Quart Heft für Kultur Tirol Nr. 18 /11 E 13,–
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Diese Violine wurde mit einem Laser-Sinter System von EOS hergestellt. Und sie klingt wundervoll. Laser-Sintern ist ein additives Schichtbauverfahren: Schnell und flexibel ermöglicht es die Produktion von Bauteilen direkt aus elektronischen Daten. Das Verfahren beschleunigt die Produktentwicklung und modernisiert Produktionsprozesse. Und es bedient alle großen Kundenherausforderungen: den Wunsch nach größeren Designfreiheiten, nach Kostenreduktion, nach höherer Produktivität und Customization.
Florian Hafele und die Redaktion von Quart bedanken sich für die produktive Zusammenarbeit mit EOS und SeLDom ProjeCt bei der Entstehung der Miniaturskulptur „Determination“.
EOS Electro Optical Systems GmbH Robert-Stirling-Ring 1 D-82152 Krailling tel. +49 89 893360 www.eos.info
thomas Prantl / matthias ocklenburg Kreuzstrasse 71 G CH-8712 Staefa tel. +41 43 4770710 www.seldom.ch
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Inhalt
Florian Pumhösl „Tract“ (Footage, 2011) EOS Electro Optical Systems GmbH Bureau Mirko Borsche Inhaltsverzeichnis Fließtext Von Thomas Stangl Das verwundete Herz Mirko Bonné folgt Albert Camus durch Tirol Florian Pumhösl „Tract“ (Footage, 2011) „Prüfen, wozu die Freiheit dient …“ Architektur-Gespräch: Sergison / Bates treffen David Chipperfield Im Ernst Ein Porträt des Schriftstellers und Bergsteigers Walter Klier. Von Christian Seiler Loin de l’Europe / Verre van Europa Von Johanna Tinzl / Stefan Flunger Florian Hafele Originalbeilage Nr. 18
Eigenwerbung
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Brenner-Gespräch (6) „Wer hat das geschrieben? Ich?“ Salvatore Sciarrino spricht mit Otto Katzameier über Vatermord und Musik
90–95
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Summit Book 2 Von Hubert Kostner
96–107
Die Tyrannei des Wünschenswerten Polemik von Sven-Eric Bechtolf
108–115
Zeitschleifen oder: Von der Heiterkeit des Geistes „Der Brenner“, rezensiert 101 Jahre nach seiner Ersterscheinung. Von Michael E. Sallinger
116–125
Satzspiegel Über die Arbeit des Physikers Peter Zoller. Von Christian Flatz
126/127
8–19
20–33
34–45
46–51
Hotel Greif / Restaurant Laurin Hypo Tirol Bank
128 129
52–63
ART Innsbruck Offsetdruckerei Schwarzach
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Tirols Architekten und Ingenieurskonsulenten Quartessenz
132 133
Besetzung, Impressum
Strom oder Strom? Jens Soentgen erkundet den Lech.
66–73
„Berge stellen sich an.“ Landvermessung No. 3, Sequenz 5 Andrea Grill isst Kaiserschmarren.
74–87
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Fließtext*
Von Thomas Stangl
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— Text, der in einem Stück und ohne Unterbrechungen durch Absätze, Überschriften, Abbildungen, Fußnoten u. Ä. gesetzt wird. — Aufforderung, seinen Gedanken freien Lauf zu lassen und dabei nicht zurückzuschauen; freihändig draufloszulegen, ohne zu korrigieren; die Buchstaben zu Papier zu bringen und bedenkenlos aus der Hand zu geben. 6/7
Wir haben zwanzigtausend Jahre in diesem Bachbett verbracht, sagte er. Nun ist es Zeit, uns eine andere Bleibe zu suchen. Woher kommen Sätze wie diese (samstagabends, vor dem Nachtmahl), wohin wollen sie? Du kaust sie wieder und wartest, ob sie ihren Geschmack verlieren. Du wiederholst sie in Dialekten, von denen du meinst, sie könnten zu ihnen passen, zum Beispiel auf sächsisch oder in dem, was du für sächsisch hältst (denn natürlich kannst du nicht sächsisch). Am schönsten wäre es, wenn eigentlich die Tiere in dir weitersprechen würden; oder warum nicht die Steine. Aber was hätten denn die Tiere davon (zwei Krebse, die sich mit der ganzen Gattung oder dem ganzen Stamm verwechseln; soweit man bei Krebsen von Stämmen reden kann); was hätten die Steine davon, die dich ohnehin überleben und die es sogar überleben, zu Staub zerbröselt zu werden, denn nichts erhebt sie über ihre Einzeilteile; was hätten sie davon außer der Freude, übersetzt zu werden, in die Sprache einer anderen Gattung? Die Freude, dich ratlos zu sehen, vor ihren Sätzen, die eigentlich nur für sie selbst da sind, die Steine oder Staubkörnchen, die Krebse oder die winzigen, fast durchsichtigen, fast selbst aus Wasser scheinenden Asseln. Die Freude eines anderen Zeitmaßes, einer anderen Art von Ausdehnung. Immer wünscht du dir, dass jemand beschließt, in deine Sätze zu übersiedeln, du versprichst, dass du ihn (oder sie oder es, worum auch immer es sich bei dem Wesen handeln mag) gut behandeln wirst, zart und vorsichtig mit ihm umgehen, es soll in der fremden, im Grunde lebensfeindlichen Umgebung gedeihen. Natürlich solltest du Skrupel haben; natürlich bist du jederzeit bereit, diesen Wesen ihre Freiheit zurückzugeben. Manchmal scheint es dir wie ein Glück, dass du vergessen kannst, dass die Sätze, von denen du nicht weißt, woher sie kommen und was sie von dir wollen, auch plötzlich wieder verschwinden können, ins Nirgendwo, aus dem sie kurz aufgetaucht waren. Natürlich sind es gerade die intelligentesten, die witzigsten der Sätze, die sich gleich wieder entschließen fortzugehen, wie könntest du es ihnen verübeln. Du nimmst einen Schluck Bier, ein Kind streckt seinen Arm ins Wasser (ein kalter, eisiger Bach, in einem Gebirgstal, das du dir leicht vorstellen kannst), hebt zwei Kieselsteine heraus und lässt sie ins Täschchen seines Kittels oder in den Rucksack, den Mama oder Papa versehentlich offen dastehen haben lassen, gleiten. Mit tropfenden kleinen Händen, das Portemonnaie, das Notiz- oder Adressbuch, das Jausenbrötchen werden nass. Die kleinen Hände, die Arme des Kindes sind nass und eiskalt, Mama oder Papa halten sie in der eigenen warmen großen Hand, das kleine, immer kleinere Kind versucht die Hand abzuschütteln. Irgendwann öffnest du müde den Rucksack, räumst dein Notizbuch (das jedes Mal fleckiger wird), dein Portemonnaie, in dem die Geldscheine sich wellen, ein ungegessenes
Jausenbrötchen aus; woher aber kommen diese beiden Steinchen, glatte runde Kiesel, was wollen sie von dir. Wenn dich jetzt ein Schwindel erfasst, denk dir, es gibt Sätze, die du einmal aufgeschrieben hast und die vorwegnehmen, was geschehen kann, Sätze, in denen die Zeiten und die Orte durcheinanderkommen, eines sich ins andere verwandeln, sich im anderen verlieren kann; kommt dir ein fremder Gegenstand in die Hände, dann halt ihn fest; halt ihn fest, aber ohne ihn gewaltsam zu drücken, leg ihn ans Fenster, damit die Sonne ab und zu darauf scheinen kann. Zwei Krebse wie aus Zeichentrickfilmen entschließen sich, ihren Bach (wo das Wasser irgendwie eklig und verpestet geworden ist) zu verlassen und in die Stadt zu übersiedeln, wo sie Abenteuer erleben, vor Köchen flüchten, vor Kindern, Killern und Schriftstellern und schließlich in einem Vorstadthäuschen glücklich werden. Du findest tote Krebse in deiner Tasche, die du ausnahmsweise ausräumst, greifst voller Ekel auf diese schleimigen kalten Dinger, zuckst zurück, dein Herz klopft, wie kommen diese Dinger hier herein. Jetzt erst riechst du den Gestank, dir scheint, er würde einem Gestank aus deinem Inneren entsprechen. Du nimmst einen Schluck Bier, du schneidest dir ein Brot ab. Die winzigen durchscheinenden Asseln, leuchtende Schleier im klaren Wasser (du bist bereit, sie sich dir vorzustellen und sie mit den Medusen zu verwechseln, die du aus Aquarien kennst: sanfte Musik in diesen Sälen, weiches Licht, du darfst mit zarten Gespenstern umgehen, mit vage feenhaften Wesen, deren Sprache du nicht verstehst, und das ist vielleicht schon der Fehler: du darfst nichts verstehen wollen, es gibt nichts als die Bewegung und das Schweben), winzige zarte Schleier im Gebirgsbach, mit einem Finger herausgeholt, einem staunenden Blick, einem kurzen „Töch“ bedacht, in die Tasche (in Mamas, in Papas Rucksack) geschleudert, unbemerkt: ein zartes Wesen (oh weh, was geschieht mir?), ein zweites (hallo, mein Gott, wo sind wir hier, ich bekomme keine Luft –), du greifst in deine Tasche, was ist das für ein Schleim, wie kommt er zwischen Notizbuch und Portemonnaie, was hat sich hier, wie Rotz, zwischen die Seiten deines Adressbuchs geschoben. Wo sind wir hier, ich bekomme keine Luft. Bitte beiß von deinem Brot ab, bitte nimm noch einen Schluck Bier. Stell dir diese Geduld vor, zwanzigtausend Jahre, diese plötzliche Entschlusskraft, diese rührend zeremonielle Ausdrucksweise, eine Bleibe suchen. Und dann so ein Ende: In dieser lebensfeindlichen Umgebung, was würdest du hier tun, als intelligentes, witziges Wesen, das gerade noch in seiner Geisterwelt aus Wasser und Licht daheim war. So als würdest du dich entschließen, dass du eigentlich keine Luft zum Atmen brauchst, du kannst es auch mit etwas anderem versuchen. Aber genug, bitte, vergiss den Satz, er gehört zu keiner Geschichte.
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Das verwundete Herz
„Erlauchte u. berühmte Personen, die in diesem Hause gewohnt“, steht über der Marmortafel am Eingang des Innsbrucker Hotelgasthofs „Goldener Adler“. Der älteste Eintrag verzeichnet den Aufenthalt Kaiser Maximilians I. im Jahr 1494, der jüngste, gut 500 Jahre später, gilt Sultan Hamengku Buwono X. Nur eine Zeile darüber ist zu lesen, 1952 habe Nobelpreisträger Albert Camus im „Goldenen Adler“ logiert. – Der Schriftsteller Mirko Bonné heftet sich an die Fersen Camus’.
Alles ist ein Zeichen der Liebe für den, der gezwungen ist, allein zu sein, das heißt für alle Menschen. Albert Camus
Der in Stein gemeißelte Eintrag im „Goldenen Adler“ ist in doppelter Hinsicht ungenau, ja falsch. Zwar war Camus 1952 bereits ein europaweit angesehener Autor, ein Idol. Den Literaturnobelpreis aber erhielt er erst nach Erscheinen seines Romans „La Chute“, „Der Fall“, 1957. Auch war er 1952 durchaus auf Reisen, so in sein Heimatland Algerien, da noch ein Teil, wenn auch ein zunehmend von Unruhen geschüttelter Teil des spätkolonialen Frankreich. Algerien war ein Pulverfass, dessen Sprengstoffgemisch der 1913 in Mondovi bei Algier geborene Camus so gut kannte wie kaum ein zweiter französischer Schriftsteller. 1952 aber war Albert Camus nicht in den Alpen. Es war das Jahr nach Veröffentlichung seiner politischphilosophischen Abhandlung „L’homme révolté“, „Der Mensch in der Revolte“. Deren antidogmatischer, mithin antikommunistischer Impetus hatte Camus in zermürbende Grabenkämpfe mit Sartre schlittern lassen. Noch im selben Jahr ging ihre Freundschaft in die Brüche. Unter den „erlauchten u. berühmten Personen, die in diesem Hause gewohnt“, ist auch Jean Paul Sartre, der 1972 Innsbruck besucht haben soll. Camus war da schon seit zwölf Jahren tot. Im „Goldenen Adler“ gibt es heute eine Camus-Suite, die keine Wünsche offen lässt. Gerade deshalb hat sie nichts gemein mit
Albert Camus’ wirklichem Aufenthalt in Österreich im Sommer 1936. In jenem Sommer war Camus zweiundzwanzig, ein drahtiger, gesund, ja blendend aussehender junger Mann mit auffallend wachen Augen, kleinen Ohren und immer einer Zigarette im Mundwinkel. Die äußere Erscheinung täuschte. Er hatte bereits einiges hinter sich: das Regiment der Großmutter, die der vaterlosen Familie vorstand, die denkbar einfachen Verhältnisse, in denen Mutter, Bruder und er mit der Patronin lebten, den mühsamen Ausbruch aus der ihm vorbestimmten Handwerkerlaufbahn auf die Uni von Algier. Sein Studium schloss er mit einer Diplomarbeit über Christentum und Hellenismus ab; die antiken nordafrikanischen Philosophen Augustin und Plotin sollten ihn zeitlebens beschäftigen. Der KP beigetreten, warb er in den Armenvierteln meist vergeblich um Mitglieder. Er war Mitbegründer des „Théâtre du Travail“, begann sich für Dramaturgie zu interessieren und Stücke zu schreiben. Außerdem war er Fußballer und leidenschaftlicher Schwimmer gewesen, bis man Anfang der Dreißigerjahre Tuberkulose bei ihm festgestellt hatte. Wenig später lernte er eine der aufregendsten jungen Frauen des seinerzeit weltoffenen Algier kennen. Er spannte Simone Hié einem Freund aus, umwarb sie mit ersten schwärmerischen Erzählungen und Feenmärchen und heiratete sie. Ein ganzes Leben mit seinen lichten Flächen und deren abgründigen Verwerfungen scheint sich in Camus’ letzten algerischen Jahren vorzubereiten. Die Jahre vor
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Kriegsausbruch, die seltsame Müdigkeit unter dem grünen Himmel, das Zersplittern der Tabus und die damit einhergehende Ziellosigkeit, das Ganze eine Art verspäteter ennui, wenn man so will, schildert der Roman, auf dem sein späterer Ruhm fußt und den viele für Camus’ bedeutendstes Buch halten. 1936 aber trennten ihn von „L’étranger“, „Der Fremde“, noch sechs schwierige Jahre. Im Sommer 1936 kamen die Camus mit einem Bekannten Alberts vom Theater, dem Englischlehrer Yves Bourgeois, überein, zu dritt auf eine ausgedehnte Kajaktour durch Österreich, Tschechien und Schlesien zu gehen. Bourgeois galt als brillanter Kopf, war ein politischer Einzelgänger und, vier Jahre älter als Camus, viel in der Welt herumgekommen. Er kannte Inn, Donau und Elbe, sprach fließend vier Fremdsprachen, darunter Deutsch, und er war Kanufahrer, seit er in London studiert und in Annapolis, Maryland, ein Stipendium absolviert hatte. Camus dagegen kränkelte, rauchte zuviel, mochte zwar Nietzsche, kannte das Deutsche aber lediglich aus philosophischen Fußnoten. Seine erste Reise nach Mitteleuropa begriff er als Zäsur. Fern des Alltags über sagenumwobene Flüsse paddelnd, hoffte er zu einem archimedischen Punkt zu finden, von dem aus sich entscheiden ließe, welche Laufbahn er einschlagen würde. Die Politik zog ihn an, doch alles Kaderdenken war ihm zuwider. Ein neues politisches Theater schwebte ihm vor. Er hatte André Malraux gebeten, dessen „Zeit der Verachtung“ auf die Bühne bringen zu dürfen, Malraux hatte ein einziges Wort zurücktelegraphiert – „spiel“. So stolz ihn das machte, so gut wusste er, dass sich mit engagiertem Theater ein Leben nicht finanzieren ließ, schon gar nicht mit Simone, die das Extravagante liebte, die Ballett tanzte und jedes Kleid nur einmal trug. Halbherzig bewarb er sich um einen Lehrerposten an einer Privatschule in Oran, woher Freunde stammten und wo er zehn Jahre später seinen großen Roman „La Peste“, „Die Pest“, ansiedeln sollte. Im Grunde wusste er, was er wollte, weil das Schreiben alles miteinander verband: Sein erstes Buch war nahezu fertig, „L’envers
et l’endroit“, „Licht und Schatten“, eine Sammlung literarischer Essays. Vieles von der später so leuchtenden Beschreibung mediterraner Landschaften und der so knappen, unbestechlichen Charakterzeichnung nehmen „Ironie“, „Zwischen Ja und Nein“, „Liebe zum Leben“ und „Licht und Schatten“ vorweg – vier Aufsätze nahm er im Juli 1936 zu letzten Korrekturen auf die Reise mit. Der bitterste und dunkelste aber ist der fünfte, den er erst nach der Kajakwanderung schrieb und einfügte in die Mitte des Bandes: „Tod im Herzen“. Die Ehe von Simone und Albert Camus war nach nur zwei Jahren zerrüttet. Hier liegen der eigentliche Anlass für die Reise und der Grund für ihr so furchtbares wie klägliches Scheitern. Seit langem nahm Simone Drogen. Gegen starke Menstruationsbeschwerden hatte man ihr bereits als Mädchen Morphium verabreicht, eine schwere Traumatisierung in ihrer Kindheit oder frühen Jugend dürfte aber dafür verantwortlich gewesen sein, dass die schlanke und hübsche junge Frau sich bald auch gezielt betäubte. Sie war neunzehn. Immer wieder wird Simone als „ätherisch“ beschrieben, „Guten Tag, Traumbild!“ lautete Camus’ Grußformel für sie. Andere Stimmen, auch im nahen Umfeld, bezeichnen Simone hingegen als „gourgandine“, ein Flittchen, das im Ruf stand, zu trinken und mit jedem Kerl, der bezahlte, ins Kino zu gehen – männliches Wunschdenken in einem auf Status und Vorankommen bedachten Bekanntenkreis, der in Camus seinen Star sah und ihn missgünstig beäugte. Simones lange Zigarettenspitzen, Simones breitkrempige Hüte, Simones Fuchsstola und ihre weißen Kleider, unter denen sie, so hieß es, nichts anhatte. Auf den wenigen Fotos, die es von ihr gibt, wirkt sie weder ätherisch noch liederlich, vielmehr unsicher, fragend. Ihre auffällige Schönheit kann über ihre Selbstzweifel nicht hinwegtäuschen. Als das Trio Anfang Juli in Algier die Fähre nach Marseille bestieg, war Simone Camus für längere Zeit in einer Klinik gewesen. Auch Yves Bourgeois hatte sie dort während des Entzugs besucht, und so hegte Camus die
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Hoffnung, mit vereinten Kräften könnte es gelingen, seine Frau vom Rauschgiftnachschub abzuschneiden, solange Bourgeois und er für Ablenkung, für sportliche Betätigung, Reiseeindrücke und Unterhaltung sorgten. Dresden wollte man sich ansehen, Wien und Prag. Zusammen mit Simone hatte Camus Manns „Zauberberg“ und Wassermanns „Fall Maurizius“ gelesen, aber auch Kafka. 1933 war „Der Prozess“ auf französisch erschienen. In Marseille sandten sie die beiden Kajaks voraus nach Innsbruck und bestiegen den Zug. Sie fuhren dritter Klasse, zunächst nach Lyon, wo Bourgeois Lehrer gewesen war, dann weiter nach Zürich. Durch den Arlbergtunnel kamen sie nach Innertirol und trafen am 16. Juli 1936 in Innsbruck ein. „Wenn es keine Kaffeehäuser und keine Zeitungen gäbe, wäre das Reisen eine mühselige Angelegenheit“, heißt es in „Liebe zum Leben“. Für den jungen Camus macht den Wert des Reisens die Angst aus, da es in jedem eine Art Staffage zerstöre: „Es ist nicht mehr möglich, zu mogeln, sich hinter Büro- oder Fabrikstunden zu verschanzen.“ Da man das Gefühl habe, auf Reisen sei die eigene Seele krank, gewinne jeder Mensch und jedes Ding seinen Wert als Wunder zurück. Von der Kajakreise existieren nur spärliche Notizen. Zwar führte Camus seit 1935 ein Tagebuch, skizzierte darin aber vorrangig Ideen und Lektüreeindrücke. Das erste Heft dieser frühen Journale, ein herkömmliches Schulheft, hat er später zerschnitten, umarrangiert und neu zusammengeklebt. Die Eindrücke der Reise durch die Alpen wanderten so in den Sommer 1937 und lesen sich seltsam isoliert. Bedenkt man Leerstellen und Zerstückelung mit ein, so drängt sich die Vermutung auf, dass Vorkommnisse während der Reise und spontane Aufzeichnungen Camus erst veranlasst haben, das Journal eigenhändig zu zensieren. Über Innsbruck, wo er sich immerhin drei Tage lang aufhielt, vermerkt das Tagebuch kein Wort. Doch gibt es eine Handvoll Briefe, die Camus nach Algier schickte, Depeschen an zwei Freundinnen und KP-Mitstreiterinnen, beide Töchter wohlhabender Familien in Oran.
An Jeanne Sicard und Marguerite Dobrenn schrieb er am 17. Juli aus dem Café Maximilian: „Was mich an Tirol am wenigsten interessiert … ist das Tirolerische. Innsbruck ist eine Operettenstadt. Die Leute laufen in kurzen Hosen und mit Federhüten herum.“ Beeindruckt ist er dennoch: „Das Land ist herrlich – von wilder Sanftheit – mit wunderschönen Abenden.“ Er klagt über Geldsorgen: „Ich habe einen Schein der algerischen Lotterie (50 Francs). Hier gibt’s aber keine nordafrikanischen Zeitungen. Achten Sie also auf die 3. Ausspielung, vielleicht bringt uns Nummer 136918A Millionen, einen Bauernhof und das Glück.“ Mit Marguerite Dobrenn und Jeanne Sicard hatte er lange vor Reiseantritt eine Wohnung in Algier gemietet, fürs Zusammenleben mit Simone sah er offenbar keine Zukunft. In der Maison Fichu, dem „Haus vor der Welt“ mit Blick auf Hafen und Mittelmeer, spielen große Teile von „La Mort heureuse“, seinem erst posthum veröffentlichten Debütroman „Der glückliche Tod“. Darin ist auch vom Ende seiner Ehe die Rede, von den Schrecknissen der Reise durch ein nach Essiggurken riechendes Europa. Camus konnte nicht wissen, denn er hatte nichts von ihm gelesen, dass Bahnhof und Café Maximilian wie so viele Innsbrucker Örtlichkeiten untrennbar mit Georg Trakl verbunden sind. 1936 war Trakl seit zweiundzwanzig Jahren tot, elf Jahre zuvor hatte man seine sterblichen Überreste aus Krakau überführt und auf dem Neuen Friedhof in Mühlau beigesetzt. Die Drei aus Algier liefen im Nieselregen am Fluss entlang und suchten nach einer Stelle, an der sie ihre Faltboote würden zu Wasser lassen können. Jenseits der Mühlauer Brücke, wo heute der vom Verkehr umbrandete Traklpark liegt, wurden sie fündig, Wiesen erstreckten sich dort bis zur Innuferböschung. Nichts zog sie nach Mühlau hinauf, an Trakls Grab oder zur Rauchvilla, wo Trakl in Camus’ Geburtsjahr den „Helian“ geschrieben hatte und wo sein Förderer und Freund Ludwig von Ficker, der Herausgeber des „Brenner“, noch immer lebte. Im Café Maximilian an der Anichstraße war von Ficker Trakl zum ersten Mal
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begegnet. Als Camus dort saß und Briefe nach Algier schrieb, wusste er nichts davon, konnte nicht ahnen, dass an dem selben Bahnhof, an dem die Drei ihre Boote unterstellten und eine Droschke zum „Goldenen Adler“ nahmen, Trakl einen Viehwaggon an die ostgalizische Front des „großen Krieges“ bestiegen hatte. Eine gespenstisch nickende rote Nelke an der Mütze, überreichte Trakl von Ficker zum Abschied einen Zettel, der auch Camus nicht unberührt gelassen hätte: „Gefühl in den Augenblicken totenähnlichen Seins: Alle Menschen sind der Liebe wert“, stand darauf. Der „Große Krieg“ sollte bald nur noch Erster Weltkrieg heißen. Schon stand ja der zweite ins Haus. Mitte Juli 1936 waren seine Vorboten nicht länger von der Hand zu weisen. Camus hatte Mühe, über das Zeitgeschehen auf dem Laufenden zu bleiben, denn französische Zeitungen waren in Innsbruck nicht zu bekommen. Bourgeois übersetzte ihm, dass der Abessinienkrieg zu Ende war. Mussolini hatte Äthiopien annektiert und war dabei, aus den Kolonien am Horn von Afrika ein „Italienisch-Ostafrika“ zu schmieden. Mit dem Juliabkommen hatte Hitler den Einfluss des Duce auf Schuschniggs austrofaschistischen Ständestaat unterbunden. Österreich war nun praktisch reichsdeutsches Mündel. Die fettesten Schlagzeilen aber galten dem Sport. In Berlin würde der Führer am 1. August die Olympischen Spiele eröffnen, Hitler und Goebbels gaben sich betont weltoffen. Bourgeois war der Meinung, man dürfe die euphorischen Deutschen nicht alle über einen Kamm scheren. Für Camus dagegen jubelte da bereits der Vorplatz der Hölle, bevor die sich auftäte. Weit mehr als die offenkundige Propaganda-Show in Berlin beunruhigte ihn, was in Spanien vor sich ging, dem Land der Vorfahren seiner Mutter. Während sie zu dritt auf Wanderkarten vom Inntal ihre Route festlegten, Linzer Torte aßen und auf Häuserwände geschmierte judenfeindliche Parolen entzifferten, putschten in Spanien die Faschisten. Die linksrepublikanische Regierung Santiago Quirogas geriet unter Druck und brach schließlich zusammen. Am 19. Juli war Franco
schon fast am Ziel: Quiroga dankte ab, die Nationalisten kontrollierten Pamplona, Salamanca, Valladolid. Camus war überzeugt, dass der nationalistische Aufstand keine Chance hatte, offenbar glaubte auch er Hitlers Beteuerungen, Deutschland werde sich in Spanien nicht einmischen. An jenem 19. Juli ließen sie an der Mühlauer Brücke die Kajaks zu Wasser. Bourgeois fuhr mit Zelt und Gepäck im ersten, die Camus folgten. Der Inn war von pastelligem Türkis, wie grüne Milch sah er aus. „Schwebstoffe!“, rief Yves, für den es kein Wunder zu geben schien. Seit Tagen der Regen, und die Strömung von einem Tempo, dass Simone jauchzte. Camus verstörte das alles. Er fühlte sich verwundet. Auch der Verwundete sei hinrichtungsfähig, hatte Österreichs Kanzler Schuschnigg gesagt, und Camus bezog das auf sich. So gut er konnte, paddelte er innabwärts Kufstein und der deutschen Grenze entgegen. Bei Nieselregen und diesiger Luft kamen sie durch Hall, an Pill fuhren sie vorbei und an Schwaz, bevor sie bei Buch eine Rast einlegten. Simone schienen Bewegung, fremde Umgebung und klare Luft gutzutun. Himmlisch, die ineinander übergehenden, sich kreuzenden und auseinanderstrebenden Linien der Almhänge. Jede Kuh war ein Engel für sie. So ruhig, so gleichmütig hätte sie auch sein mögen. Sie passierten Strass, dann die Zillermündung. Bourgeois’ Boot legte sich längsseits an das etwas kürzere der Camus, und Yves schwärmte vom Liebreiz des Tals, das sich zwischen den Bergen südwärts erstreckte. Er war in seinem Element, und Camus entging nicht, wie wohl sich auch seine Frau fühlte, wie einig Simone und Yves sich in ihrer Begeisterung waren. Wider Erwarten war er es, dem das alles nichts sagte, der sich ausgeschlossen fühlte und danach sehnte, allein zu sein. Kurz vor den Montanwerken von Brixlegg, am Innflößerweg, etwa dort, wo der Alpbach herabgerauscht kommt und in den Fluss mündet, schlugen sie nach rund der Hälfte der Strecke das Zelt für die Nacht auf. Bachstelzen schwirrten umher. Die Boote lagen festgezurrt im Röhricht. Während Bourgeois ins Dorf ging, um Bier und ein Abendbrot zu besorgen, richteten
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die Eheleute das für drei viel zu kleine Zelt her und setzten sich dann vielleicht unter einen Baum an den Inn. Camus spürte, wie ihn die alte Eifersucht in den Klauen hielt. Hinzu kam die Angst, Simone könnte nur auf eine Gelegenheit aus sein, an die Notration Morphium zu gelangen, von der er sicher war, dass sie irgendwo versteckt lag. Er ließ seine Frau nicht aus den Augen. Sie warteten auf Yves, blickten stumm auf den blaugrünen Fluss. So blicken Merseult und Marthe, die einander belauernden Liebenden in „Der glückliche Tod“, zur Leinwand eines Kinos, in dem auch ein Mann sitzt, der Mersault keine Ruhe lässt. „Marthe, ist er dein Liebhaber gewesen?“, fragt er schließlich. „Ja“, antwortet sie. „Aber jetzt interessiert mich der Film.“ Die Stille und das Grün des Inntals von vor fündundsiebzig Jahren sind unwiederbringlich verloren, mehr noch, sind nicht einmal mehr vorstellbar. Auf der Inntal-Autobahn jagt man vorbei an Rattenberg-Ost, Rattenberg-West, der Kiesgrube bei Radfeld, der Holzfabrik in Wörgl, den Speditionen in einem ehemaligen Flecken wie Kundl. Tiefe Wolkenbänke, hinziehend über Kirchbichl. Kurz vor Kufstein bekommt man im Schatten des Kraftwerks Langkampfen eine Ahnung, wie es zwischen Schilf, Uferbirken, Uferweiden und Himbeersträuchern einmal überall geflirrt und geblinkt hat. Haubentaucher, Libellen, Tagpfauenaugen. Die Forellen stehen im Fluss, so reglos, als wüssten sie nicht, ob sie noch leben oder sich bloß erinnern. Die starke Strömung ließ die Camus die Flussmitte meiden, immer wieder stellte sich so ihr Kajak quer und drohte zu kentern. Nach einer weiteren Nacht in dem klammen Zelt erreichte das Trio abgekämpft Kufstein. An Marguerite Dobrenn und Jeanne Sicard schrieb Albert Camus am 22. Juli: „Ich fühle mich völlig erschöpft, und jetzt erst ist mir wieder eingefallen, dass mir jede intensive Schultergymnastik verboten ist. Ich werde also auf das Kanufahren verzichten und die Strecke parallel zu Fuß oder per Bus zurücklegen.“ Es regne zum Verzweifeln, in jedem Kino laufe „Walzerkrieg“. Die Frauen seien blond, groß und dumm, die Tiroler von unergründlicher Einfalt.
