, im Hochsommer satt, dicht und zuversichtlich wie das grünste Gras. Ein endloser Strom ist hier über die Alpen geflossen, ein Strom aus Gold und Salz, auf Mauleseln und auf Pferden, ein Strom aus Riten und Ruten, einst, im Zeitalter des Glaubens, weswegen der Tartscher Bühel geformt ist wie der Rücken einer alten Schildkröte, spürbar ein Ort der Kraft, ein Schnittpunkt von Energien, wo Sonnenkulte und Fruchtbarkeitsorgien gefeiert wurden. Schon 600 vor Christus war dieser Kultplatz besiedelt, ein respektgebietender Hügel, auf dem eine kleine Kirche steht, wie ein nachgereichter, aufgesetzter Gedanke (später wurden auf dem Bühel die Raubmörder hingerichtet, neuzeitlichere
Menschenopfer auf dem Altar der herrschenden Ordnung). Der Strom führte die Römer heran und hinüber, über ihre Via Claudia Augusta, die kaiserliche Staatsstraße, die von Altinum (der oberen Adria) nach Feltre, Trient und Bozen über den Reschen- und Fernpass ins Lechtal nach Füssen führte, dort floss sie weiter durch offenes Land, nach Augsburg und bis in die Donau. Der Ausbau dieser Straße war das strategische Anliegen von Kaiser Claudius, ordnete an, die urgeschichtlichen Wege zu verwenden. Also wurde die Rinne genutzt, die Erde bearbeitet, es wurde geebnet und ausgehoben und ausgegraben und drainiert, es wurde ausgefahren, eingefahren, es kam Geld ins Land und es blieb im Lande; es errichtete die tiefsten Fundamente. Die Römer vergingen, der Strom floss weiter, weniger ordentlich zeitweilig, weniger weltläufig, es entstanden Fürstentümer und Königshäuser, Lehen wurden vergeben, Zehnte wurden bezahlt, Kirchen und Klöster wurden errichtet, die Zeit des Glaubens schmolz mit der Zeit des Wissens, das Geld verlangte nach Zins und Zinspflicht, nach Schmalzzins und Restzins. Wo der Bankier ist, kann der Bürger nicht
Österreicher defätistisch mit „Sehr geehrte Damen und Herren“ anspricht. Ich muss wieder einmal zur Kenntnis nehmen, dass es mit meinem Patriotismus nicht weit her ist. Aber es liegt vielleicht auch daran, dass es mir gleichgültig ist, was der Bundespräsident in der Neujahrsansprache sagt. Mir ist überhaupt gleichgültig, was der Bundespräsident, solange er brav und gut ist, sagt. Zum Glück gibt es Menschen, die diesbezüglich sensibler sind: „Sind wir keine Nation mehr?“, fragt die aufgebrachte Dame in der „Krone“. Was soll ich sagen? Am Schluss, vor dem Post-Scriptum, kommt’s dann, worum es immer schon geht und was man deutlicher als die Hörerin der Neujahrsansprache kaum sagen kann: „Oder“, ruft sie rhetorisch aus, „fällt Herr Fischer vor den – nicht immer angepassten – Einwanderern auf die Knie, in dem er nur mehr von Damen und Herren redet!“ // Die Vision, mit der der Fremdenhass die für ihn anfälligen Österreicher glücklich macht, hat zwei Seiten: Einerseits sind die Fremden, die nicht weggehen, schlimm genug. Anderseits aber ist es noch schlimmer, dass die Eigenen, dass „wir“ gerade an der Führungsspitze Menschen ertragen müssen, Menschen, die „wir“ gewählt haben,
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die vor den Fremden, die weggehen, auf die Knie fallen: Verräter! Wenigstens die „nicht immer angepassten Einwanderer“ stehen zwischen Gedankenstrichen, also mache ich mir Gedanken: Es kommt nicht drauf an, aber es ist durchaus möglich, dass der von mir zitierte, mit „Maria Kremser, per E-Mail“ gezeichnete Brief (ein Brief, der also nur mit bescheidenen Insignien seiner Herkunft versehen ist) tatsächlich per E-Mail aus einer einschlägigen Parteizentrale kommt. Dafür spricht das Post-Scriptum, das so etwas explizit und nicht unangestrengt leugnet: „Ich bin weder ausländerfeindlich noch gehöre ich einem diesbezüglichen Lager an. Aber Herr Fischer sollte ‚die Kirche im Dorf lassen‘“. // Das ist eine vertrackte Fassung einer doppelten Verneinung. Maria Kremser verneint per E-Mail, dass sie ausländerfeindlich ist, und ebenso, dass sie einem diesbezüglichen Lager angehört. Einfach wie ich bin, denke ich, dass jemand, der nicht ausländerfeindlich ist, sich auch nicht die Mühe zu machen braucht, vor Publikum zu verneinen, dass er einem diesbezüglichen Lager angehört. Verneint er das aber extra, hat er vielleicht diesbezüglich Dreck am Stecken, worauf es aber wirklich nicht ankommt, weil ja für sich
mehr weit sein. Und eine Stadt wie Glurns, dem Salz sei Dank, wird reich und frei. Das Salz kam aus Hall in Körben verpackt, zu Pferde und auf Ochsenkarren, unterwegs die Alpen zu überqueren. Aber an Glurns war kein Vorbeikommen. Das Salz musste gewogen und besteuert werden, es konnte verkauft werden. Oder getauscht werden gegen Wein aus Veltlin. Erst dann durfte man über die Etschbrücke, bergab Richtung Worms, also Bormio. Ja, es ist schwer, die Bedeutung des Etschtales zu übertreiben. Hier sind die Epochen sichtbar, zumindest teilweise, wie beim halb überfluteten Grauner Turm im Reschensee, der von Österreich kommend den Reisenden mit einem Ausrufezeichen begrüßt. In den Tiefen des Sees schlummern die Märchen, ein Drache etwa, der den Turm unter Wasser bewacht und nur selten auftaucht – dann schimmert sein schuppiger Rücken über dem Spiegel des Sees. Wer zu Fuß geht, muss sich Wege erdenken. Wer einer Linie zu folgen hat, muss besonders viele Umwege in Kauf nehmen. Von Nauders nach Schluderns nach Schlanders, das wäre eine passende Route für ein Motorrad oder ein Automobil, der Fußgänger hingegen ergeht sich andere Wege – einen Stundenweg, einen Psalmenweg, einen Eigenweg –, von Kloster zu Kloster etwa, vom Benediktinerstift Marienberg bei Burgeis zu den Benediktinerinnen von St. Johann in Müstair. Die Einheimischen nennen diesen Pfad auf halber Berghöhe seit alten Zeiten den Eselsweg, wohl weil er genutzt wurde von den Schleichhändlern, die einst Schmuggelware aus der Schweiz nachts an den Zöllnern im Tale vorbeischoben, vielleicht aber auch, weil der Sage nach ein reuiger Ritter, der sich mit einer Klosterstiftung reinwaschen wollte, seinen Esel hinauftrieb, entschlossen, dort den gesegneten Bau zu
errichten, wo dieser stehen bliebe. Heute ist der Weg pädagogisch eingerichtet, durch regelmäßige Tafeln, aufgestellt von den wenigen verbliebenen Mönchen, um daran zu erinnern, dass „es andere Welten und Zeiten gibt neben unserer Gegenwart, die uns mehr und mehr festzuhalten versucht. Die Rhythmen der Natur, die Ereignisse der Geschichte, der Klang der Sprache, sie erweitern unsere Sicht.“ Das ist zweifellos wahr. Von oben herab, angeregt von den nachdenklichen Worten der Ordensbrüder, kann man sich besser an verlorene Landschaften erinnern. Von oben herab kann man eher die Spuren der Zeit dechiffrieren. Von oben herab erkennt man, wie sehr wir unsere Natur ausgerichtet haben. Wie wenig sie noch Natur ist. Keine neue Erkenntnis, selbstverständlich. Aber inmitten dieser überwältigend schönen Landschaft (ich bin viel herumgekommen, aber so etwas Schönes wie den Vinschgau habe ich selten gesehen) ist sie besonders erschütternd. Einst war überall Au, heute ist Altwasser – der Fluss begradigt, eine erzieherische Maßnahme, abgetrennt der Arm; Überflutungen sind also Phantomschmerzen, denn das Wasser steht, und das sollte Wasser niemals tun: stehen. Auen unterliegen der Dynamik des Wassers, das zerstört, neu erschafft, abträgt und aufschottert, entwurzelt und anlandet. Den Menschen galten Auen als wertloses Land. Da ungeordnet, fremd, unbetretbar. Heute ist im Tal fast alles nutzbar: trockengelegtes, gerodetes Land. In Ordnung gebracht. Verwendet, aber unbelebt. Und das Erbe der Auen: Apfelkulturen. Sortenbereinigte Apfelanlagen prägen die Landschaften entlang der Etsch. Interessanterweise wird nach der Bereinigung der Natur die Arbeit des Menschen rationalisiert. Für Reife und Farbe sorgt nunmehr die Chemie. Einst gab es einhundert
