Quart Nr. 14

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Quart Heft für Kultur Tirol Nr. 14/09 E 12,–


Der Erste macht das Licht an.



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Inhalt

Gottfried Bechtold „Staffeleien“ Halotech Lichtfabrik Moussa Kone Inhalt

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Esther Stocker Originalbeilage Nr. 14

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bzw. Peter Stephan Jungk hat Beziehungen

74–79

Landvermessung No. 3, Sequenz 1 Vom Virgental ins Krimmler Tal. Peter Waterhouse war fast auf der Linie

80–93

Brenner-Gespräch (4): Der Baum ist rot. Johanna Bodenstab im Gespräch mit Raimund Abraham

6–15

Am Ende des Tunnels Markus Bstielers Lichtbilder aus der Tiefe

Raimund Abraham

16/17

Eigenwerbung

104/105

18–25

Picasso, Pils, Polenta Fritz Mang ist Kunstrestaurator und seit 36 Jahren auf Stippvisite in NY. Von Simon Schennach

106–113

Gottfried Bechtold „Staffeleien“ (Staffelei aus Ulmenholz, verleimt und bemalt, Acryl, 2009. Diverse Maße: Breite 79– 88 cm, Tiefe 48 –70 cm, Höhe 160 – 187 cm); „Malerhimmel“ (Ölfarbenschatulle aus Holz, bemalt, Ölfarbe, 37 x 31 x 5,5 cm, 2008) 26–35

Gutachten. Diesmal: Werte Vier Bereicherungen von Christoph Hinterhuber, Lydia Mischkulnig, Daniel Fügenschuh und Marco Dessi

114–123

Poetisches Paternoster C.W. Bauer am Grab eines Vergessenen der Literatur

124–131

Im Malerhimmel Der Künstler Gottfried Bechtold lässt Staffeleien antreten. Sylvia Taraba weiß Näheres.

Novoplastic / Rema print Hypo Tirol Bank

Geschmack von Kindheit Die Eismacher aus den Dolomiten: Susanne Schaber über eine süße Nord-Süd-Achse.

Kein Oben und kein Unten Wien / Favoriten – Uganda und weiter: August Schmidhofer porträtiert den Musikethnologen Gerhard Kubik

36– 41

94–103

132 133

Höfle Offsetdruckerei 134 Tirols Architekten und Ingenieurskonsulenten 135 Tirol Werbung M-Preis

136 137

42–51 Besetzung, Impressum

Vordergründiger Konsens „Randnotizen“ von Brigitte Mahlknecht

52– 63

„Die Unkenntlichkeit des Geschehens“ Franz Tumler, Schriftsteller, verehrt und umstritten. Von Johann Holzner

64–71

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Brenner-Gespräch (4): Der Baum ist rot. So viele Leute fahren über die Alpen. Quart bittet herausragende Persönlichkeiten an den Straßenrand zu einer Jause mit Gespräch. Folge 4: Der Architekt Raimund Abraham führt die Autorin Johanna Bodenstab durch Raum und Zeit. Bei dieser Gelegenheit konnte sie mit ihm über sein Austrian Cultural Forum in New York sprechen und ließ sich erklären, warum Architektur nicht zwangsläufig mit Bauen zu tun hat. Johanna Bodenstab: Sie haben einmal geschrieben: „Architecture is a project of desire.“ Wonach sehnt sich die Architektur? Raimund Abraham: Architektur verlangt, physische Zwangsvorstellungen poetisch in Frage zu stellen. Zum Beispiel muss eine Baulücke – architektonischer Ausgangspunkt für den Bau des Austrian Cultural Forums in New York – zuerst als Metapher der Leere erkannt werden und nicht als Bauplatz eines bereits vorgeplanten Gebäudes. Es ist genau diese Leere einer Raumhülle, die das Gebäude erahnen lässt und durch dessen Abwesenheit sich das Bauwerk bestätigt, verborgen im Ort der Sehnsucht. Die Kraft dieser Sehnsucht ermöglicht die Verwandlung von Leere zum Raum, nicht ein Festklammern, sondern eine Verankerung, die wieder eine neue Sehsucht erwecken kann und muss. B.: Für mich war interessant, dass sich beim Betrachten des Forums die Richtung der Fassade geändert hat. Zuerst kam sie in ihrer Neigung auf mich zu, also herunter. Aber dann hat sich das irgendwann umgedreht und die Dynamik ging nach oben, himmelwärts. Das ist ja auch eine unglaubliche Geste der Sehnsucht. Das Gegenteil von Festklammern. Und dann aber, bei der Begehung des Gebäudes, war die Berührung von Innen und Außen, an der Fassade entlang, faszinierend für mich. Es war, als ob das Außen immer stärker auf dieses Haus zukäme, als müsste der Innenraum von Stockwerk zu Stockwerk immer stärker dem Druck von Außen nachgeben. A.: Ja, wunderbar! Aber ich bin mir dieser Phänomene überhaupt nicht bewusst. Das sind die Dinge, die Sie sehen, aber ich sehe sie vielleicht gar nicht. Und das ist ja gerade das Schöne. Durch die Arbeit kommuniziert man mit der Welt. Verstehen Sie? Wenn sich nur das, was ich selber in meine Arbeit hineinlesen kann, manifestieren würde, wäre das wie Zwang.

Wenn ich baue, will ich den Benutzer nicht in eine vorgegebene Nutzung zwingen, sondern ich will Räume schaffen, die zu anderen Nutzungen anregen und auch zu anderen Vorstellungen. Wenn ich die konventionelle Definition eines Hauses akzeptiere, ergeben sich unweigerlich konventionelle Nutzungsbereiche – das heißt, es gibt einen Wohnraum, einen Eingangsraum, ein Schlafzimmer, ein Badezimmer, eine Küche. Oder ich denke eben nicht in dieser Konvention, sondern ich denke an Rituale, an Aktivitäten, an das Schlafen, an das Essen, an das Kochen, an das Baden. Und aufgrund meiner Auseinandersetzung mit der Frage, welche Räume ich diesen Aktivitäten, diesen Ritualen geben möchte, entsteht dann ein völlig anderes Konzept eines Hauses. Das heißt, ich habe das Problem anders definiert. Wenn ich nicht gewillt wäre, das Problem neu zu definieren, wäre ich in die Konvention eines bereits gelösten Problems gezwungen worden. B.: Geht es Ihnen also darum, mit Denkgewohnheiten zu brechen und Widerstand gegen Konventionen zu leisten? A.: Der Widerstand richtet sich immer gegen Umstände, in die man hineingeboren ist, die man nicht gewählt hat. Da fängt der Widerstand an. Gegen die Eltern, gegen den Ort, wo man geboren ist, gegen alles, was zur Gewohnheit wird, so dass man selber nicht mehr denken muss. Weil alle Umstände bereits von anderen bestimmt sind. Man braucht sie nur nachzuvollziehen. Oder man widersetzt sich dem und fragt sich: Vielleicht gibt es andere Möglichkeiten? Von dem Moment an, wo Sie überlegen, ob es andere Möglichkeiten gibt, von dem Moment an leisten Sie schon Widerstand. Wenn Kinder in den Kindergarten kommen, passiert es zum ersten Mal, dass jemand mit ihnen über ihre Zeichnungen spricht. Die Eltern sind meistens ja nicht interessiert, was die Kinder zeichnen. Ich rede nicht von der jetzigen Zeit – in



meiner Kindheit war es so. Und dann ist es das erste Mal, dass der Lehrer, die Kindergartenlehrerin sagt: Der Baum ist nicht rot, der Baum ist grün. Und von 30 Kindern werden 29 wahrscheinlich sagen: Jaja, wenn der Lehrer das sagt, wird der Baum grün sein. So früh fängt das an. Und der Eine wird aber sagen: Nein, mein Baum ist rot. Und von diesem Moment an ist man dann klassifiziert als Troublemaker – wie sagt man im Deutschen? B.: Ich weiß auch nicht – als Querulant? A.: Querdenker ist besser. Man muss sich früh entscheiden, welches Leben man leben will, das eines Querdenkers oder das eines Opportunisten. B.: Wenn Sie das sagen, fällt mir die Widmung zu Ihrem Werkkatalog „(UN)BUILT“ ein: „Für meinen Vater, der mich die Tugend des Arbeitens gelehrt hat“ – das klang mir gar nicht nach einem Querdenker. A.: Zu der Widmung für meinen Vater gibt’s eine ganz einfache Geschichte: Mein Vater war Kellermeister, er hat Wein gemacht. Und ich war für meine Mutter, was man im Boxen the white hope nennen würde. Max Schmeling zum Beispiel war the white hope, weil das Schwergewichtsboxen eher von Schwarzen dominiert wurde. Ich war am Gymnasium und sollte studieren, für meine Mutter war ich die Hoffnung auf einen gehobeneren Gesellschaftsstatus. Einmal, während der Sommerferien, bat mich mein Vater, ich solle ihm helfen, ein Fass auf einem großen zweirädrigen Karren zum Bahnhof zu führen. Er hat absichtlich einen Weg gewählt, der durch die ganze Stadt ging. Und ich hab mich geschämt. Dann aber hab ich begriffen, dass er meine Hilfe gar nicht brauchte, sondern mir nur die Gelegenheit geben wollte zu zeigen, dass ich die Arbeit schätze. Das war wie eine Erleuchtung! Und ab diesem Jahr hab ich immer in den Ferien gearbeitet – zum Beispiel habe ich in der Straße, wo ich wohnte, als Hilfsarbeiter den neuen Kanal gegraben. Alle Leute sind vorbeigegangen und haben mich gesehen. Plötzlich war ich stolz darauf. Auf diese Geschichte geht die Würdigung meines Vaters in meinem Buch zurück. Eine Manifestation des Widerstands gegen mich selbst. B.: Sie sind 1964 von Österreich in die USA ausgewandert und leben seit 1971 in New York. Würden

Sie sagen, dass Ihre Herkunft in den über 40 Jahren Ihrer amerikanischen Existenz eine Konstante bildet? A.: Ja, natürlich. Der eigenen Herkunft kann man sich doch nie entziehen, das will ich auch gar nicht. Allerdings gibt es eine so genannte Evolution der Gefühle. Bedingt durch neue Erfahrungen oder veränderte Umstände ändern sich auch die Gefühle. Und das heißt, dass mein jetziges Gefühl für Österreich anders ist als vielleicht vor 25 Jahren. Zum Beispiel mein Verhältnis zur Landschaft. Wenn ich nach Lienz fahre, wo ich geboren bin, wo ich alle Berge bestiegen habe, die man sieht, dann sind mir diese Berge inzwischen so fremd geworden, als ob ich nie dort oben gewesen wäre. In der Erinnerung ist mir diese Landschaft wohl sehr vertraut, aber mit den Gefühlen, die ich jetzt habe, hat sie wenig zu tun. Jetzt, in dieser Phase meines Lebens, ist mir eine Landschaft in Mexiko oder im Westen der USA, in Montana, Wyoming oder Arizona, wesentlich vertrauter; obwohl sie mir eigentlich neu ist und erst später in mein Leben kam. Meine Sensibilität gegenüber der Landschaft hat sich geändert. Sie ist größer geworden, so dass ich mich in der Landschaft, in die ich hineingeboren worden bin, jetzt beengter fühle … B.: Die Landschaft der Erinnerung finden Sie heute also woanders. A.: Ich habe ein Haus in Mexiko. Mexiko ist mir sehr nahe. In einer eigenartigen Weise erinnert es mich sehr an meine Kindheit. Wie sich dort zum Beispiel in kleinen Städten das Leben auf der Straße abgespielt hat. Wenn Sie jetzt in Österreich im Sommer durch eine kleine Stadt fahren oder einen kleinen Ort – der ist ausgestorben. Kein Mensch ist auf der Straße. Früher sind die Leute vor den Häusern gesessen, wir Kinder haben auf der Straße gespielt, das war unsere Welt. Europa ist mir fremd geworden. Vertraut und fremd zugleich. Ich sage immer, wenn einem das Vertraute fremd geworden ist, ist es fremder als alles andere. B.: Was hat es für Sie bedeutet, das Kulturinstitut zu bauen, ein Gebäude, das Österreich in Manhattan repräsentiert? A.: Das war mir nie bewusst. Ich wollte eher meiner Wahlheimat New York ein Geschenk machen. Für mich ein seltenes Privileg.


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B.: Welche Überlegungen haben bei der Entwicklung dieses Projektes außerdem eine Rolle gespielt? A.: Die bewusste Überlegung war, in einem absolut reduzierten physischen Raum ein vertikales Gebäude zu schaffen, das 7,5 m breit ist und 90 m hoch ist. Die eigentliche Herausforderung war für mich also die äußerst radikale Limitation des Projekts durch die vorgegebene Raumhülle. Und ich habe genau diese Raumhülle verwendet und deren Umriss geometrisch amplifiziert und dadurch eine völlig neue architektonische Sprache für die Fassade eines vertikalen Gebäudes geschaffen. Auch die Auseinandersetzung damit, wie man in diesem absolut begrenzten Raum eine Nutzung verwirklichen sollte, die im ersten Augenblick fast unmöglich erschien, war ein zentraler Aspekt. Und die Frage, wie ich alle Anforderungen der Bauordnung erfülle und die Nutzungspläne berücksichtige, war für mich genauso wichtig wie die formale Geste des Gebäudes. Tatsächlich war für mich der entscheidende Moment des ganzen Projekts die Idee der so genannten Scherenstiege – eine New Yorker Stiege, bei der man zwei getrennte Feuerstiegen in einem Stiegenhaus unterbringt, die sich zwischen jeder Etage kreuzen. Und das ist sich auf dieser Breite von 7,5 m auf 5 cm ausgegangen. Mit allen komplizierten Forderungen der Bauordnung – also wie viele Stufen man haben darf, wie schmal die Stiege sein darf – war es möglich, diese Stiege an der Rückseite des Gebäudes zu bauen und zwei Notausgänge von jedem Geschoß anzulegen. Der Moment, wo ich diese Lösung hatte, war dann wirklich die Befreiung für das Projekt. Denn sonst hätten allein die Stiegen so viel Raum eingenommen, dass für die Nutzung selbst kein Platz mehr übrig geblieben wäre. Wir haben jetzt trotz der Schmalheit des Gebäudes relativ großzügige Räume. B.: Inwiefern ist die architektonische Sprache der Fassade neu? A.: Ich sah die Fassade nie als Fassade, sondern als eine räumliche, vertikale Artikulierung einer Raumhülle als Gegenkraft zur Schwerkraft. Das gesamte Gebäude besteht aus drei elementaren Türmen: der Stiegenturm, das Skelett und der aufsteigende und zugleich fallende Glasturm. Im Größenverhältnis zu anderen vertikalen Gebäuden in New York ist ja das Kulturinstitut ein winzig kleiner Turm. Ich wollte

eben eine Architektur schaffen, die durch ihre Präzision und eine neue Artikulierung der Sprache stärker wirkt als die anderen Türme in der Umgebung mit ihrer schieren Größe. Es gibt ein Foto, auf dem das Gebäude zwischen all diesen höheren Türmen steht und weit dominanter ist. Auch eine Art von Sehnsucht, dass die Kleinheit mächtiger ist als die Größe. B.: Ich bin überrascht, wie fest die Arbeit, die Sie machen, letztlich doch auf der Erde steht. A.: Jaja, das hat vielleicht schon damit zu tun, woher man kommt. Zum Beispiel ist mir im Rückblick klargeworden, dass ich sehr viel haptische Präzision beim Klettern gelernt habe. Beim Klettern hängt das Leben davon ab, wie gut man sieht. Wenn man irgendwo plötzlich nicht mehr weiterkann, muss man den nächsten Griff entdecken. Dieser existenzielle Druck verändert die Perzeption der physischen Wirklichkeit. Die Augen werden schärfer. Das heißt, die Augen sind an sich ein mechanischer Apparat. Es hängt von der Intensität ab, mit der man sieht, welche Bilder erzeugt werden. Ich glaube, wenn man das Auge schärft, nach außen zu sehen, schärft man auch die Vorstellung. Die Vorstellung ist ja eine Revision des Sehens. B.: Welche Rolle spielt für Sie das Zeichnen? A.: Ich ahne das Bauen voraus, wenn ich zeichne. Ich illustriere nicht, sondern ich konstruiere. Das heißt: Die Zeichnung entfaltet eine eigene Realität. Sie ist nicht Zwischenstufe zur gebauten Realität, sondern autonome Wirklichkeit der Architektur. Zeichnen heißt, die Abwesenheit von Körpern zu vermessen. Wenn man eine Idee zeichnet, übersetzt man diese Idee in Architektur wie in eine andere Sprache. Die Grammatik der Architektur aber ist die Geometrie. Und die Geometrie wird schon verletzt, wenn man sie zeichnet. Nehmen Sie zum Beispiel eine Tangente – die Tangente ist eine Gerade, die einen Kreisbogen an einem Punkt berührt. An einem Punkt. Selbst mit den präzisesten Werkzeugen ist es unmöglich, das zu zeichnen. Das bedeutet also, dass man schon durch das Zeichnen die Grammatik seiner eigenen Sprache verletzt. Es ist im gesamten Prozess des Bauens entscheidend, dass man sich das immer wieder ins Bewusstsein ruft, diese Limitation, aber auch diese Empfindlichkeit der verwendeten Sprache. Wenn es schon nicht möglich ist, die Berührung von Linie


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und Kurve in einem einzigen Punkt zu zeichnen, wie schwierig muss es dann sein, Präzision in der physischen Materialität umzusetzen, wo man einen Stein auf den anderen legt? B.: Bisher hat sich unser Gespräch sehr an der Machbarkeit orientiert und ist immer wieder zum Realen, zur Materialität zurückgekehrt, vor der sich die Idee beweisen muss. Sie haben aber auch imaginäre Häuser gezeichnet, z. B. ein Haus mit einer Blumenwand oder das Haus mit den Vorhängen – Projekte, die gar nicht gedacht waren, überhaupt gebaut zu werden. A.: Aber für mich sind sie gebaut! Gewisse Vorstellungen möchte ich gar nicht ins Gebaute umsetzen. Zum Beispiel das Haus mit den Vorhängen: Ich möchte gern, dass sich die Vorhänge ununterbrochen im Wind bewegen. Und wenn ich sie zeichne, kann ich diesen Zustand bewahrheiten. Wenn ich das Haus baue, dann hängen die Vorhänge, sobald kein Wind geht. Daran zeigt sich, dass es eben verschiedene Realitäten gibt. Es gibt nur eine Realität und das ist die gebaute. Das ist die Ansicht der Pragmatiker. Ich verdanke es den glücklichen Umständen meines Wiener Aufenthaltes in den 60er Jahren, dass ich mich von der Zwangsvorstellung, ein Architekt müsse bauen, befreien konnte. Deshalb habe ich wesentlich mehr gezeichnet als gebaut. Ich hab’s nicht aufs Bauen angelegt. Um Architektur zu machen, braucht man an sich nur einen Bleistift und ein Blatt Papier. In der Poesie der Architektur ist die Zeichnung einfach eine andere Realität. Wenn ich mir etwa einen Raum eines Hauses vorstelle, der umgeben ist von Blumen, die im Lauf der Zeit zu Erde werden, dann habe ich natürlich ein Bedürfnis, diese Vorstellung zu visualisieren, sie zu zeichnen. Dabei ist es völlig nebensächlich für mich, das zu bauen. Die Zeichnung ist die Materialität, die notwendig ist, um diese Idee zu verifizieren. Projekte, die für einen spezifischen, identifizierbaren Ort bestimmt sind, möchte ich bauen. Wenn ich wirklich baue, zeichne ich wenig. Da bin ich zu ungeduldig und will sofort sehen, wie das gebaut wird. Es gibt gewisse Phasen, wo ich unmittelbar in die physische Realität eines Bauwerkes eintauche, und dann baue ich Modelle statt zu zeichnen. B.: Anhand des Modells stellen Sie sich also gewissermaßen en miniature den Prozess des Bauens vor, wäh-

rend Sie im Zeichnen Vorstellungen von Architektur realisieren. Wie aber entwickeln sich neue Ideen? A.: Nehmen Sie als Beispiel die Problematik des scheinbar einfachen Bauelements „Fenster“. Dafür gibt es bildliche Vorstellungen und Aufzeichnungen aller gebauten und gezeichneten Fenster. Doch nur, wenn Sie diese spezifische Erinnerung negieren und zum wirklichen Kern der Sache vordringen, nämlich in die Bereiche der Optik, der Belichtung und letztlich der Durchdringung einer Raumhülle, können Sie erhoffen, eine neue, bisher unbekannte Art und Form des Fensters zu erfinden. B.: Beruht das Neue für Sie auf einem Vergessen? A.: Im Gegenteil. Entscheidend ist, dass man nach den Wurzeln gräbt. Originalität heißt ja nichts anderes als die Suche nach dem Ursprung. Wenn man die Wurzeln freigelegt hat, kann man sie neu interpretieren. Darum geht’s mir. Das heißt, irgendwo ist bei mir immer eine archaische Wurzel zu spüren, weil ich immer zum Ursprung zurückgehen will. Originalität bedeutet eine andere Form von Neuheit, die nicht einfach nur neu ist, sondern wahrhaftig, weil sie um ihren Ursprung weiß und ihre Wurzeln in Frage stellt. New und true reimt sich ja im Englischen. B.: Sie gehen also nach vorn, indem Sie zurückgreifen. Ich denke zum Beispiel an Ihren Wettbewerbsbeitrag für ein Denkmal am Ground Zero und an die Rolle, die der Lichteinfall dabei spielt. Mich hat das an die keltische Grabanlage von Newgrange in Irland erinnert, wo zur Wintersonnenwende ein Lichtstrahl durch eine winzige Öffnung über dem Eingang genau bis in die Grabkammer fällt … A.: … und wo eben dann die physische Konfiguration die Abwesenheit des Lichtes bestätigt. Im Ground Zero-Denkmal gibt es vier Momente: Die zwei Flugzeuge sind in die beiden Türme des World Trade Center hineingeflogen, und die beiden Türme sind zusammengestürzt. Insgesamt handelt es sich also um vier Zeitelemente, die durch Schlitze manifestiert sind: Durch sie fällt das Licht genau zu der Tageszeit ein, als diese vier Momente am 11. September 2001 ursprünglich eingetreten sind. Es ist dasselbe Prinzip wie Stonehenge, nur ist es formal anders umgesetzt. Das Prinzip ist alt und meine Umsetzung ist neu.


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B.: Aber es gibt wohl nicht nur die Wurzeln der Architektur selbst, oder auch die eigenen Wurzeln des Architekten. Der Ort, an dem gebaut wird, hat doch auch seine eigenen Wurzeln. A.: Der Ort ist das Entscheidendste in der Architektur überhaupt. Die Sprachwurzel von Ort geht nach Heidegger aufs Germanische zurück und meint die Spitze einer Lanze. Diese Spitze der Lanze kann ich verschiedenartig interpretieren: Entweder indem ich sie ins Licht halte, dann wird die ganze Energie des Lichtes dort gebündelt und wieder befreit. Oder ich drehe die Lanze um, stoße sie in die Erde und nehme, indem ich den Punkt bestätige, den Ort in Besitz. Dabei beschädige ich ihn natürlich auch. Jede architektonische Manifestation ist eine Verletzung des Ortes. Jeder Ort hat ein gewisses Gleichgewicht und dieses Äquilibrium wird verletzt, wenn ich baue. In diesem Bewusstsein kann ich Architektur aber auch wie einen Versöhnungsprozess sehen, indem ich die Verletzung wieder heilen will. Das ist so ähnlich wie beim Kochen. Wenn man Tiere tötet, um sie zu essen, dann muss man sie dadurch ehren, dass man sie gut kocht. Schlechtes Kochen ist ein Sakrileg. Das heißt, im Ritual des Kochens sucht man Versöhnung für das Töten des Tieres. Und genauso ist es in der Architektur. Wenn man ein Loch in die Erde gräbt, verletzt man die Erde. Darum haben die Indianer, die die Erde als heilig betrachtet haben, ihre Tipis erfunden: Zelte verletzen die Erde nicht. Dieses Bewusstsein um die Verletzlichkeit der Erde sollte eine Sensibilität fordern, die die Architektur an sich entwickeln muss. B.: Dabei hat mich die Gewalt, die aus manchen von Ihren Entwürfen spricht, beinahe erschreckt. Da gibt es das „Monument to Aviation“ (Denkmal der Luftfahrt), wo ein Flugzeug mit einer Wand kollidiert. Es gibt „Seven Gates to Eden“ (Sieben Tore ins Paradies), dieses Haus, das von verschiedenen Toren durchschlagen, zerschnitten, gevierteilt, hingerichtet wird. Sogar Ihr „Hinge-Chair“ (Scharnierstuhl) ist zuerst zersägt und dann mit einem Scharnier geflickt worden.

baut, wird dieser Ursprung wieder unsichtbar und unkenntlich. B.: Aber Ihr „Monument to Aviation“ ist nicht versöhnlich. Es nimmt beinah vorweg, was am 11. September 2001 in New York passiert ist. A.: Ja, das wurde so interpretiert. Aber ich wollte eigentlich einen Flieger für einen Moment zeitlich zum Stillstand bringen. Aus der Zeit kann man ja nicht aussteigen. Was aber interessant ist, ist die Manipulierbarkeit der Zeit. Zum Beispiel gibt es im amerikanischen Football oder auch im Basketball time-outs. Das heißt, an sich wird die Zeit künstlich unterbrochen. Es wird zwei Minuten lang nicht gespielt, dann läuft die Zeit wieder weiter. In Wirklichkeit ist die Zeit aber weitergegangen. Das heißt, es werden innerhalb der Unendlichkeit der Zeit und innerhalb der absoluten Kontinuität der Existenz Momente geschaffen, die in ihrer Künstlichkeit eine Unterbrechung ermöglichen. Und ohne eine solche Künstlichkeit könnten wir nicht überleben. Wenn wir bewusst der Unendlichkeit und der unendlichen Kontinuität der Zeit ausgesetzt wären, könnten wir nicht existieren. – Das „Monument to Aviation“ hat eine gemeinsame Wurzel mit der Architektur: Bevor sich Architektur formal manifestiert, ist sie ein Ereignis. Das Graben, das Aufschütten ist ein Ereignis. Auch das Flugzeug zum Stillstand zu bringen ist ein Ereignis. Um das physisch möglich zu machen, baut man eine Wand, in der das Flugzeug dann sozusagen gefangen ist. Am Ende manifestiert sich die Architektur physisch, doch zuerst muss sie sich als Ereignis bestätigen. B.: Sie denken Architektur also nicht statisch, obwohl sie doch etwas ist, was da steht. A.: Sie steht aber erst später da. Bevor es einen Sessel gibt, gibt’s das Sitzen. Man muss sich mit dem Sitzen auseinandersetzen. Mit dem Sitzen als Notwendigkeit und Sehnsucht. B.: Und was gibt es, bevor’s die Architektur gibt?

A.: Und das Scharnier versöhnt den Schnitt dann wieder. Aber nur durch den Schnitt kann der Sessel seinen Ursprung zeigen. Dieser Ursprung ist das Rückgrat des Sitzenden. Er wird durch den Schnitt freigelegt. Wenn man den Stuhl wieder zusammen-

A.: Da gibt’s nichts.