Von dem imposanten Festungsstädtchen hält Camus sogar eine Tagebuchimpression fest: „Kufstein – die Kapelle und den Inn entlang die Felder im Regen. Sich verdichtende Einsamkeit.“ Simone entschloss sich, allein mit Bourgeois weiterzurudern. Als nächsten Treffpunkt vereinbarten sie Berchtesgaden, ehe auf dem Inn die zwei aneinandergebundenen Kajaks an ihm „vorbeischossen wie ein Blitz“. Gut möglich, dass er sich an diesem ersten Morgen allein in Europa die doppelstöckige Dreifaltigkeitskapelle am Kufsteiner Stadtplatz ansah. Wahrscheinlich aber bestieg er den ersten Zug nach Deutschland und sah dann tatsächlich am Inn entlang Felder im Regen liegen, die heute verschwunden sind unter Gewerbegebieten, Parkplätzen, der Autobahn zum Grenzübergang. Kurz vor Kiefersfelden steht dicht an der Bahntrasse wie auf steinernen Stelzen die seltsam anrührende König-Otto-Kapelle. Weinen können hieß dem Elend eine Grenze zu ziehen. Camus wusste, in Spanien hatte Franco Burgos genommen und eine Gegenregierung eingesetzt. Er wusste, auf dem milchgrünen Fluss, an dessen Ufer er dahinfuhr, eilte seine Frau vor ihm davon. Manchmal, während er sprachlos unter lauter Fremden im Zug saß, summte er den Sommerschlager vor sich hin, den seine Mutter so mochte, Tino Rossis „Marinella“: „Marinella, ah! Reste encore dans mes bras …“ Doch die meiste Zeit starrte er bloß aus dem Fenster und sah dabei nichts als die Bilder von einem unbesiegbaren Sommer in seinem Kopf. Als Bourgeois und Simone mit einem Tag Verspätung in Berchtesgaden eintrafen, mietete man sich zu dritt ein Gasthofzimmer. Was hatte Camus vierundzwanzig Stunden lang allein in dem verregneten Nest gemacht? Wohl kaum den Watzmann bestaunt. Ein paar Kilometer entfernt auf dem Obersalzberg lag Hitlers Berghof. Seit kurzem lebte Eva Braun dort. Wenige Tage zuvor hatte Hitler Mädchen aus einem Bad Reichenhaller Internat empfangen, am 25. Juli aber hörte er sich in Bayreuth „Lohengrin“ an. Berchtesgaden bekam seinen Tyrannen zu spüren: Anwohner des Obersalzbergs wurden vertrieben, der NS-Apparat zwang sie, Land
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und Häuser zu verkaufen, damit das „Führersperrgebiet“ entstehen konnte. Güterzüge, Lastwagen, Baumaschinen, Pferdefuhrwerke und hunderte Arbeiter passierten im Juli 1936 das Städtchen, in dem Camus gestrandet war und über das er nie ein Wort verlor. Abends machte sich Simone schick. Die Blicke der Einheimischen in dem Gasthof, wo sie einkehrten, fraßen die junge Frau auf. Jodler, Zitherspieler – Camus höhnte, und Bourgeois platzte der Kragen: „Sind das denn keine Menschen für dich?“ Camus antwortete erst, als zwischen Dirndln und Lederhosen immer mehr Braunhemden und Hakenkreuze auftauchten. „Ihnen zum Trotz werde ich ihnen nicht absprechen, dass sie Menschen sind“, sagte er. „Will ich dem, woran ich glaube, treu sein, bin ich gezwungen, das in ihnen zu achten, was sie bei Anderen nicht achten.“ Tags darauf, am 26. Juli, nahmen sie den Zug nach Salzburg. In Mozarts Geburtshaus gefielen Camus besonders die Entwürfe von Bühnenbildern, und völlig unerwartet erfasste ihn die erste Begeisterung seit Beginn der Reise, als sie in die Freilichtaufführung eines Mysterienspiels gerieten: Auf dem Domplatz wurde „Jedermann“ gegeben – die Salzburger Festspiele hatten begonnen. In gelöster Stimmung sahen sie sich den Petersfriedhof an, schritten untergehakt zu dritt durch den Mirabellgarten und setzten sich ins Café Demel, um Touristenfiaker zu beobachten, die über den Residenzplatz mit seinem Fischpferdbrunnen rollten. Camus war verblüfft, dass ihn ausgerechnet die durch das Gassengewirr schwirrende Musik seine Selbstachtung wiederfinden ließ. Simone ging mit Bourgeois den Dom besichtigen, und er tauchte ein in die Klänge aus lauter fremden Stimmen und machte sich auf den Weg zur Post, um dort lagernde Briefe abzuholen. Auch ein an Simone adressiertes Schreiben wurde ihm ausgehändigt. Absender war ein Arzt. Als Camus den Umschlag aufriss, muss er geahnt haben, was ihn dazu berechtigte – seine Ehe, das Leben, wie er es gekannt hatte, waren vorbei, nur er hatte es nicht wahrhaben wollen. Der Brief löschte alle Halbwahrheit, alles Sich-
vorgaukeln aus. Was er in Händen hielt, war absurd, der Liebesbrief eines erpresserischen Mediziners. Der Arzt bekundete seine Bereitschaft, die Patientin weiterhin mit Morphium zu versorgen, und nannte seinen Preis. Er sei derselbe wie bisher, derselbe, den Simone auch bei anderen Ärzten entrichtet habe. Der „Salzburger Brief“ beendete zwar nicht die Reise, doch eine gemeinsame war sie fortan nicht mehr. Camus fuhr mit Nachtzügen bis nach Breslau, während Simone und Bourgeois über Elbe, Donau und Moldau paddelten. Man traf sich in Budweis, Dresden und Prag, ehe es über Wien, Vicenza und Venedig zurückging nach Marseille und schließlich Algier. Dort trennte sich Camus von seiner Frau, ließ sich aber erst vier Jahre später scheiden. Simone Camus blieb zeitlebens Morphinistin. Über ihre Mutter bat sie Camus immer wieder um finanzielle Unterstützung und erhielt sie stets. In „Der glückliche Tod“ erkennt Merseult am Ende seiner Europareise, immer nur einem Glück nachgejagt zu sein, das er im Grunde für unmöglich hielt. „Er hatte gespielt, glücklich sein zu wollen. Nie aber hatte er es bewusst, entschlossen gewollt, nie bis zu jenem Tag … Von da an schien ihm das Glück möglich zu sein.“ Ist es möglich, das Glück bewusst herbeizuführen? Um diese Frage kreist Camus’ Schreiben. Am Ende seines Tagebuchs, geschrieben wenige Tage vor seinem tödlichen Autounfall, kommt er nochmals auf die Kajakreise zu sprechen und bekennt sich zu einem verwundeten Herz: „Das erste Geschöpf, das ich liebte und dem ich treu war, ist mir in den Drogen, im Verrat entglitten. Vielleicht rührt vieles von dort her, aus Eitelkeit, aus Angst, wieder zu leiden, auch wenn ich viel Leid auf mich genommen habe. Seither aber bin ich meinerseits allen entglitten, und irgendwie wollte ich, dass mir alle entgleiten.“
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Tract
Florian Pumhösl hat – basierend auf seinem Film „Tract“ – die Titelseite dieser Ausgabe gestaltet. Auf den folgenden Doppelseiten (S. 22–33) zeigt er einzelne Bilder daraus: „Tract ist ein abstrakter Animationsfilm. Während ein farbiges Bildfeld auf der Architektur einen abstrakten Handlungs- oder Bewegungsraum markiert, definieren elementare Zeichen und animierte Linien die Figur und einfache Bewegungen, die in frühbarocken englischen Tanznotationen als ,Tracts‘ bezeichnet wurden.“ Florian Pumhösl, Tract, 2011 9:00, 16 mm, Farbe, ohne Ton, Loop Kamera: Hannes Böck Recherche: Yuki Higashino Produktion: MUMOK, Museum Moderner Kunst Stiftung Ludwig Wien Courtesy Krobath, Galerie Daniel Buchholz, Lisson Gallery
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„Prüfen, wozu die Freiheit dient …“
Nach etlichen Anläufen ist es dem britischen Architekten-Duo Jonathan Sergison / Stephen Bates tatsächlich gelungen, ihren ehemaligen Lehrer, den weltweit gefragten Architekten David Chipperfield, für ein paar Stunden an einem der Redaktion nicht bekannten Ort festzuhalten. Zweck des Freiheitsraubs war ein länger vereinbartes Werkstatt-Gespräch für Quart: über die Sinnhaftigkeit von Regelwerken und öffentlichen Räumen, die Dimension „Nutzlosigkeit“ in der Architektur und warum die Fassade beim Kaufhaus Tyrol in Innsbruck einen Knick hat.
Jonathan Sergison: Man könnte behaupten, dass eine der Konstanten in Ihrer Arbeit als Architekt in der Wichtigkeit liegt, die Sie dem Ort, mit dem Sie arbeiten, zugestehen. Und doch spielt sich Ihre Arbeit an immer noch unterschiedlicheren Orten ab. Ihr Architekturbüro ist international tätig, und das Œuvre an Projekten, die Sie realisiert haben, ist außerordentlich. Wie gehen Sie mit dem Gefühl der Unsicherheit um, das sich einstellen kann, wenn der Ort, an dem Sie arbeiten, so fremd ist? Vor allem dann, wenn die kulturellen Rahmenbedingungen, die er repräsentiert, Ihnen nicht unmittelbar vertraut sind? Wie gehen Sie als Architekt mit der Spannung zwischen dem lokalen und dem internationalen Umfeld um? David Chipperfield: Es geht sowohl darum, was man an einem bestimmten Ort machen könnte, als auch darum, was man machen sollte. Der Ort ist für mich durchaus wichtig, aber man muss den darüber hinausgehenden sozialen und kulturellen Kontext bewusster artikulieren. Vielleicht wäre das eine gute Übung: Wann immer man in seinem eigenen Umfeld arbeitet, sollte man sich ein paar Mal im Kreis drehen, bevor man beginnt, anstatt einfach sofort loszulegen, weil es ja die eigene Stadt ist und man über sein eigenes Umfeld nicht ganz so intensiv nachdenkt wie über andere Orte. In manchen Fällen ist der Ausgangspunkt aber auch sehr von der Bautechnologie oder anderen Voraussetzungen abhängig – denn wir können nicht so tun, als gäbe es bei dieser Herangehensweise so etwas
wie wirkliche Objektivität. Man kann ja nicht einfach sagen: Ich habe das Gelände analysiert, die Kultur verstanden, mich mit der Bautechnologie befasst, und infolgedessen werde ich dies und jenes machen … Ich glaube, man reagiert viel vager und subjektiver. Es geht darum anzuerkennen, dass Architektur insgesamt betrachtet nicht in einem Vakuum agiert und daher ein Dialog notwendig ist. Zu der Zeit, als ich meine ersten Erfahrungen als Architekt sammelte, war die Einstellung gegenüber moderner Architektur in diesem Land (Großbritannien, Anm.) ungemein negativ, was bei mir zu einer gewissen Befangenheit führte. Ich dachte: Wir müssen etwas falsch gemacht haben, es muss einen Weg geben, etwas daraus zu lernen. Und dieser Weg hat wohl damit zu tun, dass man Dinge klarer ausdrückt, Argumente findet, die es den Menschen ermöglichen zu verstehen, worum es bei einem Projekt geht, anstatt sich nur von Experten versichern zu lassen, dass man seine Arbeit gut macht. Ich glaube, dass die Architektur – in diesem Land mehr als überall sonst – sich selbst entfremdet hat, darum habe ich mich während meiner gesamten beruflichen Laufbahn damit beschäftigt, wie man diese Entfremdung mildern könnte. Ich bin zu einer Zeit aufgewachsen, in der eine Art postmodernistische Krise herrschte. Dann kamen Aldo Rossi und Robert Venturi und Leon Krier, und mit einem Mal fing man wieder an, sich die Städte und den Kontext anzusehen, ebenso wie die Geschichte. Aber dabei ging es mehr um die Ausrichtung von Dachlinien, die Positionierung der Fassade im richtigen Winkel – im
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Grunde ein guter, direkter Ansatz, aber nicht unbedingt der Weisheit letzter Schluss. S.: An dieser Stelle sollte man vielleicht erwähnen, dass Sie von Beginn Ihrer beruflichen Laufbahn an häufig außerhalb von London tätig waren. Der Weg zum Flughafen wurde sehr rasch zur Routine. War das eine bewusste Entscheidung oder ein Ergebnis der damaligen Umstände? C.: Es hat sich aus den Umständen ergeben. Als ich meine ersten Aufträge für Läden in Japan und Paris erhielt – das war Mitte der 80er Jahre –, gab es hierzulande keine Aufträge. Selbst ein so begabter Architekt wie Ed Jones, der die Generation vor mir vertrat und für uns alle ein immens wichtiger Lehrmeister war, zog nach Kanada, weil er dort eine Ausschreibung gewann. Damals war der Gewinn einer großen Ausschreibung Anreiz genug für einen Architekten, seine Koffer zu packen und mit seiner Familie nach Nordamerika zu ziehen. In Großbritannien gab es einfach zu wenig Arbeit. Wenn man an Ausschreibungen teilnehmen wollte, musste man das im Ausland tun. Stephen Bates: Interessanterweise haben wir im Grunde dieselbe Erfahrung gemacht. Als wir anfingen, befand sich das Land mitten in einer Rezession, und die Aufträge, die es gab, gingen meist an große Büros. Es bestand kaum eine Chance für uns, Auftraggeber zu überzeugen und komplexe Projekte an Land zu ziehen, also suchten wir im Ausland nach Möglichkeiten. Im Endeffekt richtet man sich nach den Umständen und baut darauf sein Geschäft auf. C.: Genau so ist es. Ich glaube, wir leben in einer Kultur, die der Tätigkeit des Architekten wenig Sensibilität entgegenbringt, nicht nur was die externe Sicht betrifft, sondern auch innerhalb der engeren Grenzen des Berufsfeldes selbst. Das größte Problem ist die in diesem Land herrschende Missachtung fachlicher Qualifikation im Allgemeinen, eine Folge der Ära Thatcher, in der fachliche Qualifikation beinahe mit Elitarismus gleichgesetzt wurde. Mich verwundert diese Sichtweise, denn
wenn ich einen Arzt oder einen Rechtsanwalt brauche, möchte ich sichergehen können, dass er ein angesehener und qualifizierter Vertreter seines Berufsstandes ist. Bei unserem Beruf, den wir lieber wie den eines Arztes oder Anwalts sehen würden, wird das Unternehmerische in den Vordergrund gestellt, und man verlangt von uns, unternehmerisch zu agieren, während wir eigentlich unseren Beruf als Architekt ausüben sollten. B.: Wenden wir uns wieder den künstlerischen Aspekten der Arbeit eines Architekten zu. Wenn man Ihre Entwürfe betrachtet, scheint eine allmähliche Entwicklung weg von einem von der universalen Moderne beeinflussten abstrakten Formalismus hin zu einer verstärkt tektonischen Gestaltung erkennbar. Natürlich ist das in Ihrer Arbeit nicht allein ausschlaggebend: Dort, wo es nötig ist, lassen sich ebenso Züge einer organischeren und eher objektorientierten Formgebung erkennen, doch es scheint offensichtlich, dass Ihr Verhältnis zur Gestaltung von Fenstern – weg vom Horizontalen hin zum Vertikalen – und zur Gestaltung von Räumen sich verändert. Hans Kollhoff hat sich sehr wortreich zur tektonischen Fassade geäußert, und ich frage mich, inwieweit diese Entwicklung in Ihrer Arbeit etwa mit der Etablierung Ihres Berliner Büros in Zusammenhang steht. C.: Ich denke, die Tatsache, dass wir nun schon mehr als zehn Jahre in Deutschland tätig sind, hat uns durchaus beeinflusst. Um auf das vorhergehende Thema zurückzukommen – ich glaube auch, dass in Deutschland eine gewisse Anspruchshaltung existiert, was die Qualität der Detailplanung und Bauausführung betrifft. Wenn man in Großbritannien ein Projekt entwickelt, geht man in jede einzelne Bauphase meist mit einer gewissen Vorsicht, weil man damit rechnet, dass jede Phase durch die anderen Phasen in Frage gestellt werden könnte. Wenn man die Planer von Anfang an mit einer sehr konkreten Vorstellung dessen, was man machen will, konfrontieren würde, würde man wahrscheinlich Ablehnung riskieren. Also versucht man, möglichst lange alles offen zu halten. Selbst wenn man schon die Detailplanungsphase erreicht hat, geht man noch
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immer zögerlich vor, wegen des Verhältnisses zur Bauindustrie oder weil einem das Budget gekürzt werden könnte. In Deutschland wird es schon am Anfang sehr konkret. Niemand sagt: ‚Wenn du hier Ziegel anstatt Naturstein verwendest, wirst du den Auftrag nicht bekommen …‘ Diese Herangehensweise bedeutet, alles von Anfang an genau auszuarbeiten, um zu zeigen, dass es machbar ist. Beim Kunsthaus Zürich zum Beispiel sind wir gerade in der Vorentwurfsplanung. Man könnte auf Basis dieser Pläne fast schon mit den Bauarbeiten beginnen. B.: Das Kunsthaus-Projekt wurde doch über Ihr Berliner Büro entwickelt? C.: Ja, so ist es. Nach dem Gewinn des Gutachterverfahrens zum Wiederaufbau des Neuen Museums wurde 1998 das Büro in Berlin eröffnet. In meinem ersten Jahr in Berlin hat man mich bei Planungsrunden mit dem Bauherrn erst etwas misstrauisch beäugt, weil ich nicht jedem sofort erzählt habe, was wir machen wollten. Man dachte, ich würde etwas verheimlichen, dabei galt es zunächst einmal, zuzuhören und herauszufinden, welche Anforderungen es gibt und alle Wünsche möglichst auf einen Nenner zu bringen. Ich denke, dass wir uns durch unsere Arbeit in Deutschland einen gewissen Grad an Qualifikation angeeignet haben – in Bezug auf Abläufe, Vergabeverfahren und auch darauf, wie man die Detailplanung für ein Projekt ohne Qualitätsverlust realisieren kann. Demgegenüber hat mich die Frage, wie Architektur aussehen sollte – in Anbetracht der sensiblen Umfelder, in denen wir arbeiten –, immer schon beeinflusst. Für mich ist das ein essentielles Thema. Der universalen Moderne ging es in gewisser Weise darum, Unterschiede auszudrücken; mittlerweile sollten wir diesen Drang allerdings überwunden haben. Wir haben uns bemüht, einen Teil der Potentiale und Freiheiten, die uns die Moderne eröffnet hat, zu bewahren. Das ging Hand in Hand mit dem Wegfall von Restriktionen, den wir der modernen Technologie verdanken. In der Moderne ging es darum, der Freiheit Ausdruck zu verleihen. Heute sind wir an einem Punkt angelangt, an dem wir prüfen
müssen, wozu diese Freiheit dient, über die wir verfügen können. S.: Kommen wir auf Ihre Ausbildung als Architekt zurück: Sie fühlten sich von einer Persönlichkeit wie Patrick Hodgkinson angesprochen, und vielleicht – wenn ich hier spekulieren darf – haben etwa auch James Gowan, Neave Brown, Alan Colquhoun, Leslie Martin, Denys Lasdun oder sogar die Smithsons wertvolle Beispiele für die modernistische Position geliefert, die Ihre frühen Arbeiten geprägt hat. Diese Architekten könnte man als Vertreter einer nordeuropäischen modernistischen Tradition bezeichnen. Stimmt diese Annahme, oder waren es doch eher die Tessiner Architekten oder die in Spanien, Portugal und anderen südeuropäischen Ländern tätigen Architekten, die für Sie beispielgebend waren? C.: Ihre Annahme trifft durchaus zu. Als Student wurde ich wohl von den von Ihnen genannten, etwas kompromissloseren Vertretern der Moderne beeinflusst. Allerdings war eines der aufregendsten Projekte, das ich während meiner Studentenzeit sah, das erste kleine Haus von Mario Botta. Es schien, als hätte die Moderne mit einem Mal einen neuen Energieschub erhalten. Später dann, als wir die Architekturgalerie ‚9H‘ gegründet hatten, begann ich mich mehr und mehr für Arbeiten wie die von Rafael Moneo und Álvaro Siza zu begeistern. Die Arbeiten von Moneo suggerierten, dass Geschichte und Typologie möglicherweise mehr Bedeutung hatten, als ihnen die Moderne zugestand. Die beiden, die ich am meisten schätze, sind vermutlich Siza und Moneo. S.: Gleichzeitig mit Ihrem Interesse an einer modernistischen Position scheint sich in Ihrer Arbeit auch eine wachsende Vorliebe für einen älteren architektonischen Kanon herauszukristallisieren. Das Kaufhaus Tyrol etwa, das Sie vor kurzem in Innsbruck fertiggestellt haben, verbindet sich auf überzeugende Weise mit den urbanen Häuserblöcken des 19. Jahrhunderts und den damit assoziierten Werten; es wirkt wie eine Form klassischer Architektur, trotz des universalisierenden
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Charakters der Rasterstruktur und deren modernistischen Assoziationen. C.: Die Geschichte des Projekts war etwas kompliziert. Meine erste Begegnung mit dem Bauherrn fand auf der Baustelle statt, nachdem man das alte Gebäude bereits abgerissen hatte. Zunächst sollten wir nur die straßenseitige Fassade wiederherstellen, eine Idee, die wir nicht überzeugend fanden. Wir argumentierten, dass man das Problem nicht einfach dadurch lösen könne, indem man eine Fassade aufstellt, die mit dem Gebäude dahinter nicht viel zu tun hat. S.: Die Lesart des Gebäudes als Häuserblock scheint aufzugehen. Es ist eine Reparatur, die jedoch gut mit dem für das 19. Jahrhundert typischen Eindruck eines Gebäudes harmoniert, einem Gefühl von Schicklichkeit. C.: Ja, darum geht es. Eine der Herausforderungen war, dass die Breite des Grundstücks dem Ausmaß von zwei Gebäuden entsprach. Wir haben das durch einen Knick in der Fassade gelöst, um die Vertikalität und die Schatten zu betonen. Durch die drei leicht schräg zueinander stehenden Fassadenbereiche wird die lang gestreckte Gebäudefront gegliedert. Meiner Ansicht nach bestärkt dieses Element die Assoziation einer Reparatur, weil es zwei Gebäude impliziert und die unregelmäßig gewachsene historische Struktur der Maria-Theresien-Straße fortgeführt. In einem angelsächsischen Umfeld wäre man hinsichtlich der Umsetzung vielleicht etwas nervös gewesen, weil eine hohe Qualität in der Bauausführung nötig ist, damit eine so simple Idee funktioniert. S.: Nach allem, was ich höre, wird das Gebäude sehr geschätzt, nicht nur bei der Stadtverwaltung, es ist auch in kommerzieller Hinsicht ein großer Erfolg. C.: Ein so großes Gebäude in die unmittelbare Nähe einer mittelalterlichen Stadt zu stellen – das ist eine Idee, mit der man sich wohl kaum auf Anhieb anfreunden kann. Aber gerade solche Bauprojekte sind eine
spannende Herausforderung für uns. Ich bin froh, dass wir mit solchen Projekten beauftragt werden und die Diskussionen die Sinnhaftigkeit der Arbeit, die man macht, unterstreichen; es bedeutet, dass man sich als Architekt mit einem Platz befasst, den die Menschen als wichtig erachten. In Tirol wurde das Kaufhaus Tyrol als Problem für die ganze Stadt gesehen, daher gab es ein allgemeines erleichtertes Aufatmen, als sich herausstellte, dass durch das neue, moderne Gebäude der wichtigste Platz der Stadt nicht zerrissen, sondern auf eine eigene Art wieder zusammengefügt worden war. B.: Daran möchte ich gleich mit meiner nächsten Frage anschließen, weil sie auch einen Bezug zur Fassade des Kaufhaus’ Tyrol hat, die mir im Übrigen sehr gut gefällt: Wenn man die Fassade betrachtet, zeigt sich, dass Maß und Rhythmus zu wichtigen Aspekten in Ihrer Arbeit geworden sind, und für mich ergibt sich daraus die Frage nach Ihrem Umgang mit Proportionen. Was mich interessiert, ist Ihre Herangehensweise an die Maße von Öffnungen. Wir kennen die Arbeit von Architekten wie Peter Märkli und Paul Robbrecht, die persönliche Proportionssysteme entwickelt haben, um die Maße – und auch die sich daraus ergebenden Formen – der Öffnungen in ihren Bauwerken festzulegen. In vielen Fällen basieren diese auf historischen Systemen, wie dem Goldenen Schnitt oder der FibonacciReihe, die zu einem persönlichen Regelwerk zur Schaffung ansprechender Proportionen adaptiert wurden. Natürlich entsteht dadurch auch eine Art methodisches Hilfsmittel für die Arbeit in einem Architekturbüro, das eine bestimmte Formensprache hervorbringt. Ich frage mich also, ob Sie ein solches System bereits in irgendeiner Weise verwenden oder überlegen, sich ein solches anzueignen. Wenn man bedenkt, wie Ihr Büro strukturiert ist, mit Niederlassungen in Berlin, London, Mailand und Shanghai und Projekten in aller Welt … C.: Nein, das tun wir nicht, zumindest nicht nach irgendeinem systematischen oder mathematischen Ansatz. Aber es gibt natürlich einen Dialog über die Größe von Fensteröffnungen und darüber, welche Proportionen man als interessant erachtet. Mithilfe physischer