dies nicht weit kommt“, sagte er. Nach erfolgter Überweisung der Spende übergab Al-Rawi einen Teil der 3000 Euro dem islamischen Kinderchor Hilal. „Hilal“ bedeutet „Halbmond“, und das war der sogenannte „Halbmondstreit“, und er war von einer solchen Komik, wie sie nur der tiefste Ernst ermöglicht. // Dieser Ernst spricht auch aus geläufigen Äußerungen, die in erster Linie gar nichts mit der hohen Politik zu tun haben. Ich las zum Beispiel einen Leserbrief in der „Kronen-Zeitung“, aus dem in bemerkenswerter Weise hervorging, wie eine Dame genau aufgepasst hatte, was der Bundespräsident in seiner Neujahrsansprache zum Besten gab: „Es hat mich sehr gestört, dass der jetzige Bundespräsident in seiner Ansprache immer wieder sagte: ‚Sehr geehrte Damen und Herren.‘ Mit dieser Diktion schreibe ich an meine Versicherung oder meine Bank, wenn mir etwas missfällt. Denn da weiß man ja nicht, mit welcher Nationalität man es zu tun hat.“ // Ich bin ahnungslos, aber an dieser Stelle schwant mir, dass es um Österreichs immerwährende Neutralität geht. Der Neutralismus ist eine eingebürgerte Mentalität, mit der man stets fein
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raus ist. Aber er hat natürlich seine Grenzen, zum Beispiel zu Neujahr bei den „sehr geehrten Damen und Herren“, einer Floskel, die zu neutral gegenüber „unserer“ nationalen Herkunft erscheint: „Ein Präsident, den die Mehrzahl der Österreicher und Österreicherinnen gewählt haben (leider auch ich!), sollte mehr Fingerspitzengefühl haben.“ // Der Witz ist aber, dass dieser Präsident, Dr. Heinz Fischer, den ich auch gewählt habe, allerdings ohne es sonderlich zu bedauern, von Kopf bis Fuß aus Fingerspitzengefühl besteht. Ich glaube, er hat sogar bei sich zu Hause – im eigenen Haushalt in der Josefstadt – alle Ecken und Kanten entfernt, damit er nicht auf die Idee kommen muss, dass so etwas überhaupt existiert. Aber es könnte eben sein, dass ihn genau dieses Fingerspitzenspitzengefühl in den Augen der Leserbriefschreiberin zu Fall bringt: „Traut sich denn Herr Fischer nicht mehr, wie alle ihm leider vorangegangenen Bundespräsidenten zu sagen: ‚Liebe Österreicherinnen und Österreicher‘?“ // Ui jeh, das trifft mein patriotisches Gewissen, denn von allein wäre es mir nie aufgefallen, dass das Staatsoberhaupt die Österreicherinnen und
Apfelsorten in Südtirol, von denen nur wenige den heutigen Normen gerecht werden würden, denn die Normen sind so formuliert, dass der Wildwuchs an ihnen scheitern muss. (Ein Bauer erzählte mir einmal, die leckerste Ernte seines Lebens sei ihm nicht abgenommen worden, weil die Größe und die Rundung der Früchte nicht den Normen der Supermärkte entsprochen habe.) Also wurde Vielfalt rechtzeitig entsorgt. In den sechziger Jahren erhielten die Bauern Geld, wenn sie ihre Apfelbäume mit einheimischen Sorten entwurzelten und an ihre Stelle Golden Delicious anpflanzten. Es ist einfältig, Vielfalt durch das Gitter der Nachfrage zu pressen. Daher ist es ein gesegneter Anblick, nach Überquerung des Melzbaches, unter sich – wie ein botanischer Garten, der zwischen den Blöcken und Reihen bestehen darf – die letzte erhaltene Aue der Region zu sehen: Saldurbach, Punibach und Etsch bilden die Schludernser Au (auf der Karte steht Biotop).
mentiert, dass diese aufgrund ihrer Natur unschuldig seien. Trotzdem, das Urteil lautet: schuldig, und das Strafmaß: Vertreibung. In Anbetracht der besonderen Situation, nämlich der Vielzahl neugeborener und schwangerer Mäuse, wird ihnen zweimal eine Frist von 14 Tagen gewährt. Desweiteren wird ihnen freies Geleit in die Schludernser Leitn zugesichert. Wörtlich steht es in dem Urteilsspruch aus den Archiven der Stadt: „Es werde ihnen auch bei solchem Abzug ein frey sicher Geleit vor iren Feinden erteilt, es seyen Hund, Katzen oder andere ire Feind; er sey auch in Hoffnung, wenn aine schwanger wär, dass derselben Ziel und Tag geben werde, dass sie ir Frucht fürbringen und alsdann auch damit abziehen möge.“ Dieses Stück sollte in Glurns Jahr für Jahr aufgeführt werden, es würde nicht nur viele Touristen anziehen, sondern auch jenen Tag in Erinnerung bewahren, als die Natur endgültig gezähmt wurde, in dem selbst Tiere und Plagen Teil des Rechtssystems wurden.
Daneben liegt Glurns, Südtirols kleinste Stadt. Aus der Entfernung könnte man ihre Mauern verwechseln mit Kulissen für ein mittelalterliches Schauspiel. Hier könnte man nachvollziehbar ein großes Drama aufführen: „Der Mäuseprozeß“. Eine Wiederaufnahme aus dem Jahre 1519. Der Richter: Konradin von Spergser. Der Ankläger: ein Vertreter der Gemeinde Stilfs. Die Angeklagten: alle Feldmäuse (Lutmäuse) im Umfeld der Stadt. Der Verteidiger: ein Mäuseliebhaber. Und die Anklage lautet: die Mäuse haben zu großen Schaden angerichtet. Der Staatsanwalt fordert eine Art ethnischer Säuberung. Alle Mäuse sollten verbannt werden. Es folgt eine umfassende Beweisaufnahme. Die Schäden sind unbestritten, nicht so die Schuld der Nagetiere. Denn der Rechtsanwalt der Mäuse argu-
Aber was fliegt, hat es offensichtlich offenhörig leichter zu bestehen, als das, was wächst und das, was fließt. Um uns das Gezirpe von Waldohreulen, Wiedehopfen, Rotkehlchen, Zaunkönigen, Schwanzmeisen, Orpheusspöttern, Gartenbaumläufern, Seidensängern, Kernbeißern und Kamingimpeln. Und vor unseren Augen die unglaublichste Pracht an Schmetterlingen. Dreitausend Arten soll es in Südtirol geben. Und in der näheren Umgebung allein, in Kuppen und Schluchten und Wäldern und Heiden und Felsen und Schutt, haben Untersuchungen der Europäischen Vereinigung zur Erforschung der Schmetterlinge über eintausend Arten gezählt. Der Fußgänger wird reichlich belohnt. Der Pfad führt nach Taufers, letzte Südtiroler Siedlung vor der Schweizer Grenze, führt oberhalb des Städtchens und dem Rambach
Die Kirche im Dorf // Der Chauvinismus und die ihm angeschlossene Fremdenfeindlichkeit ist eine Quelle der Phantasie. Menschen, die davon befallen sind und die ein Interesse haben, besser: die den Drang verspüren, ihre Haltung zu verbreiten, sind kreativ. Es ist unfair, die daraus resultierenden Kreationen zu melden, aber das Leben ist nicht fair und so zitiere ich eine dieser chauvinistischen Leistungen. Es ist der Klassiker, der sowohl von der Phantasie auch von ihrer Erdung berichtet. // Der bzö-Politiker Westenthaler hatte im Sommer 2006 behauptet, dass „der spö-Integrationsbeauftragte“ Omar Al-Rawi („der spö-Integrationsbeauftragte“, was für ein Titel!) die Anbringung von Halbmonden anstelle von Kreuzen auf Berggipfeln gefordert hätte. Wenig später wurde bekannt, dass Westenthaler sich von der Phantasie einer Künstlergruppe hatte beflügeln lassen. Diese Gruppe hatte sich zutreffend ausgedacht, wie weit ein einschlägiger Politiker gehen würde, wenn man ihm so einen Happen vorwirft. Es war rührend, als der arme Westenthaler, obwohl alles allen schon klar war, immer noch den Halbmond auf den Berggipfeln erblickte.