Raimund Abraham

Air Ocean City 1966

IBA-Berlin Residential Block 1980

Tower of Wisdom (Nine Projects for Venice) 1980 16/17

House with Curtains 1975

Monument to Aviation 1979

Austrian Cultural Forum 1992, built 2002


Wellness Center. Beijing China 2004, built 2007

Inner City 2007

Musiker Haus Raketenstation Hombroich 1996, built 2009

Ground Zero New York 2001


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Geschmack von Kindheit Nahezu alle Eisverkäufer zwischen Zürich, Hamburg und Wien kommen aus einem kleinen Dolomitental. Zu Besuch bei den Eismachern im Val di Zoldo. Von Susanne Schaber

„GEFRORENES!“ Sonne. Die Luft – ein Biskuit. Beschlagen das Glas voll von eiskaltem Wasser. Und hin zu den milchigen Alpenterrassen – Ins Land der Schokolade: unser Traum, wie er fliegt.“ (Ossip Mandelstam) Koffer. Überall Koffer. Sie liegen unterm Bett, sie stehen im Flur, griffbereit. Wir sind wie die Schwalben, lacht Silvio Molin Pradel, wie die rondini: suchen im Frühling das Weite, kommen im Herbst zurück. Silvio Molin Pradel ist Eismacher. Einer von vielen gelatieri aus dem Val di Zoldo, die dem Rhythmus der Vögel folgen: Ende Februar ziehen sie in ihre Eisdielen in Göteborg, Hamburg oder Wien, um im Oktober wieder heimzukehren und in ihrer Heimat zu überwintern, in Forno di Zoldo oder in einem der ungezählten Weiler von Zoldo Alto. Oder in Zoppè di Cadore, hoch über dem Tal. Von hier oben aus, so wird berichtet, habe sich vor gut hundertfünfzig Jahren das Handwerk des gelatiere im Val di Zoldo verbreitet und von dort aus in Europa, ja mehr noch: in der ganzen Welt. Ein Tal hängt am Eis, an cioccolato, vaniglia und limone, an fragole, fiocco und nocciolone. Das Val di Zoldo ist ein Hochtal in den östlichen Dolomiten. Cortina d’Ampezzo liegt hinter der Bergkette, auch Belluno ist nicht weit. Bei Longarone der Wegweiser: Zoldo. Felswände auf beiden Seiten des Flusses Maè. Dichte Wälder ziehen die Abhänge hinauf, ein paar Gehöfte erzählen von Kälte und Einsamkeit, von langen Wintern ohne Sonne. Entlang der Straße, die sich in Kurven nach oben windet, sind Netze gespannt. Man hat Angst vor Steinschlag. Erst bei Forno di Zoldo wird es lichter. Das Tal öffnet sich, der Blick zieht hinauf zum Monte Pelmo, der wie ein Wachhund über den Dörfern thront, zu den Zacken und Zinnen von Sassolungo di Cibiana, Bosconero und Civetta. Auf den Dächern der Häuser türmt sich der Schnee. Allein das helle Blau des Himmels lässt den Frühling erahnen. Unruhe liegt in der Luft, Ungeduld. Es ist wieder Zeit, sich auf den Weg zu machen, aufzubrechen in die großen Städte Italiens, nach Österreich, Deutschland und Frankreich. Auch bei den Molin

Pradels steht das Gepäck bereit. Zusammen mit seiner Frau Deborah führt Silvio in Wien den „Eissalon am Schwedenplatz“, den vor ihm schon Vater, Großvater und Urgroßvater betrieben haben. Im Frühjahr 1992 hat er ihn übernommen, gerade einmal 30 Jahre alt. Kein leichter Job. Um sieben Uhr früh fährt der Milchwagen vor, kurz darauf laufen die Eismaschinen an. Milch, Sahne, Joghurt oder auch Topfen gehen mit Früchten und Gewürzen bekannte, aber auch neue Verbindungen ein. Wenn um zehn Uhr die ersten Gäste eintreffen, stehen 25 der insgesamt über 100 Sorten in ihren Boxen bereit. Bis elf Uhr abends läuft das Geschäft, sieben Tage in der Woche. Ende September schließt der Salon. Kofferpacken, rein ins Auto und auf die Autobahn gen Süden. Bei Tolmezzo klopft das Herz schneller, hinter dem Mauria-Pass tauchen die Dolomiten auf. Calalzo, Pieve di Cadore, Longarone. Noch zwanzig Kilometer. Endlich zuhause. „Wir brauchen oft drei bis vier Wochen, um uns zu regenerieren“, erzählt Deborah Molin Pradel. Es dauert, bis der Kopf frei und der Körper wieder leichtfüßig wird. Endlich Zeit haben, Zeit für die Kinder, für die Eltern und Freunde, die man fast sieben Monate lang nicht gesehen hat. Mit den Eismachern kehrt Leben in die Dörfer zurück. Viele der Häuser stehen den Frühling und Sommer über leer, etwa 40 Prozent der 4000 Zoldani pendeln. Daheim bleibt nur, wer Arbeit am Bau gefunden hat, im Forst oder in den nahe gelegenen Fabriken von Luxottica, dem weltweit größten Brillenhersteller. Im Herbst warten alle auf die Autos mit den ausländischen Kennzeichen, auf die Geschichten aus den fernen Sommern. Nun wird es gemütlich. Schon bald nach dem Frühstück treffen sich die ersten im „Tana de l’Ors“, der Bärenhöhle, wie die Osteria im Herzen von Forno di Zoldo heißt. Ein kleiner Prosecco am Vormittag, Valdobbiadene ist nicht weit. Es kann auch ein Merlot sein oder ein Pinot Grigio. Oder auch tschechisches Bier. Das kommt im „L’Insonnia“ auf den Tisch, dem Schlupfwinkel der Schlaflosen. Man muss ihn finden: Le Bocole ist ein Flecken jenseits der Maè, unweit eines Campingplatzes. Ein altes Steinhaus mit kleinen Fenstern und einer doppelten Holztür duckt sich an den Hang. Schon um zehn Uhr früh stehen die Autos auf dem Parkplatz. HA, DLG, RD. Hagen, Dillingen an der Donau, Rendsburg-Eckernförde. Am Nachmittag stoßen die Liftangestellten,



Maurer und Forstarbeiter zu den Eismachern. Jeder kennt jeden. Männer allen Alters, keine einzige Frau. In einer Kammer neben der Schank der fogher, ein offener Herd. Auf den Bänken rund um das Feuer lagern die Raucher. Ab und zu kreuzen ein paar Touristen auf, das „L’Insonnia“ gilt als Geheimtipp. Die Dolce & Gabbana-Jacken hängen auf den Ständern des kleinen Speisesaals, der erst vor ein paar Jahren dazugebaut wurde. Dort ist alles neu, poliert, proper. Auf jedem Tisch eine Flasche Hauswein und eine Karaffe mit Wasser. Speisekarte gibt es keine. Nicht nötig, das Menü ist bekannt: eine große Schüssel mit Krautsalat, eine zweite mit dicken Bohnen, in einem leichten Essigsud gegart. Dann rollt ein hölzerner Servierwagen aus der Küche, darauf ein riesiges Stück Polenta, gut fünf Zentimeter dick. Ein ordentlicher Batzen davon landet auf dem Teller. Der Auftakt für ein Menü, wie es Holzfällern und Bergleuten schmeckt. Es beginnt mit einem spezzatino, einer Art Kalbsgulasch, gefolgt von einer dicken Scheibe kross gebratener Wurst, dem musetto. Schließlich der pastin, eine Spezialität dieser Gegend: Wurstbrät von der Salami, über Holzkohlen gegrillt. Zum Abschluss noch ein ordentliches Stück in Mehl frittierter Käse, wieder mit Polenta, wie alle Gänge. Die cucina à la Val di Zoldo macht satt und glücklich. Ohne Grappa geht gar nichts. Die Abende werden lang. Im Sommer sei hier weniger los als im Winter, erzählen die Zoldani. Ein paar Touristen suchen Ruhe, andere die Herausforderung des „Anello Zoldano“, einer sechs Tage dauernden Tour durch die Berge rund um das Tal. Und überhaupt: Das mondäne Leben wohnt anderswo, drüben im Cadore, in Cortina d’Ampezzo. In den Auslagen der Juweliere Uhren und Schmuck von Bulgari und Cartier, auf den Weinkarten die feinsten Gewächse aus dem Piemont und der Toskana. Pelzmäntel, Moonboots, Diskotheken. Das Val di Zoldo bietet das Kontrastprogramm. Der Tourismus ist jung, erst vor 40 Jahren wurde die Civetta-Bahn gebaut. In Pecol entstanden Hotels und Pensionen, Schischulen und Sportgeschäfte. Man ist Teil des „Dolomiti Superski“ (ein Zusammenschluss aller Wintersportgebiete) und steht doch im Schatten bekannterer Orte wie Corvara, Arabba oder Wolkenstein. Wer nicht in Pecol lebt, dem fallen die Touristen nicht weiter auf. Die Kirche von Chiesa, ein Bau aus dem 15. Jahrhundert, ist verschlossen. Niemand zu sehen, kein Pfarrer, kein Mesner. Kein Widum, bei dem man anklopfen könnte. Auf dem kleinen Parkplatz steht ein mintgrüner Fiat 600, Baujahr 1957. Die Fenster

sind heruntergekurbelt, im Inneren des Wagens steckt ein dicht bestückter Schlüsselbund. Hier wäre mehr zu holen als bloß das Auto, ein Liebhaberstück. Doch mit Dieben scheint niemand zu rechnen. Ein paar Kilometer weiter, auf der anderen Talseite, liegt Coi. Die Figuren der Fresken an der Kirchenmauer von San Pellegrino stecken bis über die Köpfe im Schnee. Niemand da, der mit ihnen redet. Ein Kastenwagen fährt vor, die Heckklappe geht auf. Auf der Ladefläche stapeln sich Kisten und Regale. Zwiebeln, Salat, Karfiol und Orangen, auch Schokoriegel und Kekse. Eine erste Kundin biegt um die Ecke, dann eine zweite und dritte, ein Mann mit großem Rucksack. Ein Blick auf den Einkaufszettel, ein kurzer Schwatz. Die Klappe schlägt wieder zu. Die Verkaufstour dauert den ganzen Tag, in etlichen Dörfern und Weilern gibt es keinen Lebensmittelladen mehr. Heutzutage fände man im Val di Zoldo keine einzige Kuh, berichtet Ezio Cordella, früher Eismacher in Wuppertal. Zusammen mit Freunden hat er in der Schule von Goima ein Heimatmuseum eingerichtet und alles zusammengetragen, was im Tal dereinst gefertigt und produziert wurde: von Schlössern, Äxten und Körben bis hin zu Schiern, Dreschflegeln und Glocken für die Rinder. Dreihundert Kühe hat es nach dem Krieg noch gegeben, erzählt Ezio. Und jetzt sind alle Ställe leer, ebenso die tabiai, wie die hölzernen Scheunen heißen, Meisterwerke alpiner Handwerkskunst. Nicht einmal Schafe hält man heute, keine Ziegen, keine Hühner. Keine Almen mehr, keine Äcker, keine Felder. Ein paar Kartoffeln, etwas Kohl und Karotten in den Vorgärten. Aber sonst? „Man lebt allein von der Luft“, sagt Ezio und lacht. Von der Luft und mit Gottvertrauen. Jeder Weiler hat seine eigene Kirche. Überschwemmungen, Felsstürze und Lawinen haben den Zoldani seit Menschengedenken zugesetzt. Der Tod lauerte hinter den Bäumen, unter Felswänden und Abhängen, neben den Bächen, die über die Ufer traten. Der „Altar der Seelen“ des Andrea Brustolon – ein barockes Kunstwerk in der Kirche San Floriano in Pieve di Zoldo – setzt die Vanitas in Szene. Großes Theater: Zwei hölzerne Gerippe links und rechts des Altars, ein Skelett auf einem Bild unter dem Altartisch. Über allem eine Pietà und die rettende Engelsschar. Gott, der Hirte, ist überall, er breitet seine Arme aus und treibt seine Schäfchen unters Dach. Das Val di Zoldo stand viele Jahrhunderte lang unter der Herrschaft Venedigs, das die Schätze der Bergregionen zu nutzen wusste. Aus den Wäldern des Cadore bezog man Holz und verschiffte es über die


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Piave bis in die Serenissima, Material für die Pfähle und den Schiffsbau. Die dafür nötigen Nägel kamen aus dem Val di Zoldo. Dort schürfte man Eisenerz, das man vor Ort verhüttete und weiterverarbeitete. An jene Zeiten erinnern die Namen etlicher Dörfer, Forno di Zoldo oder Fusine, und eine Handvoll herrschaftlicher Häuser, die im 17. und 18. Jahrhundert entstanden sind. Die Arbeiten der Kunsttischler und Tischler aus den Dolomitentälern waren in ganz Venetien geschätzt, die Masken aus den Werkstätten der Schnitzer aus Fornesighe berühmt. Mit dem Niedergang Venedigs und der steigenden Konkurrenz auf dem Weltmarkt verlieren die Minen an Bedeutung. Nägel werden industriell gefertigt, die Preise fallen. Muren und Hochwasser zerstören die Handwerksbetriebe entlang der Maè und damit auch die Existenz ungezählter Familien. Immer mehr Zoldani suchen ihr Glück in der Emigration, wandern nach Wien und Budapest, auch nach Frankreich und Spanien aus. Manche reisen bis nach Südamerika. Viele Männer halten sich als Holz- und Bauarbeiter über Wasser, andere als Bäcker und Konditoren. Arcangelo Molin Pradel zieht bis in die Wälder Transsilvaniens, um sich dort als Holzfäller zu verdingen. Als sein Arbeitgeber in den Konkurs schlittert, muss er die Heimreise antreten. In Wien geht ihm das Geld aus. Und so heuert er dort als Salamiverkäufer und Marmorschleifer an. Er kehrt zwar heim, macht sich aber bald wieder auf den Weg. Diesmal mit dem festen Entschluss, in der Hauptstadt des k. u. k.-Reiches sein Glück zu finden. Marco Polo soll es gewesen sein, der das Eis aus China nach Italien mitgebracht hat. Im Oktober 1533 jedenfalls, anlässlich der Hochzeit von Katharina von Medici mit Heinrich von Orléans, wird Eis zum ersten Mal offiziell in die Speisefolge einer Festlichkeit aufgenommen. Es dauert noch etliche Jahrhunderte, ehe es auch im Val di Zoldo auftaucht. Und da die Armut in jenen Tagen groß ist, fällt die Idee, sich als gelatiere zu versuchen, auf fruchtbaren Boden. Unter den jungen Unternehmern ist auch Arcangelo Molin Pradel. Im Frühling 1886 beginnt er, seinen Eiswagen durch Wien zu schieben. Die Geschäfte laufen gut. So gut, dass die Cafetiers und Konditoren auf die Barrikaden steigen und bei Kaiser Franz Joseph intervenieren: Die Italiener, so fordert man, sollen fortan ein Lokal mieten und ihr Eis dort verkaufen. Gleiche Bedingungen für alle. Und so passiert es. Die Eiswagen verschwinden langsam aus dem Stadtleben. Arcangelo Molin Pradel, der einen Gutteil seiner großen Familie nach Wien geholt hat, eröffnet 1906 seinen ersten Salon. Sein Sohn Silvio kauft 1932 das Lokal am Schwedenplatz. Es bleibt in Familienbesitz:

Sohn Remo übernimmt es von seinem Vater und führt es mit seiner Frau Dina weiter, der Tochter eines Eismachers. Und auch deren Sohn Silvio hat in Deborah eine Frau gefunden, deren Eltern und Großeltern aus einer Dynastie von gelatieri stammen. Für ihn sei es nicht wirklich klar gewesen, ob er den elterlichen Betrieb übernehmen würde, erinnert er sich. Deborah wollte eigentlich Dolmetscherin werden und hat sich zur diplomierten Heilmasseuse ausbilden lassen. Doch als sie ihren späteren Mann kennenlernt, fällt die Entscheidung. Die beiden steigen ins Eisgeschäft ein. Besonders nach dem Zweiten Weltkrieg pendelten gut zwei Drittel der Zoldani nach Deutschland, Österreich und in den Norden, Westen und Südwesten Europas. Immer neue Eisdielen wuchsen aus dem Boden. Sie hießen „Au Pol Nord“, „Fiocco di Neve“, „Dolomiti“ oder „Pelmo“, sie vermittelten Lebensfreude und Italianità in Zeiten des Wirtschaftswunders. Jahre, denen auch Nello De Fanti und Demetrio Mosena nachhängen. Nello hat in Gelsenkirchen gearbeitet, dann in Valencia, wo er seine Frau kennengelernt hat. Später haben die beiden eine Gelateria in Tortona nördlich von Genua eröffnet. Sie wird heute von ihren Kindern betrieben. Demetrios Salon lag im Zentrum von Brake an der Unterweser. Es seien schöne Zeiten gewesen, sagt er. Zusammen mit seinem Freund Nello steht er in Dont im „Museo del Gelato“, zwei etwas in die Jahre gekommene Eisprinzen mit roten Backen und lachenden Augen. Stolzen Blickes präsentieren sie ihre Schätze: prächtige Eiswagen aus der Jahrhundertwende, Waffeleisen und hölzerne Kegel, mit denen früher die cornetti hergestellt wurden, Eismaschinen in allen Farben und technischen Ausführungen. Ein gutes Schokolade- oder auch Vanilleeis herzustellen, sei ja nicht weiter schwer gewesen, meint Demetrio. Allein das Fruchteis habe ihm oft genug Kopfzerbrechen bereitet, da sei viel Geld die Unterweser hinuntergeflossen. Die Zitronen etwa, natürlich nur erster Qualität, ließ er aus Italien liefern. Doch als sie nach langer Reise in Brake eintrafen, waren viele schon verschimmelt. Acht Eissorten hat er damals in seinem Salon angeboten: Vanille, Erdbeer, Zitrone und Schokolade, dazu Haselnuss und Pistazien, manchmal auch Ananas und Aprikosen. Basta così. Mehr braucht’s nicht. Das Angebot von heute? Demetrio schüttelt den Kopf. Abenteuerlich. Eis-Pizza, Coup Lambada, Coup Spiegelei, Coup Strudel. Das habe mit wirklich gutem Eis nichts mehr zu tun, all diese Saucen, Liköre und absonderlich schmeckenden Garnierungen. Nein, das sei nicht mehr das, was er sich unter gutem Eis vor-


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stelle, sagt der Signore. Und er kenne übrigens genug Leute, die es satt hätten, sich durch absurd klingende Kreationen graben zu müssen, ehe sie den Geschmack fänden, den sie suchten: den Geschmack der Kindheit. Denn was ist es anderes? Die Erinnerung an das erste Eis im Frühling, an den gelatiere mit seinem Wagen am Strand von Bibione, an frische Erdbeeren mit einer Kugel Vanilleeis, vielleicht noch etwas Schlagobers. Ein paar Waffeln dazu, mehr braucht es nicht. Oder überhaupt nur drei Kugeln pur, das könne der Himmel sein, sagt Demetrio. Generationenkonflikte auch unter den Eismachern. Sein Salon müsse mit der Zeit gehen, davon ist Silvio Molin Pradel überzeugt. Wo immer er ist, schlendert er über die Märkte, probiert ihm unbekannte Früchte, durchforstet die Gewürzläden und kostet sich durch die Dessertkarten der Restaurants. Nur so komme man weiter, meint er. Neue Sorten entstehen im Kopf, die Wintermonate mit den Eismessen und Kursen eröffnen der Fantasie neue Wege. Natürlich haben die Molin Pradels auch im Zoldotal eine Eismaschine. Doch für den wirklich großen Wurf braucht es die Küche des Wiener Salons. Dort wird experimentiert, von dort aus wandern die neuen Sorten in die Tüten und Coups. Der Geschmack Indiens und Arabiens ist besonders en vogue: Sesam-Honig, Schokolade-India Masala, Sahara Creme. Nichts bleibt, wie es ist. Und eigentlich ist auch Demetrio Mosena froh, dass sich manches verändert hat. Die bitteren Szenen von früher hat er nicht vergessen: weinende Mütter, die ihre Kinder bei den Großeltern zurücklassen mussten und sie monatelang nicht sahen. Babys, die ihre Eltern nach der Trennung nicht wiedererkannten, Kinder, die sich in den Internaten in den Schlaf weinten. Drei solcher Institute gab es im Val di Zoldo. Von März bis Juni und September bis Ende Oktober waren sie gut besucht. Das sei hart gewesen, weiß auch Deborah Molin Pradel. Ihre Eltern betrieben einen Eissalon im saarländischen Homburg. In den Ferien war sie bei ihnen, aber den Herbst und Frühling hat sie im Internat in Pieve verbracht. Und gewartet. Bei ihren beiden Söhnen hält sie es anders. Das Leben ist leichter geworden: Früher hat die Reise nach Wien zwei Tage gedauert, heute ist man in sieben Stunden da. Von Treviso und Venedig aus gibt es Flugverbindungen nach Wien. In manchen Wochen und Monaten pendelt Deborah zwischen Österreich und Italien, im Sommer sind beide Kinder in Wien. Sie lieben den Prater, das Kino, die Strandbäder an der alten Donau. Längere Trennungen wollen die Molin Pradels sich

und den Buben nicht zumuten. Sie sehen die Vorteile dieses Hin und Her: zwei Sprachen, zwei Kulturen, viele Erfahrungen. Von hier nach dort. Natürlich gibt es auch Zoldani, die in der Fremde sesshaft geworden sind. Wer nach Granada oder Rio de Janeiro ausgewandert oder in Buenos Aires heimisch geworden ist, der hat wohl weiterhin die Bilder der Dolomiten im Kopf. Der fährt anfangs noch für ein paar Ferienwochen ins Zoldotal und bleibt eines Tages ganz aus. Das seien dann richtige Spanier geworden, hört man, oder Argentinier. Ihre Kinder sprechen kein Italienisch mehr, vom zoldano gar nicht zu reden, dieser Mischung aus venetischen Dialekten und dem Ladinischen: die Sprache des Alltags. Viele der Emigranten haben ihren Besitz an bergbegeisterte Venezianer oder Padovaner verkauft, die hier ihre Ferien verbringen. Die Bevölkerung nimmt ab, es gibt Dörfer, die verwaisen. Schmale, mehrstöckige Häuser ragen in den Himmel, eines dicht neben dem anderen. Früher haben mehrere Familien unter einem Dach gewohnt, zehn, zwanzig Leute. Viele von diesen Häusern stehen leer. Feuchtigkeit kriecht die Mauern hinauf und hinterlässt seltsame Zeichen, der Wind pfeift durch die Dachstühle, etliche Fenster sind eingeschlagen. Niemand da, der sie reparieren ließe. Die früheren Scheunen stürzen langsam in sich zusammen, ein Paradies für Mäuse. Die Katzen sind längst tot. In Cercenà lebt nur mehr ein einziger Mann, der 75-jährige Giovanni Cercenà. Seinen Vater hat er vor fünf Jahren begraben. Und wenn nun der Sohn auch stirbt? Dann wird es ruhig hier oben. Ein Stück Zoldo, das verschwindet. Traditionen sind wichtig, die Wurzeln, das Wissen darum, wo man herkommt, gerade wenn man so viel weg ist. Ein Frühling ohne Wien? Unvorstellbar, sagt Silvio Molin Pradel. Die Lichter der Großstadt, das Treiben in den Straßen, der Kontakt mit den Kunden, das möchte er nicht missen: Wenn die Menschen ein Eis schlecken, werden alle zu Kindern. Doch ganz ohne das Zoldotal zu leben, ohne die klare Luft, die Sterne, die hier näher rücken als anderswo, die Stille der Winternächte, wenn es schneit? Geht auch nicht. „Wir haben das in den Genen, dieses doppelte Leben“, meint Silvio Molin Pradel. Es macht glücklich.












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Im Malerhimmel Gottfried Bechtold hat den Umschlag dieser Ausgabe und fünf Doppelseiten im Heftinneren (S. 26–35) gestaltet: Er lässt dabei sieben bunte Malerstaffeleien sanft in den Himmel schweben. Merkwürdige Sache für einen Mann, der vor fast 40 Jahren mit dem „Betonporsche“ berühmt wurde. Ein Porträt des Künstlers von Sylvia Taraba: Ich habe Gottfried Bechtold über seine Arbeit kennengelernt. Genau genommen habe ich ihn als Künstler, der intuitiv das Paradoxe sucht, wahrgenommen. Heute weiß ich: die Paradoxie ist der wesentliche Aspekt der Erkenntnis. Sie wird durch die klassische Logik, deren oberstes Gesetz sie ist, antagonistisch bekämpft. Das ist vermutlich der Grund, warum Künstler von ihr angezogen sind. Sie blitzte in Bechtolds Arbeiten auf wie ein kryptisches Verkehrszeichen. Für mich wie ein Richtungspfeil: Hier entlang sei Forschung zu betreiben. Ich war damals Künstlerin, auf der Suche nach meiner Aufgabe in der Kunst. Das zeichenhaft und materiell dargestellte Paradoxon macht das gesamte Werk Bechtolds zu einem zwischen zwei Seiten changierenden brillanten Gedankenspiel. Ich erlebte es als eine Art vertrautes Glitzern aus der Ferne, das meine Aufmerksamkeit auf sich zog, wie der Sternenhimmel. Die Person war für mich mit einem wahlverwandtschaftlichen Sehnsuchtspotential ausgestattet. Dass sie auch noch mit dieser heiter-lapidaren Grunddisposition durch die Welt ging, empfand ich als hinreißend. Lange bevor ich ihn persönlich gesehen hatte, hatte ich das Katalog-Foto gesehen. Da ist er von der Seite abgebildet. Ein kleines Schaf hingegen, das er im Arm hält, schaut unschuldig ins Bild. Ich hörte, dass Gottfried Bechtold 1976 ein von ihm ausgestelltes Foto-Triptychon auf Beschluss der örtlichen Sittenkommission wieder entfernen musste. Zum Thema Akt hatte er im Feldkircher Palais Liechtenstein auf fünf Foto-Tafeln eine in variierenden Distanzen fotografierte Vulva auf Waldboden gezeigt. Letzterer drückte sich auf der Haut des zugehörigen Hinterns ab und erzeugte zusammen mit der dunklen, nadelig-vegetabilen Umgebung eine Atmosphäre verbotener Spiele und heimlicher Lust. Diese irritierende multiple Nahsicht war je hinter einem adretten Vorhang verborgen. Der Ausstellungsbesucher musste also die duftigen Textil-Teile zuerst zwischen zwei Finger nehmen und beiseite ziehen, um die Fotografien zu betrachten. Vermutlich wenige haben (bis heute!) den wirklichen Witz der Abhäng-Verordnung verstanden, viele den „Skandal“ darin gesehen, dass

die „Freiheit der Kunst“ im Ländle nicht gegeben war. Die Mehrheit fand es skandalös, ein anstößiges Sujet auszustellen. Schon Gustave Courbets L’origine du monde, entstanden um 1866, ein in Öl gemaltes weibliches Geschlechtsteil in frontaler Nahsicht (ursprünglich gemalt für den türkischen Diplomaten Khalil Bey), wurde als nicht salonfähige Zumutung über Jahrzehnte verborgen gehalten und fristete bis vor kurzem seine Existenz als Erotikon. Es blieb unter wechselnden Privat-Besitzern (zuletzt Jacques Lacan) stets hinter Tarnbildern verborgen und nur eingeweihte Liebhaber des Genres konnten einen Blick auf den geheimnisumwitterten Ort werfen. Seit 1995 ist L’origine du monde im Pariser Musée d’Orsay erstmals öffentlich zu sehen. Ironisch hielt selbst Marcel Duchamp es noch der ganzen Mühe wert, Étant donnés … den Blicken zu entziehen. Die aufwändige Teil-Darstellung einer Leder-Puppe, daliegend in Zeigestellung mit entblößter Vulva war erst 1987 öffentlich – nach penibel notierter Anleitung und posthum – im Philadelphia Museum of Art aufgebaut worden. In den dafür konzipierten, hermetisch geschlossenen Raum kann man seither durch ein winziges Guckloch in einer verschlossenen Türe hineinschauen und den „gegebenen“ Ursprung der Welt betrachten – und – man wird dabei von anderen gesehen und beobachtet. Dies macht dort die philosophische Hermetik, die Ironie, den Witz und das Anstößige zugleich aus. Denselben Effekt haben die verbergenden Vorhänge, die Bechtold intuitiv vor seinem fünfteiligen „Triptychon“ der Wald-Vulva angebracht hatte. Man muss als Betrachter aktiv werden, um das Bild zu sehen, und man konnte dabei 1976 in Feldkirch beim Beobachten beobachtet werden. Letzteres scheint mir der tiefere Grund dafür zu sein, dass das hintergründige, vielschichtige Sujet damals entfernt werden musste. Gottfried Bechtold besitzt Witterung für das Wesentliche. Er folgt fraglos, wie selbstverständlich seiner Intuition. So greift er auch das Paradoxe traumwand-


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lerisch auf, wo er es findet, und ist immer gut für paradoxe Interventionen. Manch einer könnte von Gottfried Bechtolds Liebenswürdigkeit im Umgang mit Menschen, seiner Unbeirrbarkeit hinsichtlich des Kerns einer Sache erzählen sowie von verblüffenden Argumenten, die Einsicht in komplexe Zusammenhänge gewährten oder ein umwerfendes Aha-Erlebnis provozierten. Er ist privat wie öffentlich eine Herausforderung für die Menschen seiner Umgebung. Wer sich ihr stellt, macht erstaunliche Erfahrungen. Seiner Tochter Ulli blieb, laut eigenen Worten, einmal der Mund offen stehen, als er vor ihren Augen in einem Lokal die Geldbörse zog und einem jungen Burschen, der ihn mit seiner Jammerei behelligte, 1000 Schweizer Franken (von 3000 gerade verdienten) in die Hand drückte. Das Thema „Ursprung der Welt“ auf der einen Seite sowie der „das Weibliche beobachtende Beobachter, der seinerseits beim Beobachten beobachtet wird“ auf der anderen Seite ist nun nicht nur wiederkehrendes Thema in Naturwissenschaft und Kunstgeschichte, sondern etwas, woran die Philosophie sich bisher nicht gerade erfolgreich abgearbeitet hat. Von der Hegel’schen Annahme her betrachtet, dass die klassische Logik einen paradoxen Gesetzgeber hat, ist Realität paradoxen und logischen Ursprunges in einem. Ihre Wirklichkeit / ihr Pendant – das Nichts – ist, qua des blinden Flecks des Beobachters (nämlich selbst (das) Nichts zu sein) uneinsehbar. Dies wird nicht gern eingesehen, aber umgekehrt wird der Ort des Überganges gerne angesehen. Die weibliche Scheide kann so als Interface und Kipppunkt gedeutet werden, wo die Nicht-Unterscheidung übergeht in die Unterscheidung von Pornografie und Metaphysik und vice versa. Die Vulva – die Mandorla der Erscheinung – überrascht dann reell als banaler, empirischer Ort, an dem das Paradoxe sich notwendig vollzieht, wo es rätselhaft erscheint und verschwindet, und wo das je und jäh Unterschiedene wieder eintritt in seine Unterscheidung. Mathematisch und logisch konsistent dargestellt wird der Kalkül der Ersten Unterscheidung, Bezeichnung und Erscheinung sowie seine re-entry in das Unterschiedene in dem 1969 erschienenen Buch Gesetze der Form (Laws of Form) von George Spencer Brown. Ich habe seit 1990 in diesem Sinn Archäologie betrieben. Die imaginären Implikationen und reellen Folgen der Ursprungsformel „Triff eine Unterscheidung“ sind zu meinem philosophischen Lebens-Thema geworden, der Mann und Künstler Gottfried Bechtold zu meinem Beobachter und Liebes-Schicksal – beides rekursiv und vice versa.