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Modelle probieren wir unzählige verschiedene Varianten aus. Bei diesem Thema kommt auch ein technischer Aspekt zum Tragen, nämlich in Bezug auf die Größe der Glasscheiben und der Fenster. Die Hauptfassade des Kaufhaus’ Tyrol besteht aus Fassadenstützen, hellen Betonfertigteilen, die mit Naturstein versetzt sind. Es wird eine Balance geschaffen zwischen einer massiven Konstruktion und der Transparenz der raumhohen Fenster. B.: Und wenn man das Raster von vorne betrachtet, wirkt es offen, während aus der Schrägansicht die Materialität der Fassade dominiert und einen starken Eindruck von Stofflichkeit vermittelt. C.: Das Spiel mit Subtilitäten ist in der Architektur schwierig umzusetzen. Je mehr Gebäude wir planen, desto mehr müssen wir uns dieser Diskussion stellen. S.: Wir würden gern noch einen anderen Aspekt Ihrer Arbeit ansprechen, nämlich den der sozialen Nutzung. Das America’s Cup Building in Valencia ist ein sehr skulpturales Stück Architektur, hat jedoch, wie ja ausgiebig berichtet wurde, als Schauplatz für ein sehr öffentlichkeitswirksames Spektakel gedient. Als Stephen und ich kürzlich das Neue Museum in Berlin besucht haben, erlebten wir es als Gebäude voller Menschen. Wahrscheinlich hat man Bilder dieser wunderbar leeren Räume im Kopf und kommt dann sozusagen mit der egoistischen Erwartung dorthin, sich allein auf das Gebäude einstellen zu können … Aber meine eigentliche Frage dreht sich um die Kapazität Ihrer Gebäude als Forum für soziale Aktivitäten, die nicht immer genau planbar sind – C.: Ein Faktor, der uns in unserer Arbeit antreibt, ist die Suche nach dem ‚Öffentlichkeitspotenzial‘, was auch immer ‚Öffentlichkeit‘ heute bedeuten mag. Das Literaturmuseum der Moderne in Marbach oder das America’s Cup Building zum Beispiel schöpfen ihre Identität nicht aus ihren programmatischen Aspekten, sondern aus den nicht-programmatischen Elementen. Die Terrassen in Valencia waren nicht Teil des Pro-
gramms, sondern kamen später dazu. Der Zweck des Gebäudes ist es, die Boote zu beobachten und in die Atmosphäre einzutauchen. Da will man doch nicht in einem verglasten VIP-Raum stehen, sondern auf die Terrasse gehen können … Also beginnt man mit einer Box, an deren Seiten man Terrassen anbringt; dann kam uns die Idee, man könnte eine Konstruktion aus Terrassen planen, in die man Boxen einfügt – die umgekehrte Herangehensweise. Würde das einem Gebäude nicht Identität verleihen? Der Bürgermeister wollte ein Gebäude, das als Symbol für die Ausdehnung der Stadt zum Meer hin steht. Ein anderer wichtiger Aspekt des Projekts war, dass es zwar als VIP-Gebäude geplant war, dass man also eine Eintrittskarte brauchte, um hineinzukommen, der Bau aber doch eine gewisse Offenheit und Zugänglichkeit haben sollte. Wir haben das Haus so entworfen, dass die unteren zwei Ebenen öffentlich sind. Durch diese Plattformen wird ein Gefühl sozialer Durchlässigkeit vermittelt. Die meisten Leute aus der Stadt sahen sich das Gebäude an und kamen nie über das erste Obergeschoß hinaus, aber sie konnten in den Souvenirshop gehen und die Decks besuchen. Das Literaturmuseum in Marbach – ein Black-Box-Museum, in dem sehr empfindliche Dokumente ausgestellt werden – hätte auch zu einer eher gestischen Konstruktion werden können. Die Kolonnade und die Terrassen stellen einen Versuch dar, eine architektonische Sprache zu schaffen, die das Projekt angesichts seiner Akropolisähnlichen Lage in einen Platz verwandelt. Das Ergebnis ist, dass die Leute an warmen Abenden hinkommen, eine Flasche Wein mitbringen und sich auf den Vorplatz setzen. Die Erweiterung des Programms ließ also die Ränder des Gebäudes durchlässiger werden. Auch bei dem Projekt in Kyoto war die Frage, wann man im Gebäude ist und wann nicht, ein Thema. Bei diesem Bau kann man bis hinauf aufs Dach gehen, ohne jemals in das Innere hineinzugehen. Meiner Meinung nach sind es nicht die Funktionsräume, die einen Eindruck hinterlassen, sondern viel eher Orte wie Arkaden, Kolonnaden, Innenhöfe oder Terrassen. Das ist etwas, was wir in all unseren Projekten umzusetzen versuchen. Die Gesellschaft sorgt nicht mehr für die Schaffung öffentlicher Räume, deshalb denke ich, dass hier private
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Projekte einspringen müssen, um öffentliche Räume – oder eine Variante davon – zu ermöglichen. Diese soziale Dimension ist sehr wichtig für mich. Museen sind natürlich per definitionem öffentlich, das macht das Konzept eines öffentlichen Raums viel einfacher. B.: Das Eingangsgebäude, die James-Simon-Galerie in Berlin wird man vermutlich auch wie einen öffentlichen Raum wahrnehmen … C.: Das Gebäude ist als Eingangs- und Empfangsort geplant. Es sorgt für eine Entlastung der Museen und dient zugleich als Veranstaltungs- und Besucherzentrum. Als gebaute Topografie besetzt die James-SimonGalerie mit einem hohen Sockel die Uferkante zum Kupfergraben. Darüber erhebt sich eine Hochkolonnade, die auch außerhalb der Öffnungszeiten frei zugänglich ist. Die Kolonnade verwandelt sich in eine Halle, die wiederum zu einer Buchhandlung und einem Café wird, während sämtliche Infrastruktureinrichtungen unterirdisch liegen. Alles in allem ein Raum, der durch eine simple Glasfläche definiert wird, während das eigentliche Gebäude versucht, sich zurückzunehmen. Was jedoch die Repräsentationswirkung betrifft, so wird durch diese reduzierte architektonische Sprache den kollektiven Ideen – etwa wie ein Publikum sich bewegt, wie es sich ansammelt und wieder zerstreut – Bedeutung verliehen. Das BBC-Gebäude in Schottland mit seinem zentralen Atrium ist in sozialer Hinsicht ein phantastisches Projekt. Es zeichnet sich durch das besondere Verhältnis zwischen dem Individuum und einer Art Kollektiv aus. Im Atrium herrscht durch die diagonale Ausrichtung ständige Aktivität, wie in einem Nonstop-Theater. Niemand fährt mit dem Aufzug in sein Büro, jeder geht zu Fuß hinauf, um mitzubekommen, was los ist. B.: Kommen wir zur letzten Frage: Wir beide kennen Sie als Lehrer an der Uni. Wie sehen Sie das Verhältnis zwischen der Tätigkeit als Architekt und der Tätigkeit als Lehrender – angesichts des zumindest auf dem europäischen Festland herrschenden Gebots, dass die besten Architekten unterrichten sollten.
C.: Dieser Meinung bin ich auch, allerdings kostet es auch viel Mühe. Ich halte eine gute Mischung zwischen Lehrtätigkeit und Praxis für sehr wichtig. In Großbritannien ist das System allerdings kommerzieller orientiert, und niemand wird Ihnen ein Projekt zutrauen, wenn Sie nicht ein riesiges Büro und eine entsprechend eindrucksvolle Maschinerie hinter sich haben. Als wir die Ausschreibung für das Neue Museum gewonnen haben, hatten wir 15 Mitarbeiter im Büro, aber niemand in Berlin hat uns je gefragt, ob wir das überhaupt schaffen können. Und man hat auch keine Projektmanager vorbeigeschickt, um unsere Qualitätsmanagementsysteme zu überprüfen. B.: Wir fanden es auch ziemlich ernüchternd, als uns kürzlich ein Kollege erklärte, dass die Erwähnung unserer Lehrtätigkeit in den Lebensläufen, die wir für Ausschreibungen einreichen, keinen guten Eindruck macht und tatsächlich als Minuspunkt gewertet wird. Manche Kunden oder Manager sind der Ansicht, man könne kein Büro führen, wenn man gleichzeitig unterrichtet. C.: Genau. Allerdings gehört es sogar in Amerika zum Status eines Architekten, auch zu unterrichten. Ob man genug Zeit dafür hat oder nicht, ist eine andere Frage, aber selbst wenn man die Zeit hätte, wäre es in diesem Land nicht gut für die Karriere, weil einen niemand als professionellen Architekten ernst nehmen würde. In der Schweiz ist es doch genau umgekehrt, oder? S.: Das stimmt, dort gilt man kaum als ernstzunehmender Bewerber, wenn man nicht unterrichtet. (Aus dem Englischen von Astrid Tautscher)
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Im Ernst
Über den schreibenden Wanderer, wandernden Schriftsteller Walter Klier. Von Christian Seiler
Zum ersten Mal traf ich Walter Klier in Graz, ein Zufall. Es war spät, Klier kam mit seiner Lebensgefährtin Stefanie Holzer und ein, zwei Kollegen ins Schlossberghotel, wo ich nach einer Veranstaltung beim Steirischen Herbst auch herumsaß, so liefen wir uns in die Arme. Klier stellte sich als Mitglied der österreichischen BNationalmannschaft der Literaten vor. Das war mehr Selbstironie, als ich von einem Schriftsteller jemals gehört hatte, was ich, damals Legionär in der Kritikerreserve der Schweiz, sehr zu schätzen wusste. Wir wanderten weiter in ein Café am Jakominiplatz und nahmen uns ein bisschen Zeit, um Wichtigkeiten durchzugehen. Erzählerische oder befindlichkeitsschwangere Literatur? Erzählerische, klar. Angelsächsische oder mitteleuropäische? Kommt drauf an. Liest Du Wissenschaft? Science fiction? Nein? Warum nicht? Musst du! Geht nicht ohne … Ob es jetzt zwei oder vier war, als wir von der Bedienung höflich gebeten wurden, das Etablissement zu verlassen, weiß ich nicht mehr. Es war Sperrstunde, und ich ging mit dem Gefühl zurück in mein Hotel, endlich einen interessanten, einen viel zu kurzen Abend mit einem österreichischen Schriftsteller verbracht zu haben, interessant deshalb, weil da einer war, der nicht über zu kleine Auflagen, unfähige Verleger oder sein ungewürdigtes Leben jammerte, sondern voller Leidenschaft von Büchern erzählte, vom Erzählen, von gelungenen Sätzen, von Themen, die man irgendwann, aber besser bald, auch einmal in Literatur verwandeln sollte, oder, falls bereits verwandelt, lesen, lesen, lesen. Wir trafen uns wieder in Klagenfurt, 1990. Klier selbst hatte bereits 1982 am Wettlesen um den BachmannPreis teilgenommen, einem Wettbewerb, bei dem ironischerweise die heutige Suhrkamp-Verlegerin Ulla Berkéwicz mit dem „Stipendium der Verleger“ ausgezeichnet worden war. Klier war ungekrönt geblieben, aber er hatte Gefallen an der Veranstaltung gefunden, war wieder nach Klagenfurt gereist und betrachtete mit sichtbarem Vergnügen, wie sich die Literaturbranche traf, präsentierte, produzierte, wichtig nahm, betrank und befeindete, küsste und umwarb.
Hätte ich damals gewusst, dass Klier und Holzer dieser Branche gerade eine böse, aber virtuose Falle gestellt hatten, hätte ich ihre offen gezeigte Freude am Exhibitionismus der Kollegen besser verstehen können, aber mit Ausnahme der Autoren wusste damals noch niemand, dass eine Fantasiefigur namens Luciana Glaser gerade einen sehr, sehr kurzen Roman namens „Winterende“ am Start hatte, der an der Oberfläche vom tragischen Künstlerleben des Südtiroler Poeten Norbert C. Kaser handelte, subkutan jedoch den Auftrag hatte, die Branche, die den Roman gerade mit Werken von Büchner, Hölderlin, Rilke oder Thomas Bernhard verglich, zu blamieren. Den Roman selbst hatten Klier und Holzer binnen einer Woche zusammengestrickt. Das Schicksal des deliriernden Kaser, eine Prosa, die schmerzvergessen in ihre Hauptfigur hineinschlüpft, Künstlerdramatik, Schmerzsensibilität, Alkohol, Schnee, Frost und Sätze, denen man in die Ergriffenheit folgen kann: „Alles, was wir gelernt haben, war falsch“, lautet der Schlusssatz der Erzählung, da schwingt der ganze imaginierte Künstlerweltschmerz der Luciana Glaser mit – und der einfühlsame Zynismus ihrer Schöpfer Klier und Holzer, der sich weniger gegen ihre Figuren richtet als vor allem gegen deren einfühlsame Rezipienten. Weil sie genau wussten, dass der Text durch ein bisschen außerliterarische Melodramatik noch gewinnen würde, ließen Klier / Holzer die Autorin, zu der nicht mehr als eine biographische Notiz existierte – Luciana Glaser, geb. 1958 in Rovereto … – gleich ganz verschwinden. Sie lebe, hieß es, „in solcher Zurückgezogenheit, dass keine Photographie zur Verfügung steht“. Als „Winterende“ auf die Bestsellerlisten kletterte, flatterte dem irritierten Verlag eine Nachricht von Luciana Glaser ins Haus, in dem sie sich matt über den Erfolg ihres Buches freut, aber gleichzeitig rigoros ablehnt, für Interviews oder Pressegespräche zur Verfügung zu stehen: „Ich habe eine Zeitlang in einem Verlag gearbeitet und dort lernen können, was es für einen Autor und mehr noch für eine Autorin bedeutet, sich auf diesen Markt der Körper zu begeben. Ich bin nicht in der psychischen Verfassung, mir das zuzutrauen.“ Stattdessen,
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ließ das Phantom verlauten, gehe sie nach Nizza, um dort als Datatypistin zu arbeiten. Der Luciana Glaser-Coup wurde schließlich vom „Spiegel“ aufgedeckt und führte zu einem Rachefeldzug der Kritiker, deren Nebenberuf bekanntlich die Humorlosigkeit in eigener Sache ist, an Klier. Er habe also absichtlich schlechte Literatur geschrieben, um die Branche zu decouvrieren, soso. Und was sei mit seiner eigenen, „guten“ Literatur? Warum habe noch niemand von „Flaschenpost“ gehört oder von der Erzählung „Die Anfänger“? Mhm? Klier kann gut lachen. Er lacht über Luciana Glaser, er lacht über die Vorhersagbarkeit des Coups, er kann heiter über die Möglichkeit referieren, ein publikumstaugliches Werk zu verfassen, das alles besitzt außer den Respekt seines Verfassers – was wiederum sein eigentliches Verhältnis zum Schreiben definiert: Klier meint es ernst. Literatur ist kein Spiel. Geschrieben wird, was gesagt gehört, und wenn das kein großes Publikum wissen will, okay, dann eben nicht. Aber das ändert natürlich nichts an der Tatsache, dass es gesagt gehört. Klier ist ein Tiroler Kind, aufgewachsen an der Schnittstelle von Freundschaft zur Natur und Unversöhnlichkeit gegenüber der Politik. Mit seinen Eltern Henriette und Heinrich Klier schrieb Walter eine Reihe von Wanderführern über alle wichtigen Bergregionen Tirols, uneitle, geradlinige Gebrauchswerke, die nur in ihrer handwerklichen Perfektion den Geist des gehobenen literarischen Bewusstseins ihrer Verfasser spüren lassen. Heinrich Klier hatte in den fünfziger Jahren einige gut verkaufte Romane veröffentlicht, darunter „Feuer in der Nacht“, eine Geschichte des Tiroler Aufstands gegen die Franzosen im Jahr 1809. Als 150 Jahre nach der identitätsstiftenden Erhebung der Tiroler gegen den Feind von außen das entsprechende Jubiläum begangen wurde, begann es in Südtirol zu gären. Zwei Jahre später brannte es, und Heinrich Klier, der den Aufständlern mit seinem Roman das Motto vorgegeben hatte, fand sich in den frühen Sechzigern höchst aktiv in der Südtiroler Unabhängigkeitsbewegung wieder, inklusive persönlicher Teilnahme an Sprengstoff-
attentaten auf Strommasten. Für seine Urheberschaft an der Sprengung des Mussolini-Denkmals in Waidbruck 1961 wurde Klier in Abwesenheit zu 21 Jahren Gefängnis verurteilt, eine Strafe, die erst Ende der neunziger Jahre vom damaligen italienischen Staatspräsidenten aufgehoben wurde. Walter, Jahrgang 1955, inhalierte diese Dualität, dieses brisante Gemisch aus Patriotismus und Wehrhaftigkeit, aus inniger Liebe zur Natur und der Ablehnung jeglicher Kompromisse. Als junger Mann reiste er nach England und Frankreich, Mutterländer seiner obsessiven literarischen Beschäftigungen, bekannte sich nach einem Zwischenaufenthalt in Berlin jedoch zu seinem Standort Innsbruck. Auf die Qualitätsstandards, die er sich während des Studiums seiner Leidenschaften erworben hatte, wollte er freilich nicht verzichten. Nachdem Klier schon früh in den achtziger Jahren Mitherausgeber der satirischen Zeitschrift „Luftballon“ gewesen war – Untertitel: Beiträge gegen den Wahnwitz –, gründete er 1989 mit seiner Lebensgefährtin Stefanie Holzer nach dem Vorbild der „New York Review of Books“ die Zeitschrift „Gegenwart“, für einige Jahre das Schärfste, was das österreichische Geistesleben zu bieten hatte (und in ihrer Kombination aus Randständigkeit und Qualitätsbewusstsein mindestens ein Onkel des schönen Magazins, in dem Sie diese Geschichte lesen). Gegenstand der „Gegenwart“ war alles, was spannend war – also alles, was Klier und Holzer spannend fanden. Zu dieser Zeit sah man die beiden oft in den schummrig beleuchteten Bogenlokalen unter den Bahngleisen sitzen, wo sie zum abenteuerlichen Lärm der Gruftmusik dicke Bücher durchhechelten, bis tief in die Nacht. Substrate eines eigenwilligen, dem Schwierigen zugeneigten, aber dem Populären nicht verschlossenen Kulturbegriffs fanden Ausgabe für Ausgabe ihren Weg in die Zeitschrift, die in Wien Unterstützung durch das gallische Dorf der „Extra“-Redaktion der Wiener Zeitung fand und ansonsten freiwillige Korrespondenten in den Hauptstädten Europas verpflichtete. Die „Gegenwart“ war ein frühes Meisterstück von Klier und Holzer, deren Engagement genauso untrennbar war wie ihr intellektueller Bedarf und ihre ironische Attitüde: „No poems please“ stand im Impressum der
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„Gegenwart“, womit sehr klar ein Trennstrich gegen die hektographierten Provinzliteraturblätter aus aller Welt gezogen war, hier ging man nämlich ins Ganz oder Gar nicht. Erwin Chargaff erörtete, was 1989 wirklich wert gewesen sein könnte, Reinhard Christl konstatierte eine Krise der Wirtschaftswissenschaften, Stefanie Holzer nahm Elfriede Jelineks Selbstdarstellung in einer Kritik ihrer Porträtfotos aufs Korn. Beiträge drehten sich mit derselben Ernsthaftigkeit um Fukuyamas „Ende der Geschichte“ wie um die Veränderung des Männerkörpers jenseits der Vierzig, befassten sich mit Erkenntniskritik und immer wieder mit dem Literaturbetrieb – auch die große Aufklärungsgeschichte über die Intentionen des Luciana Glaser-Fakes stand selbstverständlich in der „Gegenwart“ und bescherte ihr zwischenzeitlich die Aufmerksamkeit, die ihr regelmäßig zugestanden hätte. Klier und Holzer holten für die „Gegenwart“ immer wieder Welt nach Tirol. Aber sie vernachlässigten Tirol nicht. Sie kämpften mit Robert Schediwys Streitschrift „gegen das Populäre“ in der alpinen Architektur und gingen mit größter Selbstverständlichkeit den eben doch populären Phänomenen ihrer unmittelbaren Nähe auf den Grund, Stichwort Tourismus, Blasmusik und ähnliches. Dabei blieb Walter Klier stets das Erwartbare schuldig. Er krampfte sich zum Beispiel nie auf eine dogmatische, tourismuskritische Position ein, genauso wenig, wie er sich dem linksliberalen Mainstream der österreichischen Kulturschaffenden zurechnen ließ. Die EU kritisierte Klier bereits, als sie noch EG hieß, damals nannte er sie „Ostblock mit Geld“. Das war mutig. Aber auch in philologischen Fragen exponierte sich Klier, in dessen Wesen das Exponieren sonst gar nicht vorgesehen ist. Er nahm sich der unergründlichen Frage an, wer Shakespeare wirklich gewesen sei, und identifizierte den 17. Graf von Oxford, Edward de Vere, als reale Figur hinter dem Pseudonym. Keine Überraschung, dass auch diese Stellungnahme umstritten blieb. Nachdem die „Gegenwart“ wegen Überlastung der Herausgeber, die auch als Setzer, Sekretäre und Layouter herhalten mussten, geschlossen wurde, transferierte Klier seine literaturkritischen Tätigkeiten ins Feuilleton der „Frankfurter Allgemeinen“.
Kliers Lebensthema aber bleibt die Verarbeitung der Prägung, die ihm als Kind widerfahren war, ganz in der Tradition des schönen Spruchs von Heimito von Doderer: „Jeder bekommt seine Kindheit über den Kopf gestülpt wie einen Eimer. Später erst zeigt sich, was darin war. Aber ein ganzes Leben lang rinnt das an uns herunter, da mag einer die Kleider oder auch Kostüme wechseln wie er will.“ 1991 schrieb Walter den Roman „Aufrührer“ über Heinrich Klier, eine literarische Expedition, die ihn die Motivlage des starken Vaters ergründen – und weitgehend verstehen ließ. Seiner eigenen Rolle im Leben des „Aufrührers“ widmete Klier fünfzehn Jahre später die Titelgeschichte des autobiographischen Erzählungsbandes „Meine konspirative Kindheit“. Der Montageroman „Leutnant Pepi zieht in den Krieg“ fügte der Familiengeschichte Kliers 2008 die Basis hinzu: eine fantastische, unsentimentale Schilderung der Kriegsjahre 1914–1918 in Originalbriefen und Notaten von Kliers Großvater Josef Prochaska, die Walter zu einer großen Dokumentation über die untergehende Welt des Habsburgerreichs montiert hat, Baustein für Baustein, Postkarte für Postkarte, Emotion für Emotion. Walter Klier arbeitet weiter an seiner Geschichte, die eine Geschichte seiner Welt ist, also eine Geschichte Tirols, die Geschichte eines Menschenschlags, der auf eigenwillige Weise genauso mit seiner Landschaft verheiratet ist wie mit seiner Geschichte. „Wir Tiroler sehen uns als Volk“, schrieb Walter Klier zuletzt in einem Artikel für die „Furche“, „auch wenn das unter dem postmodern-hedonistischen Schillern der globalen Gegenwartskultur normalerweise verborgen liegt. Allein in der Art, wie wir ‚in die Berg‘ gehen, definieren wir uns als Tiroler. Und ein leises Staunen können wir lebenslang nicht darüber unterdrücken, dass auch Leute von anderswo ‚in die Berg‘ gehen, zumal in unsere. Zur Nation haben wir es wie viele andere Kleine nie gebracht; doch (…) Nationalstolz ist durchaus vorhanden und mangels Siegen stammt sie ganz wesentlich aus historischen Niederlagen.“ In diesen Sätzen ist Walter Klier ganz bei sich. Ich kann ihn lächeln hören, so ernst ist es ihm.