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// Ich will keinen Zweifel daran lassen, dass ich Westenthaler unter seinen Gesinnungsgenossen präferiere: Er ist der Wiener Strizzi in der Politik und seine amtsbekannten Verwicklungen, mit denen er sich allmählich selbst aus der Politik hinausdrängelte, sind nichts als standesgemäß. Mit ihm wird der Wiener Strizzi samt seiner zwanghaften Lust zur Wirtshausrauferei in der etablierten Politik wieder bedeutungslos oder er wird überhaupt aus ihr verschwinden. Aber der hinaufgekommene Strizzi Westenthaler, der Ingenieur, war am Ende doch zu komisch. Im gerichtlichen Vergleich verpflichteten er und das bzö sich seinerzeit, „die Verbreitung der Behauptung, der Kläger Omar Al-Rawi hätte die Anbringung von Halbmonden statt Gipfelkreuzen auf österreichischem Berggipfeln gefordert (…) ab sofort zu unterlassen“. // Zusätzlich mussten Westenthaler und sein Bündnis 3000 Euro für „Jugend- und Sozialprojekte der Islamischen Glaubensgemeinschaft“ spenden, Al-Rawi durfte das Geld nach seinem Gutdünken verteilen. „Der spö-Integrationsbeauftragte“ beurteilte die erzielte Einigung positiv. Der erfolgte Vergleich hätte gezeigt, dass „man mit menschenverachtender Aufhusserei ohne-
direkt vorbei an der Ruine Rotunde und der Ruine Reichenberg. Stichworte eines anderen menschlichen Wahns: Im Februar 1499 löste ein Überfall von Tiroler Truppen auf das Kloster Sankt Johann – mit einer in Südtirol einzigartigen Kirche, in der sich frühe byzantinische Kunst mit einem romanischen Grundriss aus dem 9. Jahrhundert paart – den sogenannten Schwabenkrieg aus: zwischen den Eidgenossen und den Drei Bünden sowie dem Haus Habsburg, das vom Schwäbischen Bund unterstützt wurde. Maximilian I., römischer König seit 1486, wollte das Münstertal erobern, weswegen Ende März seine Truppen plündernd bis in dieses Tal vorstießen und die Äbtissin des Klosters St. Johann und weitere 33 Engadiner als Geiseln nahmen. Die Habsburger Seite war siegessicher, man verfügte über ein Heer von 12000 Mann, man hatte zum Schutz des Heerlagers zwischen Taufers und Latsch eine Wehr errichtet, etwa dort, wo der Rambach aus dem Münstertal in das Etschtal fließt. Dieser Festungswall war mächtig gebaut und mit zahlreichen Geschützen bestückt. Doch der Gegner fand den richtigen Umweg. Mitten in der Nacht, auf Pfaden wie jenem von Kloster zu Kloster, schlichen die Bündner Soldaten, unterstützt von den Eidgenossen, hinter dem Rücken der vermeintlich so hervorragend verschanzten Habsburger Armee auf die andere Talseite und griffen den Gegner bei Tagesanbruch aus unerwarteter Richtung an. Panik brach in den Reihen des Feindes aus. Die Bündner verfolgten die Fliehenden bis weit in den Vinschgau hinunter. Zahlreiche Landsknechte kamen in den reißenden Schmelzwasserfluten der Etsch um, als die Brücken unter ihrem Gewicht zusammenbrachen. Über 5000 Mann aus Schwaben, Tirol und Italien sollen gefallen
sein, demgegenüber nehmen sich die Bündner Opfer (ungefähr 2000 Tote) gering aus. Die Bündner plünderten das obere Etschtal und brannten die Dörfer Mals, Glurns und Latsch nieder. Alle männlichen Bewohner älter als zwölf Jahre wurden umgebracht. Zur Vergeltung wurden die 34 Geiseln aus St. Johann in Meran zu Tode gefoltert. Heute spaziert man über die Grenze, die fast keine mehr ist, und kann sich schwer vorstellen, dass sich Tiroler und Eidgenossen gegenseitig erschlugen, ein unwiederholbarer Alptraum aus archaischen Zeiten, wäre das Etschtal nicht gezeichnet von schrecklichen Betonbauten, die in dieser Landschaft besonders ins Auge fallen, offenbar unverwüstliche Bunker aus dem Ersten Weltkrieg, von Jugendlichen zum Klettern genutzt, innen voller Müll, Mahnmale, die allein schon durch ihre Hässlichkeit überzeugen sollten. Am Abend treffen sich Einheimische und Touristen (Deutschsprachige und Italiener halten sich die Waage) bei der Gelateria in Mals. Mit zwei Sorten Eis in der Waffel suche ich das Haus des größten Südtiroler Komponisten, des leider fast vergessenen Johann Rufinatscha. Obwohl mich ein Freund begleitet, ein Nachfahre des Komponisten, finden wir das Gebäude nicht. Es ist abgerissen worden. Es bleibt uns nichts anderes übrig, als wenigstens einen Vinschgauer Tag mit seiner Musik ausklingen zu lassen, während das Tal sich immer weiter eindunkelt.
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Fremdenverkehrsordnung
Seit über einem Jahr durchstreift Thomas Parth mit einem Fotoapparat als Arbeitsgerät sämtliche Nordtiroler Tourismusgemeinden. Das Ziel: eine lückenlose Erfassung aller Buchstaben, Schriften, Wörter, Namen, Schilder. Waldesruh, Bergfrieden, Jägerhäusl, Heimatglück, Zimmer frei. Die Fragen: Wie selten ist das Edelweiß? Wieviel Alpenglühen verträgt das Land? Was sagen Aufschriften an Häusern und Hütten über deren Bewohner aus? – Es folgen drei Bildtableaus:
ich-Überempfindlichkeit unterscheidet sich von anderen Überempfindlichkeiten dadurch, dass die Künstler-ich-Überempfindlichkeit ein Produktionsmittel der Künstler ist. Sieht man einerseits von der Ideologie ab, dass Künstler-Überempfindlichkeit gar keine Über-Empfindlichkeit ist, sondern wahre Empfindlichkeit, sozusagen die Prolongierung von Stunden und noch mal Stunden wahrer Empfindung, die Nicht-Künstlern abgeht / sieht man anderseits davon ab, dass man nicht zu leicht zu einer Deklaration berechtigt sein kann, was drüber und was drunter liegt, was also Empfindlichkeit und Überempfindlichkeit ist, sieht man von alle dem ab, dann kann man ohne Zweifel sagen: Künstler arbeiten mit ihrer Reizbarkeit und Gereiztheit – sie verwandeln ihre Unerträglichkeit, ihre höchstpersönliche Unerträglichkeit in etwas sozial Akzeptierbares, ja geschätztes / ja Überschätztes: in Kunst (also in das, was andere für Kunst halten). // Also bitte, hören Sie bitte folgendes (aus der Eröffnungsrede der Salzburger Festspiele): „… die Kunst ist ein rettendes Geländer. Die Poesie, die Musik rufen etwas in uns hervor, das uns verändert. Wir müssen das nur zulassen. Wir müssen Kunst und Kultur nicht als Ausfüllung von Freizeit begreifen, sondern als Seinsweise, wie das Atmen und das Essen. Wir müssen uns einlassen auf die Kunst, sie kann unseren Durst, unseren Hunger, unseren Kummer stillen, unsere Fragen beantworten, uns trösten. Uns retten … Wir dürfen die Kunst kritisieren, wir dürfen enttäuscht sein und uns zeitweise abwenden, aber: wir dürfen niemals zweifeln. Sie ist nicht in erster Linie gut oder schlecht, neu oder alt, gefällig oder strapaziös, sie ist. Ein Leben ohne Töne, Wörter, Bilder ist kein Leben. Die Kunst ist keine biochemische Formel und sie hat auch nichts zu tun mit einem dummen Apfel der Erkenntnis, sie schwingt sich über all das hinweg … Künstler legen ihr
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Herz in ihr Lebenswerk. Sie arbeiten nicht für den Augenblick. Sie arbeiten – ein großes Wort – für die Ewigkeit.“ // Tja, wer eine weiche Birne hat, lässt sich gerne mit dem dummen Apfel der Erkenntnis hören, und nach der Vertreibung aus dem Paradies hat der Schöngeist vor nichts mehr Angst, als aus dem selbst gebastelten Nachfolger-Paradies vertrieben zu werden. Unter den Insinuationen und den Forderungen der Kunstreligion würde allerdings jedes ich, besonders jedes Künstler-ich zusammenbrechen – würde man als ich, als Künstler wirklich glauben, was die Priester der Kunstreligion propagieren. Diese Propaganda, so meine These, ist umso kunstferner, je näher sie sich an die Kunst anschleicht; sie ist ein Reflex der Kulturindustrie, der Umwegrentabilitäten durch den Fremdenverkehr; ein Reflex einer gut planenden Industrie, die ihrer Geschäfte wegen ein schlechtes Gewissen hat und auf keinen Fall auf ihr kompensatorisches geistiges Unterfutter verzichten möchte. Würden die, die den Lärm der Klassik-Szene auf sich zu konzentrieren verstehen, wirklich an die stille glauben, von der sie schwärmen, sie würden stille halten. Aber auch wenn man nicht wirklich glaubt, so treten „Kulturschaffende“ doch alle im Reklamenebel an – im Weihrauch, mehr oder weniger davon benebelt. Sich für die Arbeit klar zu machen, sein ich dafür klar zu machen – das ist schon Kunst genug. Selbstsorge, sich selbst bewahren, ist Teil des künstlerischen Arbeitsprozesses.