Er hat ein Selbstverständnis, das sich von nichts und niemandem ins Bockshorn jagen lässt. Bei einer Vernissage in Wasserburg hatte er einem Journalisten, der sich ihm gegenüber nicht korrekt benommen hatte, tatsächlich und regelrecht ans Bein, nein, besser noch, seitlich in den Hosensack hineingepinkelt. Ich war beeindruckt. Diese Art der unumwundenen Reaktion auf Zumutungen von außen bewunderte ich, mir mangelt es daran. Bald lernte ich seine selbstverständliche Seite auch privat kennen. Bei einer euphorischen Fahrt in den Wald hing plötzlich ein Rad in der Luft. Flugs stützte ich den Jeep unter Einsatz meines Lebens. Er saß locker am Steuer und gab Gas, sodass die drei bodenständig verbliebenen Reifen durchdrehten und sich natürlich bald in den weichen Boden fraßen. Doch Rettung nahte, ehe ich mich noch ganz geopfert hatte. Ein professioneller Waldmann, anagitiert vom unentwegten Aufheulen des Motors und meiner Bitte um Hilfe, legte schließlich mit Hand an und schob. Doch Gottfried ließ der in meiner Not herbeigerufene Beistand ungerührt. Er fuhr lässig an und während ich mich vielmals bedankte und noch nachwinkte, gab er schon wieder Gas. Er hatte diese überflüssige Anrufung und waldmännische Einmischung für unnötig befunden. Als Bechtold für den Vorplatz des Vienna International Center monatelang in der Weltgeschichte herumreiste und nach Megalithen suchte und wir (offiziell) noch kein Paar waren, überbrückte er die Trennung mit nachhaltigen Metaphern. Einmal schob er mir ein Kuvert mit einem Caspar David Friedrich-Dia durch den Postschlitz. Das Bild mit den zwei einsamen Gestalten mit Hut, die in einigem Abstand voneinander am Meer stehen, und hinausschauen auf den Horizont. Eine Liebe ist eine Liebe ist eine Liebe. Viele fragen sich, was Gertrude Stein wohl gedacht hatte bei ihrem berühmt gewordenen Nicht-Satz „Eine Rose ist eine Rose ist eine Rose …“ Das fehlende Prädikat bewirkt die momentane Aufhebung des Bedeutungstransfers des Satz-Subjekts. Quasi ein Schnappobjektiv, das die Rose aus jeglicher Konnotation herausnimmt: Poetik und Auto-Poiesis liegen im Ding selbst. Es ist, was es ist, – das heißt, als was es unterschieden ist und als was es sich unterscheidet. Es ist immer selbst schon Dichtung. Es gibt tautologisch sich selbst. Jedes Ding ist Abbild des Identitätssatzes. Die Tautologie entspricht dem Gesetz des Nennens, sie ist die ontologische Behauptung und konstruktive Bezeichnung, ohne einen Bedeu-


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tungszusammenhang zu berücksichtigen. Eine Rose ist nicht taufrisch, die schönste, prächtigste Blume des Gartens, Gärtnerglück, begehrte Liebesgabe oder Metapher für das Brechen der Unschuld, die Vergänglichkeit aller Schönheit, sondern als „Rose“ ein unerklärtes Rätsel. Hermetisches Geheimnis und banales Faktum. Duchamps Readymades spielen auf dieser Klaviatur zwischen Paradoxie und Tautologie. Sie sind, was sie sind, „gegebenes“ Ding und Kunst-Ding in einem. Das Spiel mit der Tautologie und ihrem Gegenspieler – der Paradoxie – besitzt bei Gottfried Bechtold mehr Selbstverständlichkeit. Er ist witziger – und natürlich freier als Duchamp. Er spielt mit größerer Virtuosität, mit enormer Kreativität und, wenn es sein muss, mit heroischer Gigantomanie. Die riesige, von Bechtold plastisch-skulptural signierte SilvrettaStaumauer von 2002 ist die eine Seite der Klammer, das 1:1 konzipierte Multiple, der elffach gegossene Neun-Elfer-Beton-Porsche von 2006, die andere Seite – einmal abgesehen von den diversen unausgeführten Mega-Projekten zwischen den Klammern. Unausgeführt aber höchst aktuell: Bechtold fährt seit fünf Monaten hin und wieder mit einem Panamera Vorserienmodell – einem „Erlkönig“ – herum, einem riesigen schwarzen 600 PS Boliden von Porsche, jenem Modell mit den vier Sitzen und vier Türen für herrliche Spritztouren durch die Anden, den ihm die Firma überlassen hatte, lange bevor der Panamera nun im September 2009 auf dem Markt kam. Mit ein paar Eingriffen wird er dieses Readymade seinem ursprünglichen Nutzen entfremden. Ähnlich, aber doch ganz anders, als er es schon mit dessen Vorgänger, einem Carrera S 997 Vorserienmodell, machte, der ihm 2004 von Porsche überlassen wurde. Er ließ damals das nagelneue, glänzende Kultauto zu einem für viele schmerzhaft empfundenen Würfel pressen. Eingebaute Kameras zeigten, wie sich der InnenRaum – der Sinn des Autos schlechthin – knirschend einfaltet und der Porsche in einem nachvollziehbaren Zeitraum verdichtet wird, und so quasi zur inversed sculpture wurde. Gottfried Bechtolds Paraphrasen über Duchamp und über Readymades sind zahlreich und überall in seiner Arbeit gegenwärtig. Auch kleinste, wie selbstverständliche Eingriffe führen seit Jahr und Tag zu paradoxen Gedankenspielen und Denkergebnissen, die intellektuell und sinnlich große Freude bereiten. Vor kurzem ist er konzeptuell zum Maler mutiert. Das Maler-Atelier stand schon bereit, als er sich entschied zu erproben, was es bedeutet, ein Maler zu

sein. Für die Ausstellung „Schnee“ des Vorarlberger Landesmuseums im Juli 2009 nahm er sich Caspar David Friedrichs Watzmann vor. Er spachtelte subtil – mit kleinen verfremdenden Eingriffen – das kapitulierende alpine Numinose 2009. Seither arbeitet er sich surreal und expressiv an dem Sujet Flugzeug- und Hubschrauberabstürze in den Alpen ab, – ein Thema, zu dem Bechtold größte Affinität besitzt. Da tauchte auch der „Malerhimmel“ wieder auf, ein von ihm bemaltes Readymade-Objekt: eine Daler & Rowney-Ölmalkassette, auf die er voriges Jahr einen Himmel in Öl gemalt hatte. Die stand Pate für eine Serie von „Malerstaffeleien“ für Quart. Doch eine Staffelei ist eine Staffelei ist eine Staffelei. Bechtolds Einsicht und Forscherlust sprengt den Rahmen und geht über die Leinwand hinaus. Warum nicht wieder das Thema der „Befreiung der Malerei“ aufwerfen und es neu interpretieren? Staffeleien als Malgrund verwenden, sie post factum zu Skulpturen erklären, sie vom Utilitarismus befreien, ihnen ihr rätselhaftes Dasein gönnen? Das ist sowieso die Art, wie Bechtold mit „Material“ und „Ding“ umgeht – es hat für ihn Eigen-Leben –, nicht nur wenn er sich damit beschäftigt. Wenn ich sie da stehen sehe, als ätherische Kompanie von Bauchläden, oder aber in ihrer anthropomorphen Anmutung – einerseits à la folies bergère, in ihrem graziösen Pathos und exaltierter Pose, ihrer sich selbst karikierenden Dreistheit, andererseits in ihrer grundsätzlichen Ähnlichkeit und doch kaprizierten Unterschiedenheit –, möchte ich einem spontanen Lachanfall nachgeben, mich schieflachen, wie meistens bei Gottfrieds „kleinen“ Arbeiten, wenn ich ihrer unvermittelt ansichtig werde. Seine lapidare Art der Befragung und Hinterfragung der Dinge ist fachlich intelligent und am Puls des jeweils behandelten Objekts – oft umwerfend witzig und zauberhaft poetisch. Er folgt keinen Gesetzen und Moden, aber Impulsen, intuitiven Eingebungen, einem untergründigen Humor und seiner experimentellen Mutwilligkeit. Unter Missachtung der Gebote und der Gesetzmäßigkeiten des Marktes entfaltet er frei und widerständig, intellektuell und handwerklich gediegen seine Kunst. Die Staffeleien werden ab 5. November 2009 auch in Rom in der Complesso Monumentale di San Michele a Ripa Grande / Ex Carcere Minorile im Rahmen der Ausstellung Cella gezeigt.


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Kein Oben und kein Unten

Der Kulturwissenschaftler und Musikethnologe Gerhard Kubik hat als einer der ersten jene Musik erforscht – und zwar vor Ort –, die der Ursprung von Jazz und Pop ist: die afrikanische Musik. Seine Befunde haben auch Komponisten wie György Ligeti entscheidend beeinflusst. Von August Schmidhofer 7. Oktober 1959 an einer Ausfallstraße Richtung Süden im 10. Wiener Gemeindebezirk: ein junger Mann, 24 Jahre, mit Rucksack und Handtasche, autostoppend. Das war damals nichts Außergewöhnliches; viele Menschen reisten per Anhalter. Das Besondere war die Destination: Ostafrika! Im Gepäck befanden sich neben Zelt und Schlafsack auch ein batteriebetriebenes Tonbandgerät und ein Fotoapparat, in der Geldtasche ganze 80 Pfund. Sieben Wochen sollte die Reise bis Ostafrika dauern, bis zur Rückkehr nach Wien sollte ein Jahr vergehen. Der junge Mann war Gerhard Kubik: Musiker, Literat, Student. Er hatte bis kurz vor Antritt seiner Reise in einer Jazzband gespielt, einer damals bekannten Formation, die den 1. Preis beim Wiener Jazzfestival gewonnen hatte, nun aber in Auflösung begriffen war. An der Universität war er in Afrikanistik inskribiert, hatte ein wenig Suaheli gelernt. Er hatte sich auch als Schriftsteller versucht, hatte Gedichte und Erzählungen geschrieben – einiges davon war veröffentlicht worden. In diversen Zeitschriften hatte er über Jazz publiziert und an der Volkshochschule Vorträge gehalten. Er war also trotz seines jungen Alters kein Unbekannter und so schrieben auch einige Zeitungen darüber, als er nach Afrika aufbrach. Seinen Bekannten hatte Gerhard gesagt, er wolle in Afrika die Wurzeln des Jazz studieren. Das eigentliche Ziel war Westafrika. Dort sollte, nach damaliger Lehrmeinung, der Jazz seinen Ursprung haben. Aber in Algerien war Krieg, somit war es unmöglich, auf dem direkten Landweg nach Westafrika zu gelangen, und Kubik musste die ostafrikanische Route nehmen. Er hatte über die amerikanischen Besatzungssoldaten Jazz kennengelernt, hatte sich für Swing, Bebop und

Cool Jazz begeistert und Klarinette gelernt, um selbst Jazz spielen zu können. In Afrika hoffte er einen Musiker zu finden, der ihn unterrichten würde. Er wollte sich afrikanischer Musik praktizierend nähern, vielleicht auch in einer Gruppe spielen, um so das Wesen der Musik von innen her erfassen zu können. Die erste Anlaufstelle in Ostafrika war die katholische Mission von Namagunga in Uganda, wo der St. Josefs-Missionar Michael Ortner aus Osttirol, vielen in Tirol durch seine legendären Rundbriefe als „Uganda-Michl“ bekannt, wirkte. Kubik hatte mit der Mission schon von Wien aus Kontakt aufgenommen und sollte hier eine Bleibe für die erste Zeit seines Afrika-Aufenthaltes finden. Der Tag, an dem ihn Pater Michael mit seinem Motorrad mit nach Kampala ins Uganda Museum nahm und dort vorstellte, war gewiss einer der Schicksalstage im Leben des Gerhard Kubik. Denn hier lernte er Evaristo Muyinda kennen, Musiker des Königshofs von Buganda, der sich bereit erklärte, ihn zu unterrichten. Muyinda gab Unterricht auf dem 12-stäbigen Xylophon namens Amadinda, das von drei Personen gespielt wird. Kubik war zunächst über die Einfachheit des Parts, den er zu spielen hatte, irritiert. Das sollte afrikanische Musik sein? Ein aus wenigen Tönen bestehendes Motiv, das unablässig zu wiederholen war! Er begann schon zu zweifeln, ob Muyinda ihn wohl the real thing unterrichtete. Er hatte sich vorgestellt, dass er drauflos improvisieren würde, wie er es von seiner Jazzband kannte und wie er glaubte, dass es für afrikanische Musik typisch sei. Erst als dieser vermeintlich simple Part in den Kontext der anderen Parts gestellt wurde, also alle zu-


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sammenspielten, eröffnete sich die Komplexität des Gefüges dieser Musik. Muyinda begann und Kubik setzte danach ein, flog aber immer raus, konnte nicht Takt halten. Die Schwierigkeit lag darin, dass er mit seinen Schlägen exakt zwischen die Schläge seines Lehrers fallen sollte: den ersten, dritten, fünften usw. Ton spielte der Lehrer, er selbst sollte den zweiten, vierten, sechsten usw. Ton spielen. Wie sollte er in dem hohen Tempo, in dem diese Musik auszuführen war (an die acht Schläge pro Sekunde), Synkopen spielen können? Unwillkürlich hatte er nämlich den Part seines Lehrers auf der betonten Zählzeit stehend betrachtet und seinen eigenen auf der unbetonten. Erst als Muyinda die Reihenfolge des Einsatzes umdrehte und Kubik beginnen ließ, funktionierte das Zusammenspiel. Hier nun dämmerte es Kubik: Beide Spieler hatten ihren eigenen Part als den primären, den betonten zu betrachten, ohne ein Gefühl von Synkopation. Man musizierte also zusammen, ohne sich auf einen gemeinsamen Takt zu beziehen. Würde man diese Musik in der europäischen Notenschrift aufschreiben, müsste der Taktstrich bei beiden Parts an unterschiedlichen Stellen gesetzt werden. Das höchst Paradoxe an der Sache hier war, dass zwei Parts in größter Präzision zu koordinieren waren, gleichzeitig aber beide Parts gleichberechtigt nebeneinander standen, so gleichberechtigt, dass jeder seinem eigenen Beat folgte. „Auf einmal gab es kein Oben und kein Unten mehr, sondern wir blickten einander an in absolut schwebender Relativität“, erzählt Kubik. Diesem ersten musik-kulturellen „Schockerlebnis“ folgte sofort ein zweites. Es betraf den dritten Part beim Amadinda-Spiel. Für dieses Motiv mussten lediglich die zwei höchsten Tasten des Xylophons angespielt werden. Aber die rhythmische Abfolge der Töne erschien Kubik so komplex, dass er sie sich nicht merken konnte. Erst als sein Lehrer ihn aufmerksam machte, dass das Motiv bereits im Stück „versteckt“ sei, man müsse bloß genau darauf hören, was die zwei tiefsten Tasten des Xylophons spielten,

verstand er. Nun war es kein Problem mehr, den Part drei zu spielen; es handelte sich bloß um die Verdoppelung der Töne der tiefsten Tasten – zwei Oktaven höher gespielt. Kubik dachte aber weiter und erkannte, dass dies nicht bloß eine interessante Technik der musikalischen Gestaltung war, eine von vielen, die man in Afrika finden konnte. Hier trat eines der grundlegenden Organisations-Prinzipien der Hörwahrnehmung zutage, etwas, das für alle Menschen gleichermaßen gilt, unabhängig von ihrer kulturellen Zugehörigkeit: Wenn eine Melodie aus einer Abfolge von sprunghaften Intervallen besteht und in hohem Tempo gespielt wird (das ist in der Amadinda-Musik der Fall), kann die Wahrnehmung dem sprunghaften Melodieverlauf nicht mehr folgen. Unwillkürlich sucht sie sich Töne in gleicher Tonlage und bildet aus diesen eigene Melodien. Der Hörer einer solchen Musik nimmt dann die Töne im hohen und jene im tiefen Bereich als zwei getrennte Melodien wahr. Die Komponisten der Amadinda-Musik haben mit diesem Phänomen der menschlichen Wahrnehmung gespielt, haben es bewusst in ihre Werke eingebaut. Kubik beschrieb seine Entdeckung wenig später in der Zeitschrift „African Music“ und führte dafür den Begriff „inherent rhythms“ ein. Dieser Artikel aus dem Jahr 1960, der ihn mit einem Schlag in der Fachwelt bekannt machte, zählt heute zu den Klassikern der musikethnologischen Literatur. Zwar waren Phänomene der Gruppierung in der Wahrnehmung schon vor ihm von den Gestaltpsychologen beschrieben worden, aber Kubik war der erste, der solche Gesetzmäßigkeiten mit Material „aus dem Feld“ belegte. Der Unterricht bei Evaristo Muyinda führte zu weiteren Erkenntnissen, die Kubik veranlassten, eine auf grundlegende Charakteristika der afrikanischen Musik abgestimmte Terminologie zu kreieren. Damals wurden vorwiegend Begriffe aus der abendländischen Musiktheorie zur Beschreibung afrikanischer Musik


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herangezogen. Aber ihre Bedeutung entsprach selten genau den Sachverhalten in Afrika. Dies führte dazu, dass afrikanische Musik in Analysen oft als imperfekt dargestellt wurde – im Vergleich zum westlichen Modell, von dem die Kategorien der Analyse stammten. Kubik legte Wert auf die Verwendung eines Beschreibungssystems, das mitten in den zu beschreibenden Phänomenen liegt, und nicht irgendwo außerhalb. Die Voraussetzung dafür war ein Verstehen der Musik, so wie jene sie verstehen, die sie geschaffen haben. Daneben galt es auch, evolutionistischen Tendenzen entgegenzuwirken, die generell der Musik außereuropäischer Kulturen geringere Komplexität bescheinigten und in ihr ein früheres Stadium einer Entwicklung sahen, die in der Kunstmusik der westlichen Welt gipfeln sollte. Kubiks detaillierte Analysen haben die oft komplexe Faktur afrikanischer Musik aufgezeigt und ihr damit indirekt auch Prestige verliehen. Seine Schriften, besonders jene über die Xylophonmusik in Uganda, haben zeitgenössische Komponisten „im Westen“ wie György Ligeti angeregt, sich mit afrikanischer Musik zu beschäftigen. In einem Brief, veröffentlicht in der Festschrift zum 60. Geburtstag Kubiks schreibt Ligeti: „Lieber Herr Kubik, Ihre Entdeckung der INHERENT PATTERNS hat immense Wichtigkeit für meine Komposition […] GROSSER EINFLUSS! […] Sie haben mein Denken verändert.“ * Als ich Gerhard Kubik zum ersten Mal bei einer Vorlesung an der Uni Innsbruck Anfang der 80er Jahre begegnete, waren wir Studenten zunächst irritiert. Wir hatten uns den großen Feldforscher ganz anders vorgestellt: braungebrannt, von einer Aura des Abenteuerlichen umgeben. Herein kam ein unauffälliger Mann mit Aktentasche, aus der er eine Dose DiätCola auspackte, um sich während des Vortrags zu stärken. Hatte man Erzählungen von abenteuerlichen Begebenheiten erwartet, wurde man enttäuscht. Seine Sprache war frei von allem ethnologischen Jargon. Musikforschung in Afrika – etwas ganz Normales!

Wiederholt hat er sich über die mit großem Aufwand inszenierten „Afrika-Expeditionen“ anderer Forscher mokiert. Afrika, das ist für Kubik nicht „das Andere“ oder „das Fremde“. Er sei nicht ins Feld gegangen um dort „dem Fremden“ zu begegnen und seine afrikanischen Freunde stellten keine „andere Kultur“, keine grundsätzliche Verschiedenheit von ihm selbst dar. „Nichts ist uns eigentlich fremd“ … „das ‚Fremde‘ ist ein Konstrukt, das auf einer Projektion von nicht akzeptierten Inhalten des eigenen Unbewussten beruht.“ … „Niemand ist von der Wiege bis zum Grab Gefangener ein und derselben Kultur.“ (G. Kubik in Festschrift für Ilse Storb) … Das Hineinwachsen in eine andere Kultur betrachtet Kubik als Lernprozess, der vor allem durch zwei Faktoren vorangetrieben wird: Sprachkenntnis und Partizipation. Über sie eröffnet sich der direkte Zugang zur kognitiven Welt der Menschen im Forschungsgebiet. In der Teilnahme am Leben der jeweiligen Gastkultur ist Kubik gewiss um vieles über das bei Ethnologen übliche Maß hinausgegangen. 1965, es war bereits seine vierte Afrikareise, fuhr er mit einem portugiesischen Stipendium nach Südostangola, in ein Gebiet, das auf den Landkarten als „Fim do mundo“ (Ende der Welt) eingezeichnet ist. Während seines sechsmonatigen Aufenthalts scheute sich Kubik nicht, sich unter die jungen Novizen der Mukanda-Beschneidungsschule zu reihen, um in die für die Kultur der Völker dieses Gebiets so wichtige Einrichtung initiiert zu werden. Es war eine Grenzerfahrung, die – wie er an verschiedenen Stellen schreibt – eine tiefgreifende Persönlichkeitsveränderung bewirkte. Später hat er noch Initiationsrituale für andere Geheiminstitutionen absolviert: den Mungonge-Männerbund sowie den Geheimbund der Vandumbu-Hörner in Angola und den Nyau-Maskenbund in Malawi. In Angola wurde ein altes Interessengebiet Kubiks – schon als Jugendlicher hatte er Sigmund Freud gelesen – reaktiviert: die Psychoanalyse. Er erkannte, dass


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die Beschäftigung mit anderen Kulturen auch die Beschäftigung mit sich selbst erfordert, um nicht Prozessen der Projektion zu unterliegen. Die Bemühungen um ein Verstehen haben sich vor Übertragungen zu hüten, andernfalls würde man Gefahr laufen, sich der Bedeutung der Phänomene für die Mitglieder der untersuchten Kultur zu verschließen. Die Ethnopsychoanalyse stellt eine Herangehensweise dar, in der Eigen- und Fremderkenntnis miteinander verschränkt werden. Erkundungen transkultureller Psychoanalyse, etwa zum Thema „Tabu“, wurden fortan zu einem der wichtigsten Beschäftigungsfelder Kubiks.

Floating ist also eine Methode zur unvoreingenommenen Entdeckung wissenschaftlicher Fragen. Kubik empfiehlt, bei der betreffenden Gemeinschaft zu leben und nicht jeden Abend in Richtung Stadt zu verschwinden, um im Hotel zu essen und zu schlafen. Ferner sei es ratsam, solche Forschungen allein zu unternehmen, allenfalls in Begleitung von einheimischen Personen. Die Anregung zur Floating-Technik erhielt Kubik von der von Freud entwickelten Technik der „freien Assoziation“. Floating ist ein Mittel zur Inspiration, zur Fremderkenntnis und auch zur Selbsterkenntnis.

In diesem Zusammenhang ist eine von Kubik propagierte Methode in der Feldarbeit zu erwähnen: er nennt sie „Floating“. Jungen Aspiranten auf Feldforschung empfiehlt Kubik, zunächst ohne konkrete Fragestellung in das Forschungsgebiet zu reisen und sich einfach treiben zu lassen. Man solle beobachten, ohne die Wahrnehmung bewusst zu steuern, soll allem, was man zu hören oder zu sehen bekommt, gleiche Aufmerksamkeit schenken, das vermeintlich Wichtige ebenso wie das vermeintlich Triviale registrieren und Kritik so gut man kann ausschalten. Folgt nämlich die Aufmerksamkeit den Erwartungen, ist man in Gefahr, stets nur das zu finden, was man bereits weiß.