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Loin de l’Europe / Verre van Europa
Charleroi, so heißt es, sei die hässlichste, die deprimierendste Stadt der Welt. Geprägt von vergangenen Hochzeiten der Kohle- und Metallindustrie, inmitten des Pays Noir, ist sie nunmehr vor allem Billigfliegern als Anhängsel und Namensgeberin des „Brussels South Charleroi Airport“ bekannt. Europa scheint weit entfernt zu sein. Charleroi liegt 60 km vor Brüssel. Die einstige Größe ist zu groß geworden und jeder Blick vergleicht und überprüft die Gegenwart anhand der Präsenz der Vergangenheit. Charles Baudelaires Blumen, Spleens und schwarze Zeiten treffen auf gescheiterte Utopien. Der Differenz dieser Bilder entspringt unsere Sympathie für Charleroi. – Auf den folgenden fünf Doppelseiten: ein Beitrag von Johanna Tinzl / Stefan Flunger
Et tout,
mĂŞme la couleur noire,
Semblait fourbi, clair, irisĂŠ;
Le liquide enchâssait sa gloire
Dans le rayon
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cristallisĂŠ.
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Florian Hafele Originalbeilage Nr. 18
Jede Ausgabe von Quart erscheint mit einem Kunstwerk. Exklusiv für dieses Heft hat Florian Hafele eine Miniatur-Skulptur geschaffen, die von der Münchner Firma EOS „lasergesintert“ wurde; oder, vereinfacht formuliert: dreidimensional gedruckt. Hafeles Arbeit „Determination“ wurde auf Karton gebettet und mittels Cellophan mit dem Heftrücken verbunden. – Dazu ein Gedankengang von Ursula Oberleiter.
(Hätte Florian Hafele mich gebeten, ein paar Sätze zu dieser Originalbeilage zu schreiben, hätte ich ihn wohl zunächst gefragt, wovon denn zu lesen sein soll. Wir hätten uns wahrscheinlich getroffen. Er wäre mir gegenüber gesessen und hätte an seinem Dreitagesbart gekrault. Er hätte gesagt, dass ihm der Inhalt der Zeilen eigentlich egal wäre. Gut, es könnte ein Interview sein, aber vielleicht nicht unbedingt über seine Arbeit. Auch nicht unbedingt in Interviewform, also vielleicht lieber kein Interview. Es könnten wenige Sätze über seine Arbeit sein, nicht zu lange, nicht kompliziert. Aber eigentlich müsste es nicht unbedingt so etwas sein, kein Begleittext also, der erklärt oder deutet. Er könnte von Zwergen handeln, weil die ihm sympathischer sind als groß gewachsene Menschen, aber im Grunde wäre auch das nicht nötig. An diesem Abend hätte er mir vielleicht erzählt, wie er als Kind beinahe ertrunken wäre, dass er Sandstrände mit zu feinem Sand meide und davon, dass er vor seinem Atelier morgens oft zwei Rehe sieht. Ich vermute, es wäre mir nicht gelungen, mehr über seine Arbeit zu erfahren. Doch soviel hätte er mir schlussendlich vielleicht doch verraten: Hätte er Thomas Prantl nicht im Anzengruber in Wien zu einem Wiener Schnitzel getroffen, hätte die Arbeit vermutlich anders ausgesehen. Denn dann hätte dieser ihm nicht von der Firma EOS erzählen können, nicht davon, dass die Firma EOS ihn gerade begeisterte und er der LaserSinter-Technik dieser Firma viel abgewinnen könnte.
Florian andererseits hätte ihm nicht erzählen können, dass er von Quart eingeladen wurde, die Originalbeilage der Herbstausgabe zu gestalten. Dann hätte die Biene kaum ihren Weg in das Baby gefunden. Es zeigt sich, in Österreich beginnen viele große Ideen über einem Wiener Schnitzel. Große Ideen würde Florian Hafele mir sofort aus dem Text streichen, hätte er mich gebeten, ein paar Sätze für ihn zu schreiben.)
Florian Hafele, Determination (2011), Kunststoff, 75 × 29 × 20 mm
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Strom oder Strom?
Der Lech: 264 km lang, rechter Nebenfluss der Donau. 30 Kraftwerke, 24 Stauseen, Nettostromleistung: 335 MW. Der Chemiker und Philosoph Jens Soentgen erkundet vor seiner Haustüre in Augsburg einen Fluss, der aus Tirol kommt.
Was ist ein Fluss? „Ein natürliches, linienhaft fließendes Gewässer auf Landoberflächen“, sagt das Lexikon. Dies ist aber ein eher äußerliches, geometrisierendes Verständnis. Ich denke mir einen Fluss eher als Versammlung, als Kollektiv, wie Bruno Latour sagen würde. Zunächst ist er ein Kollektiv der Wassertropfen. Das, was ein vom Himmel fallender Wassertropfen tun will, nämlich geschwind in Richtung Meer fließen, kann er am besten in einem möglichst großen Verein mit anderen Tropfen. Jeder Wassertropfen ist daher ein Magnet für andere Wassertropfen. Sie, die in der Luft Vereinzelten, werden am Boden Rinnsale, Bäche, Flüsse. Flüsse sind ganz große Tropfenkollektive. Wasser will schnell nach unten. Auf diesem Weg haftet es aber an Sandkörnern, an Halmen, an Kieseln. Am schnellsten geht es bergab, wenn Wasser in und auf und durch anderes Wasser gleitet. Es ist gewissermaßen sein eigenes Schmiermittel und dann auch sein eigener Antrieb: Es schubst sich selbst an. Denn Wasser wird, wenn es sich bewegt, mit fast unwiderstehlicher Kraft von Wasser angezogen. Flüsse sind nicht nur Tropfenkollektive. Sie versammeln als Biomagneten auch Pflanzen, Tiere und Menschen. Durch sein Brausen ist der Fluss von weither schon hörbar, sein Klang lockt an. Vögel bevölkern seine Ufer, Tiere kommen und natürlich Menschen. Die meisten älteren Städte sind an Flussläufe gebaut oder dort, wo ein Fluss in einen See mündet. Länder werden entlang von Flüssen besiedelt. Der Fluss bringt immer Neues und Neue und Neuigkeiten heran und trägt Altes fort. Er fließt und zerrt an allem in seiner Nähe, verlegt sich hierhin und dorthin, lockt dieses an und anderes mit, obenauf schwimmen Holz, Gras, Samen und auf Astflößen Lebewesen, unter ihm kullert und hoppelt das bunte Völkchen der Kiesel, mit ihm zieht eine Schwebewelt, in ihm schwimmen Wasservögel, Biber, Fische. Fließend wie er selbst und fließend durch ihn sind die Ansammlungen an seinen Stränden, die er fortlaufend gestaltet, die er auflandet und wegspült. Deshalb findet man an Flussufern gesteigerte Vielfalt, sowohl mensch-
lich wie auch ökologisch. Flüsse gestalten Mikrotope, kleine Buchten, Altarme, die Lebensräume für empfindliche Geschöpfe werden können, sie bauen Paratope, Nebenräume, die nicht fest sind und nicht flüssig, sie gestalten Sphären, die ihrerseits die Geschöpfe anlocken, zu Wiegen und Hochzeitssälen werden können. Aus eintönigen Flächen machen Flüsse Landschaften, die klingen und singen, die bis ins unendlich Kleine reich strukturiert sind. Soweit so schön – doch gehen wir einmal, von dieser Theorie erregt, an einen realen modernen Fluss. Begeben wir uns etwa an den Lech bei Augsburg. Wo findet man ihn, den Lech? Mitten in der Stadt, am Augustusbrunnen vor dem Rathaus, einem Prachtbrunnen aus dem 16. Jahrhundert ist er zu sehen: als uralter, gut trainierter, nackter Mann lagert er da zu Füßen des gerüsteten und gepanzerten Kaisers Augustus, der die Hand zum römischen Gruß erhebt und dessen großes Augenpaar über die Flussgötter zu seinen Füßen hinwegblickt in die Ferne. In seiner Hand hält der Lech ein Flößerruder, bekränzt ist das bärtige, langhaarige Haupt mit Zapfen tragenden Fichtenzweigen. Ein Wolfsfell liegt über seinem Bein. Die Attribute zeigen seine Herkunft aus dem Gebirge. Dies ist der allegorische Lech, wo ist der Wirkliche? In Augsburg und um Augsburg herum sieht man ihn höchstens von Brücken herab und immer nur in der Tiefe. Er ist umgeben von steilen, treppenlosen Dämmen wie einer, dem man besser nicht zu nahe kommt. Nur Trampfelpfade führen hier und da an ihn heran. Vorbei geht es an Verbotsschildern, die die Naturschutzbehörden aufgestellt haben und den Einzelnen mahnen, unbedingt das zu schonen, dessen Untergang die Allgemeinheit schon vor Jahrzehnten besiegelt hat. Einen niederschwelligen Zugang zum Lech über Strände, wie er eigentlich für Flüsse natürlich wäre, gibt es nicht. Der Lech fließt einsam und allein durch Augsburg, ein verdrängtes Gewässer. Keine Flöße, keine Baumstäm-
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me, nicht einmal Kanus sieht man auf diesem Fluss; es empfiehlt sich nicht, ihn zu befahren, weil er allenthalben mit Wehren und Schwellen durchsetzt ist. Immer tiefer, hier und da an die zehn Meter, gräbt sich der enggeführte und eingedämmte Fluss ein, als wolle er verschwinden. Er, der alte, gastliche Versammler, scheint menschenscheu geworden. Er hat in seiner von Menschen gebauten künstlichen Schlucht den Kontakt zu denen, die durch ihn doch erst hierher gekommen sind, verloren. Es gibt keine Fischer mehr, nur noch einige Angler, die vor allem selbstausgesetzte Fische fangen. Es gibt keine Flößer mehr: Mit Ausnahme der Wasserbauingenieure und Kraftwerksbetreiber existiert überhaupt keine Berufsgruppe mehr, die direkt mit dem Fluss zu tun hat. Es gibt auch kaum mehr echte Flussfische in dem Fluss und sogar die Kiesel werden selten. Woran liegt das? Der Lech ist, seit im Jahr 1984 die Staumauer bei Merching, nicht weit von Augsburg geschlossen wurde, kein Fluss mehr, er ist etwas Neues geworden, ein Mischwesen aus einem natürlichen Gewässer und einem kilometerlangen maschinellen System. Er ist zwischen Forggensee und Augsburg, also auf über 100 km Länge, kein „Fluss mit Wasserkraftwerken“, sondern ein einziges, spezialisiertes Wasserkraftwerk mit dem Ziel der Erzeugung von hochpreisigem Spitzenstrom. Er ist ein langgestrecktes Elektrizitätswerk, das überwiegend von den Betreibern Eon Energie AG (von Füssen bis Augsburg) und Lechwerke AG (von Augsburg bis zur Donau) betrieben wird. Er ist ein mit der Strombörse vernetzter Fluss, ein ferngesteuerter Cyborg. Der Begriff Cyborg taucht normalerweise in der Science Fiction auf, meist bezeichnet er Mischwesen aus Mensch und Roboter. Von Seiten der Science Studies hat Donna Haraway in einflussreichen Publikationen darauf hingewiesen, dass solche Cyborgs längst real sind – etwa transgene Pflanzen, die technisch veränderte Gene enthalten, oder auch speziell gezüchtete Mäuse, wie die Oncomouse®. Auf Flüsse wurde der Begriff noch nicht angewandt; doch gerade hier wäre er besonders erhellend. Denn durch die systemische, nicht nur additiv-defensive Durchbauung des Lech ist auf deutscher Seite ein ganz neues technisch-ökologisches System entstanden, das nicht nur anders aussieht, sondern sich auch anders verhält als jener alte Fluss. Man versteht das Abflussverhalten des Lech, die
Schwankungen seines Wasserstandes, aber auch seine Ökologie nicht mehr, wenn man ihn, wie es wackere Geographen bis heute tun, als Fluss zu begreifen versucht. Denn nur noch zur Hälfte wird sein Verhalten von natürlichen Ereignissen und Naturgesetzen bestimmt. Weil er ein langgezogenes Kraftwerk zur Produktion hochpreisigen Stroms ist, wird sein Abflussverhalten und seine Ökologie zu gleichen Teilen von der Strombörse EEX in Leipzig und anderen Organisationen und Institutionen bestimmt wie von den Niederschlägen in den Alpen, die sein Wasser liefern. Er wird heute sowohl von natürlichen wie auch von sozialen Gesetzen bestimmt und kann daher auch nicht mehr mit rein naturwissenschaftlichen Begriffen und Methoden beschrieben werden. Er entgleitet den naturwissenschaftlichen Disziplinen und kann umso sorgloser von denen behandelt werden, die aus seiner radikalen Transformation Profit ziehen. Die neue Wirklichkeit des deutschen Lech wird geradezu verdeckt von den Naturwissenschaften, die sich mit ihm befassen. Auf den Karten, die die Physischen Geographen zeichnen, kann man höchstens mit der Lupe, wenn überhaupt, die Querverbauungen, die Dämme, die Längsbauten erkennen. Der Lech sei „anthropogen überprägt“, heißt es in den Fachveröffentlichungen. Doch diese Abbildungen und Beschreibungen verdecken die Wahrheit. Wissenschaft wird zur Ideologie, wenn sie das Ausmaß der Veränderung nicht aufdeckt. 1940, auf dem Höhepunkt des 3. Reiches, wurde in München die BAWAG gegründet, die Bayerische Wasserkraft AG, deren Ziel insbesondere der Ausbau des Lech mit Kraftwerken war. Die Umsetzung begann sofort. Die Wildflussstrecken zwischen Füssen und Augsburg, auf denen der Fluss sich hier und da in zahlreiche kleine Flüsschen und Bäche aufspaltet, was auf den Luftbildern wie ein geflochtenes Band aussieht, wurden eliminiert. Es folgte die Errichtung erster Kraftwerke in dem Fluss. Nach dem 2. Weltkrieg wurden dann, inmitten der Wirtschaftswunderzeit, die ganz großen Pläne wieder hervorgeholt und realisiert. In Eberhard Pfeuffers 2010 erschienenem, großartigem Buch „Der Lech“ kann man anhand von Bildvergleichen die Veränderungen eindrucksvoll erkennen. Strom musste her im „strukturschwachen“ Bayern. Zunächst wurde der Lech bei Füssen zum „Forggensee“ aufgestaut. Flussab
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baute man dann eine „Kraftwerkstreppe“ von insgesamt 20 Staustufen. Die letzte dieses Systems findet man kurz vor Augsburg, es ist die Staustufe bei Merching. Zwischen Merching und der Mündung des Lech in die Donau gibt es dann noch weitere neun, allerdings nicht systematisch gekoppelte Kraftwerke. Rivalis nannten die Römer einen Genossen, der neben einem selbst an einem Kanal oder Bach seinem Gewerbe nachgeht. Daraus ist, mit einer kleinen Bedeutungsverschiebung, unser Wort „Rivale“ geworden. Ein einziger mächtiger Rivale, die Elektrizitätswirtschaft, hat am Flussrand von Füssen bis Augsburg die Macht am Lech ergriffen und alle anderen verdrängt. Die Flößer, die Fischer, die Bootsfahrer, die Kinder am Flussufer und schließlich sogar die Fische selbst und die Kiesel. Die Elektrizitätswirtschaft hat den Umgang anderer mit ihm zwar nicht verboten, aber durch allerlei Bauwerke und Schilder erschwert und de facto gelähmt. Vielseitige Nutzung eines Naturwesens, sei es ein Wald, sei es ein Fluss, sichert innere Vielfalt. Doch mit der Verdrängung früherer Nutzungsformen des Lech erlischt auch seine innere Vielfalt. Fast alle großen Bauwerke am deutschen Lech hängen zusammen; die Kraftwerke, die Uferverbauungen, die Staumauern bilden ein System, ein Element fordert das andere. Wann in diesem System wie viel Wasser fließt, das bestimmen nicht mehr die Wolken über den Alpen. Diese sorgen nur noch dafür, dass überhaupt etwas fließt, und sind weiterhin verantwortlich für die großen Abflussmuster. Aber diese werden überlagert durch neue, feinere Muster, die andernorts diktiert werden. Wenn im deutschen Stromnetz viel Strom angeboten, aber relativ wenig nachgefragt wird, dann schließt der Kraftwerksmeister am Forggensee die Schleusen; der See schwillt an. Geht aber der Strompreis an der Strombörse in die Höhe, dann lässt der Kraftwerksmeister das Wasser durch die Turbinen laufen. Durch zwanzig Turbinen läuft dann jeder Schwall Lechwasser, bis er in der vorerst letzten Staustufe, in Merching ankommt. Überall wird ihm lebendige Kraft abgezogen, in Hochspannungsleitungen eingespeist und an der Strombörse verkauft. Überall zweigen endlose Reihen von Hochspannungsmasten von ihm ab, dicke Drähte ziehen zu ihm hin wie die Fäden einer Marionette. Die Reihen der Masten verlieren sich in der Ferne der Landschaft.
Der Lech durchströmt nicht einfach die Kraftwerke, die in ihm stehen, sondern wird in den Speichern so lange zurückgehalten, bis sich seine Kraft zum höchstmöglichen Preis verkaufen lässt. Dieses ökonomisch höchst sinnvolle Verfahren nennt man Schwellbetrieb. Dem Wurzelspeicher Forggensee entspricht ein Endspeicher, der in Merching bei Augsburg liegt. Hier kann das Auf und Ab des Wasserstandes, die durch den Schwellbetrieb entstehen, etwas ausgeglichen werden, damit in Augsburg der Lech nicht etwa plötzlich Hochwasser hat und dann wieder trockenfällt. Die äußere Umwandlung veränderte den Lech auch innen. Die Abschnürung verarmte ihn. Fast alle von Fischern und Anglern geschätzten Flussfische verschwanden nach und nach – aus dem Lech und aus den Speisekarten der anliegenden Städte. „Steckerlfisch“ gibt es auf dem Plärrer-Volksfest in Augsburg auch heute noch. Doch längst sind es Makrelen, die da aufgesteckt und gegrillt werden. Die Nasen, die Huchen und die Äschen, einst in großen Schwärmen im Lech unterwegs, sind selten geworden. Ihre Namen kennt kaum noch jemand. Sie finden für ihre Brut keine sauberen Kieselbänke mehr, sie können in dem von Staustufen unterbrochenen Fluss auch nicht mehr wandern. Die Kraftwerksbetreiber haben zwar sogenannte Fischtreppen eingebaut, diese funktionieren jedoch in der Regel nicht. Der Schwellbetrieb, der je nach Strompreis an der Strombörse den Wasserstand erhöht oder erniedrigt, legt schon mal ganze Kiesbänke innerhalb weniger Stunden trocken, so dass vor allem junge Flussfische verenden. Das Ausbaggern des Kieses in den Staustufen wirbelt Schmutz auf, der das Wasser trübt und das Flussbett verschlammt. Heute schwimmen in den zahlreichen Stauseen kaum noch Flussfische, dafür mehr und mehr Seefische wie die Hechte und Karpfen, was manche Angler gar nicht schlecht finden. Um mit den Angelvereinen auf gutem Fuß zu stehen, setzt der Kraftwerksbetreiber Eon Energie AG immer mal wieder Forellen in den Lech, ausgewachsene Tiere aus der Zucht, die dank ihrer behüteten Kinderstube gutgläubig sind und sich leicht fangen lassen. Ältere Angler, die noch die „richtigen“ Flussfische kennen, finden, dass die eingesetzten Fische nicht schmecken. Kiesel, also Geschiebe, gehören zum Leben eines Gebirgsflusses dazu. Sie sind das klickernde, lustige Volk,
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das auf seinem Grund mitwandert. Zu bestimmten Zeiten des Flussjahres, bei Niedrigwasser, machen die Kiesel Rast, bei Hochwasser setzen sie sich wieder in Bewegung. Bisweilen in großen Pulks, in Haufen, bisweilen in langgestreckten Prozessionen. Dazwischen, in den von ihnen geschaffenen kleinen Ritzen und Höhlen, leben die Jungfische, die Krebschen und die Käfer. Doch die Wallfahrer am Flussgrund sind heute fast schon Geschichte, sie werden gleich beim Austritt des Lech aus den Alpen, noch vor seinem Eintritt ins bayerische Alpenvorland aufgehalten. Viele werden bereits in den Kieswerken von Vils in Österreich abgefangen, der Rest bleibt in den mächtigen Kiesrechen des Forggensees hängen. Wie die Flussfische auch, werden die Kiesel durch künstlichen Besatz weiter flussabwärts ergänzt. Die Wasserwirtschaftsämter kippen Flussbausteine in den Lech. Der Sammler findet sie hier und da am Flussrand, es sind Bruchstücke von Jurakalk, hellweiß mit gelblichen Streifen; sie fallen auf, weil sie farblich kaum zu den anderen Kieseln passen und weil sie noch nicht gerundet, sondern durch und durch eckig sind. Was sind das für seltsame Steine? Flussbausteine sind keine Reste der Flussbefestigung, sondern Schotter, die gezielt in den Fluss geworfen werden, um Ersatz zu schaffen für die Alpenkiesel, die man am Forggensee zurückhält. Sie werden dem auf Diät gesetzten Fluss zugeführt, damit er in seinem neurotischen Heißhunger nicht sein eigenes Bett auffrisst. Es sind Pillen, die man dem Fluss verabreicht, die ihn aber nicht heilen können. Der Lech war ein Fluss und ist ein Fluss – hier und da auf der Tiroler Seite. Auch dort sollte er vernetzt werden; Pläne für Wasserkraftwerke gelangten in den 1990er Jahren an die Öffentlichkeit. Bürgerinnen und Bürger kamen zusammen und haben sich dagegen gewehrt. Die Pläne für das Wasserwerk wurden auf Eis gelegt, stattdessen reifte die Idee, Teile des Lechtals zum Nationalpark zu erklären, um ihn vor Eingriffen sicherzustellen. Dieses Vorhaben scheiterte zwar. Stattdessen wurde ein großer Naturpark Lechtal errichtet. Immerhin. In Deutschland gab es in den 1950er Jahren ebenfalls Proteste, als der Forggensee aufgestaut werden sollte. Sie blieben damals – es war Wirtschaftswunderzeit – erfolglos. Deshalb ist der Lech heute auf der deutschen
Seite kein Fluss mehr, der gastfreundlich einlädt, sondern ein Cyborg, ein Mischwesen aus Maschine und lebendigem Wasserorganismus, ein beschlagnahmter Fluss, der nur noch einem Herren dient, ein vernetzter Fluss, gesteuert von einer weit entfernten Zentrale, die ihrerseits mit den Zentralen des globalen Kapitalismus direkt verknüpft ist. Der Lech ist eingemauert zwischen Längsdämmen und aufgebockt in Stauseen: aus der bayerischen Landschaft ist er, von einigen kleinen Ausnahmen abgesehen, als Fluss verschwunden. Er ist Anökumene, unbewohnter Ort. Augsburg und der Lech – das wirkt wie eine geschiedene Ehe. Schaut man vom Lech zur Isar nach München, so sieht man, dass ein Fluss gerettet und sogar wiederbelebt werden kann, wenn einflussreiche Anrainer den Kontakt zu ihm suchen und gegen die, die ihn beschlagnahmen wollen, kämpfen. Um das natürliche, vorüberziehende Kollektiv zu retten, bildete sich in München, 1902 bereits, als erste Kraftwerke den Fluss zu verschandeln drohten, ein menschliches Kollektiv, der „Isartalverein“, der die Total-Verbauung der Isar mit Kraftwerken verhinderte. Seit den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts kämpfte der Verein dann, gemeinsam mit anderen Kollektiven wie „Rettet die Isar jetzt“ oder der „Isarallianz“ für die Revitalisierung großer, einstmals verbauter Bereiche. Mit Erfolg: Vor München wurde die Isar renaturiert, die Dämme wurden eingerissen, Flusswasser wurde den Kraftwerksbetreibern abgehandelt, das nunmehr wieder im alten Flussbett fließen darf, neues Leben kehrte an die vereinsamten Flusskilometer zurück. Heute ist die renaturierte Isar ein weltweit bekanntes Modellprojekt. Auch der Lech könnte, wenn die Lechanrainer auf der bayerischen Seite es wollten, zumindest hier und da aus seiner Internierung befreit werden, wieder Kontakt bekommen zur Landschaft, die er durchfließt und von der er heute isoliert ist. Die Flussfreunde müssten dazu vom Lech selbst lernen, der zeigt, dass das, was die einzelnen Elemente wollen, schneller und leichter geht, wenn aus allen ein Kollektiv wird. Eine „Lechallianz“ und eine „Schutzgemeinschaft Lech“ gibt es bereits. Auch der Lech könnte, zumindest hier und da, aus seiner Isolation befreit werden und wieder ein Versammler werden.
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„Berge stellen sich an.“ Landvermessung No. 3, Sequenz 5 Karwendelrast – Karwendelhaus Geschichten kann man auch durch geometrische Operationen auf der Landkarte generieren: In Quart folgen unterschiedliche Autoren mit unterschiedlicher Kondition unterschiedlichen Linien (s. Übersichtskarte auf der vorhergehenden Doppelseite). Derzeit befinden wir uns auf einer Geraden, die von Obermauern im Osttiroler Virgental nach Garmisch-Partenkirchen führt. In der aktuellen Folge versucht Andrea Grill herauszufinden, ob Wandern ein prähistorisches Verhaltensfossil ist – oder doch ein endloser Hatscher.