Fortsetzung S. 20
Versteckte Ermittlungen
Hier geht es um ein Museum ohne Öffnungszeiten; es gibt keine Hinweistafeln, kein Logo, keine Kritiker, keine Klimaanlage, keine Museumspädagogen, kein Aufsichtspersonal, keine Eintrittspreise. Der Kulturhistoriker, Schriftsteller und Konzeptkünstler Bernhard Kathan betreibt das „Hidden Museum“. Erika Wimmer hat es besucht. Kuhfotografie:* Eine Kuh schaut neugierig in die Linse, im Hintergrund gelbes Herbstgras vor tiefblauem Himmel. Eine Kuh hat den Kopf nach hinten gedreht und starrt in die Luft. Eine Kuh steht mit dunklem Blick, gestreckten Beinen und angespanntem Rücken unter Felsen, Nebel zieht über den Grat. Die Kühe liegen ineinander geschoben im Gras – ein Körper. Harmlos sei die Kuh, heißt es. Kühe besitzen einen Charakter, sagt Bernhard Kathan. Kühe sind klug, eigenwillig und mitunter zornig. Sie sind eine Kulturleistung der Bauern. Aber wo sind diese Kühe? Häufiger als eine Kuh, die diesen Namen verdient, findet man ein Großstalltier mit Produktionspluspunkten. Schöne neue Kuhstallwelt. Das „Hidden Museum“ kristallisierte sich in den späten 90er Jahren heraus, als ein überregionales Landschaftsprojekt am Sandjoch, das der in Innsbruck lebende Bernhard Kathan organisieren sollte, nicht realisiert wurde und Geld übrig war. Darum gibt es heute einen konkreten Ort: ein kleines Haus, ein steiles Grundstück in der Nähe von Fraxern, Vorarlberg. In einem schlichten Raum, nicht größer als ein Wohnzimmer, finden Ausstellungen statt, auch der Außenbereich – Garten, Sträucher, Bäume – wird einbezogen. Die Vernissagen unterscheiden sich von * Kursiv Gesetztes verweist auf Titel von Projekten oder auf direkte Zitate Bernhard Kathans.
den üblichen grundlegend. Man trägt feste Schuhe und Windjacken, man ist auf dem Land. Kein Smalltalk, kein Kunstgeflunker. Die Gäste sind persönlich geladen, immer gerade so viele wie an einem Tisch Platz haben. Die Gastgeber kochen eigenhändig und tischen auf. Einen Galeristen, einen Sammler gibt es hier nicht. Essmuseum: Es handelt sich um eine Kredenz, in deren Schubladen Texte und Bilder arrangiert sind. Man zieht eine Lade auf, schaut, liest, unterhält sich darüber und öffnet die nächste Lade. Die Kredenz gibt Auskunft über die Küche der kleinen Bauern: Was früher gegessen wurde ist aufgrund veränderter Arbeitsbedingungen weitgehend überholt. Bär, Wildschwein, Fischotter, Krähen, Wachteln und andere Tiere sind aus den Kochbüchern verschwunden. Daher gibt es ein entsprechendes Kochbuch, in dem das Tier und seine Eigenheiten die Hauptsache sind. Wie man die jetzt verschwundenen und seltenen Gäste der Speisekarten einst ins Jenseits beförderte, dafür gab es genaue Anweisungen. Zwischen der Erfindung der Tierliebe und der Einführung von Geflügelschlachtscheren besteht ein direkter Zusammenhang. Die zunehmende Perfektionierung des Schlachtens verlangte nach dem entsprechenden Gegengewicht auf emotionaler Ebene. Überhaupt, das Schlachten, überhaupt, das Blut. Das Thema bewegt sich auf dem schmalen Grat zwischen Genuss und Ekel und schreit nach
Das ist ein Beweis dafür, dass Denken, wenn es denn ein Denken ist, nicht umsonst sein muss. Die Konstruktion des Gegensatzes: der Asket, der an sich selbst zu Grunde geht einerseits / und anderseits der „Übermensch“, an dem die anderen zu Grunde gehen. Das hatte damals – aus der Sicht von heute prophetische Qualitäten, auch wenn der Prophet haarscharf an der Wahrheit vorüberging, die er selber sichtbar machte, dass sich nämlich die ichlinge unter der Kategorie der Herrenmenschen im Kollektiv versammeln werden. Aber immerhin wusste Mach, dass etwas nicht zu Duldendes vorlag. Außerdem ließ Machs Perspektive diesen Zusammenhang ahnen von scharf getrenntem ich und der Lust der Einzelnen, im Kollektiv, in ihrer Erlösung, zu landen: das Umkippen von überspitzter Identität ins identitätsvernichtende-aufhebende Kollektiv. // ich-Verschlossenheit und Überempfindlichkeit des Künstler-ichs (eine der Fragestellungen, in denen Klischee und eventuelle Wirklichkeit untrennbar miteinander verflochten sind) … und weil ich schon vom ich rede, kann ich auch von mir reden – ich habe mich auch viel mit Künstlern befasst, von denen ich erst recht viel zu wenig weiß. Ich weiß, es ist völlig irrelevant, in keinem Sinn repräsentativ, gar kein Problem – ja, eigentlich nicht einmal mein Problem, aber würde ich meine Erfahrungen mit Künstlerpersonen zusammenfassen, so müsste die Zusammenfassung parallel zu: Man liebt den Verrat und nicht die Verräter lauten, nämlich: Ich liebe die Kunst, aber die Künstler … ich, das schneidende Wort. Am Schlimmsten wird es, wenn ein Künstler-ich irgendeine bürokratische Fortsetzung gefunden hat, einen Wurmfortsatz in Form eines Managers oder einer Künstlersekretärin – die Fortsätze vertreten die
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Interessen ihrer Schützlinge gerne geifernd und eifernd: Kooperation ja, für ihren Vorteil, Kooperation nein, wenn’s nichts bringt oder gar was kostet. // Ja, ich habe Ressentiments gegenüber der Branche, und ich erinnere mich zugleich vage und bestimmt an die Simplicissimus-Karikaturen aus der Zeit des Ersten Weltkriegs: Da sitzen im Bild ein paar Edel-Bohemiens grantig herum, die Weltgeschichte tobt sich blutig aus, und sie verhandeln selbstbezogen und mit größter Leidenschaft eines ihrer kunstbetrieblichen Anerkennungsprobleme. Mein Ressentiment läuft außer Konkurrenz, unsere Künstler lieben wir doch, mein Ressentiment ist nichtssagend und spricht nur gegen mich, aber was man an meinem Ressentiment vielleicht zur Diskussion stellen kann, ist die besondere, oder besser: ist meine Behauptung der besonderen Überempfindlichkeit und Überwertigkeit, mit der ein Künstler-ich (sowohl dem Klischee als auch der Karikatur entsprechend) auf der Welt ist. Egomanie als deformation professionelle, und das hieße auch, anders ging’s gar nicht – das, was sich als Kunst herauskristallisiert hat und als solche rezipiert wird, ginge gar nicht mit Leuten, die einsichtig, verhandlungsfähig, konsensbereit und so weiter wären … // Aber sind nicht alle Menschen, der eine mehr, der andere weniger, ich-besessen / sei es weil sie Menschen sind oder sei es, weil sie in der kapitalistischen Kultur Menschen sind? Mag alles sein. Dennoch die These, das Künstler-ich betreffend, will auf einen entscheidenden Unterschied hinaus. Was immer auch die anderen sind – die Künstler-