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Kubik stellt hier die Eignung der Standard-Prozedur von Forschungen im Feld (Formulierung eines Problems – Feststellen der geeigneten Methode zur Untersuchung des Problems – Datenerhebung – Datenanalyse – Schlussfolgerung) für die Wahrheitsfindung in Frage. Viele der in der Studierstube entwickelten ethnologischen Problemstellungen sind PhantomProbleme, da sie von der kulturellen Prägung des Fragestellers beeinflusst sind und vom Kategoriensystem der eigenen Sprache abhängen. Von zuhause mitgebrachte Fragen und Fokussierungen können also die Augen vor Neuentdeckungen verschließen. Es ist wie bei einem, „der freiwillig sein Gehörvermögen auf den Bereich zwischen 200 und 210 Hertz beschränkt hat und ein Konzert besuchen will“ (Kubik).

Am 25. Februar 1967 trifft Kubik während eines Abendspazierganges in der südmalawischen Stadt Blantyre auf die Band „Daniel J. Kachamba and his Brothers“. Die Gruppe, die auf der Straße auftritt, spielt Kwela-Musik. Kwela ist ein Jazz-Abkömmling, der in den 50er Jahren in Südafrika entstanden ist, später aber im gesamten südlichen Afrika sehr populär wurde. Die Kachamba-Band, anfangs von Daniel, dann von seinem jüngeren Bruder Donald Kachamba geleitet, sollte im Leben des Gerhard Kubik noch eine große Rolle spielen. Die Mitgliedschaft in Wiener Jazzbands war für den jungen Kubik von großer Bedeutung gewesen. Die Auflösung seiner so erfolgreichen Formation „Jazzband Musici“ im Jahre 1959 hatte ein traumatisches Ereignis dargestellt und war unmittelbarer Auslöser für die erste Afrika-Reise gewesen. Die Integration in Kachambas Kwela-Band bedeutete für Kubik eine vollständige Rückgewinnung der 1959 verlorenen Jazzband. Hier fand er eine neue musikalische Heimat. Seit 1974 ist er als Klarinettist, Gitarrist und Sänger aktiver Musiker in der Gruppe und hat mit ihr bislang Tourneen in 33 Staaten der Welt unternommen. Mit der Zugehörigkeit zur Kachamba-Band wurde das Dorf Singano Village in Südmalawi zum Lebens-


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mittelpunkt Gerhard Kubiks – neben Wien. Nach dem frühen Tod Donalds im Jahre 2001 wurde die Band in „Donald Kachamba’s Kwela Heritage Jazzband“ umbenannt. Ein weiteres Mitglied der Band und Weggefährte Kubiks seit vielen Jahren ist Moya Aliya Malamusi, der Bruder seiner so früh verstorbenen Frau Lidiya. Kubik hat Moya Malamusi in einer Art „learning by doing“ zum Feldforscher ausgebildet. Später hat dieser an der Universität Wien dissertiert und ist heute Leiter eines von ihm gegründeten Forschungszentrums mit angeschlossenem Museum in Malawi. * Früher Morgen in Singano Village. Das Leben erwacht, Menschen scharen sich um offene Feuer; im Juli kann es hier empfindlich kalt werden. Aus einem Haus tönt das Klappern einer Schreibmaschine. Disziplin und rigorose Reduktion bestimmen das Leben des Kulturwissenschaftlers, Musikethnologen und Psychotherapeuten Gerhard Kubik: kein Handy, kein E-mail, kein Internet, keine Partys, keine Vereine, kaum ein Tag, an dem nicht irgendetwas zu Papier gebracht wird. Ein dutzend Bücher und hunderte Artikel sind es inzwischen. Hätte er einer „regulären“ Beschäftigung nachgehen müssen, wäre das nicht möglich gewesen, betont Kubik. Einen 40-StundenJob hatte der heute 75-Jährige nur zweimal in seinem Leben, als Jugendlicher – für wenige Wochen! Mehrmals wurden ihm Professuren an Universitäten in Europa und Amerika angeboten; er hat alle Angebote ausgeschlagen und es vorgezogen, einfach, aber selbstbestimmt zu leben. Immer wieder ist es ihm gelungen, Förderungen für seine Forschungen zu bekommen. Die Basis dafür legte er selbst – durch seine reiche Publikationstätigkeit. Fünf Jahrzehnte sind seit den ersten Feldforschungen vergangen. Damals, um 1960, bestand die musikethnologische Landkarte Afrikas vor allem aus weißen Flecken. Dies hat sich geändert; Gerhard Kubik hat dazu viel beigetragen. Seine Forschungen in 18 afri-

kanischen Ländern haben mit nahezu 30.000 Titeln die weltweit größte Sammlung an Tonaufnahmen aus Afrika hervorgebracht. Die dazugehörigen Feldnotizen erstrecken sich, zu Büchern gebunden, über mehrere Regale. Die schriftliche Fassung der Forschungsergebnisse würde 40 Jahre dauern, rechnet Kubik vor. Aber ebenso dringend ist es, mit der Forschung im Feld fortzufahren – gerade heute; durch Fernsehen und Internetzugang tritt vielerorts passiver Konsum an die Stelle kreativer Eigenproduktion. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis sich die kulturelle Vielfalt drastisch reduziert haben wird. Gerhard Kubiks Pläne sind zahlreich. Und für Wanderungen in den MichiruBergen, die man von Kubiks Haus aus sehen kann, sollte auch noch ein wenig Zeit bleiben …

Quellen: Kubik, Gerhard: „The structure of Kiganda xylophone music.“ African Music 2 / 3 (1960): 6 – 30 · Ders.: „,Floating‘ – eine ethnopsychoanalytische Feldforschungstechnik.“ Österreichische Zeitschrift für Volkskunde 61 (2007): 249–268 · Ders.: „Transkulturelles Musikverstehen und das veränderliche individuelle Kulturprofil des Menschen.“ In: „Weltmusik“ – Ein Missverständnis, hg. von NRW Kultursekretariat, 25 – 44. Essen 2007 · Ders.: „Das ‚Eigene‘ und das ‚Fremde‘.“ Im Druck in: Rastlose Brückenbauerin. Festschrift zum 80. Geburtstag von Ilse Storb · Ders.: „Begegnung der Kulturen? – Reflexionen zu den Anfängen meiner Feldforschungen in den 1960er Jahren und ihre Folgen.“ Vortrag im Phonogrammarchiv der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, Wien, 27. 04. 2009 · Malamusi, Moya Aliya: „Akaning’a and his travels.“ In: African Perspectives: Pre-colonial History, Anthropology, and Ethnomusicology, hg. von R. Allgayer-Kaufmann und M. Weber, 19 – 41. Frankfurt am Main 2008 · Oliveira Pinto, Tiago de: „Interview mit Gerhard Kubik.“ http://afroamerikamusik.simpleblog.org /11375/ (19. 07. 2009) · Weber, Michael: „Rigorose Reduktion. Zum Werden des Kulturwissenschaftlers Gerhard Kubik.“ In: For Gerhard Kubik. Festschrift on the occasion of his 60th birthday, hg. von A. Schmidhofer und D. Schüller, 585 – 597. Frankfurt am Main 1994


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Vordergründiger Konsens

Brigitte Mahlknecht hat auf den folgenden Doppelseiten „Randnotizen“ gestaltet und als Lesehilfe den folgenden Text verfasst: „Für diese Arbeit verwende ich Material, das ich normalerweise nur für mich sammle und notiere; Notizen, die ich mir täglich als Denkstütze mache, überall wo ich die Außenwelt wahrnehme, wenn ich Zeitungen, Zeitschriften oder Bücher lese, wenn ich mir Filme ansehe, wenn ich in Buchläden stöbere, wenn ich durch die Straßen gehe und Sätze aufschnappe, die ich dann mit mir herumtrage, auf mich wirken lasse und schließlich irgendwo niederlege. Fragmente, die sich in mir augenblicklich mit anderen Fragmenten kurzschließen und dadurch Teil einer privaten Sprache werden. Ich fasse im Photoshop Nichtzusammengehörendes in Einheiten, so wie es mir ins Auge fällt. Dadurch entsteht eine Art digitale Collage-Arbeit. Ein Nachdenken, das von einem persönlichen Erfahrungsschatz ausgeht, nicht von Definitionen. Ich bin auf der Suche nach Fragen, die mich gegen Suggestionen rüsten, die mir helfen, die permanente Verunsicherung, die mich bombardiert, zu besänftigen. Die meisten Zeichen bleiben im Abstrakten, nehmen aber Bezug und wollen individuell gelesen werden. Künstlerische Arbeit, wie ich sie hier verstehe, ist vergleichbar mit dem Bestellen eines Gartens: immer das Notwendige tun, damit alles gedeihen kann, auch das Unkraut und zwischendurch etwas Exotisches.“












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„Die Unkenntlichkeit des Geschehens“

Von Kollegen hymnisch verehrt und fast vollständig vom Buchmarkt verschwunden: Franz Tumler (1912– 1998) sympathisierte in jungen Jahren mit der NS-Propaganda und betrachtete es später als Hauptaufgabe der Literatur, Ideologien zu misstrauen; er lässt Erzähler zu Wort kommen, die sich damit abgefunden haben, die Welt kaum mehr zu verstehen. – Johann Holzner über Franz Tumlers Unvermögen, Geschehen festzuhalten in Geschichten. Er war sich seiner Sache selten sicher: Tumler war nicht nur ein unsicherer Autofahrer. Er war sich auch nie ganz sicher (sehr lange jedenfalls), wenn es darum ging, Distanz zu halten zu mehr oder weniger attraktiven politischen oder ästhetischen Positionen. Er war schließlich ständig in Sorge, dass das wahrnehmbare Unübersichtliche, was die Wirklichkeit ihm bot, ihm unter der Hand verrinnen würde, wenn er schrieb. Diese Unsicherheit ist in seinen Texten aufgehoben. Aber gerade das macht, dass sie nach wie vor noch spannend zu lesen sind, auch eine Relektüre in jedem Fall verdienen. Das Gedicht „Jahre“ beginnt mit den Versen: „meine Jahre / was habe ich angefangen / mit ihnen“. Ein Dokument der Selbstkritik, die sich vor allem in der doppelten Bedeutung des Wortes „angefangen“ äußert. Es schließt dennoch (auch) durchaus selbstbewusst: „aber / diese Schrift / ist meine Schrift“. Tumlers Schrift ist tatsächlich immer unverwechselbar gewesen. *** Zunächst aber ein paar Stichworte zu seiner Biographie: Franz Tumler, Jahrgang 1912, geboren in Gries bei Bozen, hat in Südtirol nur sein erstes Lebensjahr verbracht. Seine Mutter übersiedelt nämlich nach dem frühen Tod des Vaters von Bozen nach Linz, wo Tumler die Schule besucht. Neben Alois Th. Sonnleitners „Höhlenkindern“ und Karl May liest er in

frühen Jahren vor allem schon Adalbert Stifter. Mit 14 Jahren besucht er das erste Mal die Verwandten in Laas, Schlanders und Bozen. Südtirol beeindruckt ihn allerdings nachhaltig, was sich schon in seiner ersten Erzählung „Das Tal von Lausa und Duron“ (1935) und viel später noch in dem Roman „Aufschreibung aus Trient“ (1965) sowie in dem Sachbuch „Das Land Südtirol“ (1971) niederschlägt. – Die Erzählung „Das Tal von Lausa und Duron“ beschert Tumler einen überraschenden Erfolg; mit Büchern wie „Der Soldateneid“ und „Österreich ist ein Land des Deutschen Reiches“ verneigt sich Tumler vor der NS-Propaganda, um die Erfolgslaufbahn zu prolongieren. Er schrickt auch nicht davor zurück, Auftragsarbeiten zu übernehmen, in denen er sich offen zum Nationalsozialismus bekennt. 1941 meldet sich Tumler freiwillig zum Kriegsdienst. Nach der Rückkehr aus Krieg und Gefangenschaft, die er in seinem Roman „Heimfahrt“ aufarbeitet, lebt er, ein „belasteter“ NS-Autor auf der Suche nach Auswegen, zunächst in Hagenberg (Oberösterreich). Erst mit dem Roman „Der alte Herr Lorenz“ (1949) kann er langsam literarisch wieder Fuß fassen. Wichtig für seine weitere Karriere werden die Bücher „Ein Schloß in Österreich“ (1953) und „Der Schritt hinüber“ (1956) sowie insbesondere „Der Mantel“ (1959). Schon in den fünfziger Jahren übersiedelt Tumler nach Berlin. Dort schließt er Freundschaft mit Gottfried Benn, er wird auch zu Treffen der Gruppe 47


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eingeladen und endlich Mitglied und in den sechziger Jahren sogar zeitweise Leiter der Abteilung Literatur der Berliner Akademie der Künste. Immer wieder besucht er nach wie vor Südtirol und Oberösterreich. In Südtirol sorgt Norbert C. Kaser (der offensichtlich über Tumlers Biographie nichts und über dessen Werk nicht allzu viel weiß) für Tumlers Nobilitierung im Himmel der Literatur, in seiner später viel zitierten Brixner Rede von 1969 heißt es: „Ich habe zwar etwas gegen Betitelungen, aber er ist der Vater unserer Literatur und der Vater unseres Erkennens.“ Aber Kaser bleibt nicht allein, zahlreiche Autorinnen und Autoren aus Südtirol, von Joseph Zoderer bis Sabine Gruber, haben sich zeitweise sehr intensiv, gelegentlich allerdings wesentlich kritischer als Kaser mit Tumlers Werk beschäftigt, namentlich auch mit „Volterra. Wie entsteht Prosa“ (1962) und selbstverständlich mit der „Aufschreibung aus Trient“. Nach einem Schlaganfall (1973) kann Tumler nur mehr kleine Texte, Gedichte schreiben; 1989 erscheint noch „Das Zerteilen der Zeit“ (bei Haymon); ein schmales Buch mit Gedichten, in denen gelegentlich Selbstzweifel und Selbstgewissheit sich dermaßen überschneiden, dass kaum mehr auszumachen ist, was das (verlorene) Ich bewegt: WELCHE STIMME die Zeit gezählt aber der Ewigkeit Schauder mischt sich ein wechselnden Gesichtern zugesprochen aber die Stimme unüberhörbar kenntlich die Stimme gezählt die Zeit Tumler stirbt schließlich 1998 in Berlin. – Die Liste der Auszeichnungen und Preise, die er erhalten hat, zeigt ziemlich unmissverständlich, in welchen histo-

rischen Phasen er im deutschsprachigen Literaturbetrieb mitgemischt hat (vor allem in den frühen vierziger Jahren sowie von der Mitte der fünfziger bis hin zum Beginn der siebziger Jahre); in den letzten Jahren seines Lebens, zwischen 1982 und 1992 erhält er hingegen Würdigungspreise, die bereits dem „Gesamtwerk“ verliehen werden. 1940 Dichterpreis der Reichshauptstadt (Berlin) 1941 Kulturpreis Oberdonau 1942 Sudetendeutscher Schrifttumspreis (Karlsbad) 1956 Charles-Veillon-Preis (Lausanne) 1961 Ehrenpreis des Bundesverbandes der deutschen Industrie (Köln) 1967 Literaturpreis der Bayrischen Akademie der Künste (München) 1971 Adalbert-Stifter-Preis (Linz) 1982 Andreas-Gryphius-Preis (Düsseldorf) 1982 Würdigungspreis für Literatur des Landes Tirol (Innsbruck) 1985 Walther von der Vogelweide-Preis (Bozen) 1985 Verdienstkreuz des Landes Tirol (Bozen) 1992 Kunstwürdigungspreis der Stadt Linz 1 *** Gertrud Fussenegger, die eine Zeitlang Tumler sehr nahe stand, ihn später aber ganz aus den Augen verlor, hat mich kurz vor ihrem Tod einmal gefragt, ob er sich je unmissverständlich und kritisch zu seiner NS-Vergangenheit bekannt habe. – Direkt darauf angesprochen, hat sich Tumler bekanntlich ähnlich bedeckt gehalten wie die Autorin der „Mohrenlegende“ auch. Aber anders als sie ist er in seiner Schreibweise schon in den fünfziger Jahren radikal abgerückt von jenen Positionen, die in den dreißiger und vierziger Jahren das Feld der Literatur beherrscht haben. Der Blut- und Boden-Dichtung setzte er den „modernen Roman“ entgegen, namentlich den „Nouveau Ro1 Quelle: Datenbank Literatur in Tirol und Südtirol des BrennerArchivs: http: //www.uibk.ac.at/brenner-archiv/literatur/


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man“: 1958 rezensierte er Alain Robbe-Grillets Roman „Le voyeur“, er verglich ihn mit Samuel Becketts „Molloy“ und kam zum Schluss, dass der „Roman althergebrachter Art“, der Lebenszusammenhänge noch psychologisieren und interpretieren wollte, mit diesen neuen Werken wohl endgültig als überholt betrachtet werden müsste: „Die Unkenntlichkeit des Geschehens, die Unmöglichkeit, es in einer Geschichte festzuhalten, ist das Thema Robbe-Grillets. Es gibt bei ihm keine eindeutigen Auskünfte.“ (In: Der Monat 10, 1958, Heft 115). Die undurchschaubare Wirklichkeit trotzdem wenigstens annähernd zu erfassen, durch ein sorgfältiges Registrieren, Aufzählen, Aufschreiben, nicht zuletzt durch permanente Andeutungen, wie viel es noch zu erzählen gäbe, das ist von da an Tumlers Hauptanliegen. In der Zeit von 1930 bis 1938 hatte er, mit einigen Unterbrechungen, noch als Volksschullehrer gearbeitet. Am 20. März 1938 schrieb er, zum so genannten „Anschluss“, in sein Tagebuch: „Es war der schönste Abend meines Lebens.“ Von da an lebte er als freier Schriftsteller. – 30 Jahre später, 1968, kehrte er, auf einer Reise nach Rom, zu der ihn das dortige österreichische Kulturinstitut eingeladen hatte, auf halbem Weg, in Mirandola wieder um; nichts hielt ihn mehr in Italien, obwohl er das Land und vor allem auch die italienische Sprache mochte, er wollte nach Berlin zurück; das hieß (wie er in einem Brief festhielt): an den „gewohnten Schreibtisch“. Der Rückzug aus der Öffentlichkeit in das Privatleben war indessen alles andere als eine Abkehr vom Kurs der engagierten Literatur, wie ihn Jean-Paul Sartre oder Jean Améry (der Tumler sehr verbunden war) vorgezeichnet hatten. Im Gegenteil, Tumlers poetologisches Programm ist ein eminent politisches geblieben. Vordergründig, indem er beispielsweise über ethnische und kulturelle Grenzen zwischen der deutschsprachigen, der ladinischen und der italienischen Welt in Südtirol nachdenkt, ohne sich um den dominanten politischen Diskurs und dessen Vorgaben zu kümmern („Auf-

schreibung aus Trient“, „Das Land Südtirol“). Tiefgreifend, indem er Erzählstrategien entwickelt, die alle Schwarz-Weiß-Malereien verwerfen und auch die gewohnten Trennlinien zwischen Wirklichkeit und Fiktion ohne weiteres verschieben. Tumler lässt Erzähler zu Wort kommen, die sich damit abgefunden haben, die Welt kaum mehr zu verstehen, die einsehen, auch … ja gerade den eigenen Geschichten misstrauen zu müssen. Es sind übrigens, das sei denn doch auch hier erwähnt, fast immer männliche Erzähler. Was Bruno Brehm, über viele Jahre für Tumler „ein väterlicher Freund“ (ehe Gottfried Benn diese Rolle übernahm), ihm schon 1937 vorgeworfen hat, nämlich: dass seine Frauenfiguren farblos wirken, gilt nahezu für Tumlers Gesamtwerk, auch noch für seine letzten Bücher. – Tumlers Erzähler aber arbeiten, obgleich sie nur über ein bescheidenes Basisvokabular verfügen (wie Barbara Hoiß gezeigt hat), mit vielen Farben, sie setzen auf die Macht der Phantasie; „eines Tages wachen wir auf und wollen die Welt in einer bestimmten Weise sehen, und dann sieht sie auch so aus. Schon ist jemand da, der sie so malt, und nun auch jemand, der etwas in ihr so baut“ (heißt es in Tumlers Notizen aus Italien, die unter dem Titel „Figur und Erscheinung“ 1957 erschienen sind; in: Merkur 11, Heft 107). Seine Erzähler setzen auf die Macht der Phantasie, sie sind jedoch gleichzeitig (das beginnt schon in dem Roman „Der Schritt hinüber“, 1956) äußerst skeptisch, was die Möglichkeiten der Erzählung, des Romans insgesamt betrifft. „Gang, Haltung, Gebärden, die eigene Stimme – dieses Unvermögen, sich selbst wahrzunehmen, hat im Geistigen ein Gegenstück: wir halten in uns Dinge für wichtig, die es nicht sind; und halten das Wichtige, das die andern sofort sehen und als unsere eigentlich Kraft oder Schwäche erkennen, oft nicht für der Rede wert.“ Die Erfahrungen, die Tumler in seinem Essay „Wie entsteht Prosa“ reflektiert, führen ihn konsequent zu einem Erzählen, das allen ideologischen Konstruktionen wie allen in Stein gemeißelten Geschichten den Boden wegnimmt.


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Darüber, dass dies eine der Hauptaufgaben der Literatur werden und bleiben sollte, über diesen Punkt ließ Tumler seit den späten fünfziger Jahren keinen Zweifel mehr aufkommen, in dieser Frage wenigstens war er sich seiner Sache sicher. – Dass er das wirkliche Leben gelegentlich verfehlte, weil ihn schon im Akt des Erlebens die Umsetzung in das dargestellte Leben mehr als alles andere beschäftigte (wie Gertrud Fussenegger anschaulich zu erzählen wusste und nie müde wurde zu erzählen), das ist eine andere Geschichte.

Derzeit ist ein einziges Werk Tumlers noch auf dem Markt erhältlich: die Erzählung „Der Mantel“ (Bibliothek Suhrkamp). Es gab und gibt allerdings diverse Anstrengungen, dem Autor mehr Präsenz zu verschaffen; zu erwähnen sind in diesem Zusammenhang vor allem die Bemühungen von Norbert Florineth und Jörg Hofer, Joseph Zoderer, Sigurd P. Scheichl, Ferruccio Delle Cave und Alessandro Costazza sowie die jüngste einschlägige Dissertation: Barbara Hoiß, Ich erfinde mir noch einmal die Welt. Versuch über Moderne, Heimat und Sprache bei Franz Tumler. Innsbruck 2006.2

*** Der weitaus größte Teil des Nachlasses Tumlers liegt im Deutschen Literaturarchiv in Marbach am Neckar. Dorthin gab der Autor die meisten seiner Schriften schon zu Lebzeiten. Daneben befinden sich noch kleinere Teile in der Dokumentationsstelle für neuere Südtiroler Literatur (Bozen), bei verschiedenen Privatpersonen und im Brenner-Archiv in Innsbruck. Das Brenner-Archiv verfügt über Briefe und über Manuskripte. Am umfangreichsten ist das Konvolut Franz Tumler – Hermann Stuppäck, das von dem ersten erhaltenen Brief vom 8. September 1948 bis zum letzten vom 2. März 1983 reicht. Neben Briefen und Postkarten Tumlers an Stuppäck liegen Durchschläge von Briefen Stuppäcks an Tumler vor. Interessant ist der Briefwechsel vor allem, weil Stuppäck lange Zeit Tumler als Lektor betreut hat – dementsprechend aufschlussreich sind die Vorschläge, aufschlussreich ist es auch zu beobachten, ob und wie sie Berücksichtigung gefunden haben. Davon betroffen sind u. a.: „Landschaften eines Heimgekehrten“, „Der alte Herr Lorenz“, „Die Heimfahrt“, „Ein Schloß in Österreich“. Dazu kommen noch zwei Typoskripte mit zahlreichen handschriftlichen Verbesserungen – nämlich „Der Schritt hinüber“ und „Erinnerungen an Aichet“. ***

Die Gemeinde Laas hat einen Franz-Tumler-Literaturpreis ausgeschrieben; mit diesem Preis können Debütromane aus dem gesamten deutschen Sprachraum ausgezeichnet werden. – Ein im Forschungsinstitut Brenner-Archiv lange erwogenes Vorhaben, die wichtigsten Arbeiten Tumlers in einer Studienausgabe (im Folio-Verlag) neu herauszubringen, ist indessen inzwischen zu den Akten gelegt worden, weil ein Einvernehmen mit der Witwe des Autors, Sigrid John Tumler, auch nach zahlreichen vielversprechenden Kontakten am Ende doch nicht zu erzielen war.

2 Ein vom Brenner-Archiv in Verbindung mit dem Kreis Südtiroler Autorinnen & Autoren vorbereitetes Tumler-Symposion, das im Oktober 2008 in Bozen und Laas durchgeführt worden ist, hat „zu einer kritischen Relektüre“ seiner Arbeiten, „zu einem Rückblick auf die wichtigsten Stationen seiner Laufbahn und zu einer neuen Darstellung der (Erzähl-)Strategien in seinen Werken“ eingeladen. Die Erträge dieser Tagung, darunter Arbeiten von Sieglinde Klettenhammer, Alessandro Costazza, Christine Riccabona, Wilhelm Burger, Toni Bernhart, Hans Dieter Zimmermann und Norbert Florineth, sowie etliche weitere Beiträge, u. a. von Barbara Hoiß, Harald Stockhammer, Gertrud Fussenegger und Joseph Zoderer, sollen demnächst (herausgegeben von Barbara Hoiß und Johann Holzner) in einem neuen Band der Edition Brenner-Forum präsentiert werden.


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Esther Stocker Originalbeilage Nr. 14

Bitte nehmen Sie die Folie und falten Sie diese zu einem Quader (beachten Sie dabei die Faltrichtung), ziehen Sie die Lasche durch den Schlitz, fertig ist die transparente Skulptur.

„Der schöne Nutzen dieses Objektes ist, dass es völlig unbrauchbar ist. Die Strukur verändert sich je nach Blickwinkel. Eine leichte Veränderung einer Struktur kann manchmal eine Veränderung in der Bedeutungsfindung erzeugen. Dabei interessiert mich die Ästhetik der Potentialität, die Beziehung zu etwas Möglichem, die leere Stelle in einer Form, die sich eindeutig von einer klar identifizierbaren Form unterscheidet.“ (E. S.)


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bzw.