Ich weiß nicht, ob ich wirklich gerne wandere. Wandere im direkten Wortsinn, Schritt für Schritt herumstapfen in schweren Schuhen, stundenlang. Ich denke gern ans Wandern, zurück oder voraus, flitze gern übers Wandern wie über eine Stiege, wenige Sätze: bin schon oben, was vergessen: bin schon unten; jeder Lift wäre mir zu langsam. Vor dem Wandern kommt eine Fahrt mit dem Zug, elf Uhr vierundvierzig, Stadt Innsbruck. Ab Salzburg ballen sich am Himmel Wolken zusammen, hoch aber dicht. Wer hat das Wandern erfunden? Das Wandern ist ein Verhaltensfossil aus prähistorischen Zeiten, vor Erfindung der Landwirtschaft; der Zivilisation. Das weiß jeder, sogar junge Kinder, die sich wehren dagegen, lieber SMS-en-ist-Abenteuer-imKopf; ich schicke auch mindestens eins. Klage dem Freund, dass ich nicht bereit bin. Dass es regnen wird. Ich dachte, du wanderst schon, piepst es zurück. Ja ich wandere fast. Jenbach gehört zu den Orten, die nur aus einem Namen bestehen. Oft bin ich hier gewesen, bin ein paar Minuten in einem stillstehenden Eisenbahnwagon gesessen, habe Jenbach im Schnee gesehen, in grellem Licht, im Nebel, in der Dunkelheit – sieben weiße Buchstaben auf blauem Grund; heute steige ich aus. Die viereckigen Wolken, die gestern von der Terrasse eines Wiener Hotels interessant ausgeschaut haben, klatschen verflüssigt auf den Asphalt. Ich drehe mich kurz um die eigene Achse. Für den Notfall – in welcher Form auch immer er auftreten möge – kaufe ich zwei Tafeln Schokolade. Habe nichts Essbares eingepackt, bin überstürzt aufgebrochen, obwohl ich seit mehr als
einer Woche vorgehabt habe, heute aufzubrechen. Immer wieder breche ich überstürzt auf, zähle mich zu den notorischen Improvisierern, chronisch Unvorbereiteten, die souverän wirken und für alles bereit. Ständig am Aufbruch, berufsmäßige Aufbrecher; Taschen umarmend wie Stofffreunde, mit Zeitungen wispernd, emsig den telefonisch-digitalen Faden in alle Fernen spinnend sieht man sie gebrochen in ÖBB-Polstern lehnen. Sobald der Zug sich in Bewegung setzt, tritt Heilung ein. Die Brüche des Aufbruchs ähneln denen in Rippen, der Arzt sagt, wird von selber wieder gut, ein Schmerzmittel lindert. Nehmen Sie ein Taxi, sagte Eva. Die Idee, hierher zu kommen, stammt von ihr, von hier aus einer Linie entlang zu gehen, ein auf der Karte gezogener Strich, Seite b eines gleichschenkeligen Dreiecks; soweit das möglich sei. Wissen Sie, wo Sie gehen müssen? Berufsmäßige Aufbrecher sagen immer ja. Minibusse stehen am Bahnhofsvorplatz, hinten in der Ecke auch zwei Taxis, leer. Das Hotel dahinter wirkt anziehend, wie Hotels, in denen man früher, als ich noch nicht auf der Welt war, Sommerfrische machte. Und wenn ich hier übernachtete? Mich hier einnistete für vier Tage, danach zurückreiste, die Wanderung ohne Umstände im trockenen Zimmer des Hotels zurückgelegt? Versuchsweise nähere ich mich einem der beiden Wägen, stelle mich daneben in den Regen. Jemand ruft; von der Schiebetür der Bahnhofshalle, ein Mann in einem Gilet mit alpinen Mustern, ob ich ein Taxi brauche und: wohin? Gasthaus Karwendelrast. Er schaut mich lange schweigend an, zieht die Brauen so hoch wie möglich, macht unbeschreibliche Augen. Ich zeige es ihm auf der Karte. Dorthin fährt kein Auto, sagt er.
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Aber Eva kennt sich doch aus, denke ich, Eva kann sich doch nicht geirrt haben. Fahren Sie mich in die Nähe, dann gehe ich zu Fuß. Er erklärt sich einverstanden. Über den Preis verlieren wir kein Wort. Unterwegs telefoniert der Taxifahrer mit jemandem, der ihm erklärt, wie man zur Karwendelrast kommt. Wenn wir Glück haben, können wir hinauffahren, sagt er. Das Glück ist auf unserer Seite und die Straße auch hinter der Karwendelrast noch lange nicht zu Ende. An der Tür der Karwendelrast hängt ein Schild „Ruhetag“. Ich drehe es um und entdecke auf der anderen Seite ebenfalls das Wort „Ruhetag“, in einem anderen Schrifttyp. Die Wirtin, die ich drinnen aufspüre – die Tür war offen –, wirkt äußerst überrascht, mich zu sehen. Ich habe eine Reservierung. Ach so, sagt sie, führt mich in ein nordseitiges Zimmer, die Toilette ist am Gang. Eva hat eine wunderschöne Aussicht angekündigt; ich sehe dichtbenadelte Bäume. Das Haus ist bis auf einen einzigen anderen Gast leer, an den Türen stecken außen die Schlüssel. Ich öffne die meinem Zimmer gegenüberliegende. Der Raum ist frischer, heller als der mir zugeteilte, es gibt ein Bad, einen Balkon, die Aussicht – ein mir unheimlich vertrauter Blick: eine Alpenlandschaft im Regen. Diesen Blick auf übergrüne Wiesen, vage erbleichte Bergköpfe mit einem Anflug von Glatze ganz oben, die beleibten Häuser – sie machen sich schwer, damit keine Sturmbö sie wegtragen kann – mit ihren bunten Schnurrbärten aus Geranien, eine sie alle verbindende Hochspannungsleitung. Ich kenne ihn so gut, den Blick aus dem Zimmer, das ich unbedingt haben will. Warum hat sie es mir nicht angeboten? Die Bergköpfe könnten Katrin heißen, wenn sie einen leichten Flaum dunkelgrünes Haar oben hätten anstatt der Glatze, oder Olga oder Léon; wenn ihnen ein See zu Füßen läge. Ich schlucke Blumen. Sehr gesund, hat die Wirtin gesagt; und das Fett neutralisierend, in dem die Schlutzkrapfen schwimmen – hoffe ich. Kapuzinerkresse, wächst hier überall rund ums Haus, hat sie gesagt, nachdem sie mich eine Weile dabei beobachtete, wie ich nur die käsegefüllten Tortellini aß, nicht die dekorativen Blüten, die den Teller zierten. Sie hat mir erlaubt, das bessere Zimmer zu beziehen. Kostet aber
ein paar Euro mehr, Komfortzimmer. Ich mache eine Geste, als hätte ich in der Lotterie gewonnen. (Was für eine Geste macht man da eigentlich?) Zwei andere Gäste sitzen noch in der Stube. Eine Frau, die Zeitung liest, eine Verwandte oder gut Bekannte offensichtlich, denn die Wirtin setzt sich in den freien Minuten zu ihr an den Tisch; und ein Mann, der nichts tut. Stundenlang. Er sitzt da, trinkt einen Apfelsaft und tut nichts. Bis die Wirtin ihm eine Zeitung bringt. Damit die Wartezeit schneller vergeht, sagt sie leise. Auf was wartet er? Mir bringt sie eine Mappe mit Unterlagen über die Region. Ich bekomme Lust, das Renaissanceschloss in Schwaz zu sehen, Silberstadt, Tratzberg, Burg Freundsberg. Ein Berg voller Freunde! Hollywood war da, berichtet der Tourismusverband, eine Episode von „Hart aber herzlich“ wurde hier gedreht, diese Serie gehörte zum Vorabendglück meiner ORF-Jugend. Das ist mein Boss, Jonathan Hart, ein Selfmademillionär. Der hat Nerven. Das ist Mrs Hart, eine traumhafte Frau, einfach toll. So stellte der Butler des Millionärspaars, Max, die beiden Abend für Abend vor, während sie in ihren Autos über die Highways Kaliforniens brausten und en passant Kriminalfälle lösten. Und noch ein internationaler Star ist hier vorbeigekommen. Langsam wird mir klar, wem ich hier folge, außer der Linie, wer hier vor mir schon dieselbe Route zurückgelegt hat: Bruno! Er kam aus Italien, klomm ins Vomperloch, zum Ahornboden, ließ die Falkenhütte links liegen, kehrte im Karwendelhaus nicht ein, aß Heidelbeeren, fing Fisch, sammelte Nüsse, graste auf der Almwiese, schlug sich durch diverse Täler hinunter durch bis nach Bayern. Den einen oder anderen Vomp hat er sicher auf dem Gewissen, die sind bekanntlich um diese Jahreszeit recht saftig. Was ist ein Vomp, fragt Eva später, was soll ich mir darunter vorstellen? Ein Wesen, eine Tierart, die hier durch die Wälder zieht, Einzelgänger. Ihm, Bruno, ging es in Bayern an den Kragen. Man erschoss ihn hinterrücks. Zum Frühstück liegen wieder zwei Kapuzinerkresseblüten am Teller. Die selbstgemachte Marmelade bleibt eine Ankündigung auf einem Schild an der Bar; serviert
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wird Pflaumenmarmelade (sic!) in für Jahre haltbar gemachten Plastikschälchen mit Abziehdeckel. Die besten Bissen: vier Sauerkirschen. Auf die Frage, ob es genug war, sage ich trotzdem nicht: noch eine Handvoll Weichseln bitte, sondern gehe ins Nebenhaus, hinauf ins Komfortzimmer, packe meine paar Sachen. Die Nebel draußen schleichen hin und her, wie Diebe oder Kameramänner, als suchten sie den effektvollsten Anfalls-Einfallswinkel, einem das Licht zu stehlen. Die übertrieben grüne Wiese hat sich verfärbt, scheint inzwischen zu einer anderen Landschaft zu gehören; leider kenne ich die auch, obwohl ich dazu tendiere, ihre Existenz immer wieder zu vergessen. Thema Nummer 1 für den Wanderer ist das Wetter. Heute: Regen, kontinuierlich nass. Ich gehe die Stiegen hinauf zum Komfortzimmer, überlege, wie oft diese Stiegen in den Abstand passen, den ich bis zur Lamsenjochhütte zurücklegen muss. Tausend Mal?
der sprechen kann. Nicht mit einem Auto zusammenstoßen. Nichts von Menschen Erbautes kaputt machen. Nur wilde Tiere verspeisen, besser noch: ausschließlich Beeren. Ich wandere seit zwei Stunden. Sehr weit scheine ich noch nicht gekommen zu sein. Noch immer sehe ich Schwaz. Noch immer sehe ich kein Vomperloch, sondern vor allem feuchte, dunstige Luft, Wälder, viel Gras. Es geht kaum bergauf, eher flach dahin, allmählich bekomme ich Hunger. Was wird Bruno gegessen haben, als er vor einigen Jahren hier durchs Vomperloch wanderte? Bruno aß Haselnüsse und Rehe, denke ich mir.
Zehn Uhr sechsundfünfzig, rote Bänke am Wald und Wiesenrand. „Wir laden Sie zu einer Rast ein und heißen Sie herzlich willkommen“ – Tourismusverband Vomp. Durchs Wandern kommt man an Orte, an die man sonst nicht käme.
Würde man auch wandern, wenn das Wandern den Ruf hätte, ungesund zu sein? Wenn man in allen Magazinen darauf hingewiesen werden würde, dass es die Gelenke ruiniere, die Haltung verschlechtere, dumm mache und vorzeitig altern lasse? Zwölf Uhr einunddreißig, Stallenalm. Glockengeläute unsichtbarer Kühe, sie schweben im Nebel oder machen ihn? Nebelproduzierende Kühe, an ihren Rücken kondensiert und verdampft die warme Luft, wären keine Kühe unterwegs, wären die Alpen stets klar und sonnig?
Bären-Rast, seit 1973, neben einer Eberesche, gespendet von Agnes Schwarz. Haltet den Bärenbrunnen sauber! Die Natur ist unser höchstes Gut. Den Bärenbrunnen, aus dem weniger Wasser tröpfelt als vom Himmel, dominiert nomen est omen die Statue eines Bären, graubraun, kaum vom Stein zu unterscheiden, lebensgroß. „Hier ward am 14. Mai 1898 von Constantin Graf Thun-Hohenstein der letzte Bär von Nordtirol zur Strecke gebracht.“ – Tiroler-Landes-JagdschutzVerein 1875. An dieser Stelle muss auch Bruno vorbeigekommen sein, Bruno, der internationale Star, der zweijährige italienische Bär mit den slowenischen Großeltern, auch genannt: JJ1. Er wanderte im Jahr zweitausendsechs vom Trentino über Tirol nach Bayern, der erste freilaufende Bär in Bayern seit hundertsiebzig Jahren. Reiseratgeber für Bären in Mitteleuropa: Zurückhaltend sein, dezent. Achtgeben, niemandem zu begegnen,
Würde man wandern, wenn in den Sport- und Gesundheitsrubriken der großen Zeitungen gewarnt würde vor dem Virus, mit dem man sich dabei anstecken kann, dem Virus der Wortkargheit? Was es gibt, steht draußen, sagt der Senner. Ich nenne ihn (heimlich) Almöhi, habe das Gefühl, ihn zu stören, frage zögernd, was es zu essen gibt, nehme an, er wird vermutlich weniger ausführlich kochen, weil niemand sonst da ist, weil es so neblig ist und so kühl. Bitte höflich um Kaiserschmarrn. Komme mir vor, als wäre ich für die Tourismuswerbung meines eigenen Landes gemietet, ja, sie essen tatsächlich immer Kaiserschmarrn. Der Senner sucht, nicht unwirsch, die notwendigen Zutaten zusammen. Ich sehe ihn eine Palette Eier in die Küche tragen, eine Packung Mehl, eine Dose Gulasch; denn inzwischen sind noch ein paar Leute eingetroffen. Ich krame einen Pullover aus der Tasche. Aus der Küche ist Räuspern zu hören, Husten. Der Senner
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spricht mit sich selber. Plötzlich erscheint er mit einer blauen Decke, die er mir reicht, er hat gemerkt, dass mich fröstelt. Kann er durch Wände sehen? Man hört ihn Eier aufschlagen, Butter schneiden, seufzen, ächzen. Die anderen Gäste rauchen. In dieser gesunden Luft könnte ich auch einmal mit dem Rauchen anfangen, wenn ich länger bliebe, im Nebel vor der Hüttentür hocken, den Kühen bei der Nebelproduktion helfen, warme Nebelschwaden aus dem Mund in die Umgebung atmen, ausgiebig ausatmen wie alle hier: die Kühe, die Berge, die Gräser, die Fichten, sogar die Wühlmäuse sondern feuchten Nebel ab. Das muss so sein. Der Senner (Almöhi) hat Adidas Sportschuhe an, serviert aus einem Topf. Beim Wandern hört man die eigenen Schuhe am Boden aufkommen, kleine Steinchen rollen, Wasser rinnen in die Wolfsklamm, an den Stämmen der Fichten herunter, seitlich fliegen immer wieder schwarze ErebiaFalter von der Wiese auf den Weg heraus. Ich habe mich auf Aussichten gefreut (dieser Enthusiasmus über Aussichten, ist das ein prähistorisches Verhaltensfossil wie das Wandern?), darauf, Gemsen zu sehen, Dachse vielleicht; bewege mich unter einer Decke aus feuchter undurchsichtiger weißlicher Luft. Stelle mir das Stallental vor, in weite Hänge ausschweifend, grellbunt. Beuge mich vor und sehe weiß und dann gelb: der Kaiserschmarrn wird auf den Tisch gestellt, deutlich vorherrschend ist ein Geschmack: Rum. Ich vermute, ich habe noch nie einen besseren Schmarrn gegessen. Vierzehn Uhr zweiundzwanzig, Erdbeeren vom Wegrand gepflückt. Das hat auch Bruno der Bär getan. Beim Gehen höre ich die Stöcke, klick-klack, nicht meinen Atem. Auch der Wind ist still. Der Senner hat meine Aufgabe hier interessant gefunden, dann geklagt, dass man vom Regen beim Heuen überrascht worden sei, es mehrmals gesagt, dass man nicht mit dem Heuen fertig geworden sei. Bitter, sagt er, und präzisiert damit das Gefühl, das er hat. Berge stellen sich an. Wie eine stets versprochene, nie gehaltene Liebe. Städte sind leichtlebiger, zugänglicher, werfen sich einem an den Hals, recken sich einem erregt entgegen, bevor man noch den ersten Schritt getan hat.
Die Lamsenjochhütte ist plötzlich zu nahe. Engalm hieße die nächste Übernachtungsmöglichkeit, klingt anziehend. Unspektakulär geht der höchste Punkt meiner Tour vorbei, tausendneunhundertdreiundfünfzig Meter über dem Meeresspiegel. Eh nicht so hoch. Ich sage meine Reservierung hier ab. Sechzehn Uhr siebenunddreißig, vier rotweiß gestreifte Betonmischmaschinen, eine Hütte wird ausgebaut. Die Hütten hier verlangen eine neue Definition des Wortes: als Hütte wird jedes eine Übernachtungsmöglichkeit bietende Gebäude bezeichnet, das auf über tausend Metern Höhe liegt, auch wenn es keine Hütte ist, sondern ein übergewichtiges Haus. Vorher, sechs tote Alpensalamander flach wie Abziehbilder auf den Steinen. Die Chauffeuse war eine fröhlich lachende Frau, vorne am Wagen große Tonnen voll Milch. Nur ihr Wagen fährt über diesen unbefestigten Schotterweg, denke ich mir, nur sie kann die Salamander geplättet haben. Ein paar Minuten später hängen in einem Mitsubishi ohne Kennzeichen Kinder aus den Fenstern, können noch alles werden. Zwei junge Hirten – ihre Brüder? – springen ausgelassen in Gummistiefeln über Stock und Stein, eine orange, eine grüne Jacke. Ich konzentriere mich zu wenig aufs Gehen, lasse mich von allen Lebewesen ablenken. In der Gaststube des Alpengasthauses Eng hängen sechzehn Totenschädel von Gemsen, vier Leichen von Steinadlern. Immer wieder denke ich an das Ende dieser Tour, das Ankommen in Scharnitz, ob es einen Zug geben wird, ob ich es heute noch schaffen kann oder erst morgen; das Ende der Linie, der b-Seite dieses imaginierten Dreiecks auf der Karte. Frage mich, was Eva davon halten wird, dass ich mich so schwer aufs Gehen konzentrieren kann. Was sie sich erwartet, sich wünschen würde von so einem Text über den von ihr gezogenen Strich in der Landschaft, über die b-Seite? Schicke das eine oder andere SMS an den Freund. „galore“ piepst es zurück. Ist das eine Bezeichnung für den Fabrikanten eines hochseetüchtigen Ankers? Wegen des vielen Regens gibt es viele Teiche auf den Almwiesen. Zu so einer Lacke stapfe ich durch knö-
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cheltiefen Matsch, auch ein Produkt der Kühe, während sie wiederkäuen, zertreten sie die oberste Schicht der Erde, hier und da sieht man Abdrücke ihrer Hufe. Ich ahne, dass sich in diesem Teich etwas besonderes finden könnte, etwas, das ich, ehrlich gesagt, noch nie gesehen habe, aber sofort erkennen werde, falls es da ist. Einige Meter später bestätigt sich die Vermutung, dunkle längliche Flecken im Wasser, in unterschiedlichen Größen, als ich näher komme, bewegen sich ein paar, einer kommt auf mich zu: Alpensalamander.
Bestand, suche Eier des Enzianbläulings, finde ab und zu Löcher in den Blütenköpfen und eventuell ein Falterweibchen, das kurz auffliegt, trotz der drohenden Wolken. Die Raupen lassen sich fallen, sobald sie sich durch die Enzianblüten gefressen haben, werden von Ameisen gefunden, aufgeladen und ins eigene Nest transportiert. Hier an der Falkenhütte habe ich den Höhepunkt der Tour erwartet. Ich bestelle Apfelstrudel, denke an die Tourismuswerbung, dass sie manchmal so recht hat.
Im Alpengasthof Eng träume ich, dass wir in Indien reisen, irrsinnig viel Zeug dabei in einem Wagerl hinter uns her ziehen, aus dem es ständig heraus fällt, bunte Gürtel und Seidentücher. Inder helfen uns, das Ganze immer wieder hinein zu werfen; es fällt wieder raus. Wir sind unbesorgt und landen irgendwie wieder fröhlich in Wien mit dem ganzen Kramuri. Ich bin noch nie in Indien gewesen.
Vierzehn Uhr siebenunddreißig, Karwendelhaus. Es wimmelt von Radfahrern, Fahrrädern. Auch meine zweite Reservierung sage ich ab. Es ist viel zu früh, um schon mit dem Wandern aufzuhören.
Am Abend ist es sonnig gewesen, im flachen Wasser, das ein Fluss durchs Engtal schiebt, haben Touristen ihre Füße gekühlt, am Parkplatz haben die Autos geglänzt und in der Hitze leicht geklirrt. Ich habe überlegt, schwimmen zu gehen, zumindest kurz im Bach zu liegen, bin am Balkon meines Zimmers eingeschlafen, ein Balkon übrigens, den man nur erreichen kann, wenn man über einen Hocker durchs Fenster hinaussteigt. Ich habe einen Moment gezweifelt, ob man das darf, aber mich dann erinnert, dass der Gasthof ein Wanderhotel ist. Ich habe für den kommenden Tag auf wolkenlosen Himmel gehofft, ein paar Stunden lang. Am kommenden Tag ist es wieder bedeckt. Elf Uhr siebzehn, Falkenhütte, tausendachthundertachtundvierzig Meter hoch. Mich hätte er schon mit dem Auto mitgenommen, scherzt der Wirt, als ich mich frage, warum man überhaupt noch zu Fuß hier herauf kommt, während er mit dem Auto fährt. Wir haben auch klein angefangen, mit Pferden, sagt er. Unter einem Blatt, das ich aufhebe, um seine Unterseite zu betrachten, findet sich ein Ameisennest. Arbeiterinnen tragen ihre schneeweißen Nachkömmlinge eifrig hin und her, bringen ihnen Futter, bewahren sie vor Unbill. Die zarten Würmchen winden sich faul, lassen sich willig tragen. Ich sehe Lungenenziane, ein großer
Ob L. böse wäre, wenn er in dieser Geschichte nicht vorkäme, obwohl er tagelang den größeren Rucksack trägt? Wenn ich in Louis nenne, für diese Geschichte? Weißt du, was ein endloser Hatscher ist?, frage ich Louis. Er hat den Ausdruck nie gehört. Dieser Weg vom Karwendelhaus nach Scharnitz ist ein Hatscher. Ich kann es nicht lassen nachzurechnen, ob wir schneller gehen als die angegebenen Wegzeiten; gelbe Schilder mit zugespitzten Enden weisen bei Weggabelungen die möglichen Endziele an. Aber mein Ziel ist ja kein Endziel, wann wohl der letzte Zug aus Scharnitz weggeht? Ich will geschwind weiter, stelle mir vor, wie ich am Sonntag baden gehe, in der Donau, in einem See im Salzkammergut; falls die Sonne scheint. Überall perlen Tröpfchen, von allen glatten kühlen Flächen, von Louis Wangen. Trotz des bedeckten Himmels bekomme ich am linken Oberarm einen leichten Sonnenbrand. Das ist immer so, wenn man von Osten nach Westen geht, sagt Louis. Neben uns rauscht der Karwendelbach, die junge Isar? Im Tal nach Vomp ist die Quelle der Isar, der Karwendelbach nährt die junge Isar, fällt mir ein, und ich gehe weiter, Schritt für Schritt, mittlerweile ist es mir gleich, wie weit es noch ist, wie lange es noch dauert. Auf jeden Fall mehr als die drei Stunden, die von der Kellnerin oben versprochen wurden; ungefähr drei Stunden bis Scharnitz, aber ich weiß es nicht genau, bin erst einmal gegangen, nämlich vor drei Tagen hier herauf, das hat sie gesagt. Man kann ihr nichts vorwerfen. An einer Stelle
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ist der Karwendelbach ein bisschen tiefer und ruhiger, kurz vor einer Biegung mit Brücke, und ich will mich abkühlen. Ein einziges kurzes Bad. Während ich mich ausziehe, bleibt unversehens ein Wagen in der Nähe stehen, seit Stunden kein menschliches Wesen zu sehen und ausgerechnet in diesem Moment. Ich tauche unter. Schon nach einer halben Minute spüre ich die Füße nicht mehr. Das Auto gehört einem Jäger, sehe ich dann, er starrt mit dem Feldstecher in die Berge, sticht in die Gipfel, hat bald die abwesenden Adler ausgestochen. In Scharnitz suche ich ein Hotel Post, finde einen Goldenen Adler, das Haus sieht schön aus von außen, ein Schild sagt aber: keine warme Küche. Von der vielbefahrenen Straße sehe ich in ein Zimmer hinein, im zweiten Stock, den Fernsehapparat auf einem Gestell über dem Bett. Ich entscheide mich für Haus Ilse, ein ordentlicher Kasten, Spielzeug im Vorgarten, läute an der Zimmerglocke „Für Zimmer, bitte hier läuten.“ Nichts geschieht. Läute noch einmal, kurz, um die oder den Hausherren nicht schon durch Aufdringlichkeit beim Läuten gegen mich aufzubringen. Es ist acht Uhr abends, leichter Regen, ich bin seit elf Stunden unterwegs, die meisten davon gewandert, einen Fuß vor den anderen, Schritt für Schritt, jeder Schuh ein halbes Kilo, die Füße – wie schwer wiegt ein Fuß? Eventuell siebeneinhalb Kilo bis zum Knie? Endlich öffnet sich ein Fenster im ersten Stock, eine Frau beugt sich heraus. Ja?, ruft sie. Ob sie ein Zimmer hätte. Ja, ja, schreit sie herunter. Sogar die Ferienwohnung sei frei. Es nieselt weiterhin. Mit Frühstück?, fragt sie aus dem Fenster. Ja, gerne. Ob das die richtige Antwort ist? Ob ich einem Test unterzogen werde, ob ich der Ferienwohnung würdig bin? Kaffee? Wollen Sie Kaffee zum Frühstück? Ich getraue mich kaum zu antworten, wenn ich jetzt „nein“ sage oder um Tee bitte, falle ich vielleicht durch und sie wird mich nicht als Gast akzeptieren. Gleich mache ich Ihnen auf, ruft sie. Wollen Sie Kaffee zum Frühstück? Bitte, sage ich, Kaffee. Zehn Minuten später geht eine Tür seitlich am Haus auf. Ah, Sie sind noch da, sagt sie, zeigt mir eine große Wohnung mit Schlafzimmer, Küche, Wohnzimmer, Hometrainer. Am Sonntag kommt ein Gast mit Gehbehinderung, deswegen habe ich in der Badewanne
schon den Duschsessel installiert. Stört Sie das? Mich stört im Grunde gar nichts mehr, ich schlüpfe neben dem weißen Apparat unter die Dusche, lege mich in ein mit Rosenmuster bezogenes Bett schlafen. * Wandere ich gerne? Warum wandere ich? Warum wandert man? Welche Frage würde Eva beantwortet wissen? Wie weit bin ich gegangen? Ich sitze im Zug, Liniennetzspinne Nordtirol. Er hält im Ort Rum. Ob es auch Orte gibt, die Weißwein heißen oder Schnaps oder Limoncello? Die Geographie ist festgelegt, aber, ist die Geographie festgelegt? Siebzig Kilometer, nehmen wir an, die Linie, an der ich entlanggegangen bin, b-Seite des gleichschenkeligen Dreiecks, ist so lang, siebzigtausend Meter. Wenn ich mich umdrehe, dehnt sie sich oder zieht sich zusammen. Am Ende ist ein Tag kürzer gewesen als ein Tag, sind tausend Stiegenhäuser kürzer gewesen als eine Stiegenlänge. Wäre ich überhaupt weggegangen ohne Louis neben mir, ohne Eva, ohne einen Freund irgendwo; oder hätte ich mich nur ein wenig gestreckt, die Stufe als Aussichtstürmchen verwendet, um die drei zu suchen? Wie frisch gewaschene Wäschestücke trocknen die Gedanken an der Leine. Wandern als Waschmaschine für Gedanken, ob sich das schon jemand gedacht hat? Waschvorschriften: Nicht bügeln. Nicht bleichen. Nicht chemisch reinigen. Sauber flattern sie im Wind, vom im sesshaften Alltag angesammelten Staub und Schmutz befreit. Als hätte ich endlich wieder einmal alles bedacht.
Eigenwerbung
Quart Nr. 1–17: Stefan Abermann, Nathan Aebi, Andreas Altmann, Architekten Moser Kleon, Clemens Aufderklamm, Ludovic Balland, Thomas Ballhausen, Susanne Barta, Othmar Barth, Christoph W. Bauer, Ruedi Baur, Wolfgang Sebastian Baur, Gottfried Bechtold, Sven-Eric Bechtolf, Friedrich Biedermann, Johanna Bodenstab, Julia Bornefeld, Kurt Bracharz, Maria E. Brunner, Markus Bstieler, Daniel Buren, Ferdinand Cap, Ernst Caramelle, Michael Cede, Günther Dankl, Hans Danner, Delugan-Meissl, Marco Dessi, Georg Diez, Dimitré Dinev, Klaus Doblhammer, Moritz Eggert, Fred Einkemmer, Olafur Eliasson, William Engelen, EOOS, Beate Ermacora, Carsten Fastner, Werner Feiersinger, Friederike Feldmann, Thomas Feuerstein, Ellinor Forster, Katja Fössel, freilich landschaftsarchitektur, Barbara Frischmuth, Martin Fritz, Daniel Fügenschuh, Marta Fütterer, Heinz Gappmayr, gelitin, Michael Glasmeier, Rolf Glittenberg, Christian Gögger, Peter Gorschlüter, Martin Gostner, Barbara Gräftner, Franz Gratl, Daniel Grohn, Georg Gröller, Walter Grond, Walter Groschup, Sabine Gruber, Gebhard Grübl, Egyd Gstättner, William Guerrieri, Carla Haas, Ernst Haas, Georg Friedrich Haas, Händl Klaus, Andreas Hapkemeyer, Marlene Haring, Jens Harzer, Michael Hausenblas, Krista Hauser, Sigrid Hauser, Clementina Hegewisch, Werner Heinrichmöller, Heinz D. Heisl, Dietrich Henschel, Peter Herbert, Wolfgang Hermann, Ralf Herms / Rosebud, Margarethe Heubacher-Sentobe, Klasse Hickmann, Stephan Hilpold, Christoph Hinterhuber, Paulus Hochgatterer, Richard Hoeck, Candida Höfer, Siggi Hofer, Johanna Hofleitner, Robert Holmes, Anton Holzer, Stefanie Holzer, Heidrun Holzfeind, Johann Holzner, Albert Hosp, Johannes Huber, Sebastian Huber, Stephan Huber, Barbara Hundegger, Stefan Hunstein, Helmut Jasbar, Ivona Jelcic, Peter Stephan Jungk, Ulrike Kadi, Fabian Kanz, Bernhard Kathan, Manuela Kerer, Leopold Kessler, Walter Klier, Gerhard Klocker, Margit Knapp, Peter Kogler, Alfred Komarek, Moussa Kone, Markus Koschuh, Andreas Kriwak, Florian Kronbichler, Gustav Kuhn, Martin Kusej, Ulrich Ladurner, Bernhard Lang, Patrizia Leimer, Sonia Leimer, Paul Albert Leitner, Clemens Lindner, Christine Ljubanovic, Ove Lucas, Constantin Luser, Fritz Magistris, Brigitte Mahlknecht, Sepp Mall, Andreas Maier, Urs Mannhart, Dorit Margreiter, Raimund Margreiter, Edgar Martins, Barbara Matuszczak, Manfred Alois Mayr, Friederike Mayröcker, Milena Meller, Bernhard Mertelseder, Klaus Merz, Thomas Mießgang, Lydia Mischkulnig, Wolfgang Mitterer, Philipp Mosetter, Walter Müller, Paul Nagl, Olga Neuwirth, the NEXTenterprise architects, Walter Niedermayr, Michaela Nolte, NORM, Thomas Nußbaumer, Peter Oberdorfer, Nick Oberthaler, Walter Obholzer, Fritz Ostermayer, Ulrich Ott, Walter Pamminger, Thomas Parth, Pauhof Architekten, Karin Pernegger, Hans Karl Peterlini, Christoph Peters, Robert Pfaller, Andreas Pfeifer, Marion Piffer Damiani, Hans Platzgumer, Jorge Reynoso Pohlenz, Wolfgang Pöschl, Wolfgang Praxmarer, Gerald Preinfalk, Othmar Prenner, Martin Prinz, Robert Prosser, Manuela Prossliner, Irene Prugger, Carl Pruscha, Thomas Radigk, Gottfried Rainer, Bernhard Rathmayr, Helmut Reinalter, Robert Renk, riccione architekten, Alice Riegler, Gerhard Ruiss, Corinne L. Rusch, Katharina Rutschky, Georg Salner, Peter Sandbichler, Benedikt Sauer, Susanne Schaber, Hans Schabus, David Schalko, Lukas Schaller, Peter Scheer, Simon Schennach, Markus Schinwald, Elisabeth Schlebrügge, Eva Schlegel, Nikolaus Schletterer, Fridolin Schley, Birgit Schlieps, Hanno Schlögl, Ferdinand Schmatz, August Schmidhofer, Wendelin Schmidt-Dengler, Olaf A. Schmitt, Gunter Schneider, Roland Schöny, Fred Schreiber, Raoul Schrott, Franz Schuh, W.G.Sebald, Christian Seiler, Walter Seitter, Peter Senoner, Q. S. Serafijn, Cyrus Shahrad, Martin Sieberer, Christoph Simon, Alessandro Solbiati, Gertrud Spat, spector cut+paste, Götz Spielmann, Clarissa Stadler, Thomas Stangl, Martina Steckholzer, Esther Stocker, Karl Stockreiter, Bernhard Studlar, Sylvia Taraba, Rudolf Taschner, Text ohne Reiter, Paul Thuile, Susanne Titz, Ernst Trawöger, Heinz Trenczak, Ilija Trojanow, Thomas Trummer, Wolfgang Tschapeller, Erdem Tunakan, Karl Unterfrauner, Sandra Unterweger, Roman Urbaner, Katrien van der Eerden, Andrea van der Straeten, Rens Veltman, Joseph von Westphalen, Klaus Wagenbach, Martin Walde, Peter Warum, Peter Waterhouse, Vitus H. Weh, Hans Weigand, Lois Weinberger, Oliver Welter, Wendy & Jim, Gabriele Werner, Joseph v. Westphalen, Günter Richard Wett, Margret Wibmer, Roman Widholm, Martin Widschwendter, Erika Wimmer, Robert Winkel, Heinz Winkler, Franz Winter, Robert Woelfl, Erich Wucherer, Erwin Wurm, Anton Würth, Andrea Zanzotto, Jörg Zielinski, Stefan Zweifel 88 / 89
Quart Nr. 15 wurde mit dem „grand prix“ ausgezeichnet.
Wer Quart abonniert, bekommt sicher ein Heft (bevor es vergriffen ist, was vorkommt). Soweit Argument Nummer eins. – Zweitens: Es kommt billiger! Zwei Hefte kosten € 19,– (statt € 26,–). Und drittens gibt es als Abogeschenk ein Buch aus dem Haymon-Programm (siehe Rückseite der eingeklebten Postkarte). Wenn Sie einen neuen Abonnenten werben, gibt’s gleich 2 Geschenke: eines für den neuen Abonnenten und eines für Sie!
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Brenner-Gespräch (6): „Wer hat das geschrieben? Ich?“
So viele Leute fahren über die Alpen nach Italien. Quart bittet herausragende Persönlichkeiten an den Straßenrand zu einer Jause und einem Gespräch. Folge 6: der Komponist Salvatore Sciarrino im Gespräch mit dem Bariton Otto Katzameier.
Otto Katzameier: Was ich dich immer schon fragen wollte: Wieso gibt es ein Zitat aus Don Giovanni in deiner Oper Macbeth? Salvatore Sciarrino: Jedes neue Werk gibt auch Auskunft darüber, was uns jeden Tag zustößt, wenn wir mit unseren Vätern kämpfen, oder wenn wir sie bestätigen … Ich zum Beispiel töte Mozart und Verdi jeden Tag! K.: Du tötest jeden Tag Mozart und Verdi? S.: Nicht nur Mozart und Verdi, jeden Komponisten … K.: Du tötest täglich jeden Komponisten? S.: Nein, nicht jeden, nur die besten! K.: Warum? S.: Weil wir das müssen! Wenn wir es nicht tun, dann bleibt der Vater. K.: Aber warum können wir nicht unseren Vätern folgen? S.: Weil es das nicht gibt, das existiert ganz einfach nicht! Wenn du glaubst, deinem Vater zu folgen, dann tust du das in Wirklichkeit nicht. K.: Du findest deinen eigenen Weg nicht? S.: Ja, du musst frei sein. Und das heißt: Du musst deine eigene Freiheit erobern! K.: Verdi und Mozart sind also deine Väter. S.: Nicht nur meine! K.: Ich habe die Musiker vom Klangforum Wien gebeten, mir ein paar Fragen an dich mitzugeben, eine davon lautet: Wie sehr beziehst du dich auf überlieferte, klassische, niedergeschriebene Musik? Oder würdest du dir wünschen, dass bis jetzt keine Musik existiert hätte, dass du absolut frei wärst und alles neu wäre? S.: Es gibt den folgenden Widerspruch: Einerseits unterrichte ich die klassische Tradition, andererseits bin ich in meiner eigenen Musik archaisch, überhaupt nicht
klassisch! Ich beginne beim ersten Moment, in dem wir geboren werden, in dem es keine anderen Klänge gibt, als die, die uns umgeben, und die in unserem Körper sind. Es ist sehr schwierig, das auszudrücken, es hat etwas von einem Anfang … Vor vielen Jahren, bei einer Präsentation einer sehr frühen Aufnahme mit meiner Musik, waren wichtige Leute da, ein Radio-Direktor und einer, der später Intendant der Scala wurde, ein guter Kritiker, alles sehr gute Freunde. Sie versuchten, eine Einführung zu meiner Musik geben, aber keiner von ihnen war fähig, die richtigen Worte zu finden. Und dann war da einer, der sagte, er wolle etwas fragen. Er sagte: ‚Entschuldigen Sie, ich glaube, Sie erzeugen eine seltsame Übertragung oder Erinnerung an jene Klänge, die wir fühlen, erfahren, wenn wir noch nicht geboren sind … im Uterus …‘ – Er sprach nur sehr wenige Worte. Was er vorbrachte, war natürlich keine Frage, aber als er geendet hatte, waren die Leute ganz erstaunt. K.: Ist deine Musik eigentlich italienisch? S.: Ich weiß es nicht. Jedenfalls ist sie mehr sizilianisch als italienisch. Es ist eine Art von archaisch sizilianischer, mediterraner Musik. K.: Also eine Musik, die in die Zeit vor all die berühmten italienischen Komponisten zurückreicht, eine Musik vor Monteverdi sozusagen? S.: Ja, das ist sehr eigenartig, denn meine Musik ist streng, absolut monodisch, nicht gregorianisch. Es herrscht absolute Einstimmigkeit. K.: Nicht immer! S.: Doch, immer. K.: Aber in der ersten Hexenszene von Macbeth zum Beispiel, da ist deine Musik doch ziemlich polyphon! S.: Ja, aber es ist eine Polyphonie, die immer wie ein einziger organischer Klang ist!
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K.: Als du mit dem Komponieren angefangen hast, wie war das genau? S.: Als ich begann, waren mir nur schlechte Kopien von Musik zugänglich und innerhalb eines einzigen Jahres kam ich bei der zeitgenössischen Musik an. Man kann sagen, ich begann in ein- und derselben Partitur bei Strawinsky und landete schnell bei Bartók, Schönberg, dann Stockhausen … K.: Als Kompositionsstudent? S.: Oh nein, mit zwölf oder dreizehn! Ich bekam eine sehr gute Gelegenheit: Da gab es einen Komponisten, der auch die Darmstädter Ferienkurse für Neue Musik besuchte. Er organisierte ein ‚Sitting-in‘ bei den Settimane Internazionale di Nuova Musica in Palermo, das sich nach Darmstadt zum zweitgrößten Festival für zeitgenössische Musik entwickelt hatte. Ich zeigte ihm meine Partituren und er gab sie mir immer mit guten Ratschlägen zurück. Er sagte nie: ‚Tu das nicht!‘ oder: ‚Das musst du tun!‘, sondern er sagte: ‚Sei vorsichtig, weil die Trompeten, die können so nicht gut funktionieren, schau dir mal dieses Stück von Debussy an …‘ – Für jedes einzelne Problem gab er mir solch einen Ratschlag und so ergab sich für mich die Möglichkeit der Imitation und der Emulation! Ich studierte die Tradition, die beste Tradition, ohne den Zwang einer bestimmten Vorstellung von Technik. Und das Wissen um die Modelle bedeutet schlussendlich ihre Überwindung! Immer stritt ich mich mit meinen Studienkollegen über Mahler, weil der damals von allen Leuten als ein dekadenter Musiker gehasst wurde. Ich sagte: Wie kannst du Orchestrieren lernen, wenn du Mahler nicht kennst? K.: Also war Mahler für dich wichtiger als Verdi, Puccini oder … S.: … ja, in Fragen der modernen Orchestration! K.: Und stilistisch? S.: Mahler ist stilistisch sehr wichtig, weil er Dinge benützen kann, die sehr einfach und musikalisch sind, und er fähig ist, sie zu verwandeln. Orchestrieren kannst du meiner Meinung nach bei Puccini, Mahler und Richard Strauss lernen, aber mehr bei Puccini und Mahler!
K.: Du hast drei Komponisten genannt und zwei davon sind Deutsche! S.: Naja, Beethoven dürfen wir natürlich nicht vergessen! Und Mozart. Als Kind sah ich in den ‚Don Giovanni‘. Mozart richtig entdeckt aber habe ich, als ich ‚Le Nozze di Figaro‘ sah, da war ich bereits achtzehn, mindestens. Ausgehend von einem tiefen musikalischen Denken wie es unter anderem in den späten Quartetten und Sonaten von Beethoven zu erfahren ist, kam ich zu dieser unmittelbaren, unglaublich bestechenden Einfachheit bei Mozart! Deshalb sage ich immer, dass meine Entwicklung als Komponist mit neunzehn begonnen hat, nicht früher! K.: Ich sah ein Interview mit Louise Bourgois, dieser fantastischen Künstlerin, sie war eine sehr zarte, alte Frau und sagte: ‚Ich bin viel zu klein und viel zu schwach für meine Emotionen. Ich muss große Skulpturen machen, sonst würde ich explodieren!‘ – Schreibst du deine Musik für Hörer oder schreibst du Musik, weil du den Klang in dir hast und ihn irgendwie herausbringen musst? S.: Das Problem vieler Komponisten ist, glaube ich, dass sie meinen, mit ihrer Musik ihre Ideen und Gefühle transportieren zu können. Die persönliche Erfahrung des Hörers bringt aber ganz andere Gedanken und Gefühle mit sich, trotzdem ist dann vielleicht am Ende etwas Gemeinsames entstanden, aber eben auch der Unterschied. Wir müssen emotional sein für die Musik, aber es gibt keine Möglichkeit, meine Emotionen zu dir zu transportieren, du kannst meine Emotionen nicht fühlen, niemals! Und ich frage mich auch: Wozu? Weil deine Augen, dein Hirn sind anders als meine! Das ist großartig. Jedes Wesen kann diese Individualität haben, muss sie haben, auch eine einfache Zelle. Und das ist Kreativität, das ist die Kreativität der Welt! Von dieser Basis gehe ich aus – eine völlig andere Grundlage als die der meisten anderen Komponisten. Und noch etwas möchte ich dazu sagen: Für gewöhnlich sagen wir: ‚Das ist ein guter Komponist, das ist kein guter Komponist …‘ Aber ich bin mir dessen sicher, dass Kreativität in jeder Person steckt, auch wenn sie
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manchmal nicht zur Entwicklung gelangt, sie nicht von anderen entdeckt wird, nicht einmal von der betreffenden Person selbst. Es gibt keine menschliche Existenz, kein menschliches Wesen, das nicht kreativ ist. K.: Aber es gibt trotzdem gute und schlechte Musik, oder? S.: Ja, aber das ist eine andere Sichtweise, ein anderer Blickwinkel. Du kannst mich fantastisch verführen mit einem schlechten Lied. K.: Das ist wahr! S.: Das ist Kreativität! Also können wir sagen, dass es keine Objektivität gibt, dass jede Musik durch die Interpretation gehen muss. Das ist das Leben der Musik. Urteilen zerstört. Wenn wir sagen: ‚Dieser Baum ist gut. Der hingegen ist weniger gut, weil er krank ist! Jener wiederum ist besser, weil seine Form schön ist!‘ – Dann ist das Rassismus! Wir zerstören uns selbst, benützen unseren Kopf schlecht! Jede Sache hat ihren Platz und ihre Funktion. Wenn wir diesen Baum umschneiden, geht die Welt unter. K.: Wenn Kreativität überall ist und wir nicht urteilen sollten – würde das auch bedeuten, dass jeder, der eine Note Musik schreibt, bei den Salzburger Festspielen aufgeführt werden sollte? S.: Nein! K.: Also müssen wir urteilen, oder? S.: Nein. K.: Jemand muss urteilen. S.: Wir müssen auswählen … K.: Auswählen, ja … S.: Wir selber, wir müssen auswählen, aber das heißt nicht zerstören, da wir den richtigen Ort auch für die anderen Dinge finden können! Abgesehen davon haben die meisten jungen Komponisten das Problem, dass sie viel zu schnell in den Kreislauf der Aufträge geraten. Wenn ich im jungen Alter solche Aufträge gehabt hätte, wäre ich zerstört worden. Man darf nicht von Beginn an in kommerzielle Produktivität eingebunden sein. Ich sagte immer zu meinen Studenten: ‚Entschuldigt, Schubert schrieb neun Sinfonien. Welche davon konnte er hören? Keine. Aber das war kein so
großes Problem.‘ Ich hatte Schüler, die viel besser waren als ich. Aber sie wurden zerstört. Wenn ich nach Donaueschingen* komme, sehe ich es wie einen großen Altar, auf dem so viele junge Komponisten ermordet worden sind und all das Blut sieht man noch … Ich finde das sehr traurig und schrecklich! K.: Aber was ist die Lösung für junge Komponisten? Entweder sind sie erfolgreich und müssen dann ein Stück nach dem anderen liefern, oder sie bekommen keine Aufträge. S.: Ich sage nicht, dass sie keine Aufträge haben dürfen. Sie müssen sie nur zum richtigen Zeitpunkt haben! Ich hab mit dem Komponieren angefangen, spielerisch wie ein Kind, aber es war sehr ernst. Ich habe zuerst einmal für mich geschrieben. Ich brauchte es ganz einfach, um überhaupt einmal alles zu realisieren. Ich komme wie in eine Trance, wenn ich etwas schreibe, und wenn ich zum Ende komme, zum Beispiel bei meinen großen Partituren, dann weiß ich nicht: Wer hat das geschrieben? Ich? Ich bin nicht sicher! K.: Gott? S.: Nein. Das glaube ich nicht, entschuldige bitte. K.: Du bist kein Christ? S.: Ich bin als Christ geboren, aber … K.: … du glaubst nicht an Gott. S.: Ich denke, dass das Universum so perfekt und so schön ist. Es ist Gott, das Universum … vor ein paar Jahrhunderten hätte man gesagt, ich bin Pantheist, wie Beethoven. K.: Ja, deine Musik kann so spirituell sein, ich finde deine Musik sehr spirituell. S.: Ja, ich denke, wir müssen spirituell sein! Das ist die Funktion von uns Menschen. Und wir dürfen nicht von Gott wie von einer menschlichen Person denken! Redaktion: Milena Meller (Übersetzung aus dem Italienischen: Katharina Meller)
* Die Donaueschinger Musiktage, 1921 gegründet, gelten als eines der wichtigsten Festivals für Gegenwartsmusik.
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Summit Book 2
Hubert Kostner hat für Quart ein Skizzenbuch angefertigt, das auf den folgenden fünf Doppelseiten zu sehen ist. Erläuternd dazu – ein Auszug aus dem Begleitschreiben: „Am Beginn Hermann Buhl, dazu braucht man wenig sagen. Eine Ikone der Kletterer in der Low-Budget-Ästhetik eines Popstars. Rechts davon der Übergang in ein abstraktes Gebirge aus schwarzem Stoff, das schließlich nach dem Umblättern den Blick auf eine Postkarte freigibt: die Berge als Bühnenbild für Touristen, knallige Farben, Schönwetterpanorama. Weiter geht es mit einer Fotokopie eines beeindruckenden Bildes aus dem Buch ‚Deutsche am Nanga Parbat, der Angriff 1934‘ (von Fritz Bechtold). Diese Expedition zeigt die Tragik der Bergsteigerei, deren politischen Missbrauch; auch die Geschichte der Kleidung spielt in das Bild mit hinein (von der Wollmütze bis zu den heute gebräuchlichen Hightech-Materialien). Die nächste Doppelseite spielt mit dem Wort Gipfelsturm, ein Zitat aus dem erwähnten Buch. Daraus entnommen ist auch das Bild, mit dessen Fotokopie die Arbeit endet. Gegenüber erscheint eine Zeichnung von Freikletterern. Sie erinnern an die Preiser-Figuren, wie sie bei Miniaturmodellwelten benützt werden.“
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Die Tyrannei des Wünschenswerten
„Allem und jedem versuchen wir, hermeneutisch plappernd, eine Antwort abzupressen.“ – Schauspieler und Regisseur Sven-Eric Bechtolf interpretiert Interpreten. Eine Polemik.
Der Dirigent Viktor Klemperer probt Bachs Matthäuspassion. Bei einer komplizierten Phrase unterbricht er korrigierend den Sänger. Der erwidert ihm: „Maestro, heute Nacht habe ich im Traum Johann Sebastian Bach gesprochen, und er hat mir verraten, wie man das singen muss.“ Klemperer lässt den Sänger gewähren und schweigt. Am nächsten Morgen unterbricht Klemperer den Sänger vor dem gesamten Orchester an der nämlichen Stelle und sagt: „Ich habe heute Nacht im Traum auch Johann Sebastian Bach getroffen, und stellen Sie sich vor, der kennt Sie gar nicht!“ Ein junger Regisseur fragt den großen Fritz Kortner, was das Geheimnis der Regiekunst sei. Kortner: „Sie müssen das Stück auseinandernehmen wie eine Uhr. Also, wie ein Uhrmacher das täte, penibel! Und dann wieder zusammensetzen – aber nicht richtig!“
Die Beziehung zwischen Schöpfer und Interpreten gleicht der von Fliegen zur Fensterbank. Heute noch fürwitzige Eroberer, liegen sie schon morgen rücklings darauf. Dieses Mißverhältnis bleibt konstituierend. Die beiden oben stehenden Anekdoten umreißen unser Problem, die Spannung zwischen zwei widerstrebenden Anforderungen: das den Vorstellungen seines Schöpfers so weit als möglich genügende Verständnis des Werkes einerseits und die natürliche und sowohl unumgängliche wie unverzichtbare Subjektivität und Ermächtigung durch uns Nachschöpfenden andererseits. Mit dieser Widersprüchlichkeit darf allerdings kein fauler Friede gemacht werden. Wer die Autonomie des Werkes zu Gunsten eigener Auslegungen opfert, muss gute Gründe haben. Nicht gegenüber dem Feuilleton, nicht gegenüber dem Publikum, sondern gegenüber der eigenen künstlerischen Redlichkeit. Phillipe Ariès bemerkte einmal, dass man – um etwa aus der Lektüre eines Werkes von Leibnitz Gewinn zu ziehen – Leibnitz’ ursächliches Problem kennen müsse, da nur so die darin gefundenen Antworten Sinn machten; davon abgelöst seien diese wissenschaftlich meist längst präzisiert oder widerlegt und überwunden.
Es geht also weniger um die Antworten, als um die Fragen. Wenn wir aber das Amalgam der Bedingungen sichten, die zu einem Werk führen, die bewussten und unbewussten Einflüsse und Absichten ergründen, können wir nicht umhin, sie mit unseren eigenen Bedingtheiten, Beeinflussungen und Absichten zu konfrontieren. In dieser Bewegung – hin zum Fremden und ins Eigene zurück – liegt eigentlich schon ein Gutteil dessen, was wir Verständnis heißen, was aber mit „Interpretation“ treffender ausgedrückt wäre. Denn „verstehen“ können wir wenig. Notwendigerweise werden wir dann auch auf den Unterschied zwischen unserer eigenen Bewegtheit und der monolithischen Faktizität des fremden Werkes aufmerksam. Wir verhalten uns nämlich gegenüber denen, deren Werke wir aufsuchen, um unsere Position zu bestimmen, wie Navigierende zum Sternenhimmel. Irrtum und Subjektivität liegen schon in dieser einfachen Absicht begründet. Verfahren wir aber vorsätzlich umgekehrt, lassen wir den Künstler und sein Werk flottieren, rauben wir ihm die Fähigkeit, Leuchtmarke und Navigationspunkt auf unserer ohnehin ziemlich verdüsterten Reise zu sein. Oder anders ausgedrückt: Gestehen wir einem Werk – wenigstens hypothetisch – Ewigkeitscharakter zu, werden wir von ihm interpretiert. Betrachten wir hingegen das fremde Werk lediglich als Material, würdigen wir es zu einem Instrument unserer Absichten herab. Es verliert sein durch die Zeiten zu erhaltendes Antlitz und grinst uns nun mit unserer eigenen Allerweltsfresse an. Es wäre aber doch geeignet gewesen, uns aus weiterer oder näherer Ferne in einen besonderen Zustand zu versetzen: fremd und staunend vor ihm und damit vor uns selbst. Der Interpret soll sich nicht ermächtigen, sondern er muss, wie um Erlaubnis bittend, sich höflich und fra-
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gend nähern. Das wissen wir im Innersten auch, tun es aber selbstverständlich nicht. Die Verlockungen am Wegesrand sind zu groß. Ich spreche hier natürlich von unserem Verhältnis zu den wichtigen Stücken des Kanons, die man auch als die „Klassiker“ bezeichnet. Der lebende Autor mag sich gegen die unlauteren Zudringlichkeiten eines Interpreten wehren, die Toten können das nicht. Das Theater – seinem Wesen nach ohnehin animistisch – sollte daher zuweilen auch einer kollektiven Totenbeschwörung dienen. Zur Beschäftigung mit den Werken sind wir nicht durch uns, sondern durch sie selbst ermächtigt. Nicht der Theaterdirektor erteilt uns den eigentlichen Auftrag, nicht das lebendige Publikum, sondern ein abstraktes Auditorium, das sein Recht einfordert, sich mit Vergangenem ins Vernehmen zu setzen. Auch das Vergangene macht sein Recht nach Gegenwärtigkeit geltend. Die Dichter haben, so stelle ich mir vor, ein ewiges „uns“ gemeint, als sie selber noch „wir“ waren. Ein ernster Auftrag, bilde ich mir ein, liegt daher im Bewahren und Weitergeben. Die noch Lebenden geben den schon Toten Sinn – und empfangen ihn zugleich von ihnen. Wer wir sind, sagen uns auch die, die waren. Die Redlichkeit derer, die nach uns kommen, erhoffen auch wir, auf ihren Respekt werden auch wir angewiesen sein, wenn wir denn über eine nennenswerte Hinterlassenschaft verfügten. Der Interpret hat sich nicht vor der Presse, ja nicht einmal vor seiner Zeit zu verantworten, sondern vor dem Theater selbst. Je mehr er sich aber als Medium versteht, desto mehr wird er von sich absehen müssen. Wer kann das schon? Leichter ist es da, der vordergründigsten aller Vorgehensweisen zu verfallen – der Aktualisierung: Das Herunterbrechen auf heutige Zustände – mit Hilfe dramaturgischer Abrissbirnen, genannt Konzeptionen, mit denen wir uns erfolgreich daran machen, die unverstandenen und daher bedrohlich wirkenden Riesen ins
Diesseitige zu befördern – ist unser vorrangiges Interesse gegenüber dem einschüchternd Unverstandenen geworden. Mörderische Geburtshelfer sind wir. Nichts fürchten wir durch und durch aufgeklärten und säkularisierten Nachschöpfenden mehr als das Dämmerlicht unseres Verstandes. Wir entzünden daher ein bengalisches Feuer, in dem unser Gegenstand – fahl, aber berechenbar – aufscheint. Wir kostümieren und maskieren das uns Fremde, bis wir es wieder erkennen. Als Notbehelf darf solche Vorgehensweise wohl herhalten, befriedigend ist sie nicht. Ein Regisseur, der in Shakespeares stürzenden Königen etwa nur die Vorstandsvorsitzenden global operierender Konzerne erkennen will, ist vorsätzlich blind und unlauter. Das Universum, dachten die Alten, wölbe sich in unzähligen kristallenen Kugeln, an deren Wände die Sterne geheftet wären, um die Erde, als ihrem Sinn und Zentrum. Diese ineinander schwebenden Sphären, glaubten sie, drehten sich in unterschiedliche Richtungen und wenn ihre Flächen und Inhalte sich in kreisender Weise berührten, entstünde die Sphärenmusik, die nie erhörte Musik der Welt. Im Mittelpunkt dieser so vollkommen geordneten Schöpfung stand der von seinem Gott gemeinte Mensch, und im Mittelpunkt dieses Mittelpunktes, ihn strahlend und aus tiefem universalen Willen überragend: der König. Das war, als die Sonne sich noch um die Erde drehte und der Saturn in Hoden und Milz wirksam wurde und dort den Fluss schwarzer Galle regierte, die, nach der Lehre der vier Temperamente und der vier Körpersäfte, im Übermaß vorhanden, den Melancholiker kennzeichnete. Der ganz besondere Saft, das Blut, entstand im Herzen, dessen Planet der Jupiter war, dem Sanguiniker zugeordnet. Die gelbe Galle, der Leber entströmend, schuf den Choleriker, dominiert von seinem Planeten Mars, und der Schleim, der vierte der Säfte, entquoll bezeichnenderweise dem Gehirn des Phlegmatikers, der dem Monde untertan war. Die Sterne wirkten bestimmend in das Wesen und Schicksal des Menschen und die menschlichen Taten wirkten bis hinauf zu den Sternen. Der Mensch er-
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träumte seine Sicherheit wie ein Nest, im Geflecht der Analogien von Mikro- und Makrokosmos. Dann kam Kopernikus und zerschnitt das erträumte Band zwischen Welt und Mensch, die Erde begann rotierend ihre rasende Fahrt um die Sonne, die ptolomäische Erhabenheit, die Würde des Gemeinten, der Sphären zerbrach, und das Getöse des zerspringenden Kristalls, der niederprasselnden Sterne und Allgewalten des zertrümmerten Weltenbaues tönte über und durch Shakespeare noch bis hin zu uns. Auch wir leben noch erschrocken und ungläubig zitternd im Echo des fürchterlichen Donners. Die Körpersäfte sind nun sinnloser Ausfluss sinnloser Materie geworden, unsere Körper denkendes Eiweiß, unsere Existenz eine in die unbeseelte, grausame Natur achtlos und zufällig geworfene. Gott zu denken heißt seitdem, ihn sich als einen sich aus seiner Schöpfung Zurückziehenden vorzustellen. Der Gläubige betet seitdem in ein ewiges Abwenden hinein, seinem Gott sozusagen in den Rücken. Diesen gewaltigen Sturz erleidet stellvertretend für seine nun schon elisabethanischen Untertanen (und noch uns Heutigen) zum ersten Male der stürzende König Richard der Zweite. Nicht der historische, der von alledem nichts ahnte, der von Bolingbroke, nicht von Kopernikus besiegte, wohl aber der, den William Shakespeare uns als den Urvater seiner Königsdramen vorstellt. Sein Richard stürzt mit der Welt auf die Erde. Erst stirbt er als König, dann als Mensch. Sein in der Königswürde gesalbter Körper reißt fallend den sterblichen mit sich. Shakespeare zeigt uns Verlust und Gewinn dieses doppelten Todes. Er verfährt umgekehrt wie die Zeit und die Erkenntnis. Richard als König ist ein schuldiger Mensch. Als ein bestrafter, gestürzter Mensch im Kerker aber wird er verzweifelnd zum König. Seine letzten Worte, zu seinem Mörder gesprochen, lauten: Die Hand soll nie verlöschend Feuer foltern Die so mich stürzet. Deine freche Hand Befleckt mit Königs Blut des Königs Land Auf, auf mein Geist! Den hohen Sitz zu erben Indes mein Fleisch hier niedersinkt zu sterben.
Der Frevel an der Heiligkeit des Königs bleibt aber vorerst ungesühnt. Seine Nachfolger und ihre Kinder und Kindeskinder werden freilich dieser für immer gemordeten Würde nicht mehr froh. Shakespeare erkennt es, beklagt es, versteht es, begrüßt es, fürchtet es? Aus dem sich klaffenden Riss in der Welt aber steigt wundersamer- und paradoxerweise – eben diesen Riss, oder wenigstens uns versöhnend – Shakespeares Text. Dieser Umstand ist uns Heutigen nicht mehr interessant genug. Wir wollen Zustände geißeln, aktuell sein, wir streben nach der so genannten „gesellschaftlichen Relevanz“. Auf diesem zeitgeistigen Wege wird man rasch zum Symptom der Krankheit, die man zu beschreiben glaubt. Darüber hinaus aber verblöden wir in unserem Verlangen nach Kritik (statt nach Erkenntnis) bis zur Wahnhaftigkeit: Solange sich nämlich die widerborstige Realität nicht zur empfohlenen Besserung bequemt, zählt der Vorwurf als die Tat, und das größtmögliche realisierbare Ideal wird das berechtigte Unbehagen mit den Zuständen. In Ermangelung von Ergebnissen wird so wenigstens die Tyrannei des Wünschenswerten ausgerufen, die im Werk immer nur einen Vorwand sucht und zwanghaft suchen muss. In dieser Weltschau wird die Bühne zu einer substituthaften Flagellantenanstalt und das Original zum Material im Dienste einer höheren Sache. Welche Natur diese Sache hat, ist allerdings nicht recht bekannt. Sie nährt sich aus diffusen Befunden und wählt sich als Genre das Palimpsest, andeutungsreich bis zur Unverständlichkeit. Die haben unsere Rezipienten nämlich paradoxerweise gerne. Es handelt sich allerdings um eine Verwechslung: Man hält das Ungefähre für einen besonders reichhaltigen, und daher nur schwer zu entziffernden Hinweis … auf eine Lösung. Zum Glück für uns wird das Undeutliche vom verschreckten Publikum zunächst tatsächlich der Tiefe bezichtigt. Das verweislose Stillewerden vor geschlossener Gestalt und Form findet dagegen – allerdings nicht nur im Theater – erbitterte Gegnerschaft. Dass irgendetwas sich nicht hergeben könnte, scheint allgemein ein Furcht einflößender Gedanke geworden zu sein. Da-
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hinter steckt aber kein böser Wille, sondern am Ende nur das Bedürfnis nach Trost und Gewissheit. Allem und jedem versuchen wir, hermeneutisch plappernd, eine Antwort abzupressen. Dass wir hierfür, im Gegenteil, schweigen müssten, könnten uns die Dichter lehren: „Schläft ein Lied in allen Dingen“, heißt es bei Eichendorff. Wir kommentieren lautstark dagegen an. In dauernder Selbstermächtigung und den Blick streng nach außen gerichtet. – Vielleicht die falsche Richtung. Denn, wie Schopenhauer es unvergleichlich signifikant formuliert hat: „Die Welt ist meine Vorstellung.“ Sie soll es aber nicht bleiben. Ohne die an die sektiererischen Debatten des 19. Jahrhunderts gemahnenden Diskussionen um das so genannte „Regietheater“ fortführen zu wollen, ist aber der Umgang mit der Autonomie der Autorenschaft gewiss in unseren weltanschaulichen Wurzeln zu suchen. In grober Verkürzung könnte man zwei sehr unterschiedliche Haltungen ausmachen. Zum einen jene, die man das „tragische Bewusstsein“ nennen könnte und die das Leben als Verhängnis, als unaufhellbare, so wundervolle, wie grauenerregende Veranstaltung begreift, die man letztendlich nur in ein numinoses Dunkel hinein befragen kann, ohne freilich mit einer Antwort zu rechnen. Zum anderen jene Haltung, die man wohl als „kritisches Bewusstsein“ bezeichnen würde und die in der Philosophie dem Materialismus entspräche. Die erstere ist, als „bürgerlich“ und allenfalls „idealistisch“ gebrandmarkt, im Verschwinden begriffen, die letztere tritt ihren Siegeszug an. Wir, die wir sie nolens volens vertreten, dulden keine Dunkelheit, wir machen das Licht an. Wir sind die großen Entzauberer, und unsere Leidenschaft ist die Entlarvung. Wir feiern eine umgekehrte Eucharistie. Aus Fleisch und Blut machen wir wieder Brot und Wein. Allzu oft sauren Wein und hartes Brot. Das identifikatorische und illusionistische Theater haben wir für tot erklärt, seine Referenzwissenschaft war die Psychologie. Die Wissenschaft von uns heutigen Theaterschaffenden ist die Soziologie! Dass beide irren,
ahnen wir indes dunkel. Denn das Theater verlangt und produziert etwas Drittes. Stimmigkeit erlangt es durch vollkommen widersprüchliche Ansätze und Mittel. Nicht – oder nur auch – durch Wissenschaftlichkeit. Was ist also zu tun? Wie sollen wir nun und mit welchen Instrumenten den würdigen Mumien beikommen? Unsere Altvorderen schmeichelten sich damit, Diener eines Stückes, eines Autors zu sein. Demut hielten sie für eine Tugend. Diese beiden Worte alleine reichen aus, um neuralgische Reaktion von emanzipierten Wutbürgern zu provozieren. Erst recht von uns zeitgenössischen Künstlern oder Interpreten. Demut und Dienen? Undenkbar. Aber vielleicht könnte es gelingen, der eigenen Frechheit und Unkenntnis eingedenk zu bleiben. Den Antworten misstrauend, nicht müde werden zu fragen. Das Rauschen der Stimmen, das von den Werken der Vergangenheit aufsteigt und unseren eigenen Erkenntnissen den Rang der Vergänglichkeit und Blindheit durch seine bloße Existenz zuweist, zu hören. Ja, wir werden weiter unser Eigenes mit dem Anderen verquicken, es geht nicht anders. Um die versiegelten, in der Zeit stumpf gewordenen Worte und Gedanken neu zu schärfen und wieder zum Sprechen zu bringen, um sie zu verlebendigen und aus ihren staubigen Höhlen wieder ins Licht zu schaffen, werden wir uns in ihnen abbilden. Wir werden sie auch, wie Kortner verlangte, auseinandernehmen, um ihre Gründe zu verstehen und sie, um sie kenntlich zu machen, vorsätzlich falsch zusammensetzen. Mechaniker der Aufklärung werden wir sein. Aber dabei sollten wir nicht aufhören zu hoffen, Bach im Traum zu begegnen, um ihn nach dem rechten Wege zu fragen.
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Zeitschleifen oder: Von der Heiterkeit des Geistes
Zum Anfang des Brenner. – Der Rechtsanwalt und Autor Michael E. Sallinger rezensiert das Heft 1 einer Zeitschrift, die im Juni 1910, genau vor 101 Jahren zum ersten Mal erschien: „Der Brenner. Halbmonatsschrift für Kunst u. Kultur / herausgegeben von Ludwig v. Ficker“.
I Stufen Die Kiesel knirschen, ein wenig, unter dem Schuhwerk. Der Blick auf Mühlau; hinüber zur Villa, in der Ludwig von Ficker ein halbes Lebtag lang lebte; auf die Kirche und den alten Friedhof. Der Gang in den neuen Friedhof. Mit den Jahren hat sich die Summe der Freunde, Bekannten und Begleiter gewaltig erhöht, die dort – ja was? In den Worten der Konfession: die dort freudig die Auferstehung des Fleisches erwarten. Indes, nicht viele von ihnen werden in dieser Gewissheit gestorben sein; wenn es denn eine solche Gewissheit geben kann, wenn nicht doch eines Tages die Angst durchbricht vom Grunde der Seele und das Dunkel des Nichtdenkbaren Gestalt gewinnt: die Ahnung von der Gestalt des Nichts. Jedes Jahr einige Male, immer am vierundzwanzigsten Dezember besuche ich das Grab Ludwig von Fickers und das Grab Georg Trakls, dessen Dichtung mich immer unberührt gelassen hat. Aus der Begegnung mit dem späten Brenner und den Briefen des späten Ficker ist mir eine Verbindung zugewachsen, die ich nicht missen möchte, und die sich, stets zur Vertiefung neigend, erhalten hat. Die Zeit: ihrer werde ich an diesem Orte gewahr, mehr als sonst. Wir suchen ihr eine Brücke zu schlagen. Doch hat uns ein Facharzt aus Berlin-Schöneberg, Bozener Straße 20 (von dem weiter unten noch die Rede sein wird), dazu bereits ausreichend lyrisch belehrt: Leben heißt Brücken schlagen, über Ströme, die vergehn. Aus der Zeit reichende Bruchstücke: das ganz Alte, die Uralten. Die Großmutter, deren Lehrerin am Salzburger Mozarteum eine Frau kannte, die der Witwe von Mozart befreundet war. Die Großtante der Blumenfrau in Vöcklabruck, die viel von ihrem Onkel, Anton Bruckner zu erzählen wusste. Der Großvater Marion Dönhoffs, der vor Goethes Tod (1832) geboren war. Schnell
verschwimmen die Grenzen, und schnell lösen sich die Begriffe der Zeit auf. Nicht ganz freilich: der Stachel des Nichtdenkbaren bleibt. Man sucht, sich tot zu denken, und kann es nicht. Anders der Traum: in ihm habe ich mich tot gesehen; einige Male. Man möchte das Adjektiv in einem weichen „d“ enden lassen; das wäre weniger grob und zugleich musikalischer. II Holzbohlen Holzbohlen und Bretter lagen in dem Hause Innsbruck, Erlerstraße 3 aus. Es war ein älteres Haus aus der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts. Vor einigen Jahren wich es der Vorstellung moderner Bankarchitektur, wich, indem es sich zusammenzog und schließlich ganz leise brach. Auf stieg daraus der Staub, der Staub der Zeit. Der Greifarm des Baggers hatte mit seinen schweren Zähnen die Bohlen herausgerissen. Bohlen und Bretter, über die einst der Verleger des BrennerVerlages und Herausgeber der Halbmonatszeitschrift „Der Brenner“, Ludwig von Ficker ging; ob leichten Fußes, ist eine andere Frage. In diesem Hause waren Sitz von Verlag und Redaktion. Das Vermögen des Herrn Ficker von Feldhaus reichte aus, ein Leben zu führen, das nicht den Pflichten des Broterwerbs unterlag. Man wird sagen dürfen, wollte man das Vokabular einer späteren, materialistischen Weltsicht anwenden, dass dies ein nicht wenig privilegiertes Leben war. Der Herr Ficker von Feldhaus war nicht eben einer, der in den Stolz der väterlichen und verwandtschaftlichen Linie zu passen schien; keine akademische Karriere und Faxen im Kopfe: Gedichte und kleine Dramen; der Erfolg war wohl mäßig. Er schrieb unter Pseudonymen, auch, wenngleich nicht nur. Der da über die Bohlen und Bretter dahin ging und hinauf stieg, neben dem Druckhaus, das die Zeit ebenso
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verschliffen hat wie das innerstädtische Leben in diesem Viertel im Ganzen, gründete die Zeitschrift „Brenner“. Gab sie heraus. Ließ sie erscheinen. Erscheinen hier in dem Sinne: etwas zum Vorschein bringen. III Inkluse Im Bernstein bildet sich ab, was einmal war, zur Starre, aber schön zur Betrachtung und die Zeit aufhebend. Inklusen nennt man die Käfer und Fliegen, die eben noch ansetzten zum Sprunge und überrascht wurden vom Einbruch des Schicksals in die Zeit. Feuerstürme, Magmahäufen und Lavendelduft, alles in einem. Inklusen: auch des Denkens. Das zum Vorschein bringen: Mehr als vierzig Jahre nach dem ersten Erscheinen des ersten Hefts wurden die Fragen der Sprache dringend. In Martin Heidegger fand Herr Ficker von Feldhaus den Deuter des Worts. Doch zog er sich zurück: auf jene Jahre der Begründung des Brenner; nur nicht an diesem, sondern am Beispiel und Werk Norbert von Hellingraths. Der Editor Hölderlins, der als erster die späten Fragmente ans Licht, eben zum Vorschein brachte, wurde zum verbindenden Autor zwischen Heidegger und Ficker. Hellingraths Ästhetik, die in den wenigen Jahren bis zu seinem frühen Tod sichtbare Gestalt gewann, hat mit jener des Gründungsbrenner gar nichts zu tun. So haben wir hier einen Bernstein, der den Sprung und Rücksprung durch vierzig Jahre, von 1910 bis 1950 und von 1950 bis 1910 anzeigt. Auf längere Sicht und im Rahmen eines gröberen Begriffes der Zeit nichts Anderes als eine Momentaufnahme. Man sagt: sub specie aeternitatis und weiß, dass die Unendlichkeit nur in Mathematik, Physik und Theologie eine tragende Konstante sind. Im Leben des Einzelnen eher weniger. IV Enttäuschungen Man kann sich – siehe den Abschnitt über die Zeit – über die Zeitmauer der eigenen Erfahrung nicht hinaus versetzen; sie nicht überspringen. Daher läuft man immer am eigenen Stein und in den eigenen Fesseln. Jeder ist sich selbst ein Sisyphos. Nimmt man heute den
ersten Jahrgang des Brenner zur Hand – in meiner Bibliothek findet sich ein aufgebundenes Exemplar aus der Bibliothek von Heinrich von Schullern-Schrattenhofen, wer erinnert sich seiner? – und liest darin, dann ist man ein wenig betroffen. Eine lose Folge von Gedichten, Überlegungen, etwas Prosa, einiges für den Tag und die Stunde. Die Karikaturen Max von Esterles blitzen heraus, in ihnen kündigt sich eine in sich selbst stehende Substanz an, deren Frische sich bewahrt hat. Nein, ich könnte, als ein Heutiger, nicht sagen, dass diese ersten Hefte mehr atmen als Anfang. Ich erspare mir den wissenschaftlichen Duktus des Interpreten und die Eunuchiade der Retrospektion. Nehme die Hefte, wie sie sind. Und freue mich daran, dass das Unternehmen, späterhin, eine andere Wendung genommen hat. V Virtual Minds Es hätte, damals, 1910, Einer schreiben können: Nun also. Etwas Neues. Der BRENNER. Er erscheint in Innsbruck und Bozen. Was in der Nachbarschaft erscheint, nimmt man zur Hand, nicht eben aufgeregt und ohne eigentliche Not; wie auch: als gäbe es an Zeitschriften, Heften und dergleichen nicht schon genug. Wir erinnern uns an die Versuche des Jungtirol, die nicht lange zurück liegen, an den SCHERER oder an den FOEHN. Allerlei nichts Langlebiges; Kurzfristiges und dem Tage Geschuldetes. Es scheint ja, allenthalben, als würden solche Unternehmungen, wenngleich schmalbrüstig und nur von kurzer Lebensaussicht, immer wieder empor wachsen aus allerlei Richtungen; wenig gefestigt und ohne den nötigen Ernst, auch ohne die nötige Heiterkeit. Der Anspruch, der aus dem Vorspruche des vor mir liegenden ersten Heftes spricht, ist ein allzu bekannter: die Kunst und die Dichtung sollen befördert werden; also ob es eine Zeit gegeben hätte, in der Kunst und Kultur mehr geblüht hätten als in der unsrigen. Es ist die Zeit eines langen Friedens. Bedenkt man die Epoche, die mit dem unseligen Jahre 1848 ihren Ausgang nahm, so sind alle Wirrungen jener Tage nur noch
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Geschichte. Vor einigen Jahren, 1908, wurde in allen Ländern unserer Monarchie das sechzigste Jubiläum der Regierung seiner Majestät, des Kaisers begangen. Von Czernowitz bis nach Bregenz, von Prag bis nach Triest haben die Völker der Kronländer und Ungarns dankschuldig und dankbar dies Jubiläum begangen. Niemals zuvor blühten die Wissenschaften, und vor allem die Kunst, mehr als in diesen Jahren. Es war dies vor allem eine Epoche, in der sich Kunst und Kultur nach allen Richtungen hin frei entfalten konnten, und mehr noch, unter dem Eindruck der ungeheuren Kraft des aus allen Disziplinen mutig hervor stürmenden Fortschritts zu ungeahnten Ergebnissen führten. Seit Jahren aber bemerken wir Entwicklungen, die aus einem scheinbaren Widerspruche der Kunst zu ihrer, also unserer Zeit sich speisen und, ungeachtet der kolossalen Entfaltung der Künste in jenen Jahren bis heute, erneut nach einem Aufbruche oder einem Anbruche rufen; so, als wäre das Erreichte nur Chimäre und würde es einer weiteren Erneuerung bedürfen; es wird, vermehrt, nach den Kräften der Natur gerufen und, nicht selten, gewinnt man den Eindruck, als gerieten Theosophie und Radikalität zur gleichen Zeit in den Vordergrund, schleuderten sich nach vor und meinten, Hässlichkeit würde sich durch das kunstfertige Wort rechtfertigen. Man nennt dies den Expressionismus, der, vor allem im Reich, mitunter ebenso Abstoßendes wie Skurriles hervorbringt. Ich erinnere mich eines dünnen, nicht minder grässlichen Heftes eines Berliner [?] Arztes namens Gottfried Benn, Morgue – eine Sammlung von Scheußlichkeiten, in lose Reime gebracht. Nun also, nochmals. In Wien erscheint ein Heft, das, in Rot eingebunden, seit Jahren, im Wesentlichen die Ideen seines Erzeugers in alle Welt schleudert, es heißt die FACKEL; nun, seit 1912 schreibt Kraus alle Beiträge allein; es hat dem Heft nicht gut getan; die Farbe des Umschlages scheint das Programm zu sein. Wir können verzichten.
aus Wien; das soll Handlichkeit vorschützen und das ist von Weitem wohl auch das Programm: Lesbares dem Leser von heute lesbar zu machen. Der BRENNER erscheint, so belehrt uns die erste Seite, in Innsbruck und in Bozen. Das will uns glauben machen, dass das ganze Land als Rezipient in Frage kommen solle. Wie denn – dem BRENNER kommt – schon als Begriff – kaum eine Bedeutung zu. Längst nämlich hat sich die Erhebung, die das Wippthal durchschneidet, der modernen Technik gebeugt. Bequem kann der Reisende von heute ihn queren. Auch hier haben die Zeit und ihre Möglichkeiten ganze Leistung erbracht. Seit 1867 – dem Jahr der rühmlichen Staatsgrundgesetze – fährt die Brennerbahn nun; schade ist, dass die Pläne, die vor einigen Jahren erwogen worden sind, auch das Stubaithal anzubinden, zu keinem Ergebnis geführt haben. So will es scheinen, dass der Name wohl doch ein Programm ist: nach dem Brennerpasse kann er sich nicht orientieren. Scheint’s als wolle jemand ein ganzes Land entzünden, und über die eingangs genannte FACKEL hinausreichen und weithin sichtbar, loderndes Feuer geben. Ei, freilich: bislang aber reicht die Halbmonatsschrift nur für ein Feuerchen hin. In loser Folge aufgereiht sind Gedichte und kleine Abhandlungen; bisweilen ein wenig gegen den Strich gebürstet; aber doch brossé. Es ist ein Unternehmen Ludwig von Fickers, den man in Innsbruck durchaus kennt, und sei’s als Sohn seines verdienstvollen Vaters. Der junge Ficker ist in den letzten Jahren als Dramatiker hervor getreten, wenn es denn gleichwohl bescheidene Schritte des Hervortretens waren. Bisweilen hat man ihn als Dichter gehört; heutzutag keine besondere Distinktion. Alle Welt dichtet und alle Welt erlebt; die einen in bunten, die anderen in mehr finsteren Farben. Ganz hübsch sind die Zeichnungen, die Max von Esterle beisteuert. Der Rest ist, fast überwiegend, beliebig. Im Ganzen also: ein Strohfeuer und kein Brenner. VI Zu- und Abstiftungen
Gewiss, der BRENNER ist keine FACKEL. Er kommt schon anders daher: indes, man soll sich nicht täuschen lassen. Das Format ist nicht unähnlich dem jener Hefte
Die Zustiftungen: Karl Kraus, Georg Trakl, Ludwig Wittgenstein, Carl Dallago, Else Lasker-Schüler, um
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nur einige zu nennen. Im ersten Moment seiner Bewegung gewann der Brenner an Geschwindigkeit und an Substanz. Er erhob sich – ein anderes Wort ist mir nicht geläufig dafür – aus dem Umfeld seiner Gründung und erlangte ein eigenes Leben: seltsam genug, dass es an Brüchen aufstieg. Zustiftungen des Bunten. Zustiftungen der Zeitgenossenschaft. Übertritt aus dem Lokalen; das Feuer des Heraklit. Hier nicht Agathons Feuer, aber das Feuer der Zeit. Geronnen in den Augenblick einer ganz kurzen Zeit. Eine weitere Inkluse. Sie ist noch spürbar; doch das ist Reflexion. Die Abstiftung: Der Krieg, der Tod Georg Trakls, der Zusammenbruch und das Ende der alten Monarchie. Aus ihnen schliff sich eine zweite Gestalt, die nicht mehr in diese Betrachtung gehört. VII Zustiftung 2 Dies geschah im Jahre 1914. Als Ludwig von Wittgensteins Vater starb, erbte der Sohn und stiftete einen Betrag von einhunderttausend Kronen zur Verteilung durch Ludwig von Ficker: zehntausend waren dem Brenner zugedacht; der Rest wird von Ficker wie folgt verteilt1: Georg Trakl 20.000 Kronen, Rainer Maria Rilke 20.000, Carl Dallago 20.000, Oskar Kokoschka 5.000, Else Lasker-Schüler 4.000, Adolf Loos 2.000, Borromäus Heinrich 1.000, Hermann Wagner 1.000, Georg Oberkofler 1.000, Theodor Haecker 2.000, Theodor Däubler 2.000, Ludwig Erik Tesar 2.000, Richard Weiss 2.000, Karl Hauer 5.000, Franz Kranewitter 2.000 und Hugo Neugebauer 1.000. Eine Krone entsprach (2009) einem Betrag von € 4,68.2 Man kann dies nur so stehen lassen. Aber es ist ein Denk-Stein. 1 Nach: http://www.wittgen-cam.ac.uk/cgi-bin/deutsch/text/biogrg4.html 2 http://de.wikipedia.org/wiki/%C3%96sterreichische_Krone
VIII Anfang Schon der Anfang ist eine Schleife, die die Zeit um den Hals trägt, und zugleich eine Binde, die wir vor den Augen tragen. Das ist kein Satz der Vorsokratiker und das ist das Gegenteil der entbergenden Lichtung der Aletheia (siehe die Nummern 1 und 3). In dieser Zeitschleife liegt die Betrachtung des Anfanges des Brenner. Ich ziehe an ihr und sie zieht an mir. Verwunderungen darüber, dass dies wurde aus jenem. Darin ist das Unbegreifliche der Fuge, die kein Schicksal schickt, sondern die Zeit freilässt. Aleatorisch? Gewiss. Doch so ist das Leben, und nicht nur dieses. IX Krachmandeln Im Wiederlesen des eigenen Texts. Ein Wider- und ein Wiederlesen; auch gegen den Strich gebürstet. Kann man tatsächlich so weit zurück sehen, dass man zu den Anfängen geht? Im Falle des Brenner ist der Blick sehr verstellt. Ludwig von Ficker als Figur, der späte Ficker, beinahe enthoben schon. Schließlich Ficker auf dem Totenbett unter seinem eigenen Bild – ein expressionistisches Portrait. Darunter liegt, ob einem Diwan ausgestreckt, in seinem Sonntagsstaat, ein sehr alt gewordener Mann; federleicht beinahe. Enthoben, eben schon. Das Antlitz des Mannes, zerfurcht, zugleich zart. Einen weiten Weg ist Ludwig von Ficker gegangen. Im letzten Aufgang des Brenner sehr Entrücktes. Man darf es nicht esoterisch nennen, aber es berührt den Anfang nur noch in der Person des Stifters. Man muss sich selbst zurücknehmen, gerade in solcher Betrachtung. Nicht teilnehmen an der allgemeinen Kanonisierung; nicht teilnehmen an jenem Blick zurück, der in der Vergangenheit nur das Gute und das Edle sieht. Kein laudator temporis acti. Als ob man auf eine Krachmandel beißt und sie – nur mühevoll – nachgibt. Nachgiebt hat man im Anfang des Brenner noch geschrieben und Brod. Brod möchte ich heute noch schreiben. Wegen Hölderlin und Max. Max Brod eben.
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X Krachmandeln 2
XII Mühlau
Es soll nicht übersehen werden, dass Person und Gestalt des Brenner und seines Schöpfers in den Jahren nach 1945 maßgeblich das bestimmt haben, was so genannte Kultur war in Tirol; die Auswahl war nicht weit gefächert, sich reichte bis in die bildende Kunst. Wer was dagegen zu sagen hatte, hatte nicht viel zu sagen. Das trübt das Bild ein wenig, aber es ist nicht falsch. Eine Metaphorik der Wirkung, Metaphern des Firnis; eines Firnis, der sich über die Geschichte zieht und über die Herzen. Nicht der Anfang (VIII), sondern das Ende zählt. Nicht der Inhalt, sondern die Figur. Nicht der Tanz, sondern die Arabeske. Es kocht sich ein Bild ein: Das Bild wird zu einer eigenen Gestalt und wirft seine Leimrute aus, der viele auf den Leim gehen; auch ich. Das spielt keine Rolle und eine Rolle zugleich: Die Rolle, die es spielt, zieht man aus und lässt sie hinter sich: Häutungen. Die Rolle, die es nicht spielt, ist die wesentlichere. Essenz des Übergangs. Essenz des Verganges. Essenz der Wandlung.
Vom letzten Platz aus auf den ersten zu sehen. Jedes Jahr am vierundzwanzigsten Dezember gehen wir nach Mühlau hinauf. Stehen im Frühlicht der Gräber. Ich, für meinen Teil, mehr Schreiber als sonst was, stehe gern dort. Ich sehe in das Frühlicht der Gräber hinein; es ist wie eine Gouache aus Gegenwart und Vergangenem. Dort ist zugleich der Anfang des Brenner begraben als eine Wurzel, als ein Teil der Schleife, die das Leben windet. Man kann auch sagen, dass alles nichts ist. Man kann, ganz anders, sich Goethe zuwenden, der lange davor war. Eine Fülle gegen eine andere Fülle. Die Eisfliege umkreist die mürrisch und taub gewordenen Blätter des verwundenen Lorbeerreis’. Paul Celan ist an diesem Grabe gestanden, einmal – am Grabe Georg Trakls. Grund, nein, Ursache genug, dort fortzustehen und den Gedanken kreisen zu lassen, zurück an jenes Jahr, in dem erstmals der Brenner erschien. Seine Buntheit ist – wie anders nach den Erfahrungen des zwanzigsten Jahrhunderts – verwelkt und dem Versuche gewichen, in verantworteter Ernsthaftigkeit etwas von der Essenz des Productiven zu bewahren. Das alles gibt es.
XI Krachmandeln 3 Nicht angelegt im Konzept des Brenner war, wenn man ihn von seinem Anfang aus betrachtet, das auf besondere Innigkeit Ausgelegte. Die esoterische Komponente der Wirkung, der Geltung und vor allem die Chimäre des Besonderen, also der Berufung auf transzendentem Grund, war dem Brenner nicht in die Wiege gelegt. Weniger Hellingrath, mehr Esterle. Eine vollständige Edition der Briefe Ludwig von Fickers wird das zeigen, sie soll im Gange sein. Der Mann aus der Turm in Tübingen, seine letzten Niederschriften, seine Hymnen und das Dunkle, das er ins Licht tauchte, stand nicht am Anfang des Brenner – er wölbte sich seinem Ende eher entgegen; im Auftreffen auf die Gestalt Martin Heideggers. Das Wissen um die Geistesspeisen war ein weit verbreitetes Phänomen, vor allem nach dem zweiten Kriege. Die Arcana mussten für Einiges herhalten. Sie sind geschwunden; man muss es nicht beklagen. Am Anfang, wir kommen auf den Begriff zurück, war der Brenner frei vom Raunen des Geheimnisses.
XIII Man sollte Man sollte der Seele eines aus „deutschen“: dass die Zeit ein Wirrsal ist und aufzubrechen beliebt, ohne Ankündung. Dann aber zeigen sich Figuren, Masken und Genien, deren Gestalt ebenso überraschend wie heiter ist. Sie überwinden die Erinnerung und weisen auf den Ursprung hin, aus dem alles, auch das Produktive springt: die anfängliche Heiterkeit des Geistes, die, hin oder her, auch dem Brenner Pate stand.
Satzspiegel *
Über Peter Zoller, Professor am Institut für Quantenoptik und Quanteninformation (IQOQI) der Universität Innsbruck. Von Christian Flatz
Welches Potential in neuen Quantentechnologien steckt, zeigt ein einfaches Beispiel: Wenn wir 300 Elektronen als Speicherzellen eines Computers verwenden, dann kann ein solcher Speicher eine von 2 hoch 300 möglichen Zahlen darstellen. Die Quantenmechanik erlaubt jedoch Zustände, wo unser Speicher gleichzeitig in all diesen Konfigurationen sein kann. Um einen solchen Quantenzustand in einem klassischen Computer darzustellen, müsste man einen Computer bauen, der 2 hoch 300 Speicherzellen hätte, was der Zahl der Atome im sichtbaren Universum entspricht. Zwischen 1925 und 1935 entwickelten Physiker wie Erwin Schrödinger, Werner Heisenberg, Max Born und Paul Dirac eine neue Theorie, die die physikalischen Vorgänge in und zwischen atomaren Teilchen beschreibt: die Quantenmechanik. Auch wenn die „Weltformel“ – die Quantentheorie und Gravitationstheorie miteinander vereinen und alle bekannten physikalischen Phänomene gemeinsam erklären soll – noch nicht gefunden ist, so zählt die Quantenmechanik heute neben der klassischen Physik und der Relativitätstheorie zu den Grundpfeilern der modernen Physik. Die Theorie der Quantenmechanik förderte einige befremdlich 126 / 127
wirkende Eigenschaften dieser Welt der kleinsten Teilchen zutage. So geht im atomaren und subatomaren Bereich die Eindeutigkeit verloren, das physikalische Verhalten der Materie muss in Wahrscheinlichkeiten beschrieben werden. Teilchen können die Eigenschaften von Wellen annehmen und deren Zustände können sich überlagern – man erinnere sich an Schrödingers berühmtes Gedankenexperiment mit der Katze. Messungen beeinflussen das Messergebnis und Teilchen können verschränkt sein. Der skeptische Albert Einstein nannte die Möglichkeit der Verschränkung noch „spukhafte Fernwirkung“. Zwischenzeitlich ist dieses Phänomen im Labor längst nachgewiesen worden. Lässt man zwei Quantensysteme wechselwirken, entsteht eine Verbindung. Diese bleibt erhalten, egal wie weit die beiden Objekte voneinander entfernt werden. Änderungen am einen Teilchen verändern auch das andere Teilchen. Messungen auf der einen Seite liefern auch das Ergebnis für die andere Seite. Verschränkung hat eine fundamentale Bedeutung bei allen Versuchen, die Eigenschaften der Quantenwelt für unseren Alltag technologisch nutzbar zu machen. So beruht auch das von Peter Zoller gemeinsam mit Ignacio Cirac
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— Nutzfläche auf der Seite eines Buches, einer Zeitschrift oder anderen Druckwerken; ein bedruckten Flächen zugrundeliegendes schematisches Ordnungssystem, das den Grundriss von Schrift, Bild und Fläche definiert. — Aufforderung, Sätze zu formulieren, die für die eigene Arbeit stehen und deren Grundgerüst bilden; das eigene Schaffen zu spiegeln und dabei die tagtäglich gebrauchten professionellen Ausdrucksmittel möglichst außer Acht zu lassen.
entwickelte Konzept für einen Quantencomputer auf dieser Eigenschaft von Quantenobjekten. Sie haben 1995 vorgeschlagen, elektrisch geladene Atome in einer elektromagnetischen Falle einzufangen und ihre Schwingungen mit Hilfe von Lasern zu verschränken. Mit den so präparierten Teilchen lassen sich Rechenoperationen durchführen, die die quantenmechanische Überlagerung ausnutzen und damit für ausgewählte Aufgaben die Leistungen aller bisher gebauten Computer um vieles übertreffen. Ein Großteil der Software für den Quantencomputer muss erst noch geschrieben werden, die ersten Bausteine der Hardware werden aber im Labor bereits erfolgreich erprobt. So hat Zollers Innsbrucker Kollege Rainer Blatt dieses Konzept in den vergangenen Jahren im Experiment umgesetzt und dabei bis zu 16 Teilchen miteinander verschränkt – das ist Weltrekord. Ähnliche Versuche laufen auf der ganzen Welt. Das Ziel ist es, immer noch mehr Teilchen zu verschränken und so einen wirklich rechenfähigen Quantencomputer zu bauen. Die Zusammenarbeit mit Experimentalphysikern ist zentral für Zollers Arbeit. Die Theoretiker überlegen sich oft schon Jahre im voraus, was im Labor gewinnbringend umgesetzt werden
könnte. Hier braucht es viel Fingerspitzengefühl, um die richtigen Fragen zu stellen. Der Dialog mit den Physikern im Labor gibt ihnen dabei wichtige Hinweise. Andererseits versuchen sie gemeinsam mit ihnen, bei aktuellen Experimenten neu auftauchende Fragen zu lösen. Es ist aufregend, diese Dinge im Labor entstehen zu sehen. Noch spannender für Peter Zoller ist es aber, immer neue Grenzen unseres Wissens zu erkunden. Viel Neues entsteht dabei durch die Verknüpfung bereits vorhandenen Wissens. So hat Zoller gemeinsam mit Kollegen aus aller Welt versucht, die Konzepte der Quantenphysik für die Festkörperphysik fruchtbar zu machen. Etwa mit dem Vorschlag, einen Quantensimulator mit kalten Atomen zu bauen und damit die bis heute ungeklärten Phänomene in Hochtemperatursupraleitern zu erforschen. Mit seinen Ideen steht Zoller im internationalen Wettbewerb. Nur die besten Konzepte setzen sich durch und haben Chancen, im Labor verwirklicht zu werden. Insofern funktioniert die Wissenschaft sehr darwinistisch. Das müssen viele hierzulande noch lernen.
Besetzung
Sven-Eric Bechtolf, Hamburg Wien, Salzburg: Schauspieler, Regisseur, Autor. Seit 1999 am Wiener Burgtheater (bis 2006 festes Ensemblemitglied) und regelmäßige Auftritte bei den Salzburger Festspielen. Bechtolf arbeitete mit Regisseuren wie Ruth Berghaus, Andrea Breth, Benno Besson, Jürgen Flimm, Andreas Kriegenburg, Robert Wilson und Luc Bondy zusammen. Seit 2000 zahlreiche Operninszenierungen am Zürcher Opernhaus (u. a. Lulu, Le nozze di Figaro, Così fan tutte, Der Rosenkavalier) und an der Wiener Staatsoper (u. a. Der Ring des Nibelungen und Cadillac). Seit 2011 Schauspieldirektor der Salzburger Festspiele. Mirko Bonné, Tegernsee Hamburg: Romancier und Lyriker. Übersetzer von u. a. John Keats, E. E. Cummings, William B. Yeats, Robert Creeley, Emily Dickinson. Zuletzt erschienen der Roman „Wie wir verschwinden“ (Schöffling & Co., 2009) und der Essayband „Ausflug mit dem Zerberus“ (ebd., 2010). Für sein bisheriges Werk erhielt Bonné den Marie-Luise-Kaschnitz-Preis 2010. Mirko Borsche, Tegernsee München: Studierte an der University of Kingston und erreichte den Abschluss „Postgraduated Graphic Designer“. Daraufhin folgte das Studium an der Fachhochschule für Gestaltung in Augsburg. 1996–1997 arbeitete er als Freier Art-Director bei Start Advertising, u. a. für Levis und MTV. Anschließend war er als Art Director bei Springer & Jacoby tätig. Seit 1999 kooperiert er mit der Plattenfirma Gomma. Er war jahrelang verantwortlich für die Gestaltung des Magazins der Süddeutschen Zeitung sowie für die Gestaltung des Magazins NEON. Seit 2000 erfüllt er den Lehrauftrag in der Bauhaus-Universität Weimar, seit 2002 an der Fachhochschule Münster. Ebenfalls seit 2000 ist er Mitglied beim Art Directors Club Deutschland. Seit 2002 ist er Art Director bei Mini-International BMW Group und leitet verschiedene Projekte für Mini. Seit 2008 ist er Art-Director der ZEIT und des ZEIT-Magazins. Im Jahr 2011 war er die „Kreative Leitung für Bulthaup, verantwortlich für das B3 System, Messestand, Literatur, Werbemaßnahmen“. Im Jahr 2006 hatte er bei der „Wahl zu den 100 Kreativsten Köpfen“ eine Sonderausstellung im Historischen Museum in Berlin. 2007 wurde er als Juror beim Deutschen Designpreis berufen. Christian Flatz, Bregenz Innsbruck: Wissenschaftskommunikator und Autor. Studium der Politikwissenschaft und seit Jahren um die öffentliche Verbreitung von Forschungsergebnissen der Innsbrucker Universitäten und Forschungsstätten bemüht. Seit der Gründung des Instituts für Quantenoptik und Quanteninformation (IQOQI) der Österreichischen Akademie der Wissenschaften in Innsbruck für dessen Öffentlichkeitsarbeit verantwortlich. Wien: Bildender Künstler. StuStefan Flunger, St. Anton a. A. dium an der Universität Innsbruck Kunstgeschichte. Seit 2004: Zusammenarbeit mit Johanna Tinzl. Ausstellungen (Auswahl): Neue Galerie, Innsbruck (2011); VBKÖ, Wien (2011); Kunst im öffentlichen Raum NÖ, Reinsberg (2011); HOTEL CHARLEROI, Charleroi, Belgien (2011); unORTnung III–VI (2010–2008); Kunstraum Niederösterreich, Wien (2010); BKS Garage, Kopenhagen, Dänemark (2010); Kunstpavillon, Innsbruck (2010); Galerie Konzett, Wien (2009); Galerie 5020, Salzburg (2009); Essl Museum, Klosterneuburg (2008). www.tinzl-flunger.net Andrea Grill, Bad Ischl Wien: Schriftstellerin, Übersetzerin, Biologin, zuletzt erschienen: „Happy Bastards“, Gedichte (2011), „Das Schöne und das Notwendige“, Roman (2010), beide im Otto Müller Verlag Salzburg; Förderpreis zum Bremer Literaturpreis 2011. www.m-orld.org 134 / 135
Florian Hafele, Innsbruck Innsbruck, Wien: Bildender Künstler, Bildhauer. Studium der Bildhauerei und Multimedia an der Universität für Angewandte Kunst Wien. Ausstellungen u. a. im MOYA-Museum of Young Art Wien, Kunstverein Wilhelmshöhe Ettlingen, Carbon 12 Gallery Dubai, Stadtgalerie Klagenfurt, C17 Wien, Künstlerhaus Wien, Kunstraum Innsbruck, Galerie Stephanie Bender München, MAK Wien. Er erhielt 2008 den Anerkennungspreis des Landes Tirol und 2011 den Theodor-Körner-Preis der Republik Österreich. München: Bariton. Studierte GeOtto Katzameier, München sang bei Josef Metternich und Hans Hotter. Gefragter Interpret sowohl im klassischen Opern-, Oratorien- und Liedrepertoire als auch im Bereich der Neuen Musik (u. a. bei den Salzburger Festspielen und in den Opernhäusern von Rom, Frankfurt, Paris, New York, Venedig, Tokio, Warschau, Amsterdam, Brüssel, Madrid und Tel Aviv). Von seiner intensiven Beschäftigung mit Salvatore Sciarrinos Werk zeugen zwei CD-Einspielungen mit dem Klangforum Wien unter der Leitung von Beat Furrer und Sylvain Crambeling: die Oper Luci mie traditrici und der Orchesterliederzyklus Quaderno di Strada, der Katzameier gewidmet ist. Hubert Kostner, Brixen Kastelruth: Akademie der Bildenden Künste München, längere Aufenthalte in Madrid und Peking. Einzelausstellungen (Auswahl): Kapsula-Ljubljana, MAM Contemporary Art Wien und Salzburg, Museion, Eurac, Goethe2 und Prisma Galerie in Bozen. Gruppenausstellungen (Auswahl): Biennale di Venezia, Padiglione Italia, Trentino Alto Adige-Südtirol, RLB Innsbruck, Residenzgalerie Salzburg, Franzensfeste, Mart Rovereto, Künstlerhaus und Naschmarkt Wien, Museum Liaunig, Kunsthaus Meran, Holbeinhaus Augsburg, Stadtgalerie Kiel, Galerie der Künstler München. IV Premio Agenore Fabbri Preisträger. www.hubertkostner.info Wien: Geboren 1971, lebt und arbeiFlorian Pumhösl, Wien tet in Wien. Ausstellungen (Auswahl): Raven Row, London (mit Mathias Poledna); 678, Mumok, Wien, 2011; Florian Pumhösl, Krobath, Wien, 2011; Diminution, Galerie Daniel Buchholz, Berlin, 2010; Bewegliche Bühne, Kunstverein für die Rheinlande und Westfalen, Düsseldorf, 2010; Florian Pumhösl, Lisson Gallery, London, 2008; Florian Pumhösl, Galerie Daniel Buchholz, Cologne, 2008; documenta 12, Kassel, 2007; 27th São Paulo Biennial, São Paulo, 2006; Florian Pumhösl. Animated Map, Neue Kunsthalle St. Gallen, St. Gallen, 2005–2006; Florian Pumhösl, House of Art, Ceské Budejovice, 2005. Innsbruck: Nach dem BeMichael E. Sallinger, Freistadt, OÖ such des Bundesgymnasiums Freistadt Studium der Rechtswissenschaften in Innsbruck. Mag. iur (1987), Dr. iur. (1988), LL. M. (European Law, 2000). Rechtsanwalt in Innsbruck seit 1993. In der beruflichen Selbstverwaltung (Ausschuss der Tir RAK) seit 2000 tätig. Herausgeber der Reihe „Tiroler Landesrecht“. Initiator des Jahrbuches der Tiroler Rechtsanwaltskammer „Rubriken“. Autor u. a. Wege und Zweige (2002), Spiegelungen – Versuch über Hans Mayer (2004), Geflechte – Alt Ausseer Flaschenpost (2006). Zahlreiche Essais, u. a. in Schlern, Kulturelemente, Mitteilungen aus dem Brenner Archiv; Gedichte und kurze Prosa. Umfangreiche rechtswissenschaftliche Veröffentlichungen. Wien: war Chefredakteur von „profil“ Christian Seiler, Wien und „Du“ und ist Autor zahlreicher Bücher – zuletzt schrieb er mit Philipp Lahm den Bestseller „Der feine Unterschied“ (Kunstmann). Lebt mit seiner Familie in Wien.
Sergison Bates architects, London London, Berlin: Sergison Bates architects gelten als eines der führenden Architekturbüros Großbritanniens, das sich erfolgreich mit allen Dimensionen architektonischer und städtebaulicher Gestaltung beschäftigt. Davon zeugt nicht zuletzt, dass einige ihrer Wohnprojekte 2008 im Britischen Pavillon der Architektur-Biennale in Venedig ausgestellt waren. Das Büro ist überzeugt von einem recherche-orientierten Denkansatz und will „eine Architektur schaffen, die zeitgemäß ist und zugleich auf allen Ebenen in ihrem Kontext wurzelt.“ Augsburg: Philosoph, Chemiker und Jens Soentgen, Bensberg Autor, Leiter des Wissenschaftszentrums Umwelt der Universität Augsburg (www.wzu.uni-augsburg.de). Er entwickelte Ausstellungen zu Staub und CO2, die in zahlreichen Museen gezeigt wurden, und ist Herausgeber der Buchreihe Stoffgeschichten. 2010 erschien
sein von Vitali Konstantinov illustriertes Naturbuch „Von den Sternen bis zum Tau“ (Peter Hammer Verlag, Wuppertal). Wien: Schriftsteller. Sein erster Roman Thomas Stangl, Wien „Der einzige Ort“ erschien 2004 und wurde unter anderem mit dem aspekte-Preis für das beste Debüt des Jahres ausgezeichnet. Weitere Romane: „Ihre Musik“, 2006, „was kommt“, 2009. Zahlreiche Auszeichnungen, zuletzt der Erich-Fried-Preis 2011. Sein neues Buch „Reisen und Gespenster“ erscheint im Frühjahr 2012 im Droschl Verlag, Graz. Wien: Bildende Künstlerin. Studium Johanna Tinzl, Innsbruck an der Universität für Angewandte Kunst Wien und an der Universität Mozarteum Salzburg. Seit 2004: Zusammenarbeit mit Stefan Flunger. Ausstellungen: siehe Stefan Flunger
Quart Heft für Kultur Tirol
Kulturzeitschrift des Landes Tirol Herausgeber: Markus Hatzer, Andreas Schett Chefredaktion: Heidi Hackl, Andreas Schett Anschrift der Redaktion: Circus, Kochstraße 10, 6020 Innsbruck (A), office@circus.at Anschrift des Verlags: Haymon Verlag, Erlerstraße 10, 6020 Innsbruck (A) T 0043 (0)512 576300, order@haymonverlag.at, www.haymonverlag.at Geschäftsführer / Verleger: Markus Hatzer Aboservice: T 0043 (0)1 740407814, aboservice@haymonverlag.at Bezugsbedingungen: Quart Heft für Kultur Tirol erscheint zweimal jährlich. Jahresabonnement: € 19,– / SFr 31,90 · Einzelheft: € 13,– / SFr 22,50 (Preise inkl. MwSt., zuzügl. Versand) Die Bezugspreise unterliegen der Preisbindung. Abonnement-Abbestellungen müssen spätestens 3 Monate vor Ende des Kalenderjahres schriftlich erfolgen. Mitarbeiter dieser Ausgabe: Sven-Eric Bechtolf, Mirko Bonné, Buerau Mirko Borsche, Christian Flatz, Stefan Flunger, Andrea Grill, Florian Hafele, Otto Katzameier, Hubert Kostner, Florian Pumhösl, Michael E. Sallinger, Christian Seiler, Sergison Bates architects, Jens Soentgen, Thomas Stangl, Johanna Tinzl Kuratoren: Ruedi Baur, Othmar Costa, Karin Dalla Torre, Eduard Demetz, Georg Diez, William Engelen, Martin Gostner, Helmut Groschup, Franz Hackl, Hans Heiss, Stefanie Holzer, Sebastian Huber, Gabriele Kaiser, Otto Kapfinger, Walter Klier, Martin Kofler, Gustav Kuhn, Christoph Mayr-Fingerle, Milena Meller, Walter Methlagl, Wolfgang Mitterer, Walter Niedermayr, Thomas Nußbaumer, Dominique Perrault, Wolfgang Pöschl, Helmut Reinalter, Robert Renk, Arno Ritter, Benedikt Sauer, Benno Simma, Gerhard Steixner, Vitus H. Weh, Lois Weinberger, Maria Welzig u. a. Linke Seiten: Bureau Mirko Borsche Visuell-editorisches Basiskonzept: Walter Pamminger Farbkonzept: Peter Sandbichler Grafische Realisation: Circus, Büro für Kommunikation und Gestaltung, Innsbruck–Wien, www.circus.at Druck: Lanarepro, Lana, Italien Papier: Luxo Samt 135 g/m2 Schriften: Sabon LT Std, Gill Sans Std, Neutral BP Verwendung der Karte „Tirol-Vorarlberg 1 : 200.000“ auf den Seiten 74 / 75 mit freundlicher Genehmigung von Freytag-Berndt u. Artaria KG, Kartografische Anstalt. Sämtliche inhaltlichen Beiträge dieses Heftes sind Ersterscheinungen, Auftragswerke, Uraufführungen. ISBN 978-3-85218-725-9 · © Haymon Verlag, Innsbruck–Wien 2011 · Alle Rechte vorbehalten.