Humor. Kunst-Würste und Wurst-Künste, eine bunt gemischte und üppige Motivgeschichte der Wurst, lässt den Leser in Sinnlichkeit baden und mit einem Augenzwinkern die Grenze zwischen Ekstase und Grausen ausloten. Anders das Hörstück Eins ist Gott, eine Montage von Tötungsanweisungen, die sich allesamt sehr sachgerecht anhören. Dieser Text ist so geschliffen wie das Messer, von dem immer wieder die Rede ist. Die Reglementierung von Schlachtungsvorgängen ist in ihrer prinzipiellen Struktur nicht etwa überholt, sondern auf merkwürdige Weise und trotz moderner Technik immer noch aktuell. Der mitschwingende Ton, diese entschlossene Kälte, hört sich mehr als bekannt an: Das kalkulierte, sogenannt schonende Töten (von Tieren?) ist gleichzeitig banal wie erschreckend. Es enthüllt totalitäres Denken. Acht Bücher behaupten das tierschutzgerechte Töten, aber Eins ist das Kalkül. www.hiddenmuseum.net leistet die Nachbearbeitung dessen, was in Fraxern über die Bühne gegangen ist. Zielsetzungen und Inhalte der Ausstellungen werden mit den anderweitig verfolgten Buch- und Radioprojekten verknüpft. Im Museum werden nicht nur Bilder, Fotos, Objekte gezeigt; realisiert werden auch Toninstallationen, Filmarbeiten, Happenings, Lesungen. Kathan lädt Künstlerinnen und Künstler, mit denen er sich verwandt fühlt, zum Austausch ein. Die Internetseite dokumentiert das Geschehen nicht einfach, sie bildet nicht ab, sie zeichnet nicht nach. Sie denkt weiter, ist eine Reflexions-Werkstatt auf hohem Niveau. Eine Künstlergalerie sucht man vergebens, Leistungsschau und Personenkult bleiben aus, Geschäfte werden nicht gemacht. Die meisten Projekte finanzieren sich durch die eigene Arbeit der Beteiligten, einige private Förderer schießen gelegentlich zu.
Die Essensgewohnheiten verschiedener Zeiten interessieren, alles, was damit zusammenhängt, spielt eine wichtige Rolle im Gesamtbild. Hungerkünstler, eine Klanginstallation Kathans, bringt unter anderem Essphantasien von hungernden Schriftstellern zu Gehör. Die neun Texte sind Destillate aus neun Gesamtwerken europäischer Literatur: Gogol, Pirosmani, Vallejo, Charms, Weil, Scheerbart, Panizza, Katharina von Siena, Kafka – sie alle sind real verhungert, entweder aus Armut oder krankheitsbedingt oder im Streik. Kafka litt an Kehlkopftuberkulose und konnte nichts mehr schlucken, Panizza verkam in einer Irrenanstalt und Charms sehnte den Tod herbei, um seinem Elend zu entrinnen. Das Hörstück enthält keinerlei soziale Anklage. In Kathans Montagen steht der sprachliche Gestus im Vordergrund, Gedankenmuster werden auf deren Untergrund hin untersucht, verborgene Obsessionen offen gelegt. Die Die Not Not der der Künstler Künstler schwingt offengelegt. freilich mit. Kunst, Kunst und Leben, Wirtschaft und Kunst. Und immer wieder Autoren und ihre Bücher, Tagebücher, Briefe. Schriftzeugen unterschiedlicher Herkunft und Zeit sind eine unverzichtbare Quelle des „Hidden Museum“. Die Literatur, die wichtig ist, ist oft eine, die gerade wieder vergessen wird. Oder eine, die es immer nur im Verborgenen gegeben hat, weil es sie nicht geben durfte. Das eine hängt mit dem anderen zusammen. Zur neuen Porträtmalerei: Das Museum ist erst im Aufbau begriffen und installiert aus aktuellem Anlass eine Kamera mit Bewegungssensor. Fotografiert werden all jene, die ihre Neugierde über das neue Unternehmen nicht bändigen können, in Abwesenheit des Museumsbetreibers das Grundstück betreten und durch die Scheibe ins Innere des Raumes blicken. Etwas später wird über www.hiddenmuseum.net und unter dem Publikadem Titel TitelBankraub Bankraubdie dienachträgliche nachträgliche Publition derder so so Porträtierten angekündigt, waswas vorvor OrtOrt eikation Porträtierten angekündigt,
ich-Skepsis gegen Egomanie (Ernst Mach) Schwierigkeiten: Ich habe mich viel damit beschäftigt, mit dem ich, und zugleich viel zu wenig; ich weiß viel darüber: auch in dem Sinn von viel zu wenig / klugerweise habe ich nichts darüber publiziert. Aber ein unpublizierter Text (apropos Ernst Mach war Physiker, Psychologe und Philosoph, lebte von 1893–1916), ein unpublizierter Text von mir beginnt mit einer ernst, also analytisch gemeinten Parodie auf die Frage nach dem ich; er beginnt nämlich so: Es wird berichtet, dass an einem großen Tag der österreichischen Philosophen, einem Philosophentag, auch ein Streit stattgefunden habe, der dem ich bei Mach galt. Ein Anhänger des ichs bei Mach sei auf einen Gegner desselben gestoßen, was zu nichts Gutem führen konnte. Der Gegner des ichs bei Mach sei aber in besserer Form gewesen, sodass der Anhänger dieses ich sich nur dadurch retten konnte, indem er sich zurückhielt, und wohl versucht hatte, dieser Zurückhaltung den Anschein einer bedachten Geste zu verleihen. So weit so gut, und dennoch steckt in der berichteten altbekannten Szene ein Rätsel, ein Geheimnis. Bei dem Philosophen Mach gibt es ja kein ich, der Philosoph Mach soll seinerzeit ausgerufen haben: das ich ist unrettbar. // Und schon wieder ein Motto: Das ich ist unrettbar – und das in einer Zeit, genannt anno dazumal, als Botschaft an uns. Liest man Mach im Original, so sieht man, es geht ihm darum, dass das ich zwar ein praktisches Postulat ist – wir behandeln uns selbst und die anderen wie Einheiten, aber primär ist nicht das ich, sondern „die Empfindungen“. Mach gesteht zu: „Die Zusammenfassung der mit Schmerz und Lust am nächsten zusammenhängenden Elemente zu einer ideellen denkökonomischen Einheit, dem ich, hat die
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höchste Bedeutung für den im Dienst des schmerzmeidenden und lustsuchenden Willens stehenden Intellekt.“ Aber wissenschaftlich untersucht ist diese Einheit nach Mach sekundär, sie hält nicht, und schon gar nicht, was sie verspricht. Die Vorstellung von einer Unveränderlichkeit und überhaupt Festigkeit des ich führt in die Irre – die Empfindungen, die „in Wahrheit“ das ich bilden, wechseln und wenn einer tot ist, empfindet er gar nichts, und wo ist dann das ich? ich kann (zumindest innerzeitlich) kein Fundament für irgendwas sein, wenn es mit dem Tod nicht mehr ist, nicht mehr in der Zeit ist, sondern das Zeitliche eben gesegnet hat. Um das ich zu retten, muss man dann wenigstens eine kleinere Spekulation auf sich nehmen, nämlich die Unsterblichkeit der Person … // Aber das will ich gar nicht diskutieren. Wichtig ist Machs auf der Unrettbarkeit des ichs beruhende Ethik. Keineswegs wären nach Mach die Folgen der ich-Skepsis furchtbar, im Gegenteil: „Man wird dann auf das ich, welches schon während des individuellen Lebens vielfach variiert, ja beim Schlaf und bei Versunkenheit in eine Anschauung, in einen Gedanken, gerade in den glücklichsten Augenblicken, teilweise oder ganz fehlen kann, nicht mehr den hohen Wert legen. Man wird dann auf individuelle Unsterblichkeit gern verzichten und nicht auf das Nebensächliche mehr Wert legen als auf die Hauptsache. Man wird hierdurch zu einer freieren und verklärten Lebensauffassung gelangen, welche Missachtung des fremden ich und Überschätzung des eigenen ausschließt. Das ethische Ideal, welches sich auf dieselbe gründet, wird gleich weit entfernt sein vom Asketen, welches für diesen nicht haltbar ist, und zugleich mit seinem Untergang erlischt, wie von jenem des Nietzsche’schen frechen ‚Übermenschen‘, welches die Mitmenschen nicht dulden können, und nicht dulden werden.“