Peter Stephan Jungk sinniert über einen weit verbreiteten Stehsatz der Kunstwelt: „Ohne Beziehungen geht gar nichts.“ Als ich zu schreiben begann, sechzehnjährig, saß ich im Schneidersitz auf der ausgeleierten Matratze eines schiefen Betts. Mein hässliches Schlafkämmerchen befand sich auf dem Dachboden eines alten Patrizierhauses in West-Berlin. Da hämmerte ich blind – im Ernst: mit geschlossenen Augen – auf die Tastatur einer alten Schreibmaschine, die ich meinem Vater abgeknöpft hatte. Meinem damals, 1969, berühmten Vater, dem Zukunftsforscher Robert Jungk, dessen Name heute kaum noch jemand kennt, der jünger als 40 Jahre alt ist. Ich hatte am Vorabend Peter Handkes Stück Kaspar in einem kleinen Theater am Kurfürstendamm gesehen, es inspirierte mich zu folgenden Sätzen: „Apes and grapes – Blumenkäfige bringen Affenkäfige immer dann zum Glühen, wenn Baumkronen Menschenhäuser bedrohen.“ Der Zufallsbuchstabe, den ich mit geschlossenen Augen traf, ergab das erste Wort. Wusste ich nicht weiter im Text, schloss ich erneut die Augen, wieder ein Zufallsbuchstabe, so fand ich zum nächsten Satz. Und immer so fort, monatelang, Text nach Text. Meine Ergüsse hießen „Kugelreisen“ oder „Wir“ oder „Thunfischjagd“. Die stolze Mutter meinte: Wer Schriftsteller werden will, braucht Kontakte, braucht Beziehungen. Wir haben Beziehungen. Wir werden dir helfen. Meine Fingerübungen wurden herumgereicht. Peter Handke, die Schriftstellerin und Essayistin Hilde Spiel, der Literaturkritiker Walter Höllerer und weitere zehn, zwölf Persönlichkeiten aus dem Kulturleben der sechziger Jahre des letzten Jahrhunderts wurden mit meinen Texten beglückt. Sie mussten sie lesen, wurden von Mama aufgefordert, ihre ehrliche Meinung zu Protokoll zu geben. Mehr noch: Sie legte ihnen nahe, dabei behilflich zu sein, die Texte ihres Sohnes in Literaturzeitschriften unterzubringen. Ich bekam zu hören, zu lesen, dass ich ein blutiger Anfänger sei, der noch weite Wege vor sich habe. Boshaft, oder gar gehässig reagierte niemand, man nahm Rücksicht – sicher nicht

auf mich. Peter Handke sollte sich 20 Jahre später an diese Zeit erinnern: „Ich kenne Peter Jungk fast schon seit seinen Kindes- oder wenigstens HalbwüchsigenBeinen: Der damals etwa Sechzehnjährige, ironischer Schüler einer Rudolf-Steiner-Schule, gehätscheltes, freilich um so weniger umhegtes Einzelkind, schrieb bereits, jedoch nicht drauflos, sondern fühlbar aus sich heraus, blumig Unverständliches, das mir aber glaubhaft erschien durch seinen Rhythmus, auch das Abbrechen immer im richtigen Moment, Zeugnisse eines Zungenredens, eines einsamen …“ Hilde Spiel begleitete meine allerersten Schriftstellerschritte beratend, beruhigend, ermutigend. Und sollte mich noch jahrelang trösten, bugsieren, loben, sie glaubte an mich, bis zu ihrem Tod im Jahr 1990. Bis zur ersten Publikation eines Textes von mir sollten noch fünf Jahre, bis zu meiner ersten Buchpublikation neun lange Jahre vergehen. Das erste Buch, Stechpalmenwald, in Hollywood angesiedelte Kurzgeschichten, fand den Weg zu einem Verlag, da mein Vater den damaligen Cheflektor des Hauses S. Fischer gut kannte. Herr E. stellte mich, nachdem er einige meiner Erzählungen gelesen hatte, der Besitzerin des renommierten Verlagshauses vor. Ich tröste mich allerdings mit der Überzeugung: die Text-Sammlung legte Zeugnis von einem jungen, gleichsam fulminanten Talent ab. Wer sich jedoch auf Intervention(en) anderer verlässt, wer seine Schritte nicht unbegleitet und nicht auf eigene Faust setzt, wird im Hinterkopf immer eine Spur der Scham, der Unsicherheit, des Zweifels behalten. Dagegen sind keine Kräuter gewachsen. Helmut Qualtinger, den ich gut kannte und verehrte, brachte es in einem seiner bösen Liedtexte auf den Punkt: Der Papa wird’s schon richten! Das g’hört zu seinen Pflichten! Mit dieser Überzeugung wuchs ich


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auf – zumindest unterbewusst. Vater kannte beinahe jeden Verleger, jeden einflussreichen Redakteur, jeden Fernsehproduzenten im deutschsprachigen Raum, bei uns zu Hause gingen Philosophen, Dichter, Schauspieler, Regisseure ein und aus. Und jeder Gast entzückte sich: Wie reizend dieser Sohn doch sei! Und was wird aus dir, eines Tages, fragten die Gäste, die Freunde, die Bekannten meiner Eltern, sie stellten mir diese Frage auch dann noch, als ich, mit fast 26 Jahren, mein erstes Buch bereits publiziert hatte, im Herbst 1978. Es gibt Verleger, an die ich mich bis heute nicht wende, denn sie sehen, vermute ich, in mir bis heute den Sohn von Robert Jungk, das Sohndilein, wie Vater mich auch im Beisein anderer gerne nannte. Ich hätte mir natürlich ein Pseudonym zulegen können: die Namen Friedrich Villanders und Peter Stephan Tarasp schwebten mir vor, als ich 20 Jahre alt war. Ich hatte nicht den Mut, die Nabelschnur des Vaternamens zu durchtrennen. Blicke ich heute auf das zurück, was man Karriere nennt, bin ich keineswegs unzufrieden; ich habe bisher acht Bücher publiziert, die Mehrzahl ist in Übersetzungen erschienen, in Frankreich, in Holland, in England und den USA. Philip Glass plant für das Jahr 2013 eine Oper, die auf meinem Walt-Disney-Roman Der König von Amerika basiert. Und dennoch: vergleiche ich die Erwartungen und Ansprüche meiner Jugend, als meine Eltern mir ihr Wort gaben: dank unserer Beziehungen wirst du im Leben sehr weit kommen, so stöhne ich, erschrecke mitunter sogar ein wenig. Die Wirklichkeit – vor allem der Stand meines Bankkontos – stimmen mit jenen frühen Hoffnungen nicht überein. Haben mir die Beziehungen meiner Eltern im Endeffekt eher geschadet als genützt? Male ich mir aber aus, was geschehen wäre, hätte ich von diesen Beziehungen nicht im mindesten profitiert, sähe das Ergebnis womöglich noch weit bedenklicher aus. Ich erinnere mich an Gespräche, die ich vor 30 Jahren mit meiner späteren Frau führte, L. war damals eine entschiedene Gegnerin jeglicher Inanspruchnahme von Beziehungen. Sie empfand es als weit unter ihrer Würde, jemanden um Hilfe, um Intervention, um

Weiterempfehlung zu bitten. Ich hielt lange Monologe, versuchte, sie vom Gegenteil zu überzeugen: Ihr künftiger Erfolg als Fotografin hänge mit Sicherheit von der Protektion arrivierter Kolleginnen und Kollegen ab. Sie hörte nicht auf mich. Und schaffte den hürdenreichen Weg auf ihre Weise – ganz allein. Als meine Mutter L. vor Jahren telefonisch wissen ließ, es sei für sie absolut kein Problem, Karten zu ausverkauften Opern-, Konzert- oder Theateraufführungen der Salzburger Festspiele zu besorgen, denn „wir haben Beziehungen!“, legte meine Angehimmelte nicht nur den Hörer grußlos auf, sondern drohte mir, sich augenblicklich von mir trennen zu wollen. Mit „solchen Leuten“ möchte sie in Zukunft nichts zu tun haben, ließ sie mich wissen. Wer Talent hat, wer ehrgeizig und imstande ist, etwas Besonderes in die Welt zu setzen, das sich vom Althergebrachten, vom Alltäglichen, vom Mittelmaß deutlich unterscheidet, wird mit Sicherheit auch ohne Vitamin B Erfolg und Anerkennung ernten. Sowohl als Künstler wie im Geschäftsleben. Als Schiffskapitän ebenso wie als Filmproduzentin. Als Kameramann, Facharzt oder Architekt ebenso wie als Journalistin, Blumengroßhändlerin oder Kurhoteldirektorin. Haben Thomas Bernhard oder Peter Handke in ihren Anfängen je von Beziehungen profitiert? Sicher nicht. Franz Kafka? Sicher nicht! Ernest Hemingways erster Roman hätte allerdings ohne F. Scott Fitzgeralds Intervention keinen Verlag gefunden. Ohne Beziehungen geht es auch. Ohne Beziehungen ist man verloren. Beide Lebenseinstellungen führen zum Ziel. Wer aber auf Beziehungen bewusst verzichtet, ist entweder ein Genie oder ein sehr mutiger Einzelgänger. Im Falle einer beträchtlichen Erbschaft, die die kriminellen Testamentsvollstrecker meines Onkels in Caracas, Venezuela, mir streitig machten, gelang es mir, mit einer der einflussreichsten Familien des Staates Panama Kontakt aufzunehmen. Nach Panama war die gesamte Erbschaftssumme verschoben worden, dort musste ich für mein Recht kämpfen. Familie H. brachte mich mit einem jungen Anwalt zu-


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sammen, der später Minister der panamesischen Regierung werden sollte. Dr. S. ließ mich wissen: Dank seiner Beziehungen sei mein Fall bereits so gut wie gewonnen. Ich müsse mir nicht die geringsten Sorgen machen, innerhalb eines Jahres werde alles über die Bühne gegangen sein. Es gelang ihm, dank seiner Beziehungen, das gesamte Vermögen meines Kontrahenten, inklusive der mir gestohlenen Summen, die allesamt auf geheimen Nummernkonten lagen, einzufrieren. Mein Jubel kannte keine Grenzen. Nach vier Jahren gelang es meinem Gegner, sein gesamtes Vermögen freizueisen; er hatte den Höchstrichter der Republik Panama mit einer großen Geldsumme bestochen. Ich ging leer aus. Mein Vater brachte mir bei: Die Begegnung mit jemandem, von dem man meint, er sei für das künftige Privat- oder Berufsleben von großer Wichtigkeit, ist in Wirklichkeit oft nur aus einem ganz anderen, durchaus überraschenden Grund von Bedeutung. Weil dieser Mensch dir das Tor zu jemand anderem öffnet, zu jemandem, der dein Leben tatsächlich auf eine neue Bahn wirft. Oft sind es Ketten von Begegnungen, die zu einem Resultat führen, von dem man zu Beginn eines Zusammentreffens nichts ahnen konnte. Überlege ich mir, wie es dazu kommt, dass mir die Ehre zuteil wird, auf diesen Seiten zu publizieren, fällt mir eine Begegnungskette von mindestens sieben Männern und Frauen ein, mit denen ich im Verlauf von 35 Jahren in Verbindung stand, bevor ich die Aufforderung erhielt, für Quart einen Beitrag zu verfassen. Die Kette nimmt ihren Anfang in den sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts – durch die Bekanntschaft mit dem ehemaligen Wiener Burgtheaterdirektor Ernst Haeusserman. Dank Haeusserman lernte ich den Theaterregisseur D. kennen, durch D. dessen in New York lebende Verwandte T., eine Literaturagentin … und so weiter, und so fort … Mein Freund Jonathan Bates hätte ohne Beziehungen nicht überlebt – oder säße womöglich bis heute in einem Gefängnis von Damaskus. Nach einer Israel-

reise, Anfang der siebziger Jahre, trampte er durch Syrien, wurde von Soldaten aufgegriffen und als angeblicher Spion vor Gericht gestellt. Er erhielt lebenslang. Zwei Mal schleppte man ihn vor ein Erschießungs-Peloton: zur Scheinexekution. Seine Eltern, seit Monaten ohne Neuigkeiten, wandten sich an einen Rechtsanwalt, den sie gut kannten, der wiederum den damaligen Außenminister der USA, William Rogers einen Freund nannte. Rogers unternahm gar nichts. Seinem Nachfolger, Henry Kissinger, fiel die Akte B. gleich zu Beginn seiner Amtszeit in die Hände. Wenig später brach der Jom-Kippur-Krieg aus. Kissinger gelang es, die Kriegsparteien nach zwei Wochen zu einem Waffenstillstand zu überreden. In der Folge pendelte er zwischen Tel Aviv und Damaskus hin und her. Bei einem seiner Treffen mit Syriens Präsident Assad ließ er den Namen meines Freundes fallen – einen Tag später war Jon auf freiem Fuß. Anderseits: ein Freund in New York, dessen Reichtum und politische Einflussnahme grenzenlos sind, vermittelte mich – meiner konstanten HerzrhythmusProbleme wegen – zu seinem persönlichen Kardiologen, Professor F., dem Präsidenten der American Heart Association. F. empfahl mir den besten Herzchirurgen der Welt, seinen engen Freund Professor C., in Paris. Unmittelbar vor dem Operationstermin erfuhr ich, dass Professor C., damals 73 Jahre alt, seit Jahren von seinen Kollegen gedrängt werde, keine Operationen mehr durchzuführen, mehr noch, von ihm operiert zu werden, sei gleichsam lebensgefährlich. Ich sagte den Eingriff kurzfristig ab – suchte und fand einen relativ unbekannten Herzchirurgen, der meine Mitralklappe, ich klopfe auf Holz, hervorragend repariert hat. Beziehungen können hilfreich sein, keine Frage. Aber sie sind nur für einen Bruchteil der Entscheidung verantwortlich, ob eine Lebensgeschichte in die positive oder negative Richtung ausschlägt. Es ist wie beim Tippen meiner ersten Texte, mit geschlossenen Augen.


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Honigverkäufer im Palastgarten Landvermessung No. 3, Sequenz 1 Vom Virgental ins Krimmler Tal Geschichten kann man auch durch geometrische Operationen auf der Landkarte generieren: In Quart folgen unterschiedliche Autoren mit unterschiedlicher Kondition unterschiedlichen Linien (s. Übersichtskarte auf der vorhergehenden Doppelseite). Derzeit befinden wir uns am Beginn einer Geraden, die von Obermauern im Osttiroler Virgental nach Garmisch-Partenkirchen führt. In der aktuellen Folge ist Peter Waterhouse der vorgegebenen Linie NICHT gefolgt. Im Winter 2009 erhielt ich die Einladung von A. S., nach Tirol in das Mondlanger Waldtal zu kommen, um über den langen Weg und das Land, in welchem der Weg lag, der von dem Tal zur Mautstraße ging, zu schreiben. Auf der Landkarte, welche ich an dem Wintertag aufschlug, sah ich, dass zwischen Tal und Tal und zwischen den Ortschaften K. und R. Höhen lagen, keine Straße dort ging, vielleicht Almen waren, Fälle fielen, Felswände standen, nummerierte Wege kurvten. In einem zweiten Gespräch hörte ich, dass ich von Tal zu Tal nicht auf der direkten und kurvenden Route reisen könnte, sondern einen großen Bogen beschreiben über die Landstraße, um den großen Kontinent zwischen Tal und Tal, aber den direkten Weg nicht befahren könnte, ihn besser nicht ging, der im Winter zugeschneit oder verschneit war, auch im Frühling zugeschneit sein konnte oder beschneit. Ich sollte mit dem Wagen oder mit den Postbussen auf anderen Wegen fahren, den zu schreibenden Weg besser nicht gehen, in den Zwischenraum und die Zwischenberge und in die Zwischenhöhen nicht. Ich las in jenem Winter langsam – manches Kapitel fünfmal, sechsmal, siebenmal, zehnmal – den Roman von Charles Dickens über den Besitzer des Londoner Handelshauses Dombey and Son, 1844 bis 1846 in London erschienen in monatlichen Folgen. Dickens hatte zu jener Zeit sich in der Schweiz aufgehalten mit seiner Frau Kathrine Hogarth und mit einer mir nicht bekannten Zahl seiner später einmal alles in allem zehn Kinder – am Genfer See –, und hatte von Lausanne aus auch eine Reise in das Mondlanger Waldtal unternommen. Ich begann den Roman zu lesen, weil ich mich als Kind vor Charles Dickens und vor seinen Romanen gefürchtet hatte; die Furcht mir gut in Erinnerung geblieben war und ich, unter neuen Voraussetzungen und in einem neuen Alter, über sie nachdenken wollte; und weil ich in dem späten Vorwort zu dem Roman,

dem Vorwort zu der Cheap Edition von 1858, sein Lob der genauen Beobachtung gefunden hatte, welche ihm offenbar im Schreiben gelang, und die daran angeschlossene Erfahrung der verwirrenden oder verwirrten Vorstellungskraft. Das Kind hatte sich gefürchtet vor der Rohheit vieler Erwachsener in Dickens’ Romanen, welche zwar, wie Dickens in dem Vorwort über Paul Dombey 1858 schrieb, die ganze Zeit, all along, ein Gefühl ihrer Ungerechtigkeit, einen Sinn und ein Bewusstsein ihrer Rohheit und Ungerechtigkeit hatten oder haben mochten, die also ein Gewissen besaßen, aber kein Gefühl und keinen Sinn für Kinder, kein kindliches Gewissen, die einen Sinn für Gerechtigkeit besaßen, obgleich sie so ungerecht handelten, einen Sinn für Selbstgerechtigkeit. Mitleidlos ungerecht ging es zu, so dachte das Kind und so fürchtete es sich. A sense of his injustice is with him all along, schrieb Dickens über den Besitzer des Handelshauses Dombey and Son. Sein Ungerechtigkeitssinn war sein Gerechtigkeitssinn. Bei der Wiederlektüre von Dealings with the Firm of Dombey and Son, Wholesale, Retail and for Exportation, die wohl eher eine erste Lektüre war – was nämlich das Kind im ersten Kapitel gelesen hatte, war schon vergessen, nur die Angst hatte ich nicht vergessen –, sah ich oder vermeinte zu sehen und wiederzuerkennen, dass eine Auslassung dem Kind Angst gemacht hatte – oder gemacht haben könnte –, welche sich bei aufmerksamer Lektüre oder langsamer, nachdenklicher und mehrmals wiederholender Lektüre im ersten Satz des Romans auftat, in den ersten Worten des ersten Halbsatzes, vielleicht sich aber gerade nicht der Aufmerksamkeit erschloss, sondern einer Unaufmerksamkeit und Augenblicken der Gedankenabwesenheit. Ich begann über diese Auslassung – oder diesen anderen Raum – nachzudenken und bemerkte, dass ich zuweilen auch an das


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ausgelassene Wegstück dachte, auf welchem ich nicht gehen würde und gehen könnte, welches ich in einem großen Bogen umfahren könnte, das Wegstück oder unwegsame Gelände zwischen den beiden Tälern in Tirol. Der erste Satz in den Dealings with the Firm of Dombey and Son, Wholesale, Retail and for Exportation sprach die Firma Dombey and Son nicht an, wie dann den ganzen langen Roman lang nichts über die Firma gesagt wurde, nicht gesagt wurde, womit gehandelt wurde und womit Paul Dombey Erfolg gehabt hatte und reich geworden war. Der erste Satz beschrieb Dombey in einem Schlafzimmer in dem Londoner Wohnsitz, beschrieb den im abendlichen Dunkel in einem Winkel des Zimmers sitzenden Kaufmann und sein in warme Decken gewickeltes neugeborenes Kind, den vor kaum achtundvierzig Minuten geborenen Sohn, welcher in seiner Bettstatt aus Korbgeflecht lag. Ich glaubte mich zu erinnern, dass der kleine Leser sich zunächst vor Dombey nicht gefürchtet hatte, welcher in einem Winkel des dunkel gewordenen Raums saß, dass dem Leser aber eine Verdoppelung oder Wiederholung aufgefallen war im ersten Satz, die beinahe nebeneinander gestellten Worte bedside und bedstead. Bedstead, das war die Bettstatt, der Rahmen des Betts. Die Erwähnung von bedstead verlangte nicht unbedingt danach, dass dann auch gesagt wurde, wer darin lag. Bedstead war ein Möbel, ob wer darin lag, musste streng genommen nicht gesagt und erzählt werden. Mit bedside war es anders, bedside war wie das deutsche „Bettrand“ kein Möbelstück. Das Kind hatte hier begonnen, etwas zu spüren, hatte gespürt, was die österreichische Sprache beschrieb als ein entrisches Gefühl. Vielleicht das Berggefühl, einen jähen Abbruch gefühlt oder steilen Abbruch oder, weniger bergig: eine Auslassung. Das Wort bedside, wie das Wort Bettrand, erzeugte ein präzises Gefühl in einem langsamen, nachdenklichen Leser – ob ich als Kind langsam und nachdenklich war und langsam und nachdenklich las, wusste ich nicht mehr. Das Kind fühlte wohl nicht, dass das Wort bedside nach etwas verlangte, dass es Nähe ausdrückte, dass es nicht so sachlich war wie das Wort bed, dass es Gesellschaft, Gemeinschaft, Geselligkeit ausdrückte und Sorge um jemanden, der ans Bett gefesselt war, nicht aufstehen konnte, krank war und sterbenskrank. Der kleine Leser sah, dass in der Bettstatt ein kleines Kind lag, las, dass ihm erzählt wurde von dem kleinen Kind, sah auch, dass in dem anderen Bett, von dem

allein der Rand genannt war … Auslassung, niemand; der Leser spürte aber, dass da jemand war, dass da jemand bettlägerig war, im Sterben lag. Dombey sat in the corner of the darkened room in the great armchair by the bedside and. Auf das Wort and folgte: die im Bett Liegende oder der im Bett Liegende, dem Gesellschaft geleistet wurde, der nicht verlassen wurde, der getröstet, gewärmt wurde; es folgte der Name des Leidenden oder Kranken oder der Sterbenden oder Schwachen. By the bedside and: es folgte die Schwäche, Erfolglosigkeit, Mut, Tod, Stille, Angst und die Gesellschaft mit diesen allen, die Nähe zu diesen allen. In Dickens’ Roman folgte auf das Wort and – das erste Und-Wort des Romans – nicht, wem da in der Not Gesellschaft geleistet wurde – besser gesagt: es war da niemand in Not, die da in ihrer Not im Bett Liegende war gar nicht da, sie war doch da, aber sie war nicht da. Auf das Wort and folgte jemand anderer: and Son lay tucked up warm in a little basket bedstead, carefully disposed on a low settee immediately in front of the fire and close to it. And close to it – das war das zweite Und-Wort des Romans. And close to it. Und nahebei. Schon bei dem ersten Und-Wort hatte vielleicht der kleine Leser die Nähe gespürt, die Nähe des da im Dunkel Sitzenden zu jemandem im dunklen Bett, hatte vielleicht die Nähe gespürt, die keine Nähe war, hatte Nähe und Auslassung, Nähe und Alleinlassen gespürt. Im Wiederlesen des Romans, im Wiederbeginn der Lektüre sah ich, dass sich einer langsamen, wiederholenden Lektüre etwas erschloss, das der Aufmerksamkeit und Wachheit vielleicht sich nicht erschloss, der Wachsamkeit vielleicht nicht, einer – wie mir schien – Unaufmerksamkeit oder anderen Bereitschaft aber erreichbar war, sah, dass das Unsichtbare irgendwie sichtbar wurde, die im Bett liegende und sterbende Frau, von welcher der Romanbeginn nicht erzählte, unerzählerisch und unaufmerksam oder unmerklich sichtbar wurde. Dombey saß in der Ecke des dunkel gewordenen Zimmers in dem großen Lehnstuhl am Bettrand, und Sohn lag warm eingepackt in einer kleinen geflochtenen Bettstatt, die sorgsam auf ein Ruhebett, eine gepolsterte Bank, gestellt worden war unmittelbar vor und ganz nahe dem Feuer. Es fiel mir auf, dass viel Unauffälliges in dem Satz war. Es fiel mir auf oder fast gar nicht auf, dass da kein großes Bett stand oder jedenfalls kein dastehendes großes Bett beschrieben war, sondern der Bettrand. Welcher Sinn war es, der auffasste oder weniger


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als auffasste, eher nicht auffasste als tatsächlich auffasste, welcher Sinn war es, der unfassbar das Bett … das Bett nicht als Objekt und als Gegenstand richtig und ganz wahrnahm, sondern irgendwie halbwegs unaufmerksam bemerkte, dass die Sterbende da war, ohne da zu sein? Welcher Sinn spürte die Gegenwart anstelle des Gegenstands? Welcher kindliche Sinn war es gewesen, der das Wort bedside überlesen hatte, es flüchtig gelesen hatte, gewiss nicht mehrmals wie ich Erwachsener dann, das Wort vielleicht gar nicht gespürt hatte, aber die Sterbende am Anfang von Dickens’ Roman sogleich gesehen hatte? Welcher Sinn war es, welcher auf das Wort and hin den Namen der im Bett Notleidenden erwartete? Der kaum merklich zauderte, als auf das Wort and der Name nicht genannt wurde, sondern der andere Name mit dem Großbuchstaben S genannt wurde, Son nämlich, welcher gar kein Eigenname war, sondern Teil des Firmennamens von Dombey and Son. Der nächste Firmenbesitzer war schon im Raum, der Kompagnon, der Nachfolger, die Zukunft des Handelshauses. Welcher Sinn war es, der the bedside unterschied, bedside als ungegenständlich unterschied und sah, dass bedside kein Möbelstück war und gar kein Gegenstand sondern eine Gegenwart? Im flüchtigen nachdenklichen Lesen sah, dass the bedside unvollständig war, Anteil war von etwas, fast Anteilnahme? Gab es den Anteilnehmenden-Sinn? Gab es im kindlichen Lesen die Teilnahme, das Teilsein? War Anteilnahme so etwas wie Und-Teilnahme? War das Wort „und“ ein wichtiges Wort in dem Roman von Charles Dickens, aber nicht prominent wichtig, sondern abseits wichtig, wichtig jenseits der Wichtigkeit, so wichtig wie unwichtig? War es nicht eines der drei Worte im Titel, welcher zunächst sehr lang gewesen war – Dealings with the Firm of Dombey and Son, Wholesale, Retail and for Exportation –, aus welchem Dickens Dombey and Son gebildet hatte? War das Wort and ein kleines und dienendes Wort, aber unmerklich wichtiger als die Worte Dombey, Son? Dombey and Son, eigentlich ein Firmenname oder eine Firmenbezeichnung. Das Wort and aber kein Firmenname, keine Bezeichnung. Vielleicht hatte der kleine Leser, welcher ich gewesen war, gelesen und gedacht: Dombey ist nicht so wichtig, Son ist nicht so wichtig, aber das Wort and ist wichtig. Das Dazwischenliegende war wichtig. Im ersten Satz des Romans war zwischen dem im Lehnstuhl Lehnenden und der im Bett Liegenden und

Sterbenden der Bettrand gewesen, welcher selbst eigentlich nichts war, der kein Bett, der auch kein Lehnstuhl war, der kein Winkel im Zimmer war, der auch nicht einfach Holz war, der ein Rand war und eine Schwelle. Hatte der kleine Leser gezaudert; gezögert auf der Schwelle? Die Schwelle, ließ sie sich eigentlich beobachten? Aus der Nähe und vorsichtig beobachten, wie Dickens im Vorwort zur verbilligten Buchausgabe geschrieben hatte, im ersten Satz des Vorworts? Hatte er im ersten Satz des späteren Vorworts eine Fähigkeit und ein Vermögen gelobt, das nahe und aufmerksame, sorgsame Beobachten, am Anfang und im ersten Satz des Romans aber einen Ort angezeigt, welcher nicht nahe und aufmerksam beobachtet werden konnte, die Schwelle? Eine genaue Beschreibung des Holzes, der Farbe des Holzes, eine nahe Beobachtung der Form des Bettrands, sie hätten die Schwelle nicht beschrieben. Setzte die Schwelle das Beobachten außer Kraft? Dass die Schwelle aus Holz hergestellt war, beschrieb das die Schwelle? Dickens lobte in dem Vorwort das genaue Beobachten und beklagte die Seltenheit dieses Vermögens. Selten war das Vermögen, menschliche Charaktere zu beobachten. Nicht einmal das Vermögen, Gesichter zu beobachten, war oft anzutreffen. Im letzten Absatz des kurzen Vorworts zur Cheap Edition sagte Dickens ein paar Worte über den Anfang seines Romans. I began this book by the lake of Geneva. Der Genfer See, die Stadt Lausanne und die von da in allen Himmelsrichtungen sichtbaren Gebirge hatten keine Wirkung auf das Romangeschehen und hatten eine geheime Wirkung auf das Romangeschehen, welche Dickens fast auf den Tag genau zehn Jahre nach der ersten Buchausgabe des Romans ansprach, erst zehn Jahre nach der Erstausgabe sich Dickens deutlicher, weniger geheim zu zeigen begann vielleicht. Die geheime Wirkung war kaum beobachtbar, jedenfalls war sie nicht nahe beobachtbar (the faculty of closely observing), sie begann, sich aus der Ferne und spät, Jahre später zu zeigen. Sie war also nicht aktuell beobachtbar, sondern trat in der Ferne und wohl ohne Genauigkeit, in der Ungenauigkeit, vielleicht in der genügenden Unaufmerksamkeit zutage. The association between the writing and the place of writing is so curiously strong in my mind, that at this day (London, April, 1858), although I know every stair in the house, I yet confusedly imagine Captain Cuttle as secluding himself from Mrs. Mac Stinger


