Quart Nr. 20

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Quart Heft für Kultur Tirol Nr. 20 /12 E 14,–




Der Regisseur

Michael Thalheimer hat als erster Leser dieser Quart-Ausgabe das Heft zum Regiebuch umfunktioniert: Auf allen linken Seiten hinterlässt er mit Bleistift und Kohle seine Eindrßcke zu der jeweiligen Textseite rechts. Applaus!

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Inhalt

Jan Peter Tripp „Hohnwalds End“ Acryl / Leinwand / Holz, 70 × 120 cm Halotech Lichtfabrik Michael Thalheimer Inhaltsverzeichnis Fließtext von Walter Kappacher Wohin? Jan Peter Tripp: Im Schattenreich Bilder In der Heimatfalle

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Selbstporträt als wilder Gebirgsbach – Joachim Ringelnatz in Tirol. Von Arne Rautenberg

77–85

Karwendeln, im Juli Landvermessung No. 4, Sequenz 1 Lydia Mischkulnig trotzt der Hitze und kaputten Schuhsohlen.

86–99

Eigenwerbung

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Kalt, nass und schwarz Bernhard Moshammer begleitet den Höhlenforscher Christoph Spötl.

103–107

Robbie Shone: Höhlenfotos

108–117

Der letzte Tag vor der Flucht? „Nichts Besonderes.“ C.W. Bauer zu Besuch in Haifa

119–125

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Brennergespräch (8) „Was machst eigentlich du da?“ Der Autor Karl-Markus Gauß im Gespräch mit Robert Renk

35–45

Tiroler Architekten und Ingenieurkonsulenten Doll Kunstgärnterei

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Walter Pamminger work in progress

47–59

ART Innsbruck Hotel Greif / Restaurant Laurin

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61–67

col legno Haymon Verlag

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Quartessenz Hypo Tirol Bank

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Ganz grundlegend Maria Rennhofer trifft das Künstlerkollektiv AO&. Brigitte Kowanz Originalbeilage Nr. 20 Auf Ohrenhöhe Matthias Osterwold über die Gegenwart von neuer Musik

Besetzung, Impressum 71–75

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Fließtext*

Von Walter Kappacher

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— Text, der in einem Stück und ohne Unterbrechungen durch Absätze, Überschriften, Abbildungen, Fußnoten u. Ä. gesetzt wird. — Aufforderung, seinen Gedanken freien Lauf zu lassen und dabei nicht zurückzuschauen; freihändig draufloszulegen, ohne zu korrigieren; die Buchstaben zu Papier zu bringen und bedenkenlos aus der Hand zu geben. 6/7

Notizen und Fundstücke ¶ Wenn ich das Fenster öffne, reagieren Passanten auf der Straße, blicken herauf, als gelte das Geräusch ihnen. ¶ Walter Benjamin: „In einer Liebe suchen die meisten ewige Heimat. Andere, sehr wenige aber das ewige Reisen“. ¶ Das zu Schreibende nicht „erzählen“, sondern es sichtbar machen, es hervorrufen im Augenblick, das wäre es. ¶ Das mächtigste und heiligste Gebot, das einem Künstler auferlegt werden kann, ist das Gebot zu warten. ¶ Das sind gleichzeitig die vier Säulen des Ortes, sagte der Rundfunksprecher, als er die Haltestellen der Untergrundbahn von Serfaus, einem Tiroler Touristenzentrum, nannte: Parkplatz, Kirche, Raiffeisenbank, Seilbahnstation. ¶ Ein japanischer Konzern plant in Europa eine Fabrik zur Fertigung von elektronischen TaschenHoroskop-Geräten zu errichten. Auch österreichische Gemeinden bewerben sich, bieten kostenlose Grundstücke im Grünland, Steuerbefreiung, Ausnahmegenehmigungen, beschleunigte Verfahren, Subventionen. Eine Delegation aus Windischhausen trifft auf dem Wiener Flughafen auf eine solche aus Brechting. Die beiden Bürgermeister – einer der ÖVP, der andere der SPÖ zugehörig – kommen ins Gespräch. Als sie erfahren, dass sie beide dasselbe Reiseziel Nagasaki haben, beginnen sie sich zu beschimpfen, und das Ganze endet mit einer Prügelei zwischen den beiden Delegationen. ¶ Die Frau trägt ihre Handtasche so, als befänden sich darin die Röntgenaufnahmen ihres Tumors. ¶ Die Firma Eduscho stellte acht Millionen Auto-Aufkleber her, in die gedruckt war JA ZUR NATUR. ¶ In einem neuen Werbeprospekt der Fremdenverkehrsämter werden die Berge als Sport- und Trainingsgerät bezeichnet. Mitglieder der Bergrettung äußerten Bedenken: Schon jetzt passierten tausende Bergunfälle jährlich, meist wegen mangelhafter Ausrüstung, Ausbildung und Kondition. Die Bergrettung, die aus freiwilligen Helfern bestehe, sei außerstande, zusätzlich Einsätze zu leisten, wenn die Tourismusindustrie noch mehr unerfahrene Touristen aus dem In- und Ausland in die heimischen Berge locke. Der dazu befragte Tourismus-Manager Weixelbaum erklärte: Die Werbung sei nicht dazu da, auf Gefahren hinzuweisen, denn der Urlaub solle Spaß machen. ¶ Mai 1986. Der in Berlin-Spandau inhaftierte 92-jährige Hitler-Stellvertreter Rudolf Hess sorgt sich wegen der radioaktiven Wolke aus Tschernobyl; er gesteht dem Pastor Gabel, dass er seit Tagen frische Milch und frischen Salat meidet. ¶ Nach einer Befahrung der Wegstrecken, die der Heilige Vater während seines Besuchs in Salzburg mit dem Papamobil zurücklegen würde, wünschte das Komitee für die Vorbereitung des Papstbesuches, dass man die Kanaldeckel auf diesen Straßenzügen zuschweiße. ¶ Verkehrsbegleitgrün nennt man in Deutschland die Pflanzung von Bäumen und Sträuchern entlang von Straßen und Autobahnen. ¶ In einer Fernsehsendung sieht man in Großaufnahme den Arm eines Politikers, und damit seine Uhr – es ist darauf 22 Uhr 05. Ich blicke auf meine Uhr: Tatsächlich, es ist 22 Uhr 05. ¶ Denn wirkliche Dauer ist nur Geschichten und ihrer Magie beschieden. ¶ Der Magen-Darm-Komplex soll zehnmal größer sein als das Gehirn. ¶ „Alles, woran man glaubt, beginnt zu existieren.“ (Ilse Aichinger) ¶ Am Kommunalfriedhof eine Grabstätte mit einer halbrunden Mauer ums Grab, darauf eingraviert: „Hier ruht der Generaldirektor Wallner …“ ¶ Das Gehüstel meiner Mutter, in ihrem Zimmer, im hohen Alter: Sie war nicht erkältet, wollte bloß darauf aufmerksam machen, dass sie noch da sei. ¶ Wenn ich einen Wunsch offen hätte, ein Gespräch mit einem Verstorbenen, zwei Stunden mit ihm in einem Café sitzen zu dürfen, egal ob ich ihn als Lebenden gekannt habe oder ob er vor tausend Jahren gelebt hat: Kleist? Jean Paul? Henry James? Joseph Conrad oder Gesualdo Bufalino? Vielleicht doch Hofmannsthal, der wahrscheinlich auf mich heruntersehen würde, obwohl er in Zentimetern viel kleiner war als ich. ¶ Die künstlerische, insbesondere die literarische Avantgarde stand und steht vor dem unlösbaren Problem, ja dem Diktat der Selbstüberbietung, das letztendlich bei denen, die redlich sind, ins Schweigen


führen müsste. Eine wirkliche Originalität in der zeitgenössischen „Avantgarde“ ist schwer auszumachen (allerdings sind meine Kenntnisse bloß oberflächlich); im Wesentlichen sind die Autoren über die Experimente aus den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts doch nicht hinausgelangt; alles weitere war doch mehr oder weniger bloß Wiederholung, neues Arrangement, Neuverwertung. Joyce hat die formalen Grenzgänge seines Ulysses nicht wiederholt; über sein „Finnegans Wake“ herrscht selbst bei Kennern weitgehend Ratlosigkeit. Beckett hat lieber geschwiegen, als sich wiederholt. Hans Wollschläger hat nach dem zweiten Teil seiner „Herzgewächse“ das Kapitel Roman abgeschlossen. H. C. Artmann hat es im Gespräch einmal abgelehnt, zur „Avantgarde“ gezählt zu werden. Er war vielleicht zu wandlungsfähig, zu verspielt. Was mich immer betroffen machte, war die Selbstüberschätzung mancher Autoren, auch ihre Arroganz gegenüber konventioneller arbeitenden Autoren. ¶ Carl J. Burckhardt: „Manier ist die Tarnung derjenigen, welche die große Form nicht finden.“ ¶ Viele, welche sich heutzutage künstlerisch betätigen wollen, vergessen, dass man sich die Regeln, die man brechen oder überwinden will, erst einmal erarbeiten muss. ¶ Der große Florentiner Maler Giovanni Cimabue soll einmal beim Spazierengehen einem jungen Ziegenhirten begegnet sein, der auf einem Stein hockend einige seiner Ziegen zeichnete. Der Ältere blieb stehen und fragte den Jüngeren, was ihn an den Tieren so interessiere. Die Ziegen seien ihm völlig gleichgültig, entgegnete der Hirt, aber er habe von dem Maler Cimabue in Florenz Bilder gesehen, die ihm nicht mehr aus dem Sinn gingen. Die Bilder von Cimabue trieben ihn an zum Zeichnen und nicht die Tiere. Beim Abschied soll Cimabue den Hirten nach seinem Namen gefragt haben und dieser habe gesagt: Giotto. („Se non é vero, é ben trovato“). ¶ Lange Zeit wusste ich nicht, wie viele Mignon-Gedichte Goethe verfasst, und auch nicht, wie viele davon Franz Schubert vertont hatte. Das Lied „So lasst mich scheinen, bis ich werde …“ hörte ich auf der Heimfahrt vom Grabensee und Gott sei Dank entdeckte ich am Rand der Straße eine Ausweiche, wo ich den Wagen anhielt und diese mich bewegende Melodie ungestört aufnehmen konnte. Aufmerksam gemacht auf einige Mignon-Lieder hatte mich die Wiener Sängerin Karin Wolfsbauer. Jedes Mal, wenn ich diese Lieder höre, ist mir, als könnte mir im Leben nichts mehr geschehen und auch der Gedanke ans Sterben verliert beinah seinen Schrecken. ¶ Niemand kann etwas aus einem Buch herauslesen, das nicht vorher schon, seit langer Zeit, in ihm angelegt ist, durch frühe Lektüre, Studien, Beobachtungen usw. Das, was einen weniger oder nicht anspricht, wird wahrscheinlich sofort vergessen, bleibt nicht in der Erinnerung; anderes bleibt für immer oder lange Zeit haften. ¶ Die unglaubliche Häufung von Autoren höchstens Ranges im Deutschland des 18. Jahrhunderts: Wo in aller Welt hätte sich Ähnliches je ereignet? ¶ Von 1729 bis 1788: Lessing, Wieland, Lichtenberg, Heine, Goethe, Lenz, Moritz, Schiller, Hebel, Seume, Jean Paul, Hölderlin, Novalis, E. T. A. Hoffmann, Kleist, Clemens Brentano, Eichendorff – und noch andere, mir weniger liebe Dichter und Schriftsteller. Und alles dies innerhalb von sechs Jahrzehnten. ¶ Die Mittelmäßigkeit geht daran vorüber, das Talent bemerkt eine Libelle, eine Steinnelke, das Genie ein Wunder. ¶ „Sieben Exemplare Dubliners wurden in den letzten Monaten verkauft …“, beklagte sich James Joyce in einem Brief an W. B.Yeats im Herbst neunzehnhundertsechzehn. ¶ „Über den Dächern von Nizza“: Diesen Hitchcock-Film sah ich zuerst im Jahr 1958. Cary Grant beeindruckte mich maßlos. Solch einen blaugestreiften Pullover wie er ihn zu Beginn trug hätte ich für mein Leben gern besessen. Abgesehen von der Villa auf den Hügeln über Nizza. – Nun, 2008, sah ich den Film wieder einmal. Nicht einmal solch einen Pullover habe ich je besessen, von einem Haus gar nicht zu reden. Ich hätte ja auch nicht einmal die Betriebskosten bezahlen können oder die Bediente. ¶ Wir finden nur, was wir mitbringen.


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Wohin?

Der Maler Jan Peter Tripp hat den Umschlag dieser Ausgabe und die folgenden Doppelseiten gestaltet: Ein eigens für Quart kompiliertes Bildtableau wird von zwei unveröffentlichten Texten eingerahmt, von denen der eine geradewegs in die Heimatfalle führt, während der andere ein beeindruckendes Denkmal für den verstorbenen Freund W. G. Sebald darstellt. Ein anderer Freund Tripps – der Typograf, Grafikdesigner und Autor Kurt Weidemann – schrieb: „Wenn es nur Virtuosentum allein wäre, würden / könnten nicht hoch ausgezeichnete, bedeutende Schriftsteller für ihn und über seine Bilder schreiben. Tripp denkt, grübelt, sucht, vergleicht, liest viel, diskutiert und ist urteilsscharf. Ehe ein Bild oder ein Thema, das er in sich trägt oder vor sich sieht, ehe er das in Angriff nimmt, sind die Ungewissheiten beseitigt. Das gebietet schon seine Malweise. Wenn man an die zwanzig und mehr Malschichten an der gleichen Stelle übereinandersetzt, dann muss das schon seine Existenzberechtigung erwiesen haben. Das ist eine Haltung und Arbeitsweise, die nicht modern ist und niemals altmodisch sein wird.“

Die Bilder auf den Seiten 18–27 in der Reihenfolge ihres Auftretens:

„Die denkende Hand“, 2006 Acryl / Leinwand / Holz, 74 × 68 cm

„Der 18. Mai 2012“, 2012 Acryl / Leinwand / Holz, 120 × 140 cm

„L’Œil oder die weisse Zeit“ [ W. G. Sebald ], 2003 Acryl / Leinwand / Aluminium, 100 × 80 cm

/ „Die Illusion ist alles“, 2012 Acryl / Leinwand / Holz, 100 × 70 cm

/ „Remember Max“, 2010 Tafelbild / Vorderseite, Acryl / Holz, 31 × 22 cm „Remember Max“, 2010 Tafelbild / Rückseite Acryl / Holz, 31 × 22 cm /

„Requiem für Kurt“, 2011 Acryl / Leinwand / Holz, 76,5 × 63,5 cm / „Alpenkönig“, (J. Geiger), 2010 Acryl / Leinwand / Holz, 70 × 90 cm „L’Origine du Monde“, 2004 Acryl / Leinwand / Holz, 120 × 70 cm