einen Sturm der Entrüstung auslöst. Freilich werden in Wahrheit die Fotos echter Bankräuber, aufgenommen von echten Überwachungskameras, gemeinsam mit den gestellten Aufnahmen von Freunden (neugierig durch die Museumsscheibe blickend) ausgestellt. Die subtile Ironie des Projekts, Ende 2008 übrigens zu allerhöchster Aktualität gelangt, wird übertönt: Wir sind alle potentielle Bankräuber [wobei weiterhin offen bleiben wird, wer wen ausraubt]. Doch dem Museum geht es nicht eigentlich um Provokation, sondern um das Bewusstmachen einander überlappender Muster. Die gute alte Porträtmalerei wurde endgültig von der Fotografie abgelöst und kommt allenfalls noch in Form polizeilicher Phantombilder zur Anwendung. Parallel dazu betrachte man die heutige Reproduktionsmedizin, die hochwertigste Zuchtmütter sammelt und gesunde und schöne Menschen züchtet. Repro Tech zwei, die entsprechende Versuchsanordnung des „Hidden Museum“, wird als System umfassender Kontrolle vorgeführt, das auf die Frage, ob Widerspenstigkeit, Eigensinn, Aufbegehren unter den Zuchtmüttern nicht vorkomme, antwortet: Das kommt vor und wird sich nie ganz vermeiden lassen. Das gab es auch in den Klöstern früherer Zeiten [...]. Von der Organisation der Klöster lässt sich viel lernen. Aber wir betreiben kein Kloster. Als gewinnorientiertes Unternehmen haben wir nicht nur an unsere Kunden, sondern vor allem an unsere Aktionäre zu denken. So schließt sich der Kreis. Wer berührt, stirbt. Das Hörstück verarbeitet das Thema Aids anhand alter Texte, die Siechtum und Verfall, den damit verbundenen Ekel und mögliche Ansteckungsgefahren miteinander verbinden. Was berührt wen und wer berührt nicht? Pestbeulen, Eiterbeulen, Wundbinden, Wundgestank, Blut und Aderlass. Ein ungewöhnlicher Aspekt schiebt sich in das bekannte Bild: Es gab lebensmüde Menschen, die,
aus Verzweiflung darüber, dass ihre gesamte Familie gestorben war, unbedingt angesteckt werden wollten. Sie wickelten sich in von Pest verseuchte Tücher, erkrankten aber nicht. Andere flohen aus Angst, wurden aber in kurzer Zeit von der Seuche eingeholt. Berührungsangst wirkt anziehend und häufig stirbt nicht, wer berührt. In seiner kulturhistorischen Arbeit zum Elend der ärztlichen Kunst kontrapunktiert Kathan die stets hervorgekehrte Erfolgsgeschichte der Medizin, die mit ihrer punktgenauen Technisierung in der Diagnostik, mit der Transplantation von Organen und Gliedmaßen und mit gentechnisch hergestellter Medikation einen vorläufigen Höhepunkt erreicht hat. Ohne zu denunzieren erzählt er eine andere Geschichte. Er zeigt die zunehmende Abwehr und Abgrenzung in der Heilkunst und dokumentiert die Symbolik von Näheverlust und Distanzierungsdrang, Furcht vor Beteiligung und Berührung. Die Medizin hat in ihrer 500-jährigen Geschichte ein Arsenal an Techniken zur Heilung entwickelt, damit aber eine Fragmentierung des Patienten in Körperteile und Einzelsymptome vorgenommen. Die Zersplitterung des zu heilenden Menschen dient der Abschottung vor dessen Leid, das immer auch das Leid des Arztes als Mensch ist. In der genauen Messung durch technische Geräte aber liegt mitunter die größte Fehlerquelle. Zahlreiche Patienten sind so zu Opfern einer exakten Medizin geworden. Stall und Haus / Heimat oder Religion / Körper und Tod: Um diese zentralen Themen und die damit bzw. untereinander verknüpften Identifizierungen kreist Bernhard Kathans konzeptionelle Arbeit, die sich in Summe einer Verfeinerung und weitestmöglichen Klärung verschrieben zu haben scheint. Die Arbeitsweise gleicht jener eines Röntgenapparates. Oberflächenstrukturen allein geben dem Kulturhistoriker wie dem Künstler keine ausreichenden Antworten
Vorläufige Notizen zum Künstler-ich // Ja, wie anfangen – zwei Mottos. Canetti: „ich: das schneidende Wort“; ein anderes von Dieter Bohlen: „Ich bin jeden Tag hundertprozent kreativ gefordert.“ // Also „Vermutungen über das Künstler-ich“ / und ein Tipp, warum nichts anderes geht als Vermutungen, und warum, was als Vermutung durchgeht, auch nur kaum geht – die Einheit der Kunst ist in zweierlei Hinsicht fraglich: Erstens hält keineswegs nur zu Unrecht ein jeder das für Kunst, was er dafür hält. Christian Demand dekonstruiert in diesem Sinn den Kunst-Begriff: „Es gibt so etwas wie die Kunst im Singular, eine durch bestimmte Eigenschaften definierte Menge von Artefakten, die Kunst sind, egal, ob wir persönlich sie für Kunst halten oder nicht. Als höchste Instanz für die Vergabe dieses Gütesiegels gelten in der Regel die Kunstgeschichte und das Museum – auch diese interessanterweise meist im Singular: ‚Kunst‘ ist – und war auch schon immer – ein Wertbegriff, das heißt ein Begriff, dessen Verwendung die Vorlieben und Abneigungen derer widerspiegelt, die ihn jeweils verwenden. Kunst ist somit schlichtweg alles, was wir so nennen, weil wir es, aus welchen Gründen jeweils auch immer, für interessant, aufregend, bereichernd oder beglückend halten. Da die Menschen aber erfahrungsgemäß sehr unterschiedliche Dinge für interessant, aufregend, bereichernd oder beglückend halten, ist die volkspädagogische Beschwörungsformel ‚Das ist Kunst!‘ entweder trivial (sofern sie nur darüber informiert, dass das fragliche Objekt beispielsweise im Museum ausgestellt wird) oder aber anmaßend (sofern sie unterstellt,
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dass, was ich persönlich für interessant halte, automatisch auch für alle anderen von Interesse zu sein hat).“ // Aber zweitens ist die Kunst (als Einheit) gegenüber den Künsten (als Vielheit) selbst fraglich. Ich habe einmal Markus Prachensky sagen hören: „Ich bin kein Künstler. Ich bin Maler.“ Und es ist klar, dass das Künstler-ich eines Malers sich unterscheiden muss von dem eines Dichters / und wenn man in der Theorie auf diesem weiten Feld Berührungspunkte einzeichnen kann, hat man schon Glück gehabt – vielleicht mehr Glück als Verstand. Dass im folgenden die Kunst vor allem als Literatur vorkommt, liegt an mir – aber vielleicht auch daran, dass die Sprachkunst gleichsam per se, von ihrer Berufung, semantisches Material zur Diskussion der Frage heranschafft. Und das ich selbst – vielleicht ist es selber nur illusionäre Vereinigung, eine Annahme, um von einer Einheit sprechen zu können. Ich glaub’s in keinem der Fälle – die Kunst ist mir ein Begriff und unter ich verstehe ich eine Art funktionierendes System. ich ist, unfrei nach Fichte, ein Setzen (eine Dynamik, also „das“ ich zu sagen, ist schon falsch), das ich ist das, was jeden in sich zusammensetzt, was sich vom Körper unterscheidet und diesen, der bei einem jeden allein und abgetrennt in der Welt herumsteht (man überschätze nicht die Nachhaltigkeit der Vereinigungsmöglichkeiten von menschlichen Körpern: von der Liebe bis zum Aufgehen in den Truppen- oder Orchesterkörper), also ich ist das, was sich vom vereinzelten Körper unterscheidet, diesem aber eine dazugehörige emotionelle und intellektuelle Einrahmung verpasst, damit die Einsamkeit noch größer, richtig unerträglich werden kann … //