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among the mountains of Switzerland. Diese confused imagination – oder was immer sie war, verwirrte Einbildung, verwirrte Wahrnehmung – bildete sich erst viele Jahre später, zehn Jahre später. Im Augenblick des Schreibens sonderte sich der Schiffskapitän – sein Rang blieb fraglich, war er pilot, Lotse, gewesen, skipper, Kapitän eines kleinen Handelsschiffs, oder privateersman, Kommandant eines Kaperschiffs, Seeräuber, Pirat –, sonderte sich der Captain ab, floh vor seiner gestrengen Vermieterin, floh aus seinem Quartier an einem Kanal nahe dem India Dock und übersiedelte in die Londoner Innenstadt, die City, in Hörweite der Bow Bells, unweit der Börse, unweit der Bank of England. Im Augenblick oder zur Zeit des Schreibens floh Captain Edward Cuttle aus dem Londoner Hafen in die City. Zehn Jahre später aber erzählte Dickens, im kurzen Nachwort, nein, im Vorwort zur Cheap Edition, wie er den Schiffskapitän fliehen sah in die Gebirge der Schweiz. Cuttle quartierte sich ein im Laden des befreundeten Schiffsinstrumentenbauers und Händlers Solomon Gills. Er quartierte sich ein in einem Laden, in welchem Chronometer und Barometer ausgestellt waren und Teleskope und Kompasse, Seekarten, Landkarten, Sextanten, Quadranten und alles das, was benötigt wurde zur Führung eines Schiffs auf dem Meer. Fast auf den Tag genau viel später, nämlich zehn Jahre später, floh vor seiner streng herrschenden Wirtin der Kapitän nicht in die City, nicht in den Laden mit den Navigationsinstrumenten, sondern ins Gebirge, floh in die städtelose Welt, in die höheren und langsameren Wellen hoch über den Meeren. Er floh dorthin wohl unbeobachtet, unbeobachtbar. Er floh zehn Jahre später. Vielleicht war diese Flucht des Schiffskapitäns eine Täuschung, eine Einbildung, eine irrtümliche Vorstellung, jedenfalls war diese Flucht später, vielleicht zehn Jahre später, und jedenfalls ohne Aktualität, ein nicht beobachtbares Ereignis. Ich dachte daran, dass ich im Winter 2009 das Fernsehgerät nach Jahren des Diensts abgemeldet und verschenkt hatte, zu jenem Zeitpunkt, als schließlich der Einladungsbrief eingetroffen war. Welcher die mündliche Einladung wiederholte, von einem kaum begehbaren oder im Winter unbegehbaren Wegstück im Gebirge zu erzählen in Form einer Erzählung oder eines Berichts oder einer Beschreibung. Die Abmeldung des Fernsehgeräts war ein wenig ohne Motiv geschehen (Platzmangel war allenfalls das Motiv) und

war von Wehmut oder Beinahe-Wehmut begleitet gewesen. Der Einladungsbrief aber hatte mich aufmerksam gemacht auf einen undarstellbaren Ort, auf die undarstellbaren Orte – vielleicht auf die Orte zehn Jahre später oder hundert Jahre später oder eintausend und zehntausend Jahre später – und das Abmelden und das Verschenken des Fernsehgeräts war zu einem Loswerden geworden, einem Abschütteln, fast zu einer Flucht – wie diejenige Edward Cuttles – vor den darstellenden Bildern, vor der Darstellung und der Aktualität, welche Traum und Erinnerung in Erregung versetzten, an die Stelle von Traum und Erinnerung Darstellung und Aktualität stellten, nahe Beobachtung, mehr oder weniger sorgfältige Beobachtung, die Möglichkeiten des Zehn-Jahre-Danach in den aktuellen Bildern versteckten. Vielleicht war der Einladungsbrief an mich geschickt worden, weil ich das Fernsehgerät abgemeldet hatte und weil ich Captain Cuttles Flucht studierte aus seinem Quartier im Hafen von London in die City, welche sich später darstellte oder gerade nicht darstellte als Weggang ins Gebirge. Im kurzen Vorwort zu der Cheap Edition hatte Dickens etwas berichtet, das auf den neunhundert Seiten des Romans keinen Platz gehabt hatte. Zehn Jahre später hatte er von dem Weggang ins Gebirge auf weniger als einer halben Seite erzählt, ohne die Genauigkeit der neunhundert Seiten des Romans. Im Roman wohnte der pensionierte Schiffskapitän, nachdem er geflüchtet war, in einem kleinen Laden in London. In der späteren Schrift wohnte der Schiffskapitän im Gebirge. War ich, in dem Einladungsbrief aus Innsbruck (Genf?), eingeladen worden zum Nichtwahrnehmen und dazu, etwas nicht zu sehen? War ich eingeladen worden, weil auch ich eigentlich unsichtbar war? Als letzten Film in meinem Fernsehapparat hatte ich den Film „Apocalypse Now“ gesehen; und ich wusste, dass der nächste Film, an welchem der Regisseur Francis Ford Coppola arbeitete, den Titel „Perception Now“ haben würde. Dieses Wort now fasste ich auf als ein Synonym des Wortes perception. Was dann später sich ereignete – was man später auffasste oder fabulierte –, das war nicht mehr perception und Wahrnehmung, sondern …, sondern etwas anderes, welches man wie Charles Dickens als confused imagination beschreiben konnte, imagination not now – unfocussed imagination. Solche Bilder – images not now –, solche Nicht-jetzt-Bilder wollte ich ja sehen und Nicht-jetzt-Filme.


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Dickens schrieb, dass das Schreiben und der Ort des Schreibens miteinander vereint waren – das Schreiben der ersten Teile von Dealings with the Firm of Dombey and Son, Wholesale, Retail and for Exportation war verknüpft mit der Schweiz und den Alpengebirgen und war, obgleich Dickens Englisch schrieb, schweizerisch. Das Schreiben vom Unglück der Familie Dombey und vom Schiffsinstrumentenbauer Solomon Gills war schweizerisch oder mit der Schweiz verknüpft, obgleich in der Schrift nichts Schweizerisches zu lesen war. Die Schrift war mit etwas verbunden, welches in ihr aber nicht zum Vorschein kam. Die Berge waren unsichtbar in Dickens’ Roman. Captain Edward Cuttle floh vor der herrschsüchtigen oder liebenden Frau Mac Stinger aus dem Londoner India Dock um Mitternacht, unter Verzicht auf sein Hab und Gut, das er zurückließ in einer Truhe im MacStingerschen Haus, in die City in den Laden mit den vielen Navigationsinstrumenten; aber inaktuell, ohne Zwänge, ohne häusliche Apokalypse, floh er zehn Jahre später in die Schweizer Berge oder lebte in der Schweiz, so wie Dickens in der Schweiz gelebt hatte, sich gelöst hatte von London und England, zur Mitternacht oder zu Mittag ausgezogen war und seine eigene Wirtin Mac Stinger oder Mrs. Mac England oder Mac London heimlich oder unheimlich verlassen hatte. Schreiben und Ort des Schreibens waren verbunden, aber nicht so aktuell und schnell verbunden, dass der Ort sichtbar wurde im Schreiben. Das Handelshaus Dombey and Son stand nicht in Lausanne am Genfer See (Dombey and Lausanne), sondern befand sich in der Londoner Innenstadt. Doch zehn Jahre später begann es – konnte man das sagen? –, begann das Haus in Lausanne zu stehen, und der Freund und Vertraute des Schiffsinstrumentenbauers Solomon Gills begann aus Lausanne zu fliehen oder auszuziehen, er begann nicht mehr in London zu sein, sondern in Lausanne, er floh vor Frau Mac Stecher ins Gebirge. Der Roman aber bildete die Flucht hinein in die Schweizer Berge nicht ab, er vermochte die Flucht nicht abzubilden oder darzustellen. Erst der zehn Jahre später geschriebene Nicht-Roman, erst das zehn Jahre später verfasste kurze Vorwort zur Cheap Edition konnte in seiner kurzen einfachen Gestalt, als Vorwort und Vorform, den Gang des Kapitäns in die Berge erzählen. Der Roman Dealings with the Firm usw. erzählte die Geschichte der Familie Dombey und das Unglück der Familie, vor allem das große Unglück der Kinder,

aber er erzählte dabei auch nicht; er vermochte die inaktuelle Geschichte nicht zu erzählen, erzählte die Schweizer Geschichte nicht. Schrift und Inaktualität waren verbunden, Schrift war mit der Zeit verbunden, welche erst zehn Jahre später zutage trat. Die Stadt, in welcher Charles Dickens lebte, Lausanne, und der Genfer See und die über das Wasser hin sichtbaren und schwebenden Höhenzüge waren inaktuell und waren vielleicht unsichtbar. Die Gegenwart oder Gegenwelt war unsichtbar. Darum gewiss war ich von A. S. eingeladen worden, in einem Brief im Winter 2009 und in einem Telefongespräch, nach Tirol zu reisen und zu kommen oder nicht nach Tirol zu reisen – weil ich nicht aktuell war und weil ich vielleicht unsichtbar war. In das Gebirge hinein kommen, um eine nichtaktuelle, nicht zu bereisende Landschaft in der Höhe zwischen K. und R. zu sehen, jene Tälerund Höhenwelt, in welche zwei Jahrhunderte zuvor Charles Dickens sich begeben hatte, zu der Zeit, als er die ersten Kapitel seines Romans schrieb, sehen, dass ich immerzu etwas Aktuelles sah; und hinein wandern in die großen Unsichtbaren in Tirol. Sagte Dickens im Vorwort also: the writing is associated with what is past and gone? Die Schrift ist vereint mit Städten, Bergen, Seen und Menschen, die vergangen, vor zehn Jahren vergangen sind, das Schreiben ist mit alten Orten verknüpft? Oder anders gesagt: Der Schreibende weiß nicht, womit er verknüpft ist – erst der Zehn-Jahre-Spätere weiß von den Verbindungen? Der jetzt Schreibende hat die Verbindung verloren. Er ist verloren (im Gebirge). Er kann zehn Jahre später oder viel später die Verbindung herstellen? Er verliert aktuell, viel später gewinnt er? „Perception Now“, Francis Ford Coppolas neuer Film, jener, an dem er arbeitete, welchen mir anzusehen ich noch gar kein Interesse hatte, hatte also einen verborgenen oder unausgesprochenen oder vergessenen Untertitel und dieser hieß „Loss Now“? Wie würde es um einen Film stehen mit dem Titel: „Sills“ – Schwellen? Öffnungen, doch ohne Sichtbarkeit und Wahrnehmung? Nur Licht, keine Bilder? Nur die blinden Fensterbänke? War es nämlich so, dass wir starben, in dem Augenblick, und auferstanden nach zehn Jahren oder viele Jahre später? Hatte ich nicht das Zaudern gehört oder etwas Stilles – und eben dieses hatte mich überredet oder überzeugt und für die Sache gewonnen? Das Zaudern und die Stille hatten mich bewegt zu meiner Zusage; Zusage zu einer Sache, die gar nicht ausgesprochen


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worden war, eher ausgespart; eher als eine Sache und eine Angelegenheit eine Aussparung war – war es also in unserem Telefongespräch so gekommen auf meine Frage hin, ob ich gehen könnte von Tal zu Tal, wir gehen könnten, meine Kinder und ich, von dem Tal zu dem Tal und in das Gebirge, dass ich das Zaudern gehört hatte vor dem Antworten, vor dem Nein, auch ein Zaudern danach, nach dem Nein, nein, wir könnten nicht gehen, gingen besser nicht, in dem Schnee, in der Verschneiung. Als ob der uns Einladende sagen wollte: auf keinen Fall gehen? Eben nicht gehen? Etwas anderes entdecken als den Weg? Oder nichts entdecken? Keine aktuellen Wege? Now, what I want is, Facts, schrieb Dickens im anderen Roman, im ersten Satz. Facts. Teach these boys and girls nothing but Facts. Facts alone are wanted in life. Plant nothing else, and root out everything else. You can only form the minds of reasoning animals upon Facts: nothing else will ever be of any service to them. Stick to Facts, sir! Hatte ich die Einladung angenommen in dem Augenblick, als der Einladende gezaudert hatte und dann Nein gesagt hatte, die Einladung weniger eine Einladung als ein Zaudern und eine Schüchternheit gewesen war – gehen von Tal zu Tal, nein, denn da oben liegt der tiefe Schnee, nein, nicht gehen, vielleicht mit den Postbussen durch die Nebentäler fahren und die Gebirge umfahren. Sie sollen nicht in das Gebirge wandern, Sie brauchen auch nicht die Postbusse zu nehmen. Ich schicke Ihnen gerne Landkarten von dem unwegsamen Gelände. Als der Einladende in unserem Telefongespräch von dem Schnee gesprochen hatte, hatte ich an die vor wenigen Tagen zu Ende gegangene Zukunftskonferenz gedacht, die eine Zukunftsrettungskonferenz oder überhaupt und bloß eine Zukunftsrettung gewesen war, zu welcher ich ebenso wie nach Tirol in das Gebirge eingeladen worden war – lauter Einladungen nach New York und Providence und London und Innsbruck, welche ich alle annahm, alle bejahte, doch manche mochte ich lieber, die zaudernde Einladung ins Gebirge – in das ich doch keineswegs gehen sollte –, die mochte ich lieber. Als er von dem Schnee gesprochen hatte und als er dann auch nichts gesprochen hatte, gezaudert hatte, nachgedacht und vielleicht verlegen gewesen war, jedenfalls in dem Gespräch kurze Zeit nicht gesprochen wurde, da hatte ich daran gedacht, dass in den Vorträgen zur Zukunftsrettung, jedenfalls in denen, welchen

ich zugehört hatte, es dieses Nicht-Sprechen nicht gegeben hatte. Aber es war mir die ganze Zeit so erschienen – oder es hatte mir so geschienen, wie der Schnee scheint und schneit? –, dass die Sprache besser geeignet ist für das Zaudern und das NichtSprechen als für ihren dauernden Gebrauch in Reden und in Rettungsreden für die Zukunft der Welt, nicht geeignet für global governance, die unsere Zukunft retten wird und für Wohlstand und Wohlstand und Wohlstand sorgen wird, die Sprache vielleicht bloß sich eignet für die Toten, die Vergangenheit und den Schnee. Wie alle Redner nicht zauderten und wie es in ihren Reden keinen unbetretbaren Raum gab, immer nur Wege, keine Unwegsamkeit. Ich war Teilnehmer einer schneelosen Konferenz geworden. Wie ist die Zukunft und die zukünftige Welt zu bewahren vor allerlei Gefahren – Gefahren der schlechten Luft, der verpesteten Meere, Hitze, Stürme –, so wurden alle Conferenciers vom Konferenzredner gefragt und schon im Einladungsbrief gefragt, und anstatt über etwas anderes zu sprechen, sprachen dann alle Redner über das vorgeschriebene oder angeregte, über das bedrohliche Thema. Wie retten wir die Zukunft – mit global governance. Und jemand widersprach: Nein, die Zukunft retten wir mit Erfolglosigkeit. – Nein, mit global governance. – Nein, mit Erfolglosigkeit. – Global governance. – Erfolglosigkeit. – Global governance. – Erfolglosigkeit. In der Stimme meines Innsbrucker Partners und Gastgebers hatte ich … hatte ich den Schnee gehört und in dem Zaudern hatte ich nichts gehört … und in dem nichts hatte ich gehört, dass es keine Resultate gibt, keine Erkenntnisse und vielleicht hören können, dass es in der Welt wie Schneefall klingt, und spüren, dass sie Schneefall ist. Dass sie fällt, hinauf schwebt, fliegt, kreist, glitzert, wie die Flocken und die Sterne. Dass sie zuschneit. Ich dachte an das Bild von dem Honigverkäufer im Palastgarten. Das im Pekinger Palastmuseum ausgestellte Bild zeigte einen Honigverkäufer und die verschiedenen Honigschalen und Honigtöpfe und den Honigverkaufsstand und es stellte vier dar, die bei ihm Honig einkauften. Der weitaus größere Teil des Bilds stellte nichts dar, keine Honigkäufer und keinen Verkäufer. Der weitaus größere Teil des Bilds im Pekinger Palastmuseum war wie ohne Bild und war wie mit Honig oder mit honigfarbener Farbe gemalt. So dass ich in dem Bild zugleich nichts sah und Honig.



Am Ende des Tunnels

Der Fotograf Markus Bstieler hat die folgenden vier Doppelseiten für Quart gestaltet. Die Bilder sind Teil seiner fotografischen Dokumentation der in Bau befindlichen neuen Unterinntalbahn der ÖBB. Das Projekt zwischen Kundl / Radfeld und Baumkirchen ist Teilstück der Zulaufstrecke Nord zum Brenner Basistunnel. Außerdem ist es Teil der TEN-Achse Nr. 1 (Trans-European Network), die von Berlin bis Palermo reicht. Die Trasse verläuft zu 80 Prozent unterirdisch in Tunnels, Wannen, Unterflurtrassen und einer Galerie. Die Fertigstellung der 40 Kilometer langen Strecke ist bis 2012 geplant.


Haupttunnel, 010708



Zugangsstollen #2, 160408



Haupttunnel, 190309



Haupttunnel, 300709



Quart Nr. 01–13 Nathan Aebi

Georg Friedrich Haas

Milena Meller

Roland Schöny

Andreas Altmann

Händl Klaus

Bernhard Mertelseder

Fred Schreiber

Architekten Moser Kleon

Marlene Haring

Klaus Merz

Franz Schuh

Clemens Aufderklamm

Jens Harzer

Thomas Mießgang

W. G. Sebald

Ludovic Balland

Michael Hausenblas

Wolfgang Mitterer

Christian Seiler

Thomas Ballhausen

Krista Hauser

Philipp Mosetter

Walter Seitter

Susanne Barta

Clementina Hegewisch

Walter Müller

Peter Senoner

Othmar Barth

Werner Heinrichmöller

Paul Nagl

Q. S. Serafijn

Christoph W. Bauer

Heinz D. Heisl

Olga Neuwirth

Martin Sieberer

Ruedi Baur

Peter Herbert

the NEXTenterprise

Christoph Simon

Wolfgang Sebastian Baur

Ralf Herms / Rosebud

architects

Alessandro Solbiati

Sven-Eric Bechtolf

Margarethe Heubacher-

Walter Niedermayr

Gertrud Spat

Johanna Bodenstab

Sentobe

Michaela Nolte

spector cut+paste

Julia Bornefeld

Klasse Hickmann

Thomas Nußbaumer

Clarissa Stadler

Kurt Bracharz

Richard Hoeck

Peter Oberdorfer

Thomas Stangl

Maria E. Brunner

Candida Höfer

Nick Oberthaler

Martina Steckholzer

Daniel Buren

Robert Holmes

Walter Obholzer

Karl Stockreiter

Ferdinand Cap

Anton Holzer

Ulrich Ott

Bernhard Studlar

Ernst Caramelle

Stefanie Holzer

Walter Pamminger

Rudolf Taschner

Michael Cede

Heidrun Holzfeind

Thomas Parth

Paul Thuile

Günther Dankl

Albert Hosp

Karin Pernegger

Susanne Titz

Hans Danner

Johannes Huber

Hans Karl Peterlini

Ernst Trawöger

Georg Diez

Sebastian Huber

Robert Pfaller

Heinz Trenczak

Dimitré Dinev

Barbara Hundegger

Andreas Pfeifer

Ilija Trojanow

Klaus Doblhammer

Stefan Hunstein

Marion Piffer Damiani

Thomas Trummer

Moritz Eggert

Helmut Jasbar

Hans Platzgumer

Wolfgang Tschapeller

Fred Einkemmer

Ivona Jelcic

Wolfgang Pöschl

Erdem Tunakan

Olafur Eliasson

Ulrike Kadi

Jorge Reynoso Pohlenz

Sandra Unterweger

William Engelen

Fabian Kanz

Gerald Preinfalk

Roman Urbaner

EOOS

Bernhard Kathan

Manuela Prossliner

Katrien van der Eerden

Carsten Fastner

Leopold Kessler

Irene Prugger

Andrea van der Straeten

Friederike Feldmann

Walter Klier

Carl Pruscha

Rens Veltman

Werner Feiersinger

Gerhard Klocker

Thomas Radigk

Joseph von Westphalen

Thomas Feuerstein

Margit Knapp

Gottfried Rainer

Klaus Wagenbach

Ellinor Forster

Peter Kogler

Bernhard Rathmayr

Martin Walde

Katja Fössel

Alfred Komarek

Helmut Reinalter

Peter Warum

freilich landschafts-

Andreas Kriwak

Robert Renk

Vitus H. Weh

architektur

Florian Kronbichler

riccione architekten

Hans Weigand

Martin Fritz

Gustav Kuhn

Alice Riegler

Lois Weinberger

Marta Fütterer

Martin Kus̆ej

Katharina Rutschky

Oliver Welter

Heinz Gappmayr

Ulrich Ladurner

Peter Sandbichler

Gabriele Werner

Michael Glasmeier

Bernhard Lang

Benedikt Sauer

Günter Richard Wett

Rolf Glittenberg

Patrizia Leimer

Hans Schabus

Roman Widholm

Christian Gögger

Paul Albert Leitner

David Schalko

Martin Widschwendter

Peter Gorschlüter

Clemens Lindner

Lukas Schaller

Erika Wimmer

Martin Gostner

Christine Ljubanovic

Peter Scheer

Robert Winkel

Barbara Gräftner

Ove Lucas

Elisabeth Schlebrügge

Heinz Winkler

Franz Gratl

Sepp Mall

Eva Schlegel

Franz Winter

Walter Grond

Fritz Magistris

Nikolaus Schletterer

Robert Woelfl

Georg Gröller

Andreas Maier

Fridolin Schley

Erich Wucherer

Sabine Gruber

Urs Mannhart

Birgit Schlieps

Erwin Wurm

Gebhard Grübl

Dorit Margreiter

Hanno Schlögl

Anton Würth

Egyd Gstättner

Raimund Margreiter

Ferdinand Schmatz

Andrea Zanzotto

William Guerrieri

Barbara Matuszczak

Wendelin Schmidt-Dengler

Jörg Zielinski

Ernst Haas

Friederike Mayröcker

Gunter Schneider

Stefan Zweifel

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Wer Quart abonniert, bekommt sicher ein Heft (bevor es vergriffen ist, was vorkommt). Soweit Argument Nummer eins. – Zweitens: Es kommt billiger! Zwei Hefte kosten € 18,– (statt € 24,–). Und drittens gibt es als Abogeschenk 3 Highlights aus der ersten österreichischen Taschenbuchreihe (siehe Rückseite der eingeklebten Postkarte). Wenn Sie einen neuen Abonnenten werben, gibt’s gleich 2 Geschenke: eines für den neuen Abonnenten und eines für Sie!


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Picasso, Pils, Polenta

Eigentlich wollte Fritz Mang nur eine Auszeit nehmen und ein paar Tage in New York verbringen. Inzwischen sind 36 Jahre vergangen und der Tiroler ist zu einem der gefragtesten Kunst-Restauratoren der USA geworden. Ein Porträt vom Simon Schennach.

„Trinkst du auch ein Bier? Ich mache mir jetzt nämlich eines auf, und zwar ein tschechisches.“ So gern Fritz Amerika hat, so ungern hat er amerikanisches Bier. Manche Dinge ändern sich eben auch nach über 30 Jahren nicht. Er wischt sich die Hände an seiner hellgrauen Schürze sauber, befreit die viereckige Brille notdürftig vom Arbeitsstaub. Dann lässt er den Bierkorken knallen und beginnt zu erzählen: „Heute habe ich an diesem Reiter aus der TangDynastie gewerkt, China, 9. Jahrhundert. Bei der asiatischen Kunst ist derzeit das größte Volumen, Riesenausstellungen und Riesenverkäufe.“ Einige Kollegen, sagt er, seien zum Teil heftig gebeutelt von der Krise. Fritz hingegen plagen derzeit keine Sorgen dieser Art, eher im Gegenteil: „Seit 1979 bin ich selbständig und ich habe noch nie – auch wenn sechs Leute bei mir gearbeitet haben – eine Minute daran verschwendet, darüber nachzudenken, wo die Arbeit herkommt. Ich hinke sogar immer etwas meinem Pensum hinterher.“ Inzwischen ist der Tiroler längst einer der etablierten Restauratoren der Vereinigten Staaten. Holz, Keramik oder Metall aller Art und jeder Epoche gehören zu seinen Spezialgebieten. Ein paar Minuten zu Fuß durch den Central Park braucht Fritz von der Wohnung in der 76. zum Atelier in der 51. Straße. Das Türschild ist abmontiert und im Telefonbuch ist er auch nicht zu finden. Um keine potentiellen Diebe anzulocken. Hierher findet nur, wer soll. In dem bescheidenen Kellerstudio sieht es aus, als hätte man versucht, sämtliche Antiquitäten der Stadt auf 70 m2

unterzubringen. Auf dem Weg zum WC sollte man sich jedenfalls vorsichtig bewegen, will man nicht versehentlich in die Scherben einer chinesischen ChingVase treten, oder den Deckel einer viktorianischen Schnupftabakdose vom Regal stoßen. „Ob Kunstrichtung oder Herkunftsland, bei mir gibt es fast alles. An einem Tag arbeite ich manchmal parallel an einem Picasso-Teller, einer Rodin-Skulptur und einer Giacometti-Figur.“ Das renommierte und weltweit agierende Auktionshaus Christie’s ist mittlerweile Stammkunde des 64-Jährigen. Zu den teuersten Exponaten, die jemals durch seine Hände gegangen sind, gehört eine Serie von Fabergé-Eiern (Gesamtwert rund 50 Millionen Dollar) und eine Skulptur von Brâncuşi (Schätzwert 25 Millionen Dollar). Nicht zuletzt zählen ein paar Dutzend der vermögendsten Kunstsammler New Yorks zu seiner Klientel. Der Versuch, ihm ein paar klingende Namen zu entlocken, wird allerdings nur mit einem verschmitzten Lächeln quittiert: „Diskretion ist in meiner Branche oberstes Gebot. Viele Kunden wollen auf keinen Fall, dass ihr Name in Zusammenhang mit diesem oder jenem Kunstwerk genannt wird.“ Nach einem kräftigen Schluck Bier fällt dann aber doch ein Name: „Mit Lauren Bacall hatte ich öfter zu tun. Ihre Wohnung in Dakota ist so groß, dass meine fünfmal hinein passt. Die ist voll mit Kleinskulpturen von Henry Moore und jeder Menge anderer Kunst.“ Der Weg zu Bacalls Wohnung war ein langer: Geboren wird Fritz Mang 1944 in Kitzbühel als zweitjüngstes von fünf Kindern. Die siebenköpfige Familie lebt in


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einer bescheidenen Innsbrucker Wohnung, die sie sich mit Tante, Großmutter und Schäferhund teilt. „Wir haben viel Polenta und Kartoffeln gegessen, wir kannten es nicht anders. Durch Tante und Oma war alles entspannter, ansonsten war die Rollenverteilung daheim klassisch: liebende Mutter, strenger Vater.“ Der kleine Fritz, der laut Taufschein eigentlich Friedrich heißt, fühlt sich bald zum Schifahren und Fußballspielen weit stärker hingezogen als zu Goethe und Algebra. Ohne besondere Lust müht er sich von Schuljahr zu Schuljahr, meistens mit der einen oder anderen Nachprüfung. Eines Sommers zeigt sich sein handwerkliches Geschick, als ihn seine älteren Brüder mit zarten dreizehn das erste Mal zum Arbeiten auf den Bau mitnehmen. Mit vierzehn wechselte er schließlich an die Gewerbeschule für Dekorationsmalerei: „Erst in der Gewerbeschule hab ich erlebt, wie man sich fühlt, wenn man in der Schule nicht schlecht ist. Die wichtigen Techniken hab ich nicht auf der Uni gelernt, sondern dort: Wie man einen Pinsel in die Hand nimmt, wie man Farbe mischt oder wie man eine Stuckatur macht.“ Anstatt im Sommer am Bau zu jobben, tingelt Fritz nun mit dem Maler-, Vergolder- und Restaurierbetrieb Dialer von einer Tiroler Kirche zur nächsten und sammelt erste Arbeitserfahrungen als Restaurator. „Freskenwaschen, Vergolden oder Marmorierungen ausbessern, alles was mit Kircheninterieur zu tun hat, haben wir gemacht. Meistens hat man die ganze Woche beim Messner gewohnt, wurde am Freitag abgeholt und hat sein Lohnsackel gekriegt.“ Nach Schulabschluss und Bundesheer hat Fritz jedoch fürs erste genug von Tiroler Kirchen und geht nach Wien. Nach bestandener Aufnahmeprüfung beginnt er mit dem Studium der Malerei an der Angewandten.