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Im Schattenreich

Von Jan Peter Tripp

Als im letzten Sommer des letzten Jahrhunderts der kleine Mond mit seiner langen Nase auf unserer Welt das Licht ausknipste, stand ich hoch oben in den Luganer Bergen. Wie in den Kindertagen des Kinos, als beim Schnitt die behutsam sich verengende Linse den Zuschauerraum in samtenes Dunkel tauchte, legte sich ein grauviolettes Tuch über den eben noch blanken Spiegel im Tal. Mit dem nahezu jähen Verstummen aller Natur breitete sich ein unbestimmbares Kraftfeld nach allen Seiten aus. Wie hoch aufgerichtete Giacometti-Skulpturen standen die Menschen um mich, dunkel, zerklüftet und allesamt ausgerichtet wie die Pilger nach Mekka. Im Kernschatten des Mondes glaubt der Mensch an alles, an Himmel und Hölle und an Galilei auch. Wenn in der an den Karfreitagen mit schwarzen Tüchern verhängten Dorfkirche meiner Kindheit vom göttlichen Leiden auf Golgatha gesprochen wurde, so habe ich mir diese Szenerie immer so vorgestellt wie jetzt und hier in den Tessiner Bergen. Später dann habe ich dieses Anhalten der Zeit wiedergefunden bei Richard Oelzes beklemmendem Bild „Die Erwartung“, wo man in einer verfinsterten Heidelandschaft einer Menge in Hut und Mantel, den Blick himmelwärts gerichtet, in den Rücken schaut. Eine Stimmung wie unter Wasser an einem trüben Tag. Schattenlos. Doch bei Grünewalds apokalyptischer Kreuzigung in Colmar herrscht das nämliche Licht – die nämliche Verdunkelung. Scheint auf die detailliert nachempfundenen Schmerzensmale des Erlösers noch ein Strahl vom göttlichen Firmament, so knien die in der Predella bei der Grablegung klagenden Frauen Maria und Maria Magdalena bereits in einer Zone grüngrauopaker Dämmerung, die bis zum Horizont über die ganze Landschaft gespannt ist. Alle Einzelschatten sind verschwunden, zugunsten einer allumfassenden Verschattung, die Ausdruck tiefreichender kosmischer Veränderung ist. In früheren Kulturen, im Volksglauben war der Schatten allen Lebewesen und auch den Dingen eingeschrieben wie die Seele. Er galt als das Zweite Ich – und nur Men-

schen, die mit der Geisterwelt verbunden sind, waren schattenlos. Lange Zeit galt der Darstellung luzidester Schatten die besondere Achtsamkeit der Künstler, bis die Schatten plötzlich schwarz wurden oder ganz verschwanden. Ist es möglich, vom Licht zu erzählen und den Schatten zu negieren? Schmerzhaft wird das Licht empfunden, wenn der Migräniker seine Verdunkelung verlässt – und umgekehrt täuscht sich unser Brecht, wenn er meint: „Die im Dunkeln sieht man nicht.“ Nur wer von erleuchteter Bühne ins Publikum blickt, sieht alles schwarz. Doch im Zwischenreich, zu Zeiten der großen Eklipse, nehmen wir alle Valeurs der gesamten Grauwertskala absolut trennscharf war. Eine Vollmondnacht im winterlichen Gebirge ist Balsam für das Auge und kein Fitzelchen bleibt ungesehen. Das Gegenteil ist der Fall an grellen Sommertagen in mediterranen Regionen mit all ihrem Geglitzer und Gefunkel. Georges de La Tour, Großmeister von Licht & Schatten wie der große Caravaggio, hatte ein Schlüsselerlebnis: Als seine Stadt Lunéville 1636 in Brand gesetzt wurde und die ganze Nacht über in Flammen stand, soll der Schein derartig hell gewesen sein, dass man in den Straßen lesen konnte. Dies war die Schwelle zum Eintritt ins Schattenreich und zugleich der Beginn seiner Nachtstücke und Kerzenbilder. Am 16. Dezember 2001 stand eine triumphierende Sonne über dem im Morgendunst zähneklappernden Straßburg, dessen Strässchen und Trottoirs reifüberzogen und seifig die ohnehin spärliche Sonntagmorgenmobilität der Eingeborenen noch zusätzlich reduzierte. Die Kanäle dampften ihre nächtliche Unterkühlung aus und zwinkerten dem strahlenden Planeten zu. Es roch nach ofenfrischem Baguette und Sonntagszeitung und einem dieser Adventstage, deren Ferment den Poesiealben unserer dörflichen Pubertät entstieg. Alles war aufs Trefflichste bereitet von einer Instanz, die uns innewohnt von Zeit zu Zeit, wenn uns alles leicht zu werden scheint, und wir Gevatter Newton für einen Pinselfabrikanten halten und vom trägen Öffnen des


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reptilen Auges ein Blitz der allumfassenden Erkenntnis ins große Rund geschleudert wird. Wie waren die Tage in Sedan, die in Sarajewo oder die als Bruno Schulz ins Gras biss? Brachen denn etwa die Himmel auf über dem Wiener Heldenplatz, damals? Die letzte Botschaft aus dem Diesseits für meine sterbende Mutter waren die rauchenden Streichhölzer des 11. September. Jahrelang führte mich in den flimmernden Sommern meiner Kindheit auf der Hochebene zum Bergsee der Weg vorbei an der Stelle, wo im moorigen Zittergras die Frau gespalten wurde bis in die Zehen vom Blitz. Die Buchen sollst du suchen. Sur ventre vide, wie der Franzose sagt, stach das Florett ins Innerste. Man rollt, wie immer, die Sonntags-FAZ ums Baguette – attention aux givres – und dann ganz unten rechts, ein Wimpernschlag nur: „W. G. Sebald gestorben“. Schwindel. Gefühle. Den Nachtvogel im Kopf und Watte in den Beinen, das Nervensystem ein Cluster von Conlon Nancarrow. Und die nackte haltsuchende Hand auf dem vereisten Brückengeländer löst sich blutig, klebende Hautfetzen zurücklassend. Am Fenster oben im dritten Stock des großbürgerlichen Hauses ein Blick, der hinter verschleiertem Auge mich straucheln sieht auf der Brücke im Straßburger Sonnenglast. Wissend: Max ist tot. Ein Schatten ist der nicht beleuchtete Raum hinter einem beleuchteten undurchsichtigen Körper. Wird aber ein undurchsichtiger Körper gar nicht erst beleuchtet – sagen wir, er befinde sich mitten in schönstem englischem Zuckerwattenebel –, so halten wir vergeblich Ausschau nach dem Schatten unseres undurchsichtigen Körpers. Dasselbe Phänomen gilt natürlich erst recht für den sogenannten durchsichtigen Körper, dessen Schattenbildung selbst bei aggressivster Lichteinwirkung als marginal zu bezeichnen ist. Er ist zur Schattenbildung ungeeignet und hat eine starke Tendenz zum gänzlichen Verschwinden, zur Invisibilität. Erstaunlicherweise erfreute sich der durchsichtige Körper aber bei zweitklassigen Malern größter Beliebtheit. So herrlich einfach konnte man mit ihm umspringen:

Man platzierte ihn vor einen bereits gemalten Hintergrund, sagen wir vor einen fröhlichen Trinker, der umgeben von anderen fröhlichen Trinkern in einem niederländischen Gewölbekeller sitzt. Nun gibt man vorne einen kleinen Schuss Karmin auf den gemalten Tisch, unten eine ovale Begrenzung des Glasbodens und oben zwei, drei Glanzlichter aus der Tube. Mit Karaffen, Ballons und anderem durchsichtigen Gelichter wird derselbe kurze Prozess gemacht, punktum. Wo kein Schatten ist, da ist nicht nur kein Licht, sondern eigentlich gar nichts. Nichts, außer wenn der undurchsichtige Körper im rechten Winkel steht und direkt von oben beschienen wird. High-Noon – schattenlos. In frühen Jahren schon hat mich aber das Gegenteil interessiert: das Schattenbild, der Schattenriss und das Schattenspiel. Über die Jahrhunderte hat diese makellose Schwarzweißprojektion nichts von ihrer Anziehungskraft verloren. Durch die Reduzierung (Abstraktion) auf die Silhouette, ob stehendes Bild oder in Aktion, entsteht erstaunlicherweise ein hoher Realitätsgehalt. Der undurchsichtige Körper ist unserem Blick entzogen, es bleibt nur der Schatten als Schattenwurf. Natürlich kennen wir keine schwarzen Schatten in der Natur. Eine Abkehr von dieser Regel wie bei den Herren Dali & de Chirico und deren Adepten war bewusst als dreister Eingriff gedacht und oft hatten diese eigenständigen Schatten mit ihrem Auslöser nichts mehr gemein und führten ihr freches Eigenleben. Ebenfalls vom Schwarz geht eine der schönsten Techniken des Kupfertiefdrucks aus, die Manière noire. Ganz anders als der ehrwürdige Stich oder die Radierung und die elegante Kaltnadel, bei denen in die blankpolierte Kupferplatte dunkeldruckende Striche geritzt werden, geht die Manière noire von der Finsternis zum Licht. Vom tiefsten Schatten, der total schwarzen Kupferplatte, trägt der Künstler bis zum hellsten Glanzlicht Schicht um Schicht der aufgerauten Platte ab. Er schneidet sozusagen mit scharfem Skalpell die Bergspitzen und Höhenzüge ab, bis er letztendlich auf dem Niveau des Meerespiegels anlangt, was dann möglicherweise der Glanz im Auge des Dargestellten ist oder das Licht auf dem gekrümmten Barthaar. Eine Arbeitsweise, so recht geeignet für die „Meister der Sonnenfinsternis“, für die Künstler des Sinistren.


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Die Aneignung und Beschreibung der Welt durch W. G. Sebald schien mir immer einer ähnlichen Vorgangsweise zu entspringen. Weit entfernt von der expressiven Ausdrucksweise des Holzschnitts legt er weitläufige Panoramen an in schier unglaublicher Vernetzung und Dichte. Und wie in der Manière noire verfügt er so über eine stufenlose und unerschöpfliche Skala von Grauwerten, die allein geeignet ist, seine subtilen Inhalte auf die Räder zu bringen. Er, der Verschattete, der Herr über Zeit und Raum, dessen Blick auflebte im Schattenreich, wurde wohl mit der Zeit selbst zu einer Art Schattengewächs in seinem Royaume mélancolique. In seiner Lebensheimat England übrigens erlebte die Manière noire im 18. Jahrhundert eine einzigartige Blüte mit den hervorragendsten Meistern. Aus der Finsternis ins Licht zu arbeiten ist eine Gewissensfrage – Abtragen statt Aufsetzen. Behutsam nur sollte sich demgemäß der Schattenbewohner dem gleißenden Licht aussetzen. Der italienische Regisseur Francesco Rosi hat in seinem großen Antikriegsfilm „Uomini contro“ – das Bataillon der Verlorenen – den Stellungskrieg von 1916–17 zwischen italienischen und österreichischen Gebirgstruppen in der Hochebene von Asiago am Südrand der Dolomiten gezeigt. Die Schlacht wogt hin und her und der Monte Fior wird aufgegeben und wieder eingenommen. Ein minimalistisches Geschehen, ein nahezu intimer Film mit Massenszenen, den Fellini gar als „lyrisch“ bezeichnet haben soll. Sebald war fasziniert von derartigen Stätten der Vergeblichkeit, wie ich bei einem gemeinsamen Ausflug auf den Hartmannsweilerkopf im südlichen Elsass feststellen konnte, wo ebenso ein jahrelanger fürchterlicher Krieg um den Besitz eines strategischen Höhenzuges tobte. Stundenlang machte er dort seine ausgefinkelt raffinierten Amateurphotos wie auf den anderen Schauplätzen getränkten Bodens. Rosis Film ist in meiner Erinnerung eine zarte Grisaille aus Stahlblau und Erdtönen, staubig grundiert vom gelegentlichen Aufblitzen eines Gewehrlaufs oder einer Gürtelschnalle. Alles Schreiben Sebalds scheint mir von derselben Palette zu stammen, die Farben gebrochen wie auf Giacomettis schiefernen Bildern. Ein Aroma von Staub, Rost und Blei, von Lehm und

Schlamm und Ziegel, von Flusschwemmholz und verblichenen Photos steigt aus den Seiten auf. Doch hat dies wie bei Rosi und Giacometti nichts zu tun mit Nostalgie und Trockenblumenkitsch. Der Verzicht auf reine Farbe schärft die Sinne: die vermoderte Fahlheit in den Bildern und Radierungen des Rembrandtzeitgenossen Hercules Seghers überdauert alle Farborgien der Malerfürsten jener Tage. In der Bildenden Kunst wie in der Literatur finden wir die brillanten Feuerwerker und die leiseren Meister der gebrochenen Töne und der matten Oberfläche. Wie Erstere aus dem Vollen schöpfen und sich virtuos der gesamten Skala der Möglichkeiten bedienen, so verzichten Letztere aus Einsicht auf große Orchestrierung – ihr Ort ist das Schattenreich. Und so wie Picasso und Thomas Mann sich in der Goethe-Nachfolge verausgaben, messen sich Giorgio Morandi und W. G. Sebald an der zurückhaltenden Eleganz griechischer Skulpturen. Revolutionäre sind sie alle nicht, die Van Eycks & Vermeers, die Raffaels & die Veroneses, die Velasquez’ & de La Tours, Zurbaráns & Murillos, Chardins & Géricaults, die Watteaus & die Courbets. Und auch die Meister der Neuen Sachlichkeit rissen keine Bäume aus. Alle aber folgten einem historischen roten Faden, wie er in der Literatur existiert und in der Musik und auch in den Geisteswissenschaften. Zu allen Zeiten gab es die Berserker der gewagten Linie und Kontur und daneben, nicht weniger wichtig, die Coloristen des Sfumato, die Peinture der unbegrenzten Grauwerte. Hier finden wir häufig eine Gleichrangigkeit aller Gegenstände, aller Themen vor. Eine Bewertung findet nicht statt, Nebenstränge erfahren die gleiche sorgsame Behandlung wie das Leitmotiv, es ist die Emanzipierung des Marginalen, die Profanisierung von Thema und Verarbeitung. In W. G. Sebald hat die Arte Povera eine Plattform gefunden und erhält doch diamantenen Feinschliff. So sensibel und kostbar hat schon lange keiner mehr Kieselsteine poliert! Im Herbst 2003 begann ich ein komplexes Porträt meines Freundes Max Sebald, das just zu seinem zweiten Todestag mit der Signatur und dem endgültigen Titel seinen Abschluss fand. „L’Œil oder die weisse Zeit“. Die 100 × 80 cm große Leinwand zeigt oben ein Qua-


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drat von vier separaten, ebenfalls quadratischen Porträts von Max und darunterliegend als extremes Querformat ein Stillleben, ein Nature morte. Wenn man so will sind dies fünf Einzelbilder auf einem einzigen Bildträger. Links oben sehen wir im Dreiviertelporträt einen Sebald wie in seinen letzten Tagen. Rechts daneben, nun ganz im Profil, den Kopf nähergeholt und noch größer, mit geschlossenem Auge, in violettem Scheinwerferlicht oszillierend – ein müder Reisender unter der Lichtorgel der fünfziger Jahre. In der Reihe darunter zwei Variationen eines Bildes: links Max in spärlichster Beleuchtung, gemalt wie in Manière noire. Auf die ganze Schädeldecke, auf die oberen Brillenränder, auf Nasenspitze und vereinzelte Moustachehaare tropft von einer Quelle direkt über ihm gleißendes Licht. Beiden Bildern fehlt jegliche Farbe, sie sind monochrom gemalt. Während auf der linken Ansicht der im Schattenbereich liegende und also nicht sichtbare (aber vielleicht deshalb noch unausweichlichere) Max-Blick auf den Betrachter gerichtet ist, der Kopf frontal und mittig im Format steht, sehen wir rechts sein Gesicht schon geringfügig abgewandt, den Blick, der nichts mehr hält. Das ganze Porträt ist nach unten durchgerutscht bis zur Nase wie in den alten kartonierten Photoalben, wo hinter dem Passepartout der alte Kleber alle Eigenschaft verloren hat und das jeweilige Photo der Schwerkraft folgend sich selbst überlassen war. Und wie beim Abrutschen nach unten das oben bisher Verdeckte sich plötzlich zeigt, sieht man nun in Untersicht in eine grelle Lampentulpe, die, wie ein schräger Mond, in der rechten Ecke hängt. Warum nun aber noch dieses Stilleben darunter, wieder farbig und in der ganzen Breite des Formats? Was haben diese Bleistiftstummel, Steine, dieses prismatische Glasei und das schwarze Unding, das man Seeohr nennt, da nur zu schaffen? Und im Zentrum dieser metallene Bleistiftsarg von der Marke Fisherman’s Friend? Und ist da nicht ein Skalpellschnitt durch die Leinwand, der vom unteren Bildrand fast vertikal nach oben geführt einen großen Teil des Stillleben-Motivs auftrennt und der dann abreißt? Viermal haben wir Max gesehen und doch nur ein einziges Auge. Und auch dieses noch blickt schräg an uns vorbei und über uns hinweg in ferne Weiten und, wie stets bei Sebald, auch in ferne Zeiten.

Oft habe ich mit ihm gesprochen über meinen Eindruck, dass wohl kaum ein Autor jüngerer Zeit so souverän mit Raum & Zeit umging wie Nabokov. Natürlich wusste ich, wie Sebald jenen schätzte und wie tief er in dessen Furchen grub auf der Suche nach Eigenem. Bei Nabokov kann den Leser Schwindel befallen und ein Verlust aller bislang tragfähigen Lebenskoordinaten – bei Sebald stellt sich mitunter durch die Negierung der Vergangenheit als Vergangenes Ähnliches ein. Bei beiden erscheint die Welt und alles Leben darauf wie ein Stapel von übereinanderliegenden Negativen, wo man durchscheinend bis auf den Grund jedes Motiv seinem Kontext entreißen und einer gänzlich anderen Konfiguration zuordnen kann. Nichts geht jemals verloren, alles ist immerzu gegenwärtig und der kleinste Windstoß kehrt das Unterste obenauf. Jean Genet schreibt Ende der fünfziger Jahre des 20. Jahrhunderts in seinem quellhellen Essay „L’Atelier d’Alberto Giacometti“: „… Nein, nein, das Kunstwerk ist nicht für die heranwachsenden Generationen bestimmt. Es ist dem unzählbaren Volk der Toten dargeboten. Mögen sie es annehmen. Oder ablehnen. Aber diese Toten, von denen ich sprach, sind nie lebendig gewesen. Oder ich habe es vergessen. Sie waren so lebendig, dass man es vergisst und dass ihr Leben den Sinn hatte, sie zu jenem ruhigen Ufer hinüberzuführen, wo sie auf ein Zeichen warten – das von hier kommt – und das sie erkennen.“ Die Achse des Raumes und die Achse der Zeit sind ohne Anfang und ohne Ende. Nachbemerkung: Alle in diesem Text auftauchenden Bildbeschreibungen entspringen lebhafter Erinnerung. Auf eine nachträgliche Verifizierung, auch unter kunsthistorischen Aspekten, wurde bewusst verzichtet. Vielleicht ist ja alles auch ganz anders und nur ich habe es so gesehen und empfunden, was mich dennoch nicht daran hindert, dies für die Realität zu halten. (Februar 2004)












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In der Heimatfalle Von Jan Peter Tripp

„Das Gefühl, dass morgen alles so sein wird wie gestern, kann man Heimat nennen.“ Franz Josef Wagner

Dochdoch, es gibt sie noch, diese wilden Gesellen, die ernsthaft glauben, in unseren heutigen Zeiten auch ohne Internet & Computer & SMS & ständiger Erreichbarkeit leben zu können. Sie wissen allerdings, dass die Luft langsam dünn geworden ist und dass sie selbst längst den Ruf eines verschrobenen & rückwärtsgewandten Sonderlings haben. Auch kostet es zunehmend Kraft, diese Haltung im banalen Alltag zu vertreten und auch durchzustehen. In gewisser Weise fühlt man sich vom aktuellen Leben abgenabelt, die bisherigen Informationsquellen versiegen und selbst die guten Tageszeitungen sind schon bei Drucklegung hoffnungslos veraltet. Ein Buch zur Hand zu nehmen hat schon die Attitüde des Elfenbeinturms und eines zu schreiben, womöglich mit Füller oder Bleistift, ruft rührende Anteilnahme hervor, wie die berühmten Zettelkästen Arno Schmidts. Warum also insistieren diese Schwerfälligsten unter den Schwerfälligen auf ihrer antiquierten Methode, diese himmelschreienden Ignoranten? Sicher ist, dass man mit dem Mäuschen blitzschnell einige tausend weiterführende Klicks angeboten bekommt, die Tür nach Tür in den Begriff Heimat führen. Sicher ist, dass man bei deren Verfolgung mit zwei Wochen Bearbeitung rechnen muss, ohne den geringsten eigenen Gedanken zu Papier (!) gebracht zu haben. Doch vielleicht ist es gerade das, diese von und zu Guttenberg’sche Methode –, seliger Gutenberg verzeih’ – die dann diese halblebige Brillanz ohne eigenständige Winkelzüge gebiert. Keine selbstverschuldeten Sackgassen mehr, keine gedanklichen Irrtümer – stattdessen eine windschnittige Analyse auf Basis allgemein zugänglicher Wissensspeicherung ohne die notwendige Reibungsfläche versprengter eigener Gedankenspielerei. Keine Philosophenbibliothek mehr, die Landesbibliotheken schließen reihum und die letzten Bücherleser werden von Staats wegen verfolgt wie in Truffauts frühem Meisterwerk Fahrenheit 451.

Hier aber schwören wir dem Satan ab: Wir verschlanken den kosmischen Begriff Heimat zugunsten radikal subjektiver Sehweise und werden dadurch regional und in gewisser Weise pover. Wir verlassen das große Allgemeine und begeben uns in die kleineren Sümpfe, die individuellen Erfahrungen mit Heimat. So wie die Empfindung von Wirklichkeit stets durch den Filter eigener Kriterien läuft und es nicht nur eine Wahrheit gibt, ist auch der Begriff Heimat oszillierend und wird von jedem Individuum anders gedeutet. Auf der Höhe seines Ruhms wollte sich der große Chaplin einen Spaß machen. Seinerzeit existierten schon, wie später Wettbewerbe für die besten Elvisoder Michael Jackson-Kopien, Veranstaltungen für die besten Charly Chaplin-Imitatoren. Er selbst war verblüfft von der Qualität der Kandidaten und als es schließlich um die Demonstration seines berühmten Watschelgangs ging, machte er es kurzerhand so wie hundertmal zuvor am Filmset geprobt. Niemand beherrschte das natürlich besser als er, das Original. Doch er fiel durch. Die Mitbewerber nämlich watschelten allesamt in doppelter Geschwindigkeit. So entsprach die Wiedererkennbarkeit exakt dem Film, der ja ebenfalls doppelt so schnell lief. Soviel zur Wirklichkeit, soviel zum subjektiven Empfinden. Nun ist aber Heimat kein Watschelgang und auch nicht das Stück Wiese hinterm Haus oder das Matterhorn im letzten Sonnenglanz. Viel eher schon liegt unser Gespür von Heimat im Gefühlsbereich, also im Immateriellen, im Reich unserer fünf Sinne: Riechen, Schmecken, Fühlen, Hören und Sehen. Die Proust’sche Madeleine ist so zur Ikone einer präzisen und individuellen Heimat-Konnotation geworden wie die Joyce’sche Schilderung Dubliner Pubs mit rauchgeschwängerter Luft, dem Geruch verschütteten Bieres und dem Boden voller Sägespäne. Möglicherweise kann man sagen, dass die Poeten aller Länder uns den Begriff näher bringen als alle Maler und Musiker zusammen. Natürlich zeigen uns die Maler der Romantik und des Biedermeier, Waldmüllerspitzweg & Konsorten, Heimat, natürlich vermögen uns die Schumanns & Debussys tönend in weite Gefilde zu versetzen, doch die Faszination der


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Tschechows, Gogols & Puschkins reißt noch weitere Himmel auf, sie schildern uns Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, Innenleben und gleichzeitig auch das hinter den Bergen und hinter den Meeren, wo sich selbst die kleine, überschaubare Heimat im Kosmischen verliert. Riechen: der absolut unverwechselbare Geruch einer soeben aus dem Wildbach gezogenen Forelle im Moment des Trocknens ihrer Haut Fühlen: das ledrige und prall gefüllte Euter der Kühe vor dem Melken Schmecken: der Geschmack gekauten Sauerampfers auf der kindlichen Zunge Hören: das archaische Geröhre brünstiger Hirsche im Spätherbst bei Dunkelheit Sehen: der Wind, der in unvergleichlich sanften Wellen über die Hügel noch ungemähter Spätfrühlingswiesen gleitet Anhand dieser wenigen sinnlichen Aussagen können wir wohl ausschließen, dass der Autor seine Kindheit im Ruhrpott oder in der Sahara verbracht hat. Man kann sich fragen, ob diese Empfindung, die wie die Proust’schen Madeleines der Kindheit entspringt, fundamental für Heimat steht oder ob sich lebenslang Material ähnlicher Dichte ansammelt, ob also Heimat in der ersten kindlichen Wahrnehmung verdichtet wird und dann nie wieder so. Oder erneuert sich dieses Reservoir ständig je nach verschiedenen Gegebenheiten und Umständen? Gibt es also in einem Leben mehrere Heimaten? Existiert er überhaupt in der Sprache, der Plural von Heimat? Die armen Franzosen zum Beispiel kennen weder Singular noch Plural, sie sind gänzlich heimatlos. Von Napoleon hatte man nicht erwarten können, dass er sich auch noch um solche Lappalien kümmert, aber die Rousseaus, Voltaires & Montaignes hätten doch genügend Zeit gehabt, um diese Lücke zu schließen. Oder vielleicht Gott selbst, der ja, glauben wir den Franzosen, dort zu Hause ist und sich’s gut gehen lässt. Wenn wir Heimat geographisch festmachen und den Ort meinen, in den wir hineingeboren wurden, in den vielleicht, in Zeiten weniger beschleunigten & extensiven Lebens, sogar schon unsere Eltern und auch deren Eltern gesetzt wurden, so wird dies dem allgemeinen Verständnis entsprechen. Man wuchs in einer Gegend und einer Gesellschaft auf und diese hinterließen ihre Spuren. Dauerte dies schon

Generationen an, so haben wir bereits einen Phänotypus vor uns: den Isländer oder den Allgäuer. In der Literatur waren meine Hochgeschätzten immer jene gewesen, die mir unverwechselbare Geschichten von Menschen in unaustauschbaren Regionen erzählten. Sie sprechen von den Verhältnissen, die sie wie Muttermilch aufgesogen hatten und über die sie alles wussten. Das Dublin von Joyce ist uns näher als Dinkelsbühl (außer wir stammten zufällig eben aus dieser Stadt), Musils Wien zu Ende der Donaumonarchie ist bis zum Menschenbild seiner Bewohner so intensiv beschrieben, weil hier Dichter tätig sind, die mit Bauch & Empfindung ihr Eigentlichstes hervortreten lassen – ihre Heimat. Der Bauch von Paris ist Zolas Heimat, Italo Svevo und Alfred Döblin wissen mehr über Triest und Berlin wie wir alle, Charles Ferdinand Ramuz kennt die Dörfer & Leute um den Genfer See und in den Bergen drumherum besser, Faulkners Mississippi und Upton Sinclairs Louisiana haben erst in ihren Erzählungen für uns eine sinnlich erfahrbare Existenz angenommen. Und auch ganz nah bei uns – einen Steinwurf nur – was haben uns die Gottfried Kellers, Robert Walsers, die Johann Peter Hebels und Eduard Mörikes an Verdichtung von Land, Zeit und Mensch zum Geschenk gemacht. Heute jedoch, wo jedem von uns die Unrast und Unersättlichkeit schon aus den Augen springt, wo wir die Orte wechseln wie der Heiratsschwindler seine Anzüge & Opfer – heute haben wir leichtes Wurzelwerk und gedeihen an jedem neuen Ort. Heimweh ist nur noch ein Relikt aus den Ganghofer-Filmen der 50er Jahre und dass uns Gegend prägt ist undenkbar geworden. Meine wechselnden mehrjährigen Aufenthalte könnte ich aber mit ganz unterschiedlichen emotionalen Zuordnungen versehen. Und natürlich kommen neben Riechen, Schmecken, Fühlen, Hören und Sehen noch Hintergrundkulissen dazu, wie uralte Dialekte, Kulturlandschaften und all die Dinge, die man dem kollektiven Gedächtnis zuschreibt. Nehmen wir nur zwei Beispiele: Wien und Straßburg. Beide ganz unterschiedlichen Städte prägten mich auf ihre Art. – Das sogenannte goldne Wienerherz, Schmäh & Kapuzinergruft, die große Zeit der k.u.k.-Glorie, Kaiser


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& Sandler, Sacher & Semmering, Heuriger & Burgtheater, Zein & Zilk … – Die Straßburger Kathedrale ist nicht überall zu finden und der Elsässer Dialekt erzählt mehr als jede Geschichtsstunde. Rote Gesichter und der Geruch von Sauerkraut & Schlachtplatte in den Weinstuben des wuseligen Gerberviertels, eine futuristische Trambahn verbindet die Vororte mit Gutenbergs Denkmal und den Bateaux-mouches der Kanalarterien. Allzu touristische Impressionen, könnte man meinen, doch hinter der Fassade sind sie beide zur Heimat geworden, Wien wie Straßburg. Am stärksten habe ich Heimat immer gespürt bei Menschen, die diese verloren oder geflohen hatten. Ostpreußen, Sudetenland etc. In diesem Falle setzt sich ein Verklärungsprozess in Gang, der unmittelbar in Rührseligkeit & feuchte Augen mündet. Dann glänzt das Vergangene in allen Farben des Regenbogens wie der Devotionalienmarkt am Rande eines Papstbesuches. Heimat, deine Sterne! Mir persönlich schwebt da eher eine matte Sache vor. Also, nicht im Sinne von schlapp, sondern von nicht glänzend. In einer ausgewogenen Grauskala und jenseits von Klischeebegriffen. Etwas irgendwie Unspektakuläres wie der Duft geschnittener & getrockneter Frühlingswiese, der feuchte Maischegeruch ausgepresster Trauben, der anhaltenden Wärme auf den Steinen nach Sonnenuntergang, der wachsigen Glätte polierten Holzes, der Geschmack frisch gefallenen Schnees auf der Zunge, der allererste Kukucksruf des Jahres, das behutsame Aufglühen der Farben an einem Sommermorgen zur blauen Stunde. Na ja, Sie wissen schon. Bildlich gesprochen sehe ich eine Nische vor mir, die, in weiches Licht getaucht, mit allerlei seltsamem Mobiliar bevölkert ist, einem Stillleben ähnlich. Ich sehe einen Aufbau verschiedenartigster Gerätschaften, die vor meinem inneren Auge wie bei einer Kettenreaktion ständig neue Bilder evozieren. Wie eine Wunderbox könnte das sein, die beim Nähertreten eine Vielzahl von unterschiedlichsten Geruchsnuancen offenbart, die eingefärbten Nebelbänken gleich auch sichtbar wären. Aus den Wänden sickerte wie ein Stimmengemisch Un-

erhörtes, nie vernommene Kompositionen zwischen Nono und Stockhausen. Alle Teile des gesamten Stilllebens gäben Töne von sich, wie sie nie zuvor unser Ohr erreichten. Über die Zeit veränderte sich das Licht, es gäbe helle Mondnächte und sonnendurchflutete Nachmittage. Trockene Hitze strahlte aus von der Nische und irgendwann rieselte, wie in den gläsernen Iglus mit dem Eiffelturm drin, feiner pudriger Schnee über die Szenerie, bis alles seltsam erstarrte und in eisiger Monochromie dem Innern unserer Kühlboxen gliche. Erst dann wären die unterschiedlichen Heimaten zu einem Bild verschmolzen, weiß in weiß und gleichgewichtig und nun auch absolut lautlos. In diesem Moment kommt dann ein Maler vorbei mit seiner Klappstaffelei und seiner Leinwand und seinen Farben & Tinkturen. „Na, wen oder was haben wir denn da?“, sagt er. Und da er noch einer der fast schon ausgestorbenen Raucher ist, steckt er sich erst mal eine Gauloise ins Gesicht und denkt nach. Da dies nicht gerade oft vorkommt, wirkt die Szene ein wenig angestrengt. „Könnte man genauso übernehmen“, meint er und macht sich ans Werk. Viele Einzelheiten enthält das Bild, bei aller Monochromie, doch ist das nicht neu für ihn. Erst die groben Strukturen, die großen Komplexe und dann immer feiner & feiner & feiner gemalt. Sei es nun, dass er zu lange am Stück und ohne Pause sich ins Gesehene schraubte oder war es Übermüdung: zunehmend schwand die Klarsicht, die Einzelheiten verschwammen, wie ein Eiskubus rauchte die Wunderbox. Und der Maler malte immer schneller und schneller im Dienst an möglichst getreuer Wiedergabe, bis die Details verschwanden und nur noch der polare Eisnebel übrig blieb und sein Bild nach 45 Schichten übereinander in frappanter Weise dem glich, was man eine gut grundierte Leinwand nennt.


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Brenner-Gespräch (8): „Was machst eigentlich du da?“

So viele Leute fahren über die Alpen. Quart bittet herausragende Persönlichkeiten an den Straßenrand zu einer Jause mit Gespräch. Folge 7: der Autor Karl-Markus Gauß im Gespräch mit Robert Renk über das Scheitern von Reisen, zimbrische Sprachkurse, Nomaden mit Rückflugversicherung, Briefeschreiben als Belastung und über seinen Freund Paul Flora.

Robert Renk: Gibt es für Sie bestimmte Rituale, die Sie vor Ihren Reisen beachten? Karl-Markus Gauß: Ich habe etliche „Rituale“ zu beachten, bevor ich mich auf Reisen begebe. Das wichtigste, das man schon gar nicht mehr als Ritual bezeichnen kann, ist, dass ich mich – egal wohin ich fahre – sehr gut vorbereite. Ich lese Bücher, ich mache mich kundig und habe schon ein bestimmtes Bild vor mir, bevor ich die Reise überhaupt antrete. Ein Bild, das ich während meiner Reise aber wieder vergessen muss und das sich in mir jedenfalls verändert. Zu den Ritualen des Abschiednehmens von Zuhause gehört für mich, der ich ja immer mit dem Tod rechne, der mich auf der Reise ereilt, dass ich den Schreibtisch so aufräume, dass sich aus dem Nachlass ohne größere Schwierigkeiten zwei, drei Bücher zusammenstellen lassen. So kann ich guten Gewissens während der Reise dahinscheiden. R.: Gibt es auch ein Wieder-zu-Hause-Ritual? G.: Ja natürlich. Zuerst einmal gehört es sich, dass ich meine Frau, meine Kinder, sofern sie zufällig zu Besuch sind, und dann auch meine Freunde herzlich begrüße und mir dafür einige Tage Zeit nehme. Denn so wie man merken soll, dass ich weg war, darf man ruhig merken, dass ich wieder da bin. Es dauert ohnedies sechs bis acht Wochen, bis sich das, was ich reisend gesehen und erlebt habe, in mir gesetzt hat, sodass ich mich an die Arbeit machen kann. Ich bin ja kein Protokollant meiner Routen, sondern ein Gestalter meiner Erlebnisse. R.: Stimmt es, dass Sie keinen Führerschein besitzen? Wie reist man dann?