auf seine Fragen, es gilt, in die Tiefenstruktur einzudringen und brauchbare Möglichkeiten zur Erfassung und Beschreibung des Vorgefundenen zu entwickeln. Die so entstandenen (Röntgen-)Bilder verweisen auf nächstliegende oder entgegengesetzte Phänomene, die ihrerseits wiederum rückverweisen und weiterführen. Die Kreisbewegung sucht ein Gesamtbild, eine Wirklichkeit, wie sie sich kaum je offen zeigt. Doch dieses Röntgenauge ist nicht kalt, auch dann nicht, wenn es sich äußerster Kälte stellt. Der Vorgang des Durchleuchtens geht von der Mitte aus, von jenem Ort, wo die Voraussetzung zum Mitgefühl, das Einfühlungsvermögen, bereits entwickelt ist. Ein Detail der Gründungsgeschichte des „Hidden Museum“ scheint darüber Auskunft zu geben: Eigentlich ein Zufall. Ich habe meinen Vater in seinen letzten Lebensjahren oft besucht. Er brauchte damals dringend eine Beschäftigung, die seinem Leben wieder einen Sinn gab. Da es an Baumaterialien nicht mangelte, begann ich, mit ihm ein kleines Gebäude im Gebirge zu errichten. Das hat uns beiden Spaß gemacht. Betrachtungsübung: Während der Irakkrieg angezettelt wird, sammelt Kathan den Kaffeesatz einer onkologischen Station, trocknet ihn und stellt das schwarze Pulver in schön gereihten weißen Schalen aus. Herrgottswinkel: Der zentrale Ort in der Bauernstube ist ein Winkel aus Wand + Wand + Plafond. Siderofile Neigungen: Moderne Wiedergänger stellen ihre Körpersubstanzen zur weiteren Luxusverwendung zur Verfügung (aus dem Eisengehalt im Blut eines Menschen etwa können Ringe geformt werden). Museumsgarten: Erde von E. T. A. Hoffmann und Kurt Schwitters, Eicheln von Gabriele Münter, Sämereien von Rudolf Borchardt, Unkraut der Brüder Grimm und Lorbeerfrucht von Pasolini – die Gräber bedeutender Geister liefern das Grundmaterial für Weiteres. Untergang eines Dorfes: Die Schauplätze
eines vergangenen Verbrechens, festgehalten in Fotografien von heute – und schon passt nichts mehr zusammen. Jedes einzelne von Kathans kleineren oder größeren Projekten wirft einen neuen Blick auf diese unsere Welt. Indem Vergangenes gehoben und umkreist wird, geht es doch nur um die Gegenwart, die im selben Moment ihrer Behauptung schon wieder Geschichte wird. Alt/Neu – für Kathan sind dies letztlich uninteressante Pole, deren saubere Scheidung kaum je einen Sinn ergibt. Mit seinem „Hidden Museum“ spürt er vielmehr den subtilen Regelverletzungen, Verschiebungen und Bruchlinien entlang gewohnter Muster nach. Genau darin nämlich fließen Vergangenheit und Gegenwart zusammen. Der gefräßige Garten: Direkter Anblick von der großen Fensteröffnung des Ausstellungsraumes, der Museumsgarten ist ein Bauerngarten mit hohen Stauden, unordentlich dastehenden und ineinander sich rankenden Gewächsen, die Blüten nicht farblich aufeinander abgestimmt. Von der ausgelesenen, halb im Erdreich vor sich hin rottenden Zeitung über die an Bäumen und Sträuchern hängenden getrockneten Kuhohren bis hin zum Kaffeesatz jener onkologischen Station – dieser Garten einverleibt sich die Dinge und verarbeitet sie vor aller Augen bis zu ihrem völligen Verschwinden. Doch dies ist nur ein Oberflächenbild, denn die Wahrheit ist, nichts hinterlässt keine Spuren oder, wie der Titel eines der zuletzt erschienenen Bücher Bernhard Kathans lautet: Nichts geht verloren.
Besetzung
Susanne Barta, Innsbruck → Bozen: Journalistin. Studium der Rechtswissenschaften in Innsbruck u. Wien, Master für Coaching und lösungsorientiertes Management an der PEF Privatuniversität Wien. Kulturpublizistin, Moderatorin, Coach. Sie gestaltet und moderiert die wöchentliche Radiokultursendung „studio 3“ im RAI-Sender Bozen, konzipiert und redigiert die Jahresschrift für Frauenkultur „alpenrosen“ und arbeitet an Projekten im Leseförderungsbereich. Moritz Eggert, Heidelberg → München: Komponist und Pianist. Zu Eggerts bekanntesten Werken zählt der Klavierzyklus „Hämmerklavier“, neben der Orchester- und Kammermusik liegt ein besonderer Schwerpunkt seines Schaffens im Genre Musiktheater. Bisher schrieb er neun abendfüllende Opern, mehrere Kurzopern und zahlreiche Werke für Tanztheater und Ballett. Zu seinen jüngsten Arbeiten gehören die Opern „Die Schnecke“ und „Freax“ und das vielbeachtete Fußballoratorium „Die Tiefe des Raumes“. Diverse Auszeichnungen (u. a. Komponistenpreis der Osterfestspiele Salzburg, Siemens Förderpreis). Werner Feiersinger, Brixlegg → Wien: Bildender Künstler. Studium an der Hochschule für Angewandte Kunst Wien und an der Jan van Eyck Akademie Maastricht (NL). 1999 Gastdozent an der Ecole Nationale des Beaux Arts de Lyon (FR), 2006–2008 Gastprofessor an der Hochschule für Angewandte Kunst, Wien. Ausstellungen (Auswahl): Wiener Secession (2008); „HARD ROCK WALZER – Contemporary Austrian Sculpture“, Villa Manin Centro d’Arte Contemporanea, Codroipo, Italien (2007); „Grund“, Künstlerhaus Bregenz (2007); Galerie Martin Janda, Wien (2005); Freespace, Z33, Hasselt, Belgien (2004). Thomas Feuerstein, Innsbruck → Innsbruck/Wien: Bildender Künstler. Studierte Kunstgeschichte und Philosophie. Seine Arbeiten und Projekte umfassen Installationen, Environments, Objekte, Zeichnungen, Malereien, Skulpturen, Fotografien, Videos, Hörspiele und Netzkunst. Jens Harzer, Wiesbaden → München: Schauspieler. Gehört seit 1993 dem Ensemble von Dieter Dorn an, erst an den Münchner Kammerspielen, dann am Bayrischen Staatsschauspiel. Gastengagements in Berlin, Hamburg, Frankfurt, Salzburg. Zusammenarbeit zuletzt mit Martin Kusej (Woyzeck), Jürgen Gosch (Onkel Wanja) und Andrea Breth (Verbrechen und Strafe). 2008 wurde Harzer von der Jury der Fachzeitschrift „Theater heute“ gemeinsam mit Ulrich Matthes zum Schauspieler des Jahres ausgewählt. Heidrun Holzfeind, Lienz → New York: Bildende Künstlerin. Studierte an der Akademie der Bildenden Künste in Wien und an der Cooper Union in New York. Ausstellungen & Screenings (Auswahl): Photocairo4, Kairo; Sala de Arte Público Siqueiros, Mexiko Stadt; Manifesta 7, Italy; MOMA, New York; Galerie im Taxispalais, Innsbruck; Festival der Regionen 2007; Grazer Kunstverein; European Media Art Festival Osnabrück; Architekturmuseum Basel; Exit Art, New York; Galerie Fotohof, Salzburg; Salzburger Kunstverein; MUCA Museum, Mexico City; Artists Space, New York; W139, Amsterdam; Media Space, Stuttgart; BAK, Utrecht; Kölnischer Kunstverein; Swiss Institute, New York; Videoart Center Tokyo. Stefan Hunstein, Kassel → München: Schauspieler. Studierte an der Hochschule für Musik und darstellende Kunst in Stuttgart. Engagements u. a. Schauspielhaus Bochum, Bayerisches Staatsschauspiel München, Salzburger Festspiele, Deutsches Theater Berlin. Zahlreiche Film- und Fernsehproduktionen. Arbeitet seit 1977 mit Fotografie. Thomas Mießgang, Bregenz → Wien: Kulturpublizist, Musikkurator. Studium Germanistik / Romanistik an der Universität Wien. 136/137