„In Wien hat man sich als Künstler gefühlt. Das Leben hat sich vor allem beim Heurigen und im Kaffeehaus abgespielt, da haben wir diskutiert, wie wir die Welt verbessern können. Wirklich lernen musste man ohnehin nur für Darstellende Geometrie. Ansonsten war es an der Uni entspannt, es ging um Kontraste, Formen, die Philosophie der Kunst und dergleichen. Mein Lieblingsprofessor damals war der DDr. Hugo Ellenberger, der voll Stolz von sich behauptete, der meistbelesene Mann Mitteleuropas zu sein und seine Vorlesungen stets in perfektem Burgtheaterdeutsch hielt – sehr unterhaltsam!“ Nach vier Jahren schließt Fritz die Angewandte ab. Er verliebt sich, heiratet und baut sich ein ruhiges Leben in Wien auf, nimmt verschiedene Jobs an und geht der Malerei nach. Doch dann kommt plötzlich der entscheidende Sinneswandel: „Wir hatten eine Wohnung in der Nagelegasse und ein Haus im Waldviertel. Ich hab mir gedacht, eigentlich ein kommodes Leben hier in Wien. Aber kommod allein ist eben auch nicht alles. Plötzlich habe ich mich zu jung für all das gefühlt, ich wollte noch etwas erleben.“ Fritz plant eine Ortsveränderung und fliegt 1973 in die USA. Mit 600 Dollar in der Tasche und dem Vorsatz, sich nur eine kurze Auszeit zu gönnen, landet er in New York. Vom neuen Umfeld inspiriert, vergeht die Zeit für den damals 29-Jährigen wie im Flug. Einige Wochen lang lebt er mit einer Österreicherin in Queens, einem Wohnviertel im Westen der Stadt, ergreift aber auch von dort bald die Flucht und beschließt, sein Glück in Manhattan zu versuchen. In einem Straßencafé lernt er einen jungen Polen kennen, der sich als Allroundhandwerker und Bastler vorstellt. Die beiden verstehen sich auf Anhieb. Das Angebot, sich in seinem Dachboden in der 24. Straße einzunisten, nimmt Fritz dankend an. Sanitäranlagen gibt es dort zwar keine, dafür eine ganze Legion von Kakerlaken. Sein polnischer Freund verschafft ihm Gelegenheitsjobs: Boden abschleifen, Fenster abkrat-


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zen, für drei oder vier Dollar die Stunde. Er inseriert in der jüdischen Immigrantenzeitung „Aufbau“, bekommt schon bald erste Aufträge als Dekorationsmaler für Volkskunstdesign und kann sich den Umzug in eine neue Wohnung leisten. Immer wieder verlängert er erfolgreich sein Visum. So werden aus dem geplanten Kurztrip schließlich anderthalb Jahre. „Da dachte ich mir, dass es höchste Zeit ist, wieder nach Wien zurückzugehen. Ich hab mir aber nur ein One-Way-Ticket besorgt und während des gesamten Fluges Für und Wider abgewogen: Wien oder New York. Als mich dann mein Freund Armin und meine Frau abgeholt haben und wir über die Simmeringer Hauptstraße gefahren sind, da wusste ich plötzlich, dass ich nicht hier bleiben will.“ Nach der Scheidung von seiner Frau kehrt Fritz ein Monat später nach New York zurück, ohne Rückflugticket. Der Gelegenheitsjobs und des Pfuschens überdrüssig, begibt er sich auf die Suche nach einer fixen Anstellung und wird fündig. Eine Bekannte vermittelt ihm einen Job als Möbeldesigner in einem Stahlwerk in der Bronx. „Der Chef sagte, ich könne sofort anfangen. Geregelte Arbeitszeiten, gute Bezahlung. ‚Ein echter Glücksfall!‘, dachte ich mir. Ich bin dann am nächsten Tag zeitig rausgefahren; so früh war ich überhaupt noch nie in einer Subway. Als die Bahn wieder aus dem Untergrund nach oben kam, hab ich mir die Gegend und die griesgrämigen Gesichter der Leute angeschaut und mir gesagt: ‚Fritz, du spinnst! Da willst du jetzt immer hin- und herfahren, jeden Tag in einer hässlichen Bude arbeiten und dafür bist du in New York? Da gehst du lieber auf die Alm Schafe hüten!‘ Bei der nächsten Station bin ich ausgestiegen, habe den Chef angerufen und gesagt: ‚Ich kann nicht.‘“ Anstatt sich auf ein abgesichertes Leben einzulassen, bleibt Fritz also lieber unabhängig und sucht erneut über Inserate in deutschsprachigen Zeitungen Jobs in der Baumalerei. Schon bald bekommt er lukrative

Aufträge. Meist sind es wohlhabende Witwen mit einer Schwäche für alpenländische Volkskunst, die ihn engagieren. Türen, Fenster, Schatullen, Schränke – alles wird von Fritz mit folkloristischen Blumendesigns bemalt. Das Geschäft beginnt zu florieren, der geschickte Tiroler wird in den New Yorker Nobelbezirken weitergereicht und knüpft zahlreiche Kontakte. Immer häufiger wird er damit betraut, Wohnungen komplett zu sanieren und einzurichten. Ob Fliesenlegen, Möbelbauen, Ausmalen – Fritz traut sich viel zu und macht alles. „Ich war naiv, voller Selbstvertrauen. Vieles konnte ich von meiner Zeit am Bau, anderes von der Gewerbeschule. Auf einer Party habe ich mir dann eine Amateurcrew zusammengesucht. Da war alles dabei, vom ungarischen Alkoholiker bis zum YaleStudenten, der mal was mit seinen Händen machen wollte. Natürlich haben wir auch immer wieder dumme Fehler gemacht, z. B. haben wir bei einem Jacuzzi-Einbau einmal den Motor vergessen. Aber die meisten Kunden hatten zum Glück erstaunlich viel Humor.“ Eines Tages lernt Fritz einen anderen Fritz aus Tirol kennen. Fritz Pohl, österreichische Eishockey-Legende und Geschäftsführer eines Restaurationsateliers in Manhattan. Der Ex-Sportler hat vom Handwerk selbst zwar wenig Ahnung, dafür aber sehr gute Verbindungen. Fritz wird Teil des Teams. Er gibt das Wohnungsumbauen auf und konzentriert sich ganz aufs Restaurieren. Er macht sich mit den verschiedensten Materialien vertraut, verfeinert seine Arbeitstechnik und knüpft immer mehr Kontakte in der Kunstszene. Doch nach zwei Jahren zieht es ihn erneut weg und er beschließt, sich selbstständig zu machen. „Dass in Amerika alles schnellstens machbar ist, hat sich in diesem Fall bewahrheitet. Ich bin in der Früh zu einem Makler gegangen, hab am nächsten Tag den Mietvertrag unterschrieben, den Boden lackiert, ausgemalt, ein paar billige Möbel reingestellt und hab


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drei Tage später eine Party veranstaltet, zu der alle Händler und wichtigen Leute, von denen ich geglaubt habe, Arbeit zu bekommen, eingeladen waren. Und so war ich innerhalb von einer Woche im Restaurations-Business.“ Fritz ist Mitte dreißig und in New York angekommen, endgültig. Mit Hilfe seiner Freunde bekommt er eine Greencard und somit uneingeschränktes Bleiberecht in den Staaten. In dieser Zeit lernt er auch seine jetzige Frau, die Wiener Stewardess Katja kennen. Die Geschäfte laufen bestens, er bekommt erste Aufträge von Christie’s und großen Majolika-Händlern. In seinem Atelier beginnen sich zerbrochene Ming-Vasen und Wucai-Schalen zu stapeln, deshalb beschließt Fritz, Assistenten einzustellen. „Die erste war Angela Hans, eine Salzburgerin. Sie hat mir geschrieben, dass sie restaurieren könne und Arbeit suche. Vorgestellt hat sie sich dann mit Punkhaarschnitt, einem zu großen Männerhemd und zwei verschiedenen Socken. Ich hab mir gedacht: ‚Warum nicht? Wegen der Optik – ich hatte früher lange Haare und Bart – hat mich auch nie jemand eingestellt.‘ Angela hat dann gut gearbeitet, meistens zu Punkmusik.“ Viele Studenten, etwa aus Finnland, Russland und den USA, folgten. Viele ließ Fritz in einem kleinen Nebenzimmer des Ateliers wohnen, da eine Wohnung in Manhattan für die meisten unleistbar war. Auch in der Restaurationsklasse der Wiener Angewandten sprach es sich schnell herum, dass es einen Tiroler in New York gebe, bei dem man ein Praxissemester absolvieren könne. Die Nachfrage war groß. Unter den Studenten, die sich der Mang’schen Schule unterzogen haben, war auch Peter Berzobohaty, heute einer der bekanntesten Restauratoren Österreichs und unter anderem zuständig für die Übersiedlung der berühmten Weiler-Fresken am Innsbrucker Hauptbahnhof. Einige der ehemaligen Praktikanten sind in New York geblieben. Angst davor, sich Konkurrenz im eigenen Revier zu züchten, hatte Fritz aber nie.

„Ich hab mich immer auf meine Stärken verlassen, wie etwa meine Routine oder das Talent zu improvisieren. Wenn dir eine bestimmte Farbe oder ein Werkzeug fehlt, musst du flexibel sein und einen anderen Weg finden. Außerdem: It’s about confidence! Wenn ich, wie manche junge Kollegen, dauernd die Zuständigen bei Christie’s fragen würde, wie sie es gerne hätten, würde sie das nur verunsichern. Ich sag meistens: ‚Ich weiß, wie’s geht!‘ Dann sind sie befriedigt. Wenn’s dann auch stimmt und sich das Objekt gut verkauft, hat man das Vertrauen gewonnen.“ Was seine Aufträge anbelangt, kann Fritz es sich inzwischen leisten, wählerisch zu sein. Nächte und Wochenenden durcharbeiten wie früher – so etwas passiert nur mehr in Ausnahmefällen. Und auch von Kunden-Deadlines lässt er sich nicht mehr so leicht beeindrucken. „Bei manchen lästigen Anfragen sag ich, ich muss auswärts für diesen oder jenen arbeiten, in Wirklichkeit bin ich aber am Golfplatz. Das Spiel macht süchtig! Aber wenn ich Leute sagen höre, dass sie in Rente gehen und nur mehr Golf spielen – das könnte ich nicht. Denn die Arbeit macht mir noch immer Spaß, wahrscheinlich werde ich immer arbeiten.“ Auf die Frage, ob eine Rückkehr in die alte Heimat für ihn irgendwann denkbar sei, nimmt Fritz noch einmal einen ordentlichen Schluck. „Ich hab das schon einmal mit Katja besprochen. Sie hat mit einem wissenden Lächeln gesagt: ‚Wenn, dann gehen wir nach Tirol, da machst du Schitouren und gehst wandern. In Wien sitzt du nur mit deinen Freunden im Beisl und ihr redet und trinkt.‘“ Wahrscheinlich tschechisches Bier.



Hier die Fortsetzung der Serie „Gutachten“: In dieser Rubrik werden Vertreter einer oder verschiedener Berufsgruppen eingeladen, auf einer einzigen Heftseite kompakte Bestimmungen einer zeittypischen Erscheinung zu entwerfen.

Diesmal: Werte

Zeittypische Erscheinung: Die Krise Reizwörter: Massenspekulation, Absicherung, Existenzangst, Krise, Immobilienblase, Leitzins, Neue Bescheidenheit, Finanzcrash, nationale Rettungsaktion Aufgabenstellung: Es steht Ihnen eine Quartseite zur Verfügung – schaffen Sie einen Wert! Vier Beiträge von Christoph Hinterhuber, Lydia Mischkulnig, Daniel Fügenschuh und Marco Dessi



Christoph Hinterhuber


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Zur Linde

von Lydia Mischkulnig Auf Knopfdruck einen Wert zu schaffen gelang mir, als ich meinen Ehemann Robert kennenlernte. Wir waren zu einem Kongress eingeladen und auf derselben Etage des Schlosshotels untergebracht. Er kannte die Gegend aus seiner Kindheit und war schon mit der ersten Ehefrau des Öfteren zum Langlaufen angereist und im Schlosshotel eingekehrt. Deshalb wollte ich nicht unsere erste Nacht im Schloss verbringen. Da ich mit Pierre, einem Mathematiker aus Paris, diesen Ort schon erkundet hatte, wo einst Wittgenstein Schüler ohrfeigte, war auch mir der Landstrich des Wechselgebietes bekannt. Zumindest erinnerte ich mich an das berühmte Gasthaus „Zur Linde“, wohin wir das Quartier verlegten. Das Gasthaus „Zur Linde“ wird vom Stamm einer 500 Jahre alten Linde gestützt. Man könnte auch meinen, das Haus stütze die Linde. Das Blätterdach breitet sich im Sommer über die Terrasse aus. Der Stamm ist so dick, dass die Borke aufgeschnitten werden musste, damit die Linde nicht den Eingang zuwuchs. Diese Linde war eine Augenweide und Anziehungspunkt für den ganzen Ort. Wir rührten gerade Zucker in unseren Kaffee, als wir im Gang die schemenhafte Gestalt eines ganz schwarz gekleideten Mannes ausnahmen, der im Dunklen nach den Waschräumen des Gasthauses zu suchen schien. Sein weißes Haar schimmerte wie die Laterne verblühten Löwenzahns. Robert und ich interessieren uns nicht so sehr für Kunst, doch war uns klar, dass dieser Mann das Charisma eines Künstlers hatte, und weil er ganz schwarz gekleidet war und weißes Haar trug und mit einem Bleistift wie mit einem Taktstock auf die Theke des Gasthauses klopfte, um auf sich aufmerksam zu machen, und wir Karten für die Staatsoper hatten, waren wir uns sicher, dass er ein Dirigent im „Zur Linde“ war. Er war von einer attraktiven und sehr selbstbewussten Blondine begleitet. Robert und ich taten unbeeindruckt, tranken Kaffee, bekundeten die Zufriedenheit mit dem Kuchen. Robert streichelte meine Hand und ich erinnere mich, dass mich ein Schauer wohlig durchrieselte, als er am untersten Glied des Ringefingers mit seiner Fingerkuppe kreiste, als fühlte er den mir bald geschenkten Diamanten vor. Als wir das Gasthaus verließen, hatte ich den Dirigenten schon wieder vergessen. Tage später mussten wir in den Alltag zurück. Die gemischten Gefühle begleiteten uns beim Räumen des Gästezimmers. Sein

Koffer, mein Koffer. Sie standen jeder abgeschlossen für sich nebeneinander, voll mit Schmutzwäsche. Zum Abschied und Aufbruch in unsere Zukunft beschlossen wir, uns vor der alten Linde zu positionieren und ein Foto zu machen. Ich stellte die Entfernung und Brennweite ein, initialisierte den Selbstauslöser und vergewisserte mich, dass wir gut im Bild seien, wenn ich es nun schaffte, mich an Roberts Seite zu hechten und den rechten Arm um seine Schultern zu legen, ohne sein klares und freundliches Gesicht zu verdecken. In diesem Augenblick öffnete sich die Tür des Gasthauses und der schwarz gekleidete Künstler trat mit einem Fernglas auf die Terrasse heraus. Er kam gerade recht. Unverblümt sprach ich ihn an, stoppte den Countdown des Selbstauslösers und bat den Mann um einen Gefallen, nämlich das Foto von Robert und mir vor der Linde zu schießen. Of Course, sagte er unkompliziert und lächelte. Eng umschlungen strahlten wir in der Wintersonne und aus dem Augenwinkel bemerkte ich, dass auf dem Balkon des Gasthauses der Wirt stand und den Fotografen beim Fotografieren mit einer Hobbykamera filmte. Das Foto wurde entwickelt, vergrößert und der Abzug eingerahmt. Robert hatte das Negativ verschmissen. Das Foto war nun ein Unikat und sehr oft von Freunden bewundert. Ein Kunststück, weil es unsere Gestalten wie Abbildungen von Abbildungen aussehen ließ, wie auf keinem anderen Foto je zuvor, noch danach, wir waren zeitlos und unsterblich. Die Gesichter glatt, puppenhaft, künstlich, und mich hatte der Fotograf im Anflug eines Lächelns erwischt, so dass ich wie Mona Lisa aussah. Die Borke der Linde gab uns den Rahmen der Sicherheit für das Wachstum unserer Beziehung. Wir leuchteten im Einklang gegen die zunehmenden Jahresringe, die unsere vergänglichen Leiber überzeichneten. Doch eines Tages kommt jede Liebe zu Fall, verwandelt sie sich nicht in Fürsorge. Als wir uns von Bett und Tisch trennten, kam am Ende das Foto aufs Tapet. Robert beanspruchte es als seinen Besitz, dabei war ich der Usurpator. Ein heftiger Streit war angezettelt. Wir rissen das Foto entzwei. Jeder bekam seinen Teil und kein Wort mehr sprachen wir miteinander. Beim Zahnarzt blätterte ich in Illustrierten und erfuhr vom Tod Helmut Newtons, studierte die Fotostrecken seines Werks.

Als am Ende das Konterfei des Meisterfotografen abgebildet war, verschlug es mir die Sprache. Sein weißes Haar, das Charisma in den Augen, sein Künstlertum, der schwarze Rolli. Er war der Fotograf unseres Fotos. Die Recherche ergab, dass unser Foto von Helmut Newton einen unermesslichen Wert darstellte. In meinen Ohren brauste die Stimme des Kurators, als er den Schätzwert nannte. Der Preis galt für ein unversehrtes Foto. Mir wurde schwindlig vor Augen, als ich den Geldberg im Riss der zerfetzten Fotografie versinken sah. Wir hätten uns einiges ersparen können, dachte ich nur. War es Wut oder die Gier, die mich aufstachelte und wieder an den Ort des Geschehens trieb. Ich packte meine Fotohälfte in Seidenpapier und in eine Mappe, die ich extra gekauft hatte, um mit ihr nach Kirchberg zu fahren. Und siehe da, Robert hatte es auch erwischt, geradezu zeitgleich parkten wir unsere Autos beim Gasthaus „Zur Linde“, und beide traten wir mit den Fotohälften in Mappen unterm Arm über die Schwelle. Der Wirt empfing uns wie alte Freunde. Er war ein Fan von Helmut Newton und lud uns zu einem Leichenschmaus in memoriam des großen Künstlers ein. Schließlich rollte er im Hinterzimmer die Leinwand aus und führte seine privaten Filme vor. Er verstand sich als Hobbyfilmer mit experimentellem Anspruch. Der Schwenk über Helmut Newtons Gesicht entsprach dem langsamen Flug über eine von Falten durchwachsene Landschaft. Das Auge des Meisters schien unsere späte Erkenntnis zu schärfen, dass wir Filmgeschichte stifteten. Ich war ein wenig gekränkt, dass der Wirt uns nicht ausgiebig ins Visier genommen hatte, stattdessen uns als unbedeutendes Paar titulierte und Newton als schon zu Lebzeiten höchst dotierten Fotografen der Welt vergötterte. Immerhin waren wir sein Motiv. Robert und ich wussten in diesem Augenblick, wonach uns war, auch er packte seine Hälfte aus, und wir beide fühlten uns verstanden. Unsere Vereinigung findet im Versuch den Riss zu kitten und ungeschehen zu machen statt. Darin liegt die Bedeutung der Phrase: einen Schatz bergen. Wir leben wieder zusammen. Ich kann sagen, Newton schuf den wahren Wert. Wir werden ihn zur Altersvorsorge verkaufen. Die Preise für Newton steigen. Wir warten, bis Risse die leidenschaftlichen Sammler nicht mehr stören. Wir haben Zeit, nichts geht schließlich über wahre Liebe.


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Poetisches Paternoster Erste Reihe rechts, Nummer 126. Ein schmiedeeisernes Grabkreuz, eine Tafel, darauf die Verse: „Denn klar seh ich wie nie zuvor: – Die Liebe höret nimmer auf!“ Am Grab eines großen Vergessenen der Literatur. Von C. W. Bauer Ich weiß nicht, wie oft ich am Friedhof in Lienz vorbeigegangen bin. Ich habe einmal in der Stadt gewohnt, sie in den vergangenen Jahren immer wieder aufgesucht. Lange war mir nicht bewusst, dass auf dem Lienzer Friedhof ein Dichter begraben liegt, der Seinesgleichen nicht hat. Freilich, in den Literaturlexika der Gegenwart sucht man seinen Namen vergeblich. Er gehört zu den großen Vergessenen der deutschsprachigen Literatur, gleichwohl er einer ihrer bedeutendsten Vertreter in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist: Peter Karl Höfler. Immer wieder kommt mir jene Frage in den Sinn, die Höfler einem seiner Wegbegleiter einmal gestellt hat: „Weißt du, was ein Salamander ist?“ Die Verse über dem Grab – sind sie nicht die Antwort? Die Zeilen stammen aus einem Gedicht Höflers, geschrieben bereits unter Pseudonym und in einer Zeit, in der die deutsche Sprache längst zur Kommandosprache verkommen war. Die Wahl des Pseudonyms, auf das ich noch zu sprechen kommen werde, gewährt nicht nur Einblick auf Höflers literarischen Ansatz, es betont auch die Zäsur, die seinem Leben während des nationalsozialistischen Terrorregimes widerfahren ist. Anders als bei Autorinnen und Autoren, die ihr Werk aus einem thematischen Reservoir speisen, das nicht zwingend mit Selbsterlebtem zu tun hat, ist es bei Höfler der eigene Lebenslauf, der zum Motor der Poesie wird. Pendelnd zwischen Polen – Christ und Anarchist in einem, Dandy und Proletarier, Mystiker und Kommunist – ist sein Schreiben ein permanenter Anlauf, das Gegensätzliche miteinander zu vereinen. Bei aller Anarchie, die seinem Denkansatz innewohnt, Formenzertrümmerer ist Höfler keiner. Warum auch, das Rad, auf dem er sich fortbewegt, muss nicht neu erfunden werden. Ihn interessieren eher die Speichen, meist vierzehn an der Zahl, wie das Sonett sie in Versen vorgibt. Die Speichen wurzeln in der Nabe, von dort breiten sie sich kreisförmig und einander im Reim kreuzend aus, verleihen dem Rad Stabilität. Die bleibt in der Poesie nur eine angedeutete, selbst wenn man sie in ein logisches Korsett schnürt. Allerdings, Höflers Rückgriff auf das Sonett ist nicht verwunderlich. Wie viele Dichter vor und nach ihm sieht er in dieser Spielart der Lyrik eine Möglichkeit,

seine Gedanken klar und in Gedichtform zu strukturieren. Er unternimmt den Versuch, das Widersprüchliche logisch zu erklären, treibt den Teufel mit dem Belzebub aus. Denn das Gedicht, im Speziellen Höflers Gedicht, ist immer mehr, als die Form ihm zu gewähren vermag. Es suggeriert Harmonie und ist disharmonisch, löst sich aus der Vergangenheit in einen Anspruch auf Gegenwart, will Ganzes sein und Fragment bleiben, duldet keinen Widerspruch und ist widersprüchlich zugleich. Geboren wird Peter Karl Höfler am 23. Januar 1905 in einem Berliner Arbeiterbezirk. Seine aus der Habsburgermonarchie stammenden Eltern haben sich gut ein Jahr zuvor in Berlin-Weißensee niedergelassen. Dort verbringt Höfler seine Kindheit und taucht ein in eine Bilderwelt, die ihn ein Leben lang begleiten wird. Es sind dies Bilder von Werkstätten und Lagerräumen, von Höfen, die straßenwärts durch breite Tore und backsteinerne mehrstöckige Kopfbauten abschließen. Morgens werden die Tore zum Moloch, der sich Hundertschaften von Arbeitern einverleibt und abends wieder ausspuckt. Unter ihnen auch Höflers Vater, ein gelernter Tischler. Der greift immer hemmungsloser zur Flasche, um in eine andere Wirklichkeit abzudriften. Der Vorstadttristesse überdrüssig und angetrieben von der Hoffnung auf eine bessere Arbeitsstelle, entscheidet er sich schließlich, mit der Familie nach Österreich zurückzukehren. So gelangt Höfler im Alter von sieben Jahren nach Rohrbach im Oberen Mühlviertel. Hier kommt er erstmals in Berührung mit dem österreichischen Katholizismus bäuerlicher Prägung. „Graue Schwestern“ lehren ihn, wird er später formulieren, eine Erfahrung, die sein Leben nicht minder beeinflusst wie der Eindruck vom Arbeiterelend in einer modernen Großstadt. Auch wird er Zeuge der sich rasant und bis in ländliche Gebiete ausbreitenden Industrialisierung. Am nachhaltigsten aber prägen ihn in seinen frühen Jahren das wiederholte Scheitern des Vaters und die damit verbundene Ruhelosigkeit. Schon zwei Jahre nach der Ankunft in Oberösterreich kehrt Höflers Vater nach Berlin zurück, wohin er die Familie 1915 nachkommen lässt. Was goldenen Boden hat, ist in den Reden des Vaters jetzt nur noch schmerzliches Erinnern, längst ist er zum Industriearbeiter geworden. Gründet


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darauf Höflers Festhalten am Handwerklichen? Er wird ihm immer treu bleiben. Zunächst lässt er sich als Zahntechniker ausbilden, bricht die Lehre jedoch ab, wechselt zu einem Feilenhauermeister. Aus dieser Zeit stammen Höflers erste Gedichte, die er „bei der Petroleumlampe, nachts, zum Ärger des Vaters“ geschrieben hat, wie sein Bruder Leo erinnert. Eines dieser frühen Gedichte ist eine Huldigung an ein Fünfzigpfennigstück: Lang ist es her. Ich sehe uns beide noch im Winkel hocken. Ich hielt dich gleichsam staunend und verängstigt in der Hand. Das Mondlicht hing im Fenster mit vergilbten Flocken und malte Schäfchen und Klabautermänner an die Wand. – Da saß ein Kindertraum dabei und summte fast erschrocken das Lied vom Glück, vom Glück – und zwei warmen Wintersocken …

Höfler hält es nicht in Berlin. Er begibt sich auf die Walz, die ihn durch Bayern, Österreich und Oberitalien führt. In den verschiedensten Berufszweigen verdingt er sich, mal als Tischler oder Flickschuster, dann als Polsterer, Gold- und Silberschmied. Zuweilen verdient er sein Geld mit dubiosen Geschäften, gerät dabei nicht selten in wüste Raufhändel, was ihn wiederum mit den Behörden in Konflikt bringt. Als blinder Passagier gelangt er auf einem Frachtdampfer nach Spanien. Dann lebt er eine Zeitlang als Zuhälter in Rotterdam bei einer Prostituierten, heuert als Heizer und Trimmer auf Küstenschiffen an – kurzum, eine Biographie, die andere für sich erfinden, um sich interessant zu machen. Was treibt Höfler an? „Und nirgends ein Ort, wir gehen fort, wir kommen her, und nirgends ein Ort“, vermerkte Augustinus in den Confessiones: Zu dieser Erkenntnis scheint auch Höfler gekommen zu sein, „in allen Provinzen Europas habe ich die Erde gerochen“, schreibt er in einem seiner Sonette. Den Geruch der Erde sucht er zweifelsohne zeitlebens, sesshaft wird er nie. Allein die Zeitumstände wissen das zu verhindern. Wieder nach Berlin zurückgekehrt, tritt Höfler der Kommunistischen Partei und dem später verbotenen Roten Frontkämpferbund bei. Er verkehrt nun regelmäßig in literarischen Kreisen, ist bekannt mit Erich Mühsam, Joachim Ringelnatz und Theodor Plivier. Thomas Mann, Franz Werfel, Alfred Kerr und andere treten für die Veröffentlichung seiner Arbeiten ein. Auf weniger Gegenliebe stößt der bekennende Kommunist beim braunen Mob, der immer mehr die Straßen beherrscht.