G.: Das stimmt. Nicht nur deswegen verreise ich gerne mit dem Fotografen Kurt Kaindl, dem ich einmal – zu seinem großen Gelächter – gesagt habe: Er ist mir unverzichtbar als Fahrer, Fotograf und vielleicht sogar als Freund. Ich bin kein Pilger, der in Wanderschuhen munter übers Land schreitet und davon überzeugt ist, dass sich ihm das Wesen der Dinge schon durch den gewissermaßen religiösen Blick auf sie enthüllt. Ich kann zwar Landschaften, glaube ich, ziemlich gut beschreiben. Aber nur so über einen Weinberg zu spazieren oder durch den Wald zu wandeln, das gibt mir, leider, nicht besonders viele intelligente Gedanken ein. An sich sind mir städtische oder substädtische Ausformungen von Ansiedelungen näher. Es müssen nicht die Metropolen sein. R.: Wann beginnt die Reise? G.: Die Reise beginnt, wenn ein bestimmtes Reisegefühl sich einstellt, eine innere Unruhe, die aus Vorfreude, aber auch einer gewissen Ablehnung gemischt ist, denn kurz bevor ich losfahre, packt mich immer eine rätselhafte, namenlose Traurigkeit, weil ich jedes Losfahren offenbar immer auch als kleinen Tod empfinde. Ich plane zwar lange und gerne, aber diese letzten Tage vor dem Losfahren sind jedes Mal wieder schrecklich. Eine quälende Unlust, ein Gefühl der Zerschlagenheit, das sich in dem Moment löst, in dem ich durch die Haustüre nach draußen trete. R.: Zu Ihren Vorbereitungen gehört es auch, dass Sie die Sprache der Länder, die Sie bereisen, der Völker, die Sie dort aufsuchen, lernen. G.: Mehr oder weniger. Ich bin, was Fremdsprachen betrifft, nicht sonderlich begabt, aber ich habe eine


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Begabung dafür, mir innerhalb kürzester Zeit einen bestimmten Grundwortschatz von vielleicht hundert wichtigen Wörtern und etlichen im Alltag wichtigen Formeln anzueignen. Diese Grundausstattung habe ich, sobald ich mein Projekt beendet habe, innerhalb kürzester Zeit wieder völlig vergessen. Es ist also gewissermaßen ein scheußlich instrumentelles Verhältnis, das ich zu diesen Sprachen bzw. zu meiner Fähigkeit, sie rudimentär rasch zu erlernen, habe. R.: Diese Formeln und Phrasen stehen ja nicht in populären Büchern: Sorbisch, Aromunisch, Zimbrisch … Wie erlernt man diese Sprachen? G.: Dort, wohin ich reise, sind die Leute immer sehr begeistert, wenn sie bemerken, dass ich mir Mühe gebe, ihre Sprache zu verstehen. Sie danken es mir, indem sie mir auch sprachlich ihre Aufmerksamkeit zuwenden. Und meine Erfahrung hat mich zu folgender Theorie gebracht: Wenn der Wunsch, mit jemandem zu kommunizieren, groß genug ist, dann gelingt einem das gewissermaßen über den objektiven Stand des eigenen Sprachvermögens hinaus! Aber auf der anderen Seite: Denken Sie nur, mit wie vielen Leuten, deren Muttersprache auch die deutsche ist, Sie sich beim besten Willen so gut wie gar nicht mehr unterhalten können, weil wir in der gleichen Sprache und doch auf verschiedenen Planeten leben. R.: Das Zimbrische ist von Bayern über Tirol und Südtirol nach Oberitalien gewandert, wo es heute nur noch – laut Wikipedia – von ca. 1.000 Leuten gesprochen wird. Wie kann man sich Zimbrisch aneignen, wenn man in Salzburg lebt? G.: Es gibt seit vielen Jahren im Internet einen sehr witzigen zimbrischen Sprachkurs, den ein gewisser Remigius Geiser abhält, und zwar dergestalt, dass er jeden Tag einen Satz aus der Weltpresse oder aus der Weltliteratur ins Netz stellt und dann ins Zimbrische übersetzt und erklärt, wieso das so und so lautet. Sätze von Mao Zedong, Goethe, Dante, dem Papst. Diesen Sprachkurs habe ich einige Zeit besucht, dann habe ich dem wunderlichen Lehrer geschrieben und festgestellt, dass er in Salzburg wohnt, keinen Kilometer von mir

entfernt. Übrigens stimmt die Zahl nicht, die Wikipedia angibt: Wenn es hoch kommt, sind es vielleicht noch fünfzig Leute, die Zimbrisch aktiv und passiv beherrschen. Allerdings ist es eine schöne Mode junger Italiener geworden, in italienischen Gedichten die herrliche zimbrische Sprache der Oma zu preisen. R.: Woher kommt diese Sprache? G.: Diese Sprache ist die einzig verbliebene, das heißt: heute noch gesprochene Form des Althochdeutschen. Und daher ist sie bei Altgermanisten so populär. Ich schätze, dass es heute wohl zehn Mal so viele Zimbernforscher als Zimbern selber gibt. Diese Zimbernforscher sind über alle Welt verstreut und befinden sich unausgesetzt in wissenschaftlichen Fehden darüber, welche Form des Zimbrischen denn als das eigentlich verbindliche Hochzimbrisch angesehen werden darf. Herrliche Typen, die sich ein herrliches Objekt des Forschens und Streitens gefunden haben. R.: Sehen Sie allgemein diese Tendenz bei „kleinen Sprachen“, dass es dort übermäßig große Gefechte um die richtige und einzig wahre Variante gibt? G.: Ja, es gehört zum Luxus, den sich die kleinsten Minderheiten leisten, dass sie sich nicht und nicht auf eine verbindliche Form ihrer Sprache einigen können. Das ist einerseits borniert; andererseits auch schon wieder großmütig, sich das auch noch zu leisten: der Welt nicht nur mit der eigenen, kleinen Sprache entgegenzutreten, sondern gleich auch noch mit drei oder vier verschiedenen Varianten davon. R.: Im Ihrem Buch „Der Mann, der ins Gefrierfach wollte“ erzählen Sie von Kaayo, dem letzten des Volkes der El-Molo in Kenia, der die Sprache seines Volkes bewusst mit ins Grab nimmt. G.: Ja, dieser Mann hat eines Tages den sprachlichen Austausch mit der Welt abgebrochen, er hat sich entschieden, auch nichts mehr dafür zu tun, dass seine eigenen Enkelkinder El-Molo verstehen und sprechen mögen. Ich denke mir, er muss genau gewusst und gespürt haben, dass mit ihm eine ganze Welt stirbt, und


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ein unsäglich trauriger und weiser Mann gewesen sein. Ich hege große Sympathie für die kleinen Welten, aber es ist nicht so, dass ich sie verklären will und behaupten würde, die Welt wäre besser, wenn wir in Europa z.B. noch 600 verschiedene Sprachen hätten. R.: Heutzutage könnte man solche Sprachen ja leicht dokumentieren! G.: Genau das wird ja auch gemacht. In den nächsten Jahren wird zum Beispiel die Insel Tuvalu im Pazifik versinken. Die Leute aus Tuvalu haben zwar nicht das Geringste zum Klimawandel beigetragen, aber ihre Insel wird diesem dennoch als erste zum Opfer fallen. Die Bevölkerung wird in den nächsten Jahren in verschiedene Staaten ausgeflogen und auf sie aufgeteilt werden, es ist ihr also nicht einmal der Exodus als Gesamtvolk gewährt worden. Aber bevor sie untergehen, im doppelten Sinne, sind auf einmal amerikanische Linguisten bei ihnen aufgetaucht und haben ihre Sprache exakt zu dokumentieren begonnen. Die Sprache wird aussterben und mit ihnen das Volk der Tuvalu selbst, aber immerhin: Alles geht unter wissenschaftlicher Begleitung geordnet vonstatten. R.: Ilija Trojanow meinte einmal, dass ihm beim Reisen das Fremde nie so schnell zugänglich geworden sei als in dem Moment, als er in Mumbay all sein Gepäck verlor. Dann sei man gezwungen, auf das Fremde aktiv zuzugehen. G.: Interessante Geschichte. Ich selbst bin beim Reisen der vielleicht etwas konservativeren Auffassung, dass man umso mehr zu sehen und zu hören, zu begreifen und mitzufühlen vermag, je mehr man sich mit einer Materie schon beschäftigt hat. Wer eine Beethovensonate zum ersten Mal hört, hört weniger in ihr und aus ihr heraus als der, der sie schon zehn Mal gehört hat. Und ein Musiker, der dieses Stück einstudiert und fünfzig Mal gespielt hat, wird es tiefer verstehen als der, der es zum ersten Mal angeht. Natürlich muss sie auch auf den wirken, der sie zum ersten Mal hört. Und so wird es beim Reisen und bei der Begegnung mit anderen Kulturen auch gehen, dass man sofort und spontan sich in irgendeine Beziehung setzen kann,

wenn man bereit ist, sich der Welt zu öffnen. Trotzdem ist die Beziehung dessen, der sich länger mit etwas auseinandergesetzt hat, tiefer. Und er ist auch weniger gefährdet, die Dinge misszuverstehen. R.: Was wären Beispiele von Missverstehen in literarischen Texten? G.: Die deutschen Popliteraten, zum Beispiel, sind darin wahre Weltmeister: Die fahren irgendwohin, sind stolz darauf, dass sie gar nicht wissen, wohin, und kultivieren die Fremdheit, von der sie glauben, sie wäre ein echt urbanistisches Lebensgefühl. Sie gehen in fremden Städten herum, haben keine Ahnung und halten das für ein besonderes Verdienst. Ein Topos ihrer Reportagen ist die Ankunft im Hotel, wenn sie unter dem Ventilator liegen und sich fragen, ob sie Rum oder Cola trinken, eine Prostituierte aufsuchen oder onanieren sollen. Besser wäre es jedenfalls gewesen, sie wären für das eine oder andere zuhause geblieben. R.: Gibt es richtiges und falsches Reisen? G.: Richtig und falsch, wer soll das bestimmen? Ich bin keiner von denen, die ihren Hochmut gegen die „Ach-so-dummen Touristen“ kultivieren. Jeder Reisende, selbst der Massentourist, wird auch von etwas urtümlich Archaischem angetrieben, jedes Reisen ist ein gewisser Aufbruch und mit einer gewissen Mühe verbunden. Natürlich gibt es aber zahllose Reisende, die genau so vorurteilsbeladen heimkehren, wie sie losgefahren sind. Die also weder richtige noch falsche, sondern überflüssige Reisen machen. Ich habe natürlich auch einige schwierige Reisen unternommen, in kulturelle Erdbebenzonen, bei denen ich nach meiner Heimkehr zwar wusste, dass mein Bild der Welt wieder etwas reicher und vielfältiger geworden ist, aber nicht unbedingt schöner. R.: Gab es gefährliche Situation während Ihrer Reisen? G.: Nein, gar nicht, und wenig Typen gehen mir mehr auf die Nerven als jene, die sich als Abenteurer bezeichnen, diese elendigen Nomaden mit der Golden Mastercard und der Flugrettungsrückholversicherungskarte.


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Aber ich bin natürlich öfter in die Gefahr geraten, dass eine Reise scheitert, und zwar an meiner Unfähigkeit und meiner Ungeduld. Wenn man so reist, wie ich es tue, um über diese Reisen dann zu schreiben, muss man sich vor allem in einer Fähigkeit ausbilden, in der Geduld. Und das ist bei mir eine heikle Sache, denn ich bin ein ziemlich ungeduldiger Mensch. R.: Das merkt man Ihren Texten kaum an! G.: Danke. Es war aber schon so: dass ich mich in irgendeinem Dorf in Mazedonien oder Kalabrien aufgehalten habe und sich nichts, rein gar nichts getan hat. Sodass ich mich dazu zwingen musste, trotzdem dort zu bleiben, so lange, bis das Nichtstun schon schmerzhaft wurde. Nach vier Stunden geht man zum vierten Mal dieselbe Straße hinauf, kein Mensch redet einen an, man sitzt am Ortsbrunnen, man geht ins Café und es geschieht nichts. Und dann, wenn es schon fast unerträglich geworden ist, wenn man nichts wie weiterziehen will, geht eine uralte Frau vorbei, fragt: „Was machst eigentlich du da?“ und dann nimmt sie mich mit nach Hause und nach zehn Minuten sind 25 Leute da, Freunde, Nachbarn, Verwandte. Und jeder möchte dir seine ganz persönliche Liebesgeschichte und Lebensgeschichte erzählen. Auch ich bin längst so verformt, dass dauernd irgendwas Spannendes geschehen, sich etwas ereignen muss. Gerade auch im Urlaub. Es sei denn, man sitzt am Strand und schaut philosophisch aufs Meer hinaus, was manche können, ich nicht. Geduld ist für mich eine Arbeitshaltung, zu der ich mich diszipliniert nötigen muss. Ich bin sozusagen professionell geduldig und privat ein unangenehm ungeduldiger Kerl. R.: Dann wechseln wir lieber rasch das Thema. Seit 1991 sind Sie Herausgeber von Literatur und Kritik. Davor sind Sie schon einmal – so habe ich gelesen – ein Jahr lang mit einer anderen Zeitung „fremd gegangen“, Sie haben ein Jahr Ihr Studium und andere Arbeiten vernachlässigt und sich in die „Fackel“ gestürzt. Stimmt das? G.: Ja, das stimmt. Ich brauchte dieses Jahr, um sehr viel zu lernen und mich am Ende von Kraus auch be-

freien zu können. Er ist mir am Ende nicht mehr die unantastbare moralische Autorität gewesen, die er für seine Anhänger, man müsste eher sagen: Gefolgsleute war. Angezogen hat mich seine Sprachkritik, nein, er ist kein Sprachkritiker, seine Spracherotik war es, der ich verfallen bin. Und was ich auch in meinem privaten Fackel-Jahr gelernt habe: dass in einer Polemik, die man führt, manchmal auch Ross & Reiter genannt werden müssen. Es sind zwar Haltungen, die man verwirft und um die es geht, aber Haltungen manifestieren sich in Personen. R.: Sie haben sich dadurch wohl auch einige Feindschaften erarbeitet? G.: Das hat sogar dazu geführt, dass ich in manchen Kreisen den Ruf bekommen habe, ich suchte Feindschaften. Was überhaupt nicht der Fall ist. Ich suche und finde immer wieder Freundschaften. So ist das. R.: Können Sie mit dem Begriff „moralische Instanz“, als die Sie auch bezeichnet werden, etwas anfangen? G.: Sogar in eitlen Momenten nicht allzu viel. Das Wort hat doch etwas Abtötendes. Ich bin ein Mensch, keine Instanz. Wenn mich jemand loben würde, indem er mich als seine „stilistische Instanz“ bezeichnet, täte ich mir leichter. Es ist mir nicht angenehm, wenn mir jemand einen politischen Irrtum oder einen Fehler in der politischen Argumentation nachweist; aber wenn er mir eine schlechte Formulierung oder einen stilistischen Fehler nachweist, würde mich das weit mehr beschäftigen. R.: Karl Kraus schätzte eine Literaturzeitschrift aus Tirol ganz besonders, nämlich den „Brenner“. Deren Herausgeber, Ludwig von Ficker, hatte ein ganz anderes Konzept als Kraus, er hat sich selbst ja nicht als Autor gesehen, sondern eher als Entdecker und Förderer. G.: Als ich vor einem Jahr zu der schönen „Gaußiade“ mit ihren vier öffentlichen Veranstaltungen nach Innsbruck eingeladen wurde, bin ich natürlich auch nach Mühlau hinaus gezogen, die Anna Rottensteiner vom Literaturhaus am Inn hat mir den Weg dorthin gewie-


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sen. Der Friedhof ist tatsächlich sehr stimmungsvoll, aber auch eine Stätte mit symbolischer Rangordnung. Ganz oben sind die Gräber von Ficker und Trakl. Die Frau von Ficker liegt erst drei Reihen weiter unten. Man könnte meinen, Ludwig von Ficker wäre nicht mit ihr, sondern mit Trakl verheiratet gewesen. R.: Wo sehen Sie sich als Herausgeber von Literatur und Kritik zwischen Karl Kraus, dem großen Stilisten, der Sie ja auch sind, und Ludwig von Ficker, dem großen Entdecker und Förderer, der Sie auch sind? G.: Als Arno Kleibel vom Otto Müller-Verlag mir angeboten hat, die Redaktion von Literatur und Kritik zu übernehmen, war die Situation der österreichischen Zeitschriften noch sehr übersichtlich. Da gab es die „Manuskripte“ mit ihren experimentellen, sprachkritischen Autoren, ums „Wespennest“ scharten sich die gesellschaftskritischen Autoren, in Innsbruck erprobten sich Klier und Holzer, leider zu kurz, mit ihrer „Gegenwart“, in der ich merkwürdigerweise als so was wie der Prügelknabe vom Dienst firmieren musste, ja, und Literatur und Kritik war sozusagen für das „schöne Ganze“ zuständig oder, negativ formuliert, für den Rest. Ich habe dann Schwerpunkte gesetzt, z.B. mit Literatur aus dem Balkan. Was wir vor zehn Jahren übrigens aufgegeben haben, da es nicht mehr nötig war, einige Verlage sind, oft auf unseren Spuren, dazu übergegangen, Literatur aus den Ländern im Osten Europas zu veröffentlichen. Was ich aber von Anfang an verspürt habe, als – auch wenn es blöd klingt – Auftrag oder Verpflichtung, das war, dass ich Literatur und Kritik nicht als meine „Fackel“ betrachten darf, sondern auch Autoren publizieren muss, die weder literarisch noch politisch auf meiner Linie liegen. Es gibt in jedem einzelnen Heft der Zeitschrift immer auch Texte, gegen die ich selbst Vorbehalte habe. Man kann einfach nicht hergehen, eine subventionierte Zeitschrift übernehmen, die in Dutzenden Ländern an Bibliotheken und Institute geliefert wird – und dann aus dieser Zeitschrift seine private Liebhaberei machen und nur die eigenen Vorlieben berücksichtigen. R.: Soll eine Literaturzeitschrift nicht immer einfach die besten Texte bringen?

G.: Nicht zwingend. Ich glaube, dass Literaturzeitschriften nicht nach dem Prinzip von Readers Digest aufgebaut sein sollen. Da hätte ich es ja sehr leicht. Ich bin über die Jahre doch mit vielen österreichischen und internationalen Autoren bekannt geworden, so dass ich jedes Heft als kleine Anthologie ausgezeichneter Texte von oftmals sehr berühmten Beiträgern füllen könnte. Ich bin aber davon überzeugt, dass Literaturzeitschriften auch Autoren bringen müssen, die es gerade schwer haben, weil sie in einer Krise stecken, oder weil ihre Zeit jetzt vorbei zu sein scheint oder weil sie ganz am Anfang stehen. Eine Literaturzeitschrift ist keine Bestenlese, sie muss Autoren begleiten und sie manchmal auch ermutigen und das Schweigen, das um sie ist, durchbrechen. R.: Wie ist das jetzt: Hält es der Gauß eher mit Kraus oder mit Ficker? G.: Ich glaube, dass ich als Herausgeber nicht zwischen Kraus und Ficker stehe. Karl Kraus hat sein eigenes Lebensdokument in chronologischer Fortsetzung der Zeit und den Mächten entgegengehalten, Ludwig von Ficker hat Beachtliches geleistet, und was mir am meisten imponiert: dass dieser Mann, der selbst ja nur zwei oder drei Bücher in fünfzig Jahren geschrieben hat, ein unglaubliches Briefwerk verfasst hat. Sicher wollte er mit den Empfängern in einen geistigen Austausch treten, aber – so denke ich mir – das Schreiben dieser Briefe war für ihn wohl auch eine notwendige Selbstvergewisserung seines eigenen Denkens. Und besonders bewegend ist es zu sehen, dass es ihm wirklich egal war, ob der Empfänger ein berühmter Geistesheroe oder ein völlig Namenloser war, er hat an seinen Briefen gefeilt, mehrere Fassungen erstellt und so versucht, dem, was er sagen wollte, aber was er vielleicht selbst noch gar nicht richtig zu denken vermochte, schreibend näher zu kommen. R.: Wie halten Sie es selbst, wenn Sie als Herausgeber an Autoren schreiben? Sie werden ja auch viele ablehnende Briefe formulieren müssen … G.: Nein, ich schreibe überhaupt keine reinen Ablehnungsbriefe. Was sind denn das für Leute, die heute


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noch Literatur schreiben und an Literaturzeitschriften schicken? Ich glaube, innerhalb jeder Generation sind es immer ein paar der interessantesten Menschen, die ihre Sache ganz auf die Literatur konzentrieren, und daneben gibt es viele, die sich in persönlichen Krisen befinden und für die die Literatur ein Mittel ist, diese Krise zu bewältigen; in Wirklichkeit verschärft sie sie allerdings oft. Aber jeder, der schreibt und das von ihm Verfasste an einen Verlag schickt, gleich ob er genialisch oder nur unglücklich ist, gibt etwas sehr Persönliches von sich her, und natürlich hat er daher Anspruch auf eine Antwort, die nicht aus vorgedruckten Floskeln besteht. Oft ächze ich unter dieser Last, die auch eine psychische Belastung ist. Zumal – das muss ich leider sagen – es viele Texte gibt, bei deren Lektüre man schon nach ein paar Zeilen weiß, dass das nix ist und auch nix wird. R.: Was tut man in so einem Fall? G.: Ja, was macht man in so einem Fall? Wenn ich jetzt schreibe, tja, das ist leider noch nicht so ausgereift, arbeiten Sie doch in diese oder jene Richtung weiter, kann ich mir sicher sein, dass ich nach sechs Monaten den nächsten Text bekomme. Kann ich aber jemandem gleich die Hoffnung rauben und sagen: Lass es bleiben? Nein, das kann ich auch nicht, das steht mir nicht zu … Zumal das Schreiben für denjenigen wohl etwas Bedeutendes, vielleicht etwas existenziell Entscheidendes ist. Und mancher Autor sich ja auch schreibend entwickelt, wie man ihm das selbst nach Lektüre eines Textes gar nicht zugetraut hätte. Kurz: Hier muss ich immer wieder einen Weg des Kompromisses mit mir selbst finden, und ein solcher Kompromiss ist immer ein fauler. R.: In Tirol hatten Sie eine enge Verbindung zu Paul Flora. Wie ist diese Freundschaft entstanden? G.: Ich bin mit meiner Frau in Salzburg in einem Café gesessen, am Nebentisch saßen zwei ältere Herrn. Das war vor ca. 20 Jahren. Dann steht einer der älteren Herrn auf, kommt zu uns an den Tisch und fragt: „Sein Sie da Gauß?“ Sag ich: „Ja.“ Und er: „Dann sein Sie aber ein gscheiter Mann. Bravo.“ Das war Paul Flora.

Wir haben dann vereinbart, dass wir uns bald einmal treffen. Was umso leichter war, weil einer meiner besten Freunde, der Galerist Thomas Seywald, mit Katharina, der Tochter von Paul Flora, verheiratet ist. Und Paul Flora, der ein beispiellos großzügiger Mensch war, hat uns immer, wenn er nach Salzburg kam, zum Essen ausgeführt. Er war ja ein Sir und fühlte sich ganz dem Wunsch verpflichtet, dass jemand sich in seiner Gesellschaft oder an seinem Tische nicht langweile. Er war ein geistreicher Erzähler und außerordentlich unterhaltsam. Außerdem war er ein wahrhaft nobler Mensch, ich habe kaum jemanden kennen gelernt, der so selten etwas Schlechtes über andere erzählt hätte. R.: Flora war ja auch ein sehr literarischer Mensch … G.: Ja, er war tatsächlich der geborene Erzähler. Und er ist ja auch als Zeichner eigentlich ein Erzähler. Er hat mich auch auf einige Autoren aufmerksam gemacht, z. B. auf Jakob Philipp Fallmerayer und natürlich auf Norbert C. Kaser. Mit seinem Sohn Thomas hat er in Innsbruck ja einmal ein Kaser-Buch veröffentlicht, ganz in Eigenregie, im Galerieverlag des Sohnes. R.: Und was denken Sie über Paul Flora als Künstler? G.: Er war ein großer Könner, der im Unterschied zu vielen Könnern sein eigenes Schaffen mit viel Selbstironie betrachtet hat. Auf meine Frage, woran er gerade arbeite, hat er mir einmal mit dem grandiosen Satz geantwortet: „Derzeit bin ich nicht in Hochform, da zeichne ich am Vormittag einen Raben und am Nachmittag verkauf ich ihn.“ So was kann nur einer sagen, der Größe hat und sie sich nicht durch geniale Attitüden beweisen muss.


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work in progress

Vielschichtiges Porträt eines Gemäldes: Der Chemiker und Typograph Walter Pamminger – übrigens auch der Erfinder des visuell-editorischen Basiskonzepts von Quart – hat Fritz Ruprechters Bild Nr. 88/09 in gut zwei Jahren rund tausend Mal fotografiert, präsentiert es hier im Layout seines digitalen Archivs (Seite 50 – 59) und schreibt dazu Folgendes:

Ohne die naturwissenschaftlich-experimentelle Strenge, die ich im Buch Viel/Falten – Versuchsanordnungen mit Bildern von Fritz Ruprechter walten ließ, setze ich hier meine fotografischen Untersuchungen von Kunstwerken fort. Die Abbildungen basieren auf spontanen Schnappschüssen von Fritz Ruprechters Nr. 88/09, Lack auf Karton auf Hartfaser, kieselgrau, RAL 7032, 99 × 80 cm, des damals einzigen Wandbildes in meiner Behausung. Von Juni 2010 bis August 2012 füllte sich das Archiv meines Rechners mit etwa tausend Aufnahmen. Sich Bilder von einem Bild zu machen, das ohnehin gegenwärtig ist, scheint ein paradoxes Unterfangen zu sein, doch meine Betrachtungen am Monitor trugen in höherem Maße zu dessen Erfahrung und ganz grundsätzlich zur Schärfung meiner Sinne bei als das Original im unmittelbar benachbarten Zimmer. Das hatte auch mit iPhoto zu tun, das nicht nur Archiv, sondern zugleich fluider Bilderatlas ist. In den stufenlos veränderlichen Fenstern und Rastern dieses Programms erfuhr Nr. 88/09 seine Umformatierung in ein glitzerndes Mosaik, aus dem heraus seine Varianten in unterschiedlich wählbaren Perspektiven betrachtbar und vergleichbar sind. Sämtliche Abbildungen im Quart basieren auf screen shots des Programmfensters, das durchgehend an das Format des Hefts angeglichen ist. Die Euphorie über die gesteigerte Verfügbarkeit des Bildobjekts, die der Verbund von digitaler Kamera und PC ermöglicht, befeuerte mich darin, es immer wieder aufzunehmen, um das herrschende reduktionistische Konstrukt eines resümierenden, feststehenden und einfältigen „Bildes des Bildes“ zu konterkarieren und damit auch exemplarisch Materialien für

differenziertere Bildinterpretationen bereitzustellen. Daher konnte es nicht wie üblich darum gehen, die verschiedenen Einflussfaktoren, nämlich unmittelbares Ambiente, Aufnahmeperspektive, Kamera, Computer und Printmedium, auszuschließen, ruhigzustellen oder zu standardisieren, sondern im Gegenteil darum, sie hemmungslos wuchern zu lassen. Es erschien nur konsequent, die Wahl der Aufnahme-Parameter an meine Kamera zu delegieren; bisweilen überließ ich die Bildbearbeitung dem Zauberstab, einem speziellen feature des iPhoto, ohne dass sich der Einfluss dieser automatisierten Manipulationen nachvollziehen lässt. Bevorzugt suchte ich mit meinem Kameraauge auch räumlich und zeitlich Randständiges auf – periphere Ausschnitte, anamorphotische Perspektiven, direktes Sonnenlicht, Dämmerung – und brachte eine farbige Lichtquelle (Philips Living Colors Clear) zum Einsatz. Dabei war ich mit unterschiedlichen Lichtgeschwindigkeiten konfrontiert: Das diffuse Sonnenlicht änderte sich zumeist langsam, bisweilen lief es jedoch blitzschnell, wenn es etwa strahlendhell den Rand des Bildes erklomm. Weitere Tempi spielten in die Aufnahmen hinein, da diese ohne Stativ erfolgten, sodass bei schlechteren Lichtverhältnissen mein Zittern Nr. 88/09 verschleierte. An der Fotografie fasziniert mich die Überschneidung von Rezeption und Produktion. Sie vermag die heimelige Komplementarität von Kunstwerk und Betrachter zu sprengen, denn sie produziert wiederum Bilder, in denen sie unsere Augenblicke in Zweifel zieht: Sie rahmt das Bild auf neue Weise, sodass Antagonismen wie Bild und Hintergrund im Foto in ein intensiviertes


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Wechselspiel treten, weil sie dort mit gleicher Stofflichkeit auftreten, und macht gleichzeitig die „natürliche“ Akkommodation des Auges an die variierenden Farbstimmungen nicht mit. Somit wird sichtbar, wie die farbliche und haptische Erscheinung des vermeintlich statischen Bildes in weiten Bereichen schwankt. Ruprechters Nr. 88/09 hängt in meinem Wohnzimmer rechtwinkelig zum nahen, südseitigen Fenster. Obwohl monochrom, ist es nicht eintönig: Präzise aufgeraute Flächen machen sich mit ihren feinen Schattenwürfen als graphische Texturen bemerkbar. Mithilfe von Distanzhaltern setzt Ruprechter sein Werk als abgehobene Wand in Szene, womit er statt des klassischen Durchblicks einen Aufblick erheischt. Es soll – im Anschluss an die modernistische Abstraktion – nicht als Fenster wirken. Trotzdem kehrt das vermeintlich verdrängte Fenster hinterrücks wieder, da das Bild mit seinem Schatten ein schwarzes Rechteck in die weiße Wand schlägt. Bisweilen legt sich noch das benachbarte Fensterkreuz, umrahmt von strahlendem Sonnenlicht, darüber. Ruprechters Tableau ist daher im Extremfall wie ein Sandwich zwischen zwei Fenstern eingeschlossen. Auf der Seite der Reproduktion gerät das Werk dann vollends in übergeordnete Fensterordnungen, nämlich in die fluiden Fassaden des iPhoto-Archivs, die schlussendlich als Fenster im Papier (Elisabeth von Samsonow) des Quart erstmals fixiert werden. In schrägen Ansichten, die sich im Alltag zwangsläufig ergeben, erwacht das Bild unvermutet zu neuem Leben. Es beginnt unterschiedliche Farben, andersartige Materialien und extreme Temperaturen zu fingieren: Die Bandbreite reicht von glitzerndem Eis über speckigen Graphit bis zu schmelzendem Silber. Bleibt das Bild hier noch bei sich, so gibt es in noch extremeren Perspektiven plötzlich Gegenständliches wieder, wenn sich etwa das sonnenweiße gegenüberliegende Haus mit seinem blauen Himmel darin spiegelt. Unter bestimmten Umständen fungieren also auch abstrakte Bilder als „Spiegel der Welt“ (Hans Belting) und zeitigen in bestimmten Situationen – ganz entgegen der abstrahierenden Intention – unterschiedliche Spielarten von Simulation, Mimesis und Ikonizität.

Exemplarisch zeigt sich, wie die sogenannte Darstellung sowohl produktions- als auch rezeptionsseitig vollzogen wird: Darstellung bedeutet einerseits die von den Künstlern bewerkstelligte und andererseits jene der Bildbenützer, die sich durch die spezielle Aufstellung des Werks und ihre situationsgebundenen Einstellungen einbringen. In dieser komplementären Darstellungsarbeit emanzipiert sich der Betrachter zum Akteur, indem er als performer mit seinen Suchbewegungen das Bild für sich selbst – und mithilfe seiner Kamera auch für andere – aufführt, ohne dass dieses Schauspiel wechselseitiger Reaktionen ein „gültiges“ Ende fände. Das impliziert, dass Entgrenzungsprozesse von Bildern, wie sie viele Künstler im 20. Jahrhundert angestrebt haben, auch auf Seiten der Rezeption möglich sind. Offensichtlich fällt es uns nicht leicht, die vielfältigen Instabilitäten eines Bildes zu akzeptieren, weil das „feste geistige Bild […] tief in die Geschichte des westlichen Denkens eingewoben“ ist (Christopher S. Wood). Umso mehr soll auch das materielle Bild die geforderte Solidität einlösen. Diese hat es ja auch – jedoch bloß für einen Augenblick. Die Fotografie wäre das optimale Werkzeug, um tatsächlich konkrete „Lebenszeichen“ von Bildern herzustellen, nach denen Bildwissenschaftler heutzutage gerne fahnden. Nicht bei allen Kunstwerken spielen die augenfällig gemachten Phänomene eine solch tragende Rolle. Wenn es allerdings der Fall ist, wie kann man dann dieser untergründigen Komplexität gerecht werden? Was bedeutet es insbesondere für die bildwissenschaftliche Interpretation, wenn ihre Gegenstände unterhalb ihrer metaphysischen Höhenlagen instabil sind? In diesem Zusammenhang stellt sich noch die Frage, ob das sterile, immer gleiche Licht, in dem die Werke im Museum aufgehängt werden, ihnen ein angemessenes Ausleben ihrer Potenziale ermöglicht. Vermutlich nicht. Wichtige Aspekte von Fritz Ruprechters Arbeiten – und nicht bloß von seinen – wird uns der museale Blick ewiglich vorenthalten.












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Ganz grundlegend

Im Gasthaus „Gemsle“ zwischen Blons und Sonntag traf Maria Rennhofer im vergangenen Spätsommer das Künstlerkollektiv AO&. Das Gespräch fand mit Philipp Furtenbach und Thomas A. Wisser statt, Philipp Riccabona und Rainer Fehlinger waren noch bei der Baustelle des „Lutzschwefelbrunnens“. Die beiden aktuellen Projekte im Walsertal, die temporäre Bewirtschaftung des Gasthauses und die Errichtung der Badestelle, sind symptomatisch für die vielfältigen Aktivitäten der zwischen Kunst und Kulinarik, Architektur und Stadtforschung, Soziologie und Regionalentwicklung nicht festzulegenden Nomaden.

Maria Rennhofer: Wenn man sich auf die Spuren von AO& und euren vielseitigen Aktivitäten begibt, hat man das Gefühl, absichtlich auf Nebengeleise oder in Seitengassen gelenkt zu werden. Erst auf der letzten von 72 Seiten der Homepage findet man eine kompakte Zusammenfassung, was AO& eigentlich ist …

es früher auch hier in jedem Dorf ein Bad. Auch weil solche Bäder aufgrund christlicher Vorstellungen oft in Verruf geraten sind, ist diese Tradition abgerissen. Wir greifen das mit dem Konzept „Wassertal“ wieder auf und versuchen über die nächsten Jahre, an mehreren Standorten kleine Eingriffe zu entwickeln.

Thomas A. Wisser: … zumindest, was es einmal war, denn der Text ist schon älter, und inzwischen haben wir uns wieder weiterentwickelt.

W.: Für das erste Objekt fassen wir die viertstärkste Schwefelquelle Österreichs, die bisher nicht gewürdigt und kaum genutzt wurde. Der „Lutzschwefelbrunnen“, den wir gemeinsam mit dem Architekten Martin Mackowitz errichtet haben, befindet sich in einer Flussbiegung, und gerade dieser Kontrast zwischen der Unwirtlichkeit der Landschaft mit dem starken Rauschen des Lutzbachs und der exponierten Behaglichkeit des Bades ist sehr reizvoll. Dieser Gegensatz hat uns ja auch schon bei anderen Projekten interessiert.

Philipp Furtenbach: Die spartanische Information hat damit zu tun, dass es eben so schwer ist, uns mit Worten zu beschreiben. Wenn man wirklich wissen will, was wir machen, muss man einmal dabei gewesen sein. R.: Zum Beispiel hier im Großen Walsertal, wo ihr mehrere Projekte realisiert. F.: „Wassertal“ nennen wir das eine, und es ist eine Fortführung unserer seit vier Jahren laufenden Beschäftigung mit der Region. Die Idee ist, die Verantwortlichen im Walsertal dabei zu unterstützen, neben Bergen und Käse ein vielfältigeres Profil zu entwickeln. Da dachten wir, dass Wasser ein gutes Thema sein könnte, und es gibt durchaus historische Anknüpfungspunkte: Wie in vielen anderen Vorarlberger Gemeinden gab

R.: Das Projekt ist sehr typisch für eure Arbeit: Veränderung von Orten durch Eingriffe in gegebene Situationen, Schaffung von Schutz und Verpflegung. F.: Eigentlich geht es eher um eine Kommunikationssituation, wo wir über die Jahre draufgekommen sind, dass das gute Mittel sind, wie man Kommunikation fördern kann. Die Leute erleben eine gewisse Schutzlosigkeit, in der sie aber aufgefangen werden.


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R.: Ihr versteht euch als Nomaden, und eure „Principal Concerns Tour“ hat euch heuer durch verschiedene Orte und Regionen geführt. F.: Sie fasst unsere Projekte dieses Sommers und Herbstes zusammen und hat mit Orten, aber auch mit Materialien zu tun. In Kärnten haben wir zum Beispiel Holzkohle produziert, haben ein Objekt aus 30 Raummetern dicht geschlichtetem Holz in die Landschaft gebaut, mit Reisig und Tonnen von Erde abgedeckt, von innen entzündet und einen Verglosungsprozess in Gang gesetzt. Wir mussten dann drei Wochen lang Tag und Nacht dieses „Lebewesen“ begleiten – wenn man das in der Nacht verschläft, fängt es zu brennen an, und nach einer halben Stunde wäre alles heillos verloren. Man ist also ständig mit so einem schlummernden Vulkan beschäftigt. Aber es hat gut funktioniert, wir haben im Vorfeld auch bei einer Köhlerfamilie mitgearbeitet, die uns das beigebracht hat, und haben eine recht stattliche Ausbeute herausbekommen. Das Projekt war auch als Performance zu sehen, und das Aufbrechen und Löschen dieses Haufens ist dann in eine Ausstellung im Schloss Damtschach gemündet, wo wir neben Franz West und gelitin beteiligt waren. Dann sind wir weiter nach Altaussee, wo wir mit Bergleuten zusammen, nicht als Touristen, sondern als Arbeiter, in den Berg fahren und selbst Salz abbauen durften. Dann sind wir hierher ins Walsertal gekommen, wo wir uns mit dem Wasser und mit Fett beschäftigen – wir erzeugen hunderte Kilo Butterschmalz. Im Herbst sind wir dann im Marchfeld, wo wir Zuckerrüben ernten, auskochen und versuchen, große Mengen an Zuckerkristallen herzustellen. Es sind also grundlegende Sachen, die wir umständlich in Handarbeit herstellen. Im Spätherbst wird das dann alles in Wien verkauft, allerdings geht es uns da nicht ums Verkaufen, sondern darum, was diese Stoffe für eine Atmosphäre erzeugen in dem Raum, den wir uns dann dafür aussuchen. Wo das genau sein wird, kann man dann auf der Website finden. Verbunden ist das ganze mit einer Interview-

tätigkeit, die wir in Kärnten begonnen haben und hier fortsetzen, Interviews mit Volksschuldirektoren und -direktorinnen – also „Principals“ –, weil die mit Kindern zu tun haben und die Verbindung zwischen den Kindern und dem System herstellen. Daraus und aus diesen grundlegenden Dingen, die wir gesammelt haben, erklärt sich der Name der Tour. R.: Wie ist AO& überhaupt entstanden? Ihr kommt ja aus verschiedenen Bereichen, gibt es eine gemeinsame Basis? F.: Ich komme von der Kunst und Architektur, die zwei noch Abwesenden, die gerade auf der Baustelle arbeiten – Philipp Riccabona und Rainer Fehlinger –, kommen aus dem Musik-Kontext, der Philipp auch aus der Medizin … W.: … auch ein Interesse für die bäuerliche Kultur und für die Güte von „natürlichen“ Substanzen verbindet uns. Ich hab Philosophie studiert und bin auch Musiker. R.: Der Name AO& wurde ja eher zufällig gewählt … F.: … das ist an einem Nachmittag in einem Dorf am Schneeberg passiert, wo bei der Renovierung eines Hauses die Tafel des schon seit Jahren geschlossenen A&O-Marktes abmontiert wurde. Wir sind gerade vorbeigekommen, haben gefragt, ob wir die Tafeln haben können, und dann haben wir die Reihenfolge so verdreht, weil wir wollten, dass eine Frage offen bleibt. R.: Das Konzept eurer Arbeit beruht darauf, Kategorien zu sprengen, sich nicht einengen zu lassen. Von außen wird aber natürlich immer wieder versucht, einen in eine Schublade zu stecken. Die Schubladen, die sich im Zusammenhang mit eurer Arbeit anbieten, sind Kunst, Architektur, Soziologie, Raumplanung,


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aber etwa auch Lifestyle, denn die Beschäftigung mit Kochen und Essen ist ja zur Zeit sehr en vogue. Wie grenzt man sich gegen Einordnungsversuche ab? F.: Das Essen spielt einerseits eine Rolle, um Orte länger erlebbar zu machen – das ist anders, als wenn man kurz in eine Ausstellung geht. Kochen gab uns außerdem die Möglichkeit, unsere selbst gewählten Projekte zum Teil oder überhaupt zu finanzieren und unabhängiger von Förderungen zu sein, weil für das Essen bezahlt wird. Anfangs konnten die Behörden, bei denen man um Förderungen einreicht, gar nicht einordnen, was das sein soll, auch wenn es die Szene als Kunst wahrgenommen hat. Aber obwohl inzwischen die meisten verstanden haben, was wir tun, bekommen wir immer noch Angebote, für irgendwelche Firmenvorstände zu kochen oder Catering für Events zu machen, was wir prinzipiell ablehnen. Kokettiert haben wir natürlich schon auch damit, weil man mit Essen ein breiteres Publikum erreichen kann. R.: Essen, wie ihr es versteht, ist, was die Zutaten betrifft, etwas sehr Spezielles: es geht um Lebensmittel, die man entweder selbst produziert oder deren Herkunft man genau kennt – wie konsequent kann man das durchziehen? F.: Wir haben immer den Begriff „orthodox“ für unseren Zugang verwendet, und das ist oft politisch interpretiert worden, was nie so gemeint war. Konkret hat es 2006 begonnen: Ich bin nach Berlin gegangen, habe in einem Restaurant kochen gelernt und bin richtig aufgeblüht, weil ich auf einmal konkrete Dinge in die Hand bekommen habe, das hat mir davor total gefehlt. Dann habe ich in Claudio Andreatta meinen KochMeister gefunden und dort in sehr kurzer Zeit sehr viel gelernt – aber immer wissend, nie in einem Restaurant Karriere machen zu wollen. Genauso wie ich drei Jahre intensiv Architektur studiert habe, obwohl für mich immer klar war, dass ich weder das Studium beenden

noch Architekt werden will. Und aus dieser Erfahrung aus der Gourmet-Welt, wo man sich das Zeug zusammenbestellt, und das kommt dann mit dem Auto daher, ist der Gedanke entstanden, wie man wirklich luxuriös arbeitet, wenn man zu allem Bezüge hat, was man verwendet. Als wir dann öffentlich gearbeitet haben, war uns klar, dass man das als Dogma proklamieren muss. Inzwischen schreibt ja sowieso jedes Dorfgasthaus, dass es regionale, saisonale Produkte verwendet, und geht trotzdem zum Metro einkaufen. R.: Auf welchem politischen Hintergrund basiert eure Arbeit? Gibt es eine Ideologie dahinter? W.: Was ist politisch? Was wir auf jeden Fall nicht wollen, ist, Leute zu bekehren, aber natürlich spricht unsere Arbeit für sich. Und die Projekte, wo es dezidiert um Regionalentwicklung oder Nachhaltigkeit geht: Das ist politische Tätigkeit im weitesten Sinn, aber es ist nicht unser explizites Ansinnen. F.: Natürlich ist alles, was wir tun, politisch, weil es in bestehende Vorgänge eingreift. Aber man muss sehr aufpassen, weil man sehr schnell vereinnahmt wird. R.: Arbeitet ihr gegen den Mainstream oder parallel dazu? F.: Wer ist nicht im Mainstream? Diese konzeptuelle Klarheit ist in der Arbeitssituation sehr wichtig, ganz ohne Esoterik, aber privat leben wir auch so wie alle anderen. R.: Also weder Öko-Naivität noch Birkenstock-Romantik? F.: Wir sind froh, wenn man wahrnimmt, dass das nicht so ist!!! W.: Wenn wir in Städten arbeiten, ist das weniger The-


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ma, aber bei Projekten im Freien, zum Beispiel bei unserem ersten Projekt im Walsertal, wo wir ein Loch im Wald gegraben, einen Ort geschaffen haben mit Ofen und Schaffellen, muss man dahingehend sehr präzise agieren. Würde man dann an solchen Orten noch trommeln oder Gitarre spielen, würde alles kippen. F.: Ein Hintergedanke einer solchen Gratwanderung ist, ungewohnte, fast abwegige Begegnungsmöglichkeiten zu schaffen. Das ist eine Qualität in all unseren sozial angelegten Arbeiten, dass wir versuchen, das größtmögliche Spektrum von Menschen an einem Ort zu versammeln.

F.: Wir sind eine Randerscheinung dieser Szene, weil wir unsere eigenen Strategien unabhängig von Kategorisierungen wählen. Aus pragmatischen Gründen ist es dennoch wichtig, ein Teil dieser Kunstszene zu sein, oft auch aus rechtlichen Gründen. Um in lebendige Prozesse einzugreifen, braucht man das Vertrauen der Menschen, auch Reputation, auf die sich in Raumplanungs- und Regionalentwicklungsfragen die Auftraggeber oder die, die das zulassen, beziehen können. Wir können uns nicht wie ein reguläres Unternehmen in der Berufswelt legitimieren, wir können das nur über die Kunst machen. R.: Was wird das nächste Projekt sein?

R.: Viele eurer Projekte sind vergänglich, speziell das Essen – tut euch das manchmal leid? F.: Was bleibt, sind die Erinnerung, die Dokumentation, gewisse Artefakte und Objekte. Im Hintergrund baut sich also immer eine Ebene auf, die man als bildende Kunst bezeichnen kann, mit der wir nur bis jetzt noch nicht aktiv sind, um damit Geld zu verdienen. Man sieht ja unserer Website und unseren Dokumentationen an, dass wir eine bestimmte Sprache haben, die sich in Form von Bildern, Fotos, Objekten und Überbleibseln äußert und die man relativ problemlos auch dem Kunstmarkt eingliedern könnte. Das könnte einem wirtschaftlichen Interesse dienen – nicht, um sich ein Haus zu bauen oder ein Auto zu kaufen, sondern um für uns alle die Möglichkeit zu schaffen, sich uneingeschränkt die Arbeit leisten zu können. Ich mache das Organisatorische dabei full time, aber die anderen haben nebenbei ihre anderen Tätigkeiten, vorwiegend Musik, und es wäre toll, wenn das einmal alle tragen könnte, um freier arbeiten und noch mehr investieren zu können. R.: Seht ihr euch in der Kunstszene integriert? Wie ist das Verhältnis zu anderen Kunstströmungen oder Künstlern?

F.: Wir befinden uns in einer Epilogphase, was diese zentrale Funktion des Kochens und des Essens betrifft. Wir werden das zwar immer wieder tun, wenn wir glauben, dass Orte das brauchen, aber jetzt haben wir diese grundlegenden Dinge – Holzkohle, Salz, Fett, Zucker – herausgenommen und in eine Objektebene gebracht. Von Ende November bis Anfang Jänner sind wir dann in Rom, wo wir eine Serie anfangen, in der wir unsere Kenntnisse über Orte und Settings im sozialen und räumlichen Sinn verwenden und mit Musikern Tonaufnahmen machen wollen. Wir nehmen da so eine Art Meta-Produzentenebene ein, wo wir uns die Aufnahmesituation überlegen, sie überwachen, begleiten. Über ein Stipendium an der Deutschen Akademie in Rom haben wir dazu die Möglichkeit gekriegt. Eine Zusammenarbeit mit dem deutschen Musiker Phillip Sollmann wird dabei den Anfang bilden.

Informationen und Bilder zu den Projekten unter www.ao&.net


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Brigitte Kowanz Originalbeilage Nr. 20

Jeder Ausgabe von Quart liegt ein exklusives Kunstwerk bei. Diesmal handelt es sich um eine Arbeit von Brigitte Kowanz, die uns dazu folgenden Text geschickt hat: „In cut a long story short schneidet verstärktes Licht Morsecodes aus kurzen und langen Wellen in den Karton, der Text wird transformiert, sodass Titel und Bild identisch werden. Aus elementaren Formen entsteht reduzierte Komplexität, kurz gefasst.“


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Auf Ohrenhöhe

Das Alte im Neuen, das Neue im Alten, oder: Wie gegenwärtig ist die Musik zur Zeit? Matthias Osterwold, ab 2013 künstlerischer Leiter des Schwazer Festivals „Klangspuren“, über die Pfade zu den kostbaren Früchten der zeitgenössischen Musik.

Eigentlich ist Erfreuliches zu beobachten: Es steht gar nicht so schlecht um die immer wieder so genannte, nun schon über 100 Jahre alte „neue“ Musik zur Zeit. Scheinbar. Die von Konrad Boehmer angeführte hohe Zahl von etwa 100.000 E-Komponisten allein in Europa (in: Neue Zeitschrift für Musik, Heft 4/2012, S. 42) mag mit polemischen Hintergedanken reichlich übertrieben sein, dennoch ist die pure Zahl an jungen Komponisten und Komponistinnen (viele von ihnen übrigens aus dem ostasiatischen Raum) beeindruckend, vielleicht sogar beängstigend hoch. Aufs Ganze gesehen hat die Menge an Veranstaltungen und Veranstaltern neuer Musik unverkennbar und deutlich zugenommen, ebenso im Grad ihrer Vernetzung. Wenngleich von Ort zu Ort, von Land zu Land stark abweichend, finden die Veranstalter ein waches, aufgeschlossenes Publikum in wachsender Zahl. Sicherlich ist neue Musik, von einigen wenigen Ausnahmen abgesehen, nach wie vor weit davon entfernt, wirklich populär zu sein. Das braucht sie auch nicht. Sie sollte nur im Spektrum der Gegenwartskünste ihren geachteten, selbstverständlichen Platz einnehmen. Zum Stand: Ganz offensichtlich folgt neue Musik heutzutage keinem fassbaren, auch nur annähernd einheitlichen Leitbild mehr. Eine nicht-kontroverse Definition musikalischer Moderne und einer Ästhetik der Avantgarde hat sich längst aufgelöst, wenn sie denn je existierte. An die Stelle eines Kanons an Kriterien und Kategorien ist ein breiter, tiefgreifender Pluralismus individueller künstlerischer Sprachen und Positionen getreten, eine kaum übersehbare Vielfalt an unterschiedlichen Szenen, Strömungen und Netzwerken. Um hier das viel zitierte Aperçu eines derzeit omnipräsenten deutschen TV-Philosophen zu paraphrasieren: „Neue Musik“, was ist das, und wenn ja, wie viele? Erinnern wir uns: In der Nachkriegszeit formierte sich die so genannte Darmstädter Schule des Serialismus und

Post-Serialismus um die Kranichsteiner Ferienkurse als Kreis der „Gralshüter“ der ästhetischen Avantgarde in der Musik. Unter intellektueller Führung von Theodor W. Adorno bemühte man sich um einen kohärenten theoretischen Diskurs und reklamierte eine politischkritische Funktion der Neuen Musik mit großem „N“. Die strukturelle Komplexität in der Organisation des musikalischen Materials, eine rationale, nicht-affirmative, radikal der Innovation verpflichtete Ästhetik der Verweigerung (musica ex negativo) sichere, so die Behauptung, die gesellschaftliche Relevanz und das kritische Potenzial des Komponierens. Aber der so angeleitete theoretische Diskurs und die ihm folgende musikalische Praxis erwies sich zunehmend als hermetisch und ideologisch autoritär. Der Preis für diese Art von Gegenwartsbezug per definitionem war hoch. Denn diese Musik für Eingeweihte in splendid isolation führte zu einer elitistischen Abschottung gegenüber dem Publikum. Gesellschaftskritisches Selbstverständnis bei gleichzeitiger Abkapselung machte den paradoxen Zustand aus, der für lange Zeit verhinderte, dass Neue Musik ins Bewusstsein einer breiteren Öffentlichkeit gelangen und dort Akzeptanz und Zustimmung, mithin also gesellschaftliche Präsenz und Relevanz entfalten konnte. Moderne Bildende und Darstellende Künste wurden weithin beachtet, während Neue Musik ein Nischendasein führte, obwohl die öffentlichen Rundfunkanstalten und auch die Feuilletons ihr durchaus breiten Raum gaben. Vor dem Hintergrund des sich in den späten 1960er Jahren abzeichnenden Endes der westlichen Nachkriegsordnung, mit der Verwicklung und späteren Niederlage der USA in Vietnam und dem Auflodern der radikalen Studentenbewegungen, zerfiel das von der Darmstädter Schule geprägte Leitbild musikalischer Ästhetik, das innermusikalisch bereits Ende der 1950er Jahre durch die Auftritte von John Cage und den „New Yorkern“ in Donaueschingen und


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Darmstadt, und dann durch Fluxus und Minimal Music in den 1960er Jahren schockartig in Frage gestellt worden war. Nach einer kurzen Periode ideologisch aufgeladener Debatten während der 1970er Jahre über eine direkte Indienstnahme der Musik für linke politische Ziele mündete die Entwicklung in eine Phase, die in den 1980er und 1990er Jahren als „Postmoderne“ tituliert wurde und die noch heute als „Post-Postmoderne“, als „x-te Postmoderne“ oder wie immer wir sie nennen wollen, anhält. Gemeint ist eine überaus bunte, diverse und verwirrende Szenerie, die sich in der Musik der Gegenwart und in den anderen Künsten herausgebildet hat und sicher nicht mehr einzufangen sein wird. Dennoch verharren weiterhin einige Apologeten in ihrem Elfenbeinturm wahrer Neuer Musik, dessen kritisches Fundament, unbemerkt von seinen Bewohnern, längst zerbröselt ist. Nach dem Zerfall eines in sich schlüssigen und kohärenten Diskurses stellt sich die Frage nach Gegenwartsbezug und Diskurszusammenhang der seitdem entstandenen zeitgenössischen Musik neu, und sie stellt sich wesentlich vielschichtiger. Überspitzt gefragt: Gibt es seit den 1970er Jahren überhaupt noch Neue Musik? Und was wäre an ihre Stelle getreten? Zumindest können wir die Großschreibung des Neuen in der neuen Musik getrost fallen lassen und das „neu“ in Kleinschreibung zunächst einmal nüchtern reklamieren für das, was jeweils chronologisch an neuer Musikproduktion entsteht, nicht ohne allerdings nachzuhaken, was außer der faktischen Neuigkeit sich künstlerisch an diesen Werken an Neuem festmachen ließe. Wenn etwas groß zu schreiben wäre, dann charakterisiert die von Jürgen Habermans diagnostizierte Neue Unübersichtlichkeit auch die Musik sehr treffend. Wer sich der Mühe unterzieht, die künstlerisch ambitionierte Musik der letzten Jahre ordnen und systematisieren zu wollen, wird sich leicht verirren. An die Stelle einer wie immer noch einem linearen Fortschrittsbegriff verhafteten Beschreibung von Entwicklung tritt das Bild eines Patchworks nicht nur unterschiedlichster individueller Ästhetiken, sondern eines Knäuels von ungleichzeitigen, unverbundenen und in hohem Grade unverbindlichen Strömungen. Wir haben es mittlerweile mit dem Nebeneinander unterschiedlicher Musik-

begriffe zu tun. Gattungs- und Genregrenzen lösen sich auf, während sie sich gleichzeitig reproduzieren. Neue interdisziplinäre und intermediale Formen breiten sich aus, Übergänge zu anderen künstlerischen Gattungen wie Bildende Kunst, Tanz, Literatur und Medienkunst werden fließend, während parallel dazu in Gegenrichtung eine deutlich konservative Rückbesinnung auf konventionelle Formate der Konzertsaalmusik – Orchester- wie Kammermusik – oder konventioneller Typen des Musiktheaters bzw. der Oper zu verzeichnen ist. Konstruktion und Dekonstruktion, Konvention und Verweigerung prallen munter aufeinander. Baudelaire forderte den unbedingt modernen, auf der Höhe der Zeit agierenden Künstler, der Werke schafft, die zu keinem früheren Zeitpunkt hätten entstehen können. Sollen wir an dem normativen Postulat der Moderne festhalten, dass es die Aufgabe der Künstler sei, als Zeitgenossen und Zeitzeugen Gegenstände, Verhältnisse und Zustände ihrer Gegenwart Differenz bildend zum Vorschein zu bringen und zu spiegeln, allerdings ohne dabei in irgendeiner Weise rein beschreibend oder illustrativ vorzugehen? Für mich liegt hier der Kern künstlerischer Relevanz verborgen, die zugleich eine politische ist. Für die zeitgenössische Musik von heute hieße dies, dass wegen des Fehlens eines zusammenhängenden Diskurses diese Forderung differenzierend an jedes einzelne musikalische Kunstwerk, an jede individuelle künstlerische Position heranzutragen und anhand der Prämissen und künstlerischen Setzungen, auf denen jedes Werk immanent fußt, zu überprüfen wäre. Aus dem Inneren der Werke heraus wäre zu untersuchen, welches Spannungsverhältnis das jeweilige Stück zu seiner Zeit aufbaut, wie es sie in Erscheinung treten lässt oder sich von ihr absetzt. Äußere Kriterienkataloge an den Werken abzuarbeiten, reicht für die Analyse und kritische Einschätzung nicht aus. Es genügt für sich genommen nicht, das Vorhandensein bestimmter äußerer Merkmale zu konstatieren, die Gegenwärtigkeit bzw. Modernität signalisieren, etwa den Einsatz neuartiger digitaler Technologien bei der Erzeugung, Bearbeitung und Organisation von Klängen oder etwa Zitate oder Anverwandlungen zeitgemäßer musikalischer Idiome aus der Massen- und Popkultur und dergleichen. Wohl stellen diese Formen von Musik


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einen expliziten Gegenwartsbezug her, indem sie gewissermaßen „Gegenwart“ unmittelbar zum Klingen bringen. Aber sie sind auch erhöhter Gefahr schnellen Alterns ausgesetzt. Andere Formen von Musik verweigern bewusst diesen unmittelbaren Gegenwartsbezug. Sie sind „nur“ pure Musik. Wie lässt sich die Forderung nach Gegenwartsbezug in der zeitgenössischen Musik überhaupt sinnvoll aufrechterhalten, wenn doch die Abstraktion absoluter Musik, ihre Selbstreferenzialität und das Fehlen von Abbild- und Verweischarakter in der Musik nach wie vor eines ihrer tiefsten Wesensmerkmale ist? Vielleicht wird in einer Musik, die radikal ihre Eigenzeit organisiert (wie bei Morton Feldman, oder auch bei den Musiken des Auslassens von Antoine Beuger, bei denen überaus selten überhaupt noch Klänge zu hören sind, so dass Wahrnehmung sich schärft und mit Ungeduld auf einzelne separate Ereignisse fokussiert, oder bei Klaus Lang in der alogischen Ereignislosigkeit langer Klangbänder), ein so hohes Maß an Präsenz erreicht, dass – in der Negation – Gegenwart, auch gesellschaftliche Gegenwart, besonders deutlich zum Vorschein kommt. Beharrend auf dem Konzept des Erhabenen, den Riss im Verhältnis zum Kontinuum äußerer Zeit pointierend, könnte das am gesellschaftlichen Zeitfluss gemessen unzeitgemäße Stück besondere Brisanz entfalten. Mir scheint, dass sich diesseits aller ideologischen Debatten über musikalische Ästhetik mittlerweile eine gewisse Gelassenheit des Hörens eingestellt hat, das sich auf das sinnliche Moment in der Wahrnehmung konzentriert und gegenüber der intellektuellen Beanspruchung durch die Autoren erstaunlich unaufgeregt bleibt. Ob damit ein Verlust oder ein Gewinn an Gegenwart des musikalischen Kunstwerks einhergeht, bliebe zu fragen. Büßt beispielsweise die Musik von Helmut Lachenmann gesellschaftliche Schärfe ein, nur weil wir heute mehr geneigt sind, die Schönheit ihrer vielfältigen klanglichen Nuancen hörend, ja genießend anzunehmen und weniger auf die philosophisch-kritischen Implikationen ihrer Verweigerungsästhetik zu achten? Die Lage ist herrlich unübersichtlich. Aus meiner Sicht kommt es für den musikalischen Vermittler darauf an,

in dem wuchernden, fruchtbaren Dickicht ungleichzeitiger, unverbindlicher, disparater und inkommensurabler Positionen die Spuren sorgfältig zu lesen und Pfade zu bahnen, die zu den kostbaren, frischen und seltenen Früchten der Kunst führen; Raum zu schaffen für Experimente des Denkens und der Rezeption, für Geheimnisse und das Risiko künstlerischen Scheiterns, für die Magie des Hier und Jetzt der Aufführung, für die Gegenwart der Performance. Die Zeitgenossenschaft des „Musikkurators“ besteht darin, neben dem musikalischen auch das künstlerische, kulturelle und gesellschaftliche Geschehen insgesamt aktiv zu verfolgen und vor diesem Hintergrund Felder der Befragung abzustecken, wo unvoreingenommen, lustvoll und nicht-hierarchisch, gewissermaßen auf „Ohrenhöhe“ die Begegnungen, Dialoge und Kontroversen der musikalischen Imagination stattfinden können, wo durch Ort und Format der Veranstaltung, durch überraschende Programmauswahl und das Auslegen thematischer Fäden eine Rekontextualisierung der Werke und ihrer Rezeption möglich wird. Die Frage nach dem Gegenwartsbezug und nach der Aktualität musikalischen Schaffens aufzuwerfen heißt, ihre dialektische Verneinung zugleich mitzureflektieren. Dass sich das Aktuelle oft als das am schnellsten Vergängliche erweist, das ewig Neue oft als Strategie der Illusionierung, gehört ureigen dazu. Dennoch muss das Aktuelle zum Vorschein kommen, um erkannt und vergänglich zu werden. Umgekehrt kann höchste Aktualität gewinnen das schon Existente, der Bestand an Traditionen, der als lebendige Gegenwart aus neuen Blick- und Hörachsen erfahrbar wird und durch Künstler neu anverwandelt werden kann. Das Aktuelle ist immer auch das noch Unbekannte und das noch nicht Dagewesene, das Fremde, das noch zu Entdeckende, die experimentelle künstlerische Praxis, die Erweiterung und Überschreitung überkommener oder selbstgesteckter kultureller Horizonte in interkultureller Perspektive, vertikal durch die Schichtung der ungleichen Gesellschaft gelegt, horizontal in der Begegnung geographisch beschreibbarer kultureller Sphären, als Chance auf Zukunft. Als Kunst organisierter Zeit bewahrt Musik ihre Gegenwart in sich selbst als Rätsel.


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Selbstporträt als wilder Gebirgsbach

Anmerkungen zu den Besuchen von Joachim Ringelnatz in Tirol. Von Arne Rautenberg

Ausflug nach Tirol Kann man das Jodeln wohl In meinem Alter lernen? Nie war, wie in Tirol, Ich derart nah den Sternen. Ich sah vom Stripsenjoch Drüben an steiler Wand Leute aufs Totenkirchl kraxeln, Wahrscheinlich Sächseln Aus Hosenträgerland. Aber kühn und schön war es doch. Was ich um Hochwürden dann Später in Sankt Johann Sang, lebte und sprach in der „Post“, Schmeckte wie Herz am Rost Nach ausgegangener Hochtouristenkost. Alm und Kuhstall, fette Weiden, Bärenwirt und Sennerin – Wo ich durchgegangen bin, Schien mir alles zum Beneiden. Nur die Wandervögel, die Einem jede Poesie Und den Appetit verleiden, Mocht ich meiden. Alle Tiroler sind Keine Amerikaner. Wäre ich eine Mutter mit Kind, Ich nährte mein Kind mit Terlaner. Im Kursalon in Kitzbühel Da ist des Nachts der Sekt so kühel. Ich muss die Gäste loben, Die zur Musik dort oben So vornehm tanzen und schweigen, Um ja nicht mehr zu zeigen Als ihre hochmodernen Garderoben.

Ich möchte ein wilder Gebirgsbach sein, Klar, schäumend, rauschend und blinkend, Unhaltsam kämpfend von Stein zu Stein Mich an mir selber betrinkend. Dass ich mein Kragenknöpfchen verlor, Kommt schließlich auch einmal anderwärts vor. Du, mein einziges Tirol, Lebe wohl! Lebe wohl! Im Frühjahr 1911 hat der Dichter Ringelnatz das Münchner Bohème-Leben satt. Als Hausdichter der legendären Schwabinger Künstlerkneipe Simplicissimus fühlt er sich zunehmend ausgelaugt und ausgebeutet. Daran kann auch die Chefin des Hauses, die nicht minder legendäre Persönlichkeit Kathi Kobus, etwas ändern. Ringelnatz sehnt sich nach Freiheit. Außerdem ist ihm im Laufe vieler Gespräche mit den dort verkehrenden Intellektuellen noch etwas aufgestoßen: seine schlechte Bildung nämlich. Ringelnatz war ein miserabler Schüler gewesen, der nur mit Hängen und Würgen überhaupt sein Examen an der Toller’schen Privat-Realschule in Leipzig bestanden hat. Nun plötzlich empfindet er seine geringe Schulbildung als Niederlage, die ihm zum Nachteil gereicht. Was nützt die schönste Reime-Kunst, wenn sie sich nicht auf Augenhöhe mit einem sich gleichwertig darin manifestierenden Geist befindet? Man bedenke, mit welchen Intellektuellen Ringelnatz gerade im Simpl verkehrt: Da sitzen Erich Mühsam, Max Dauthendey, Franz Blei, Albert Weisgerber, Oskar Maria Graf und Ludwig Scharf, diskutieren, deklamieren und trinken vor allem. Der Dichter gelangt also zur Einsicht, dass eine gewisse Gelehrtheit doch gar nicht so schlecht sei, und beschließt, bildungsmäßig eine Schippe draufzupacken. Als kontaktfreudiger Mann der Tat pflegt er nur zu gern neuen Plänen nachzugehen: Er schmeißt seinen Hausdichterjob im Simpl, tut sich mit Baron Thilo von Seebach zusammen, beginnt bei ihm Privatunterricht in Latein, Geschichte, Literaturgeschichte


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und anderen Fächern zu nehmen und vereinbart mit dem Baron eine Reise; Ringelnatz hat wegen diverser Gefälligkeiten einen gut beim Baron – worauf dieser, in Erwartung einer baldigen Geldquelle, Ringelnatz großzügig zu einer Tour nach Riga eingeladen hat. In Kufstein wollen die beiden sich treffen, um ihre Fahrt anzutreten. Ringelnatz fährt schon mal vor. Die Abreise verzögert sich jedoch und so vertrödelt Ringelnatz im Mai 1911 mehr oder weniger einige Zeit in Kufstein, wo er im Hotel Drei Könige logiert, sowie im Zillertal und in Längenfeld. Schlecht dürfte ihm der Trip nach Kufstein nicht gefallen haben; denn auch nach der Kriegszäsur, nachweislich 1918, 1925 und 1926, ist Ringelnatz abermals Gast in der Kufsteiner Weinstube Schicketanz (Batzenhäusl), die er 1911 kennengelernt hat. Gästebucheintragungen samt einer Selbstkarrikatur zeugen davon. In seinem Buch „Mein Leben bis zum Kriege“ berichtet Ringelnatz in seiner üblichen unterhaltsamen Art über den recht sonderbaren Erstkontakt mit Tirol. Dichten macht arm, das ist leider nicht erst seit heute so; und Ringelnatz, der vor über hundert Jahren alles auf die Dichter-Karte setzt, lebt wie ein Tagelöhner: immer knapp bei Kasse und hart an der Kante zur Armut. So auch 1911 in Tirol. Da sitzt der Dichter nun in Kufstein und wartet auf seinen Privatlehrer, der ihn in zwei, drei Tagen dort abholen und für die nächste Zeit aushalten soll. „Ich hatte noch für sechs Tage zu leben. … Ich bezog das beste Hotel und lebte gar nicht sparsam, weil mir Seebach gesagt hatte, ich solle nur anschreiben lassen. Er würde mich auslösen.“ Doch Seebach kommt nicht. Das Geld wird knapp. „Kufstein wurde mir zu teuer. Ich gab mein Hotelzimmer auf. Als ich die Rechnung bezahlen wollte, fehlten mir noch sechs Kronen. Verlegen schützte ich einen Spaziergang vor, wanderte vor die Stadt und ließ mich in einem Garten nieder. … Als ich bedruckst nach dem Hotel zurückging, las ich in einem Trafik (Originalschreibweise, Anm.), dass ich für wenig Heller im Lotto dreißig Kronen gewonnen hatte. Im Hotel erwartete mich eine zweite Überraschung. Ein Honorar, das ich allerdings erwartete, war telegraphisch eingetroffen.“ Irgendwie scheint Ringelnatz wie ein großes

Kind, dem das Schicksal letztlich doch immer etwas Glück in die Schuhe zu schieben versteht (jedenfalls in diesen Jahren). Eigentlich will Ringelnatz die freie Zeit ja zum Dichten nutzen, aber wegen der schönen Landschaft und dem Gefühl, wartend in der Luft zu hängen, stellt sich nicht die rechte Muße ein. Also geht er spazieren und nimmt an Impressionen mit, was sich ihm bietet. Während eines einsamen nächtlichen Waldspaziergangs an den Hängen des Wilden Kaisers erfasst ihn ein gewaltiges Gewitter. Klatschnass, bibbernd, orientierungs- und hoffnungslos tut sich vor ihm schließlich doch noch irgendwo eine Hütte auf. Ringelnatz geht auf die Hütte zu, hofft, öffnet die Tür und sieht in einen hellen Raum hinein: fröhlich sitzen singende Touristen drinnen und als alle plötzlich den tropfnassen Wanderer ansehen, ruft jemand laut: „Der Hausdichter von der Kathi!“ Eine Anekdote, in welcher Ringelnatz sich einerseits selbst zu einer Marke im wahrsten Sinne des Wortes stilisiert – andererseits war der Hausdichter des Simpl in der Tat mit seinem markanten physiognomischen Erscheinungsbild, seiner frechen Rollenfigur Kuddel Daddeldu und seinen veröffentlichten (Ulk-)Gedichten bekannt wie der sprichwörtliche bunte Hund. Gut. Ringelnatz erfuhr also weinselige Rettung und Aufnahme als Tourist unter Touristen. Am anderen Tag ging es dann weiter – auf zum Stripsenjoch! Da Ringelnatz rasch unter mangelnder Gesellschaft litt, erkor er sich in Kufstein einen einfachen Hilfsarbeiter namens Alex zum Freund. Mit ihm unternahm er einige Ausflüge. Als die beiden durch den dunklen Wald streifen und auf Mord und Totschlag zu sprechen kommen, offenbart sich ihm Alex; in breitem Dialekt spricht er die denkwürdigen Worte: „Das eine kannst mir glauben, dass ich dich nie von hinterwärts erstechen werde.“ Ringelnatz wird zudem Stammgast in der Weinkneipe Schicketanz, lernt Bekannte wie etwa Herrn Busch kennen, einen Fabrikanten für künstliche Blumen, und hört sich allerlei Geschichten an. Allerdings hat Ringelnatz in den Schilderungen seiner Tiroler Erlebnisse auch Bösartigkeiten parat. „So reiste ich mit fünfzig Mark nach Straß im Zillertal, wo ich


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unter unfreundlichen Menschen acht verregnete Tage verbrachte. Zwar fing ich eine kleine Liebelei mit der Postexpedientin an und sah ferner zu, wie man mit österreichischen Militärhengsten ländliche Stuten belegte. Aber das bäurische Postmädchen war blöde, und das Belegen dauerte auch nicht ewig. Ich war froh, als mich Seele (eine Freundin von Ringelnatz – A. R.) nach ihrer Sommerfrische ins Ötztal einlud. In Lengenfeld wohnte sie. Eine schöne Gegend. Aber dumm! Infolge Inzucht gab es unter den Einwohnern viele Idioten. Ich konnte mich stundenlang mit den idiotischen Kindern unterhalten.“ Was Ringelnatz auch immer zu berichten hat; sein Leben erscheint wie von einer grotesken Glasur überzogen. Und ganz ohne Amüsement geht nichts ab; die Schilderung einer zart sich anbahnenden Liebelei in ein und demselben Satz mit der Betrachtung von Deckhengsten bei der „Arbeit“. Und immer wieder geht die Abenteuerlust mit Ringelnatz während seines Tirolaufenthalts mit ihm durch, etwa bei seiner Freundin Seele: „Als ich auf einem Spaziergang ganz unnötigerweise, nur um kühn zu sein, in einer schmalen und kurzen, aber ganz steilen Felsspalte hochkletterte, von Busch zu Busch, musste ich – da ich nicht mehr umkehren konnte – durch den Kadaver einer abgestürzten Kuh kriechen. Das war entsetzlich.“ Ringelnatz, der Magnet für bizarre Situationen. Die gern und nicht ohne Wärme von ihm selbst geschildert werden. Bei aller Schnurrenhaftigkeit, die aus diesen Schilderungen spricht, darf man natürlich nicht vergessen, dass es sich bei „Mein Leben bis zum Kriege“ um ein Stück Literatur handelt. Wenn auch die Fakten belegbar sind und stimmen mögen, hinter lesenswerten Geschichten steht immer auch jemand, der das Erlebte in seiner Possenhaftigkeit zu erfassen und entsprechend im Sinne einer Geschichte niederzuschreiben in der Lage ist. Und im Übrigen wartet Ringelnatz noch immer auf das Eintreffen oder wenigstens eine Nachricht des werten Herrn Baron Thilo von Seebach. Doch Seebach kommt und kommt nicht. Und er wird auch nicht mehr kommen. Ringelnatz entschließt sich, zurück nach München zu

fahren. Dort spürt er Seebach endlich auf, der gut angeheitert kundtut, die Geldangelegenheiten hätten ihn aufgehalten. Doch der Knoten löst sich und die beiden fahren über Berlin und Danzig endlich nach Riga. Ringelnatz hat gleich zwei Gedichte über seine Tirolaufenthalte hinterlassen; „Ausflug nach Tirol“ erschien erst in der Zeitschrift Simplicissimus und 1928 dann in der Sammlung „Reisebriefe eines Artisten“. „Drei Tage Tirol“ hingegen ein Jahr später im Band „Flugzeuggedanken“. Da Ringelnatz vor allem ein Bekenntnis- und Gelegenheitsdichter ist, haben viele seiner Gedichte Brief- und Grußcharakter, andere sind poetische Widmungen und Dankesbekundungen und wieder andere erscheinen wie eine Art emanzipiertes Tagebuch. Bildungsmangel hin oder her, nicht die hehren, großen Worte und Gedanken stehen im Zentrum der Ringelnatz’schen Poetik, sondern vielmehr eine nahe Bindung ans alltägliche Leben und Erleben. Was sich gut an den beiden Tirolgedichten ablesen lässt. Das Schema funktioniert wie folgt: Wo war ich? Stripsenjoch, Totenkirchl, Sankt Johann, Lokal „Zur Post“, Alm und Kuhstall, Kurhotel in Kitzbühl. Was fiel mir dort auf? Gejodel, Bergsteiger, Seilbahn, die Kurgäste, der Terlaner-Wein, ein reißender Gebirgsbach – überhaupt, die Schönheit der Bergwelt, die einen näher an die Sterne heranbringt und die den (mühsamen) Alltag daheim vergessen macht. Weiter: Was habe ich gemacht bzw. was ist mir widerfahren? Wilde, einsame Wanderungen, bin gewöhnlichen Menschen begegnet, in einem Gewitter entsetzlich nass geworden und habe meinen Kragenknopf verloren. Wie war ich drauf? Natürlich neugierig („Kann man das Jodeln wohl / In meinem Alter lernen?“ – diese Frage steht gleich zu Gedichtbeginn), die vielen Touristen gingen ihm allerdings gehörig auf die Nerven (die zitierten Wandervögel waren eine damals schon etwas in die Jahre gekommene, doch enorm erfolgreiche Bewegung, welche zur Erbauung Stadtflucht betrieb und sich romantisch-naturverbunden gab) – und dann ist da noch der Kurbetrieb: eine schweigsam-elegante, tanzende Welt, zu der sich Ringelnatz, man merkt es sofort, nicht zugehörig fühlt – ja, und das Bindemittel


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zwischen all den Tirol-Impressionen ist dann eben eine besondere, artifizielle Sprache; Ringelnatz ließ es drauf ankommen, denn er wusste, dass ihm die Reime nur so zufliegen – also reimte er los, ließ es laufen, nach dem Motto: Ok, diesen Vers hab ich, nächster, war da noch was? Sprachliche Abenteuerlichkeiten unterstreichen dabei die geschilderten Abenteuerlichkeiten. Etwa wenn man in „Ausflug nach Tirol“ das Reimschema betrachtet: In der ersten Strophe gibt es mit dem Reimschema ABAB einen Kreuzreim, in der zweiten Strophe wird mit ABCCBA ein Paarreim doppelt umfasst, in der dritten Strophe gibt es mit AABBB einen Paarreim mit einer zusätzlichen Reimzeile, in der vierten Strophe wird der Kreuzreim gleich an einen umfassender Reim angehangen und so fort - - - Ringelnatz hat anstatt auf reimschematische Beständigkeit samt der damit verbundenen sacht dahinfließenden Kontinuität eines begradigten Flusslaufs eher auf den später im Gedicht auftauchenden Wildbach gesetzt. Die wilden Versmaße sind ein typischer Ringelnatz-Trick, um der Poesiesprache eine atmende Lebendigkeit einzuverleiben. Erwähnenswert ist ein weiteres Signum Ringelnatz’schen Reimens, etwa wenn sich die guten alten deutschen Worte schlichtweg seinem Reim beugen müssen – in diesem Fall lautmalerisch, denn damit der doppelt umfasste (und damit explizit herausgehobene) Paarreim „Leute aufs Totenkirchl kraxeln, / Wahrscheinlich Sächseln“ überhaupt als Reim funktioniert, muss das Wort „kraxeln“ englisch ausgesprochen werden, als „kräckseln“ (oder am besten gleich amerikanisch als „crackseln“) – eine weitere Methode, der Gedichtsprache Dynamik einzuhauchen und en passant etwas touristische Weltläufigkeit einströmen zu lassen. Die vorletzte Strophe lohnt einer gesonderten Betrachtung: „Ich möchte ein wilder Gebirgsbach sein, / Klar, schäumend, rauschend und blinkend, / Unhaltsam kämpfend von Stein zu Stein / Mich an mir selber betrinkend.“ In den vier Zeilen verbirgt sich ein treffendes Selbstporträt von Ringelnatz: draufgängerisch-wild und doch klar (im Kopf), voll von einem überschäumenden Lebensgefühl, in der Öffentlichkeit blinkend und funkelnd, dem alltäglichen Sisyphuskampf ums

Überleben (kämpfend von Stein zu Stein) als Dichter stets aufs Neue ausgeliefert. In solchen Momenten kippt das Naiv-Unverschlüsselte des Gedichts plötzlich in den Tiefsinn. Zeitlebens wollte Ringelnatz gern auch anders sein, als er sich gab. Aber er konnte nicht. Immer wieder schien er rettungslos auf sich selbst zurückgeworfen; auf seinen impulsiven Lebenstakt, den er literarisch zu formen vermochte (eine Stärke) - - - dagegen stehen die alltäglichen Zweifel und Krisen: kaum finanzielle Planungssicherheiten, die geliebte Ehefrau Muschelkalk saß derweil sparsamst daheim. Und in den Augen manch höherer Gesellschaftskreise, die seine Vorstellungen (etwa im angesehenen Berliner Kabarett Schall und Rauch) besuchten, mochte Ringelnatz eh als eine Art Narr, eben als ein verschrobener UnterhaltungsHallodri gelten, auch das wird er gespürt haben. Doch Kraft seiner Gabe, sein Schicksal literarisch transformieren zu können, konnten sich die in den Weg gelegten Brocken immer auch als überwindbar darstellen – die Schlusszeile der Strophe „Mich an mir selber betrinkend“ verweist darauf, dass Ringelnatz es selbst auch so empfunden haben könnte, dass er aus seinen Niederlagen Siege zu machen verstand; in Form von Literatur, in Form von überlebensfähigen Gedichten. Das Gefühl, beim Schreiben etwas hinzubekommen, ein Stück seines Lebensweges, seiner Erkenntnis in Kunst gewandelt zu haben, hat auch etwas Berauschendes. In der Schlussstrophe setzt Ringelnatz, als wäre er beim Schreiben von seinem treffenden Selbstporträt als Gebirgsbach selbst überrascht worden, noch eine ironisch-charmante Abfederung ein: Die beiden Zeilen des Abschiedsbildes im Gedicht „Dass ich mein Kragenknöpfchen verlor, / Kommt schließlich auch einmal anderwärts vor“ sind dabei auf eine anrührende Art persönlich und banal zugleich; so als wolle der Dichter sich nun im Gedicht ganz klein machen und im Subtext mitteilen: Was auch immer geschieht, am Ende bleibt doch alles immer nur persönlich und das ist der menschliche Funke. In „Drei Tage Tirol“ verhält es sich ähnlich. In der ersten Strophe kleidet Ringelnatz seine Tiroler Emp-


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findungen in die leicht hohl klingenden Großworte „Freiheit“, „Gesellschaft“, „Landschaft“ und „Illusion“ ein – und koppelt sie mit kulinarischen Genüssen: „Ich habe viel Freiheit gefressen / Und viel Gesellschaft gespeist. / Landschaften hab ich gesoffen / Und Illusionen geraucht“ – Leben zum Verbrauch. Dann kriegen die Tiroler Bekanntschaften eins zwischen die Hörner: „Die Menschen, die ich getroffen, / Standen meist so zu den Sternen, / Daß man, um sie kennenzulernen, / Nicht erst zu verreisen braucht.“ Diagnose: gewöhnliche Menschen, nichts Besonderes. Weiter: Die technische Errungenschaft „Drahtseilbahn“ wird in den Zeilen „Das nennt man Drahtseilbahn: Es hing / Ein Zündholzschächtelchen an Zwirn“ à la Kragenknöpfchen auf etwas Klein-Banales runtergebrochen. Unten bleiben. Auf dem Boden. Auf dem Teppich. Ringelnatz’ Tiroler Gewittererfahrung, Erinnerungen an gedankenverlorene Wanderungen schließen sich an, um im durchaus ambivalenten Schlussvers „An allen Stellen angefeuchtet / Kam ich nach Hause aus Tirol“ zu münden. Natürlich ist das nach seinen Gewittererfahrungen ganz wörtlich gemeint, doch schwingt