Seit 1981 journalistische Tätigkeiten u. a. bei Falter, profil, Die Zeit, ORF. Von 1994–1996 Referent der Wiener Kulturstadträtin Ursula Pasterik. Seit 2000 Kurator in der Kunsthalle Wien, seit 2007 leitender Kurator. Zahlreiche Buchveröffentlichungen und Kataloge, z.B. „Der Gesang der Sehnsucht – Die Geschichte des Buena Vista Social Club“ (Kiepenheuer & Witsch 2000), „Fidel Castro – Vaterland oder Tod“ (Fackelträger Verlag 2007). Walter Müller, Salzburg → Salzburg: Schriftsteller und Trauerredner. Ingeborg-Bachmann-Förderungspreis, drei KinderliederCDs, zwei Dutzend Theaterstücke, elf Bücher. Zuletzt erschienen: „Die Häuser meines Vaters“ (Fischer Taschenbuchverlag 2005), „Schräge Vögel“ (Jung und Jung 2007). Nick Oberthaler, Bad Ischl →Wien: Bildender Künstler. Studium an der Akademie der Bildenden Künste Wien und der Ecole supérieure des beaux-arts Genève. Einzelausstellung bei Layr Wuestenhagen Contemporary, Wien (Frühjahr 2009). Div. Ausstellungsbeteiligungen (Auswahl): „Landscope“, Galerie Thaddaeus Ropac, Paris und Salzburg; „Young at Heart (Remix) – Works from the Ellipse Foundation Collection“, Centro Cultural de Cascais / Portugal; „Under the Pain of Death“, ACF New York; „Manual CC“ (mit Julien Diehn), Galeria Kronika, Bytom / Polen (alle 2008); „Vacuum“, Centre de Création Contemporaine Tours; „Demolition“, Engholm Engelhorn Galerie, Wien (alle 2007); „Saufen bis zur Besinnlichkeit“ (mit Daniel Megerle), spaceinvasion, Wien (2006). Thomas Parth, Ischgl → Innsbruck: Publizist. Studium der Theologie und Germanistik (Dissertation über Thomas Bernhard: „Verwickelte Hierarchien“). Tätigkeiten (ca. chronologisch): Lehrer, Univ.-Lektor in Budapest, Lehrbeauftragter an Universität Innsbruck, Redakteur, Schreiber, Gestalter, Verleger. In Vorbereitung: „Zimmer frei“, Verlag editiones.com Jorge Reynoso Pohlenz, Mexiko → Mexiko: Kurator, Ausstellungsmacher. Studium der Architektur an der Universidad Nacional Autónoma de México (UNAM). War stellvertretender Leiter des Museo de Arte Carillo Gil und der Generaldirektion der Visuellen Künste an der UNAM. Gegenwärtig leitet er die Sala de Arte Público Siqueiros in Mexiko-Stadt. Er realisierte kuratorische Projekte mit Künstlern wie Santiago Sierra, Teresa Margolles, Jannis Kounellis und Dennis Oppenheim. Robert Renk, Innsbruck → Innsbruck: War u. a. tätig als Verleger und Leiter von zwei Kulturzentren. Herausgeber mehrerer Publikationen. Neben Tätigkeiten als Buchhändler, Theaterproduzent, Ausstellungs- und Literaturfestivalorganisator (u. a. Sprachsalz, Internationale Tiroler Literaturtage Hall), auch Erfahrungen als Nachtportier, Sportjugendleiter, Mittelstürmer und bei der Innsbrucker Rettung. Seit 2007 freier Kulturvermittler. Franz Schuh, Wien → Wien: Schriftsteller, Essayist. Zuletzt erschienen: „Memoiren. Ein Interview gegen mich selbst“ (Zsolnay Verlag 2008), „Hilfe!“ (Styria Verlag 2008), „Schwere Vorwürfe, schmutzige Wäsche“ (Zsolnay Verlag 2006, Auszeichnung mit dem Preis der Leipziger Buchmesse). Clarissa Stadler, Wien → Wien: Journalistin, Autorin. Studium der Handelswissenschaften. Seit 1997 in der Kulturredaktion des ORF tätig, zur Zeit Moderation des „kultur.montag“. 2005 erschien der Roman „N. Eine kleine Utopie“ im Literaturverlag Droschl. Aktuell ist die Ausstellung „TEXTPANIK“ im „apartment draschan“ in Wien zu sehen. Ilija Trojanow, Bulgarien → Wien: Schriftsteller, Übersetzer, Verleger. Zuletzt erschienen: „Der Weltensammler“, „Nomade auf vier Kontinenten“, „Der entfesselte Globus“(alle bei Hanser).
Roman Urbaner, Sillian → Graz: Historiker (u. a. Mitarbeiter der Österreichischen Historikerkommission), Ausstellungskurator, Lektor und Journalist (z. B. für FAZ und Süddeutsche Zeitung), monatlicher Kolumnist der Filmzeitschrift „ray“ sowie Mitherausgeber der digitalen Musil-Gesamtedition des Robert-MusilInstituts der Universität Klagenfurt.
Erika Wimmer, Bozen → Innsbruck: Autorin in den Sparten Prosa, Drama, Lyrik, Essay. Letzte Publikation „schau ich hinüber zu dir“, Gedichte (Offizin S., Meran 2006). Seit 1985 am Brenner-Archiv als Literaturwissenschaftlerin und Archivarin mit Editionsprojekten und Autorennachlässen befasst. Derzeit Koordination eines FWF-Projektes über Johannes E. Trojer. In Vorbereitung: 1 Projekt über Joseph Zoderer, 1 Buch über Krista Hauser.
Quart Heft für Kultur Tirol
Herausgeber: Kulturabteilung des Landes Tirol Anschrift der Redaktion: Circus, Kochstraße 10, A-6020 Innsbruck, office@circus.at Chefredaktion: Heidi Hackl, Andreas Schett Anschrift des Verlags: Haymon Verlag, Erlerstraße 10, A-6020 Innsbruck, T 0043 (0)512 576300, order@haymonverlag.at, www.haymonverlag.at Geschäftsführer / Verleger: Markus Hatzer Aboservice: T 0043 (0)1 740407814, aboservice@haymonverlag.at Mitarbeiter dieser Ausgabe: Susanne Barta, Moritz Eggert, Werner Feiersinger, Thomas Feuerstein, Jens Harzer, Heidrun Holzfeind, Stefan Hunstein, Thomas Mießgang, Walter Müller, Nick Oberthaler, Thomas Parth, Jorge Reynoso Pohlenz, Robert Renk, Franz Schuh, Clarissa Stadler, Ilija Trojanow, Roman Urbaner, Erika Wimmer Kuratoren: Ruedi Baur, Othmar Costa, Karin Dalla Torre, Eduard Demetz, Georg Diez, William Engelen, Martin Gostner, Helmut Groschup, Franz Hackl, Hans Heiss, Stefanie Holzer, Sebastian Huber, Gabriele Kaiser, Otto Kapfinger, Walter Klier, Martin Kofler, Gustav Kuhn, Christoph Mayr-Fingerle, Milena Meller, Walter Methlagl, Wolfgang Mitterer, Walter Niedermayr, Thomas Nußbaumer, Dominique Perrault, Wolfgang Pöschl, Helmut Reinalter, Robert Renk, Arno Ritter, Benedikt Sauer, Benno Simma, Gerhard Steixner, Vitus H. Weh, Lois Weinberger, Maria Welzig u. a. Linke Seiten – Inhalt und Konzeption: Franz Schuh Visuell-editorisches Basiskonzept: Walter Pamminger Farbkonzept: Peter Sandbichler Grafische Realisation: Circus, Büro für Kommunikation und Gestaltung, www.circus.at Druck: Höfle Offsetdruckerei Ges. m. b. H., Dornbirn Verwendung der Karte „Tirol –Vorarlberg 1 : 200.000“ auf den Seiten 106 / 107 mit freundlicher Genehmigung von Freytag-Berndt u. Artaria KG, Kartografische Anstalt. Sämtliche inhaltlichen Beiträge dieses Heftes sind Ersterscheinungen, Auftragswerke, Uraufführungen. ISBN 978-3-85218-589-7 · © Haymon Verlag, Innsbruck–Wien 2009 · Alle Rechte vorbehalten.