Ein Jahr vor der nationalsozialistischen Machtergreifung stirbt Höflers Mutter an einer Lungenentzündung. Mit dem meist arbeitslosen und der Trunksucht verfallenen Vater verbindet ihn wenig. Auch wenn Höfler später schreibt, „heute weiß ich, daß von allen Armen er der ärmste war.“ Dabei macht er gewiss eigene Erfahrungen geltend: Freunde, ihr wißt, wie mir das Leben auf der Zunge schmeckt! Oho, munteres Zünglein! – Und ihr wißt: Glück oder Glas! Darum bedenke ich gerne dies und denke gerne an das, eh der süße Wein mächtig mir eins in die Krone steckt.

Mit Beginn der Hitlerei wird Peter Karl Höfler zum Gejagten, SA und Gestapo spüren ihn stets in seinen Verstecken auf. Höfler flieht nach Österreich, wo er in der Wiener Josefstadt bei einer Schwester seiner Mutter Unterschlupf findet. Er hält sich mit Gelegenheitsarbeiten über Wasser, ohne die Hilfe seiner Tante wäre er jedoch nicht durchgekommen. Und hätte kaum Zeit zum Schreiben gefunden. In Wien beginnt Höfler mit der Arbeit an einem Roman, doch es zieht ihn immer tiefer hinein in seine Form des lyrischen Sprechens. Das lädt er mit Themen auf, die seinen einstigen Parteigenossen zunehmend suspekt werden. Zu mystisch ist er ihnen, der Höfler, zu spirituell, es mangelt ihm an Klassenbewusstsein, seine Gedichte macht er unverholen zum Gebet. Der so Gescholtene interpretiert die Vorwürfe freilich anders und klagt, man sei in der Partei bestrebt, sein Talent niederzuhalten. Als die Nazis in Österreich anrücken und Begeisterungsstürme ernten, die sie in ihren kühnsten Träumen nicht erwartet hätten, flüchtet Höfler nach Brünn. Von nun an nennt er sich Jesse Thoor, ein Pseudonym, das seine Zerrissenheit widerspiegelt und Gegensätzliches miteinander vereint. Im Sonett vom guten Willen schreibt Thoor: So habe ich das Sterben fürchterlich und tausendfach erlitten, da ich – nicht Mensch noch Tier mehr – stöhnend aufgeschrien, als sie, die Tollen, mir das Herz in meiner Brust entzweigeschnitten. War es an jenem Tage der Gewalt im März, war es in Wien?

In Brünn kann Thoor nicht bleiben. Ende September 1938 werden Hitler durch das Münchner Abkommen die tschechoslowakischen Gebiete mit mehrheitlich deutschsprachiger Bevölkerung zugesprochen. Gut drei Wochen später wendet sich Thoors Kollege Franz Werfel an den Initiator der American Guild for German Cultural Freedom: „Ich empfehle den Dich-


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ter Jesse Thoor auf das dringendste für ein Stipendium. Seine Sonette sind zweifelsohne die erstaunlichste Leistung, die mir auf dem Gebiet deutscher Lyrik seit Jahren begegnet ist. Sie zeigen nicht nur eine dichterische Sprache und Bildkraft hohen Grades, sondern gestalten auch einen Zustand der Seele, der einmal vielleicht für unsere Epoche charakteristisch sein wird.“ Thoor erhält ein Stipendium, ein Flugticket sowie die Einreiseerlaubnis nach England. In den ersten Wochen des Londoner Exils lernt er die aus Wien geflohene Friederike Blumenfeld kennen, die er ein Jahr später heiratet. Zuvor jedoch fallen ihm die „Pfaffen der Partei“ in den Rücken, wie Thoor die vormaligen Weggefährten in einem Gedicht bezeichnet. Er wird von ebenfalls emigrierten Kommunisten als angeblicher Nazispion verleumdet und mit Kriegsbeginn zunächst in Devon, dann auf der Isle of Man interniert. Ein wenig mag ihn trösten, dass sechs seiner Gedichte in der von Thomas Mann in der Schweiz herausgegebenen Zeitschrift Maß und Wert in Druck gehen. Dadurch wird ihm erneut ein Stipendium der American Guild zugesprochen, mehr als das Existenzminimum sichert es freilich nicht. Vom Schreiben zu leben, ist utopisch. Ans Schreiben zu denken, wird zur Qual. Thoors Misstrauen gegen die Sprache wächst, denn sie ist „nichts anderes als ein Verständigungsmittel – aber kein Mittel zu verdienen, oder sich durchzusetzen. Das soll man mit dem Hobel, mit dem Pflug, mit der Materie tun“, hält er in einem Brief an seine Tante in Wien fest. Natürlich schreibt er weiter. Ausgangspunkt für seine Gedichte werden zunehmend die von den Mystikern bekannten Zustände geistigen Schauens. Sie verändern Thoors Denken und Dichten von Grund auf. Vieles von dem, was er fortan sagt, wird unverständlich und wirkt aus heutiger Sicht befremdend: „Arbeitet auf den Feldern und achtet der Erde, die euch trägt. Beachtet das Holz, den Stein, und so alle Dinge voller Wunder sind: behütet eure Werkstatt … sie ist ein Schrein der Offenbarung“ heißt es im Gedicht Karfreitagsrede. Die Arbeit in der Werkstatt hilft ihm, dem der Handwerksberuf von Jugend an so wichtig war, über manche Niederung des Exilantenalltags hinweg. Thoor stellt Gold- und Silberschmiedearbeiten her, Schmuck und Ringe für Freunde, bizarr anmutende Blumen und Kelche voll religiöser Symbolik. Dazu passend die archaischen Bilder, die seine Lyrik jetzt prägen. Doch es ist keine Blut-und-Boden-Archaik, wie man sie aus vielen Gedichten jener Zeit kennt. Die Entwurzelung zwingt ihn förmlich, auf eine Wiederein-

wurzelung zu insistieren, auf eine Wiederentdeckung des Individuums und vor allem der Grundwerte. Es ist ein franziskanisches Staunen vor der Schöpfung, das ihn lobpreisen lässt. Nicht von ungefähr beruft er sich in einem seiner Gedichte auf den heiligen Mann aus Assisi als Zeugen. Gleichzeitig sind Thoors Verse ein Ausdruck der Erschütterung über eine Menschheit, die diese Schöpfung zu vernichten droht. Menschenrechte allein können es nicht mehr richten, die Erlösung der Menschheit obliegt einer höheren Instanz. Er, der einst gegen alle Rangordnungen Sturm lief, sieht keinen anderen Ausweg mehr, als eine übernatürliche Hierarchie zu akzeptieren. Er, der noch in einem frühen Gedicht geschrieben hatte, es tue im leid, er „glaube nicht an Gott“, macht sich nun zu dessen Sprachrohr und huldigt der Jungfrau Maria. Zweifelsohne, der Herr ist sein Hirte, doch Thoor ist kein willfähriges Schaf. Seinem Gottesbild haftet nichts Naives, seiner Gläubigkeit nichts Verbohrtes an. „Alles, was man von Gott denken kann, ist er nicht“, schrieb Meister Eckhart einmal, so sieht es auch Jesse Thoor. Seine Gedichte stehen im Einklang mit den deutschen Mystikern, er nimmt Anleihen im Alten Testament, beruft sich auf Johannes vom Kreuz, auf die visionären Gedichte des Andreas Gryphius, auf den späten Hölderlin. Bei aller Anverwandlung, epigonal wird Thoor nie. Wie kein anderer versteht er es, seine Gedichte mit christlichen und mystischen Anspielungen zu durchwirken, dabei Formenstrenge walten zu lassen und sich eine Einfachheit im sprachlichen Ausdruck zu bewahren, die sein Werk im besten Sinn zum Ereignis, zu einem einzigartigen poetischen Paternoster machen. Thoors Gedichtsprache ist die eines Exilierten und kennt nur zwei Extreme: das Pathos und das Verstummen. Demgemäß strotzen seine Strophen vor prophetischer Emphase und reißen unvermittelt ab in „stummen“ Versen, die Thoor mit Strichen kennzeichnet. Mit solchen Strichen markiert er wohl auch die Jahre des Exils. Heimisch wird Thoor in England nie, schon gar nicht in der englischen Sprache, die zu erlernen er sich weigert. Die Jahre der Emigration verlebt er in dürftigsten Verhältnissen in Hampstead. Was als Werkstatt für seine Schmiedearbeiten dient, ist zugleich die Einzimmerwohnung, die Thoor mit seiner an Lungentuberkulose leidenden Frau bewohnt. Ihr hat er es zu verdanken, nicht gänzlich verstummt zu sein. Davor bewahrt ihn gewiss auch seine Überzeugung, die göttliche Ewigkeit lasse sich nicht über den Verstand erreichen. Dass er Letzteren verloren habe, davon sind die meisten derer überzeugt,


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die ihn in London antreffen. Der Lyriker, Übersetzer und Essayist Michael Hamburger erinnert sich einer Begegnung mit Jesse Thoor, als der gerade vom Verlag Faber & Faber in Soho kommt. Thoor hat T. S. Eliot eine eigenhändig geschmiedete Blume überreichen wollen in der Hoffnung auf ein Schiff als Gegengeschenk, gedenkt er doch dem Fliegenden Holländer gleich fortan über die Meere zu fahren. Bei einer der Sekretärinnen im Verlag ist Endstation, sie weist Thoor als Wahnsinnigen ab. Aufs Verrücken versteht sich Thoor, entrückt ist er allemal. Er lebt die „Torheit der Gerechten“, von der er in seiner Lyrik immer wieder spricht. Sein in den dreißiger Jahren einsetzender Mystizismus ist ein tief empfundener, erlöst ihn aber keineswegs vor einer ebenso tief empfundenen inneren Disharmonie. Thoors frühe Vorbilder sind offensichtlich Villon und Rimbaud. An Ersterem fasziniert ihn das anarchische Temperament, an Letzterem die Fähigkeit, ein solches Lebensgefühl im Gedicht zu bändigen. Lesend hat sich der Autodidakt Thoor, der nie eine akademische Bildung genossen hat, zum Dichter geschult. Seine Bücherfeindlichkeit, mit der er sich in frühen Jahren gerne brüstete, um das Bildungsbürgertum mit Hohn zu bedenken, entpuppt sich bei näherer Betrachtung seiner Gedichte als Attitüde. Zu anspielungsreich sind seine Strophen, zu genau gearbeitet sein Vers. Doch gehört die Koketterie eben auch zur Zerrissenheit eines Mannes, dessen Wahl des Pseudonyms nicht nur mit dem Gemütszustand korrespondiert, sondern darüber hinaus Belesenheit verrät. Jesse Thoor. Zwei Pole, Jesse von Jesaja, dem biblischen Propheten, Thoor vom germanischen Gott Donar. Der gilt im nordischen Mythos als Bewahrer vor Übeltaten, sein wichtigstes Attribut ist der Hammer, mit dem er die Erde urbar macht. Kaum verwunderlich also, dass Thoor so inbrünstig die heilige bäuerliche Ordnung besingt. Jesaja wiederum ist jener Prophet, der dem jüdischen Volk das Ende des babylonischen Exils verkündet. „Und ein Reis wird hervorgehen aus dem Stumpfe Isais, und ein Schößling aus seinen Wurzeln wird Frucht bringen“, ist im Buch Jesaja zu lesen. Auf diese Textstelle gründet das bekannte Lied Es ist ein Ros entsprungen. Auch in Thoors Werk findet sich ein Weihnachtslied, dort heißt es: „Daß also ein Reislein sprang, viel Preis und Ehr! Und recht schönen Dank dem, der kein Unrecht begehr!“ Drei Jahre nach Kriegsende erscheint im Nürnberger Nest-Verlag ein Band mit dem Titel Sonette. Es

wird Jesse Thoors einzige Publikation zu Lebzeiten bleiben. 1952 verlässt er London, will zurück nach Österreich. Der Erlös aus seinen Goldschmiedearbeiten reicht für eine Fahrkarte, die ihn nach Matrei in Osttirol bringt, wo er bei einem Bekannten unterkommt. Mit ihm unternimmt Thoor, gerade erst von einer Herzthrombose genesen, eine Bergtour. Am folgenden Tag möchte er seine aus Wien angereiste Tante von der Busstation abholen, bricht auf dem Weg dorthin zusammen. Nach vier Tagen Pflege im Haus des Bekannten wird er ins Lienzer Krankenhaus eingeliefert. Dort stirbt Jesse Thoor am 15. August 1952, am Mariahimmelfahrtstag. Seine Tante erinnert sich: „Als der Arme wegfuhr von Matrei, sagte ich zum Abschied: Wirst brav sein Karli und den Ärzten folgen. Er sagte, nein, Tante, brav werde ich diesmal nicht sein.“ Ein Vierteljahrhundert später besucht der Osttiroler Johannes E. Trojer das Grab Jesse Thoors. Mittlerweile sind einige Gedichte in der von Walter Höllerer herausgegebenen Zeitschrift Akzente abgedruckt worden. Ferner erschien eine von Alfred Marnau vorgenommene Auswahl an Gedichten, die neun Jahre später erneut aufgelegt und mit einem Vorwort von Michael Hamburger versehen wurde. Auch kann Trojer auf den 1975 von Peter Hamm im Suhrkamp Verlag herausgegebenen Band mit Gedichten von Jesse Thoor verweisen. 2005, zu Thoors 100. Geburtstag, kommt es zu einer Neuauflage dieses Buchs. Es ist die einzige Publikation, die momentan erhältlich ist. Trojer verfasst einen Artikel für die Osttiroler Heimatblätter, in dem er das Werk Thoors würdigt und seine Vita kurz umreißt. Er führt eine Reihe von Wahlverwandten Jesse Thoors an, Franz von Assisi, Paracelsus, Rimbaud, Villon, Simone Weil, Theodor Kramer. Auch nennt er nicht zu Unrecht William Blake. Von Letzterem stammt der wunderbare Satz: „Wenn der Narr auf seiner Narrheit bestünde, würde er weise werden.“ „Weißt du, was ein Salamander ist?“ Es ist die Frage eines Narren, der auf seine Narrheit nie verzichten wollte. Jahre später findet Ingeborg Bachmann in ihrem Gedicht Erklär mir, Liebe eine Antwort: „Ich seh den Salamander durch jedes Feuer gehen. Kein Schauer jagt ihn, und es schmerzt ihn nichts.“ „Denn klar seh ich wie nie zuvor: – Die Liebe höret nimmer auf!“ Jesse Thoor gehört zu den Weisen.


Besetzung

C.W. Bauer, Kolbnitz → Innsbruck: Schriftsteller. Lyrik, Prosa, Dramatik, Hörspiel, Essay, Übersetzungen. Herausgabe und Betreuung diverser Anthologieprojekte, Leitung von Schreibwerkstätten. www.cewebe.com Gottfried Bechtold, Bregenz → Hörbranz: Bildender Künstler. Seine bekannteste Arbeit: Der „Betonporsche“ (1971); Documenta 5, Kassel: „100 Tage Anwesenheit in Kassel“; Vienna International Center: „Interkontinentale Skulptur“; „CrashPorsche“ (2001); „Die Signatur der Silvretta-Staumauer“ (2002). Auszeichnungen: u. a. Internationaler Kunstpreis des Landes Vorarlberg (1999). www.gottfriedbechtold.at Johanna Bodenstab, Kempten → Connecticut (USA): Freie Autorin. Bis 1997 in Berlin, Studium der Literaturwissenschaft an der Freien Universität Berlin und der psychoanalytischen Theorie bei der Western New England Society for Psychoanlysis in New Haven. Markus Bstieler, Innsbruck Arbeitet mit Fotografie.

→ Innsbruck: Bildender Künstler.

Marco Dessi, Meran → Wien: Designer. Zahntechnikerlehre, Design Studium an der Universität für Angewandte Kunst in Wien. www.marcodessi.com Daniel Fügenschuh, Innsbruck → Innsbruck: Architekt. Erstes Haus 1996, Bürogründung in London 2000, Bürogründung in Innsbruck 2004. Christoph Hinterhuber, Innsbruck → Innsbruck: Bildender Künstler. Studium an der Akademie der Bildenden Künste Wien. Einzelausstellungen u. a.: Tiroler Landesmuseum Ferdinandeum Innsbruck, Kunstraum Innsbruck, Kunsthalle Wien project wall, FRAC des Pays de la Loire Nantes, Galerie Museum Bozen. Gruppenausstellungen u. a.: Museion Bozen, Galerie im Taxispalais Innsbruck, Kunstraum Innsbruck, Zacheta Galerie Warschau, 8. Internationale Cairo Biennale. Artist in Residence u. a.: FRAC des Pays de la Loire Nantes, BKA.Kunst Rom, La Panaderia Mexico City. Preise, Stipendien u. a.: Österreichisches Staatsstipendium für Bildende Kunst, RLB-Kunstpreis (Hauptpreis), Förderpreis der Stadt Innsbruck für Grafik, Förderpreis des Landes Tirol für zeitgenössische Kunst. Permanente Installationen u. a.: Alte Hungerburgbahn-Brücke Innsbruck, p.m.k Innsbruck. www.chinterhuber.com Peter Stephan Jungk, Los Angeles → Paris: Freier Schriftsteller. Zu seinen bekanntesten Werken zählen die Romane „Tigor“ (S. Fischer, 1991), „Die Unruhe der Stella Federspiel“ (List, 1996), „Der König von Amerika“ (Klett-Cotta, 2001) und „Die Reise über den Hudson“ (Klett-Cotta, 2005). Er ist außerdem Übersetzer von Theaterstücken aus dem Englischen und Regisseur mehrerer TV-Dokumentationen, zuletzt: „André Previn – Eine Brücke zwischen den Welten“ (2008). Johann Holzner, Innsbruck → Innsbruck: Germanist. Seit 2001 Leiter des Forschungsinstituts Brenner-Archiv. Moussa Kone, Wien → Berlin: Bildender Künstler. Ausstellungen u. a.: 2009: „New Positions“, Art Cologne; „Get Connected“, Künstlerhaus Wien; „Chili con Carne“, Forum Frohner, Krems; „Strabag Art Award“, Strabag Art Lounge, Wien. 2008: „Plateau“, Forum Stadtpark, Graz; „resetting / phantasana“, Charim Galerie, Wien; Webster University, Wien. 2007: „Ship of Fools“, Kunstpavillon, Innsbruck; „Is it a High C or a Vitamin B“, Galerie 5020, Salzburg. Kunstprojekte: „Art Critics Award“, „Kunstklappe“, „Missing:Discourse“ (Opernlibretto). Zeichnungen: Courtesy Charim Galerie, Wien. www.moussakone.com 137/138

Brigitte Mahlknecht, Bozen → Wien: Bildende Künstlerin. Studium an der Akademie der Bildenden Künste in Wien, längere Aufenthalte in New York, Berlin, Mexiko, Paris. Ihre Arbeiten und Projekte umfassen Zeichnungen, Malereien, Wandarbeiten, Skulpturen, Fotoarbeiten, Videos und befassen sich zur Zeit eng mit den Themen Kartografie und Raumwahrnehmung. Publikationen: „Gleich und Gleich“, mit Oswald Egger (Edition Howeg, 1995), „The Garden of Distances“ ein Fax-Wechsel mit Robert Kelly (edition per procura, 1999) und Mc Pherson & Co., Kingsten – NY; „Präkognitionen“, mit Texten von David Komary und Marc Ries (Schlebrügge Editor, 2008). Lydia Mischkulnig, Klagenfurt → Wien: Schriftstellerin. Studien an der Universität für Musik und darstellende Kunst; Preise u. a.: Bertelsmann Literaturpreis beim Ingeborg-Bachmann-Preis (1996), Manuskripte-Preis (2002), Elias-Canetti-Stipendium (2007). Bücher: „Halbes Leben“, Roman, (Droschl, 1994), „Hollywood im Winter“, Roman (Haymon, 1996), „Sieben Versuchungen“, Erzählzyklus (DVA, 1998), „Umarmung“, Roman (DVA 2002), zuletzt erschienen: „Macht euch keine Sorgen. Neun Heimsuchungen“ (Haymon, 2009). Susanne Schaber, Innsbruck → Wien: Literaturkritikerin und Reiseschriftstellerin. Studium der Germanistik und Anglistik. Zuletzt erschienen: „Herr Hofer und sein Hosenträger – Tiroler Gratwanderungen (Wien, 2006), „Der Jakobsweg – Nordwestpassage zur Welt des Geistes“ (München, 2008), „Großes Welttheater auf kleiner Bühne – Logenplätze in Friaul und Triest“ (Wien, 2008), „Weit hinten lacht die Ewigkeit – Streifzüge durch Venetien“ (Wien, 2009). Simon Schennach, Rum → Wien: freier Videojournalist. Studiert Theater-, Film- und Medienwissenschaft in Wien und Indiana, USA. Tätig für TV und Print, u. a. Pro 7, Puls 4, Timm. Lehrtätigkeit bei News on Video, Wien. August Schmidhofer, Außervillgraten → Wien: Musikethnologe. Studium der Musikwissenschaft und Psychologie (Innsbruck und Wien), musikpraktische Ausbildung (Orgel und Komposition) am Konservatorium der Stadt Innsbruck. Assistenzprofessor am Institut für Musikwissenschaft, Wien. Esther Stocker, Schlanders → Wien: Bildende Künstlerin. Studium an der Akademie der Bildenden Künste Wien, Accademia di Belle Arti di Brera Milano, Art Center College of Design Pasadena, California. Ausstellungen (Auswahl): 2009: House of Art, České Budějovice; Anabasis. Rituals of Homecoming, Ludwig Grohmann Villa, Łódź; „Wiener Musterzimmer“, Unteres Belvedere, Orangerie. 2008: „geometrisch betrachtet“, Museum Moderner Kunst Stiftung Ludwig Wien, Wien. 2006: Galerie im Taxispalais, Innsbruck. Sylvia Taraba, Dornbirn → Dornbirn, Wien: Künstlerin, Philosophin, Autorin. Veröffentlichungen in Kulturzeitschriften und Kunstkatalogen. Seit 1985 Künstlerische Konzeption: Der MannFrau-Dis-Kurs im ästhetischen Raum. Seit 1990 philosophischsystemische Forschung zu Logologik® und Aisthesis der Geschlechterbeziehung als differenzlogisches, radikalkonstruktivistisches Modell. Buchveröffentlichung: „Das Spiel, das nur zu zweit geht. Die Seltsame Schleife von Sex und Logik.“ Band 1: Logik. Eine Logologik der „Gesetze der Form“ von George Spencer Brown. (Carl Auer-Verlag, 2005) Peter Waterhouse, Berlin → Wien: Übersetzer, Autor, Herausgeber. Schreibt Lyrik, Essays, Erzählungen, Theaterstücke, Sachbücher und Romane. Zahlreiche Auszeichnungen (darunter der Literaturpreis der Stadt Wien). Zuletzt erschienen: „(Krieg und Welt)“ (Residenzverlag, 2006).


Quart Heft für Kultur Tirol

Herausgeber: Kulturabteilung des Landes Tirol Anschrift der Redaktion: Circus, Kochstraße 10, A-6020 Innsbruck, office@circus.at Chefredaktion: Heidi Hackl, Andreas Schett Anschrift des Verlags: Haymon Verlag, Erlerstraße 10, A-6020 Innsbruck, T 0043 (0)512 576300, order@haymonverlag.at, www.haymonverlag.at Geschäftsführer / Verleger: Markus Hatzer Aboservice: T 0043 (0)1 740407814, aboservice@haymonverlag.at Mitarbeiter dieser Ausgabe: C.W. Bauer, Gottfried Bechtold, Johanna Bodenstab, Markus Bstieler, Marco Dessi, Daniel Fügenschuh, Christoph Hinterhuber, Peter Stephan Jungk, Johann Holzner, Moussa Kone, Brigitte Mahlknecht, Lydia Mischkulnig, Susanne Schaber, Simon Schennach, August Schmidhofer, Esther Stocker, Sylvia Taraba, Peter Waterhouse Kuratoren: Ruedi Baur, Othmar Costa, Karin Dalla Torre, Eduard Demetz, Georg Diez, William Engelen, Martin Gostner, Helmut Groschup, Franz Hackl, Hans Heiss, Stefanie Holzer, Sebastian Huber, Gabriele Kaiser, Otto Kapfinger, Walter Klier, Martin Kofler, Gustav Kuhn, Christoph Mayr-Fingerle, Milena Meller, Walter Methlagl, Wolfgang Mitterer, Walter Niedermayr, Thomas Nußbaumer, Dominique Perrault, Wolfgang Pöschl, Helmut Reinalter, Robert Renk, Arno Ritter, Benedikt Sauer, Benno Simma, Gerhard Steixner, Vitus H. Weh, Lois Weinberger, Maria Welzig u. a. Linke Seiten – Inhalt und Konzeption: Moussa Kone (© Courtesy Charim Galerie) Visuell-editorisches Basiskonzept: Walter Pamminger Farbkonzept: Peter Sandbichler Grafische Realisation: Circus, Büro für Kommunikation und Gestaltung, www.circus.at Druck: Höfle Offsetdruckerei Ges. m. b. H., Dornbirn Verwendung der Karte „Tirol –Vorarlberg 1 : 200.000“ auf den Seiten 80 / 81 mit freundlicher Genehmigung von Freytag-Berndt u. Artaria KG, Kartografische Anstalt. Sämtliche inhaltlichen Beiträge dieses Heftes sind Ersterscheinungen, Auftragswerke, Uraufführungen. ISBN 978-3-85218-615-3 · © Haymon Verlag, Innsbruck-Wien 2009 · Alle Rechte vorbehalten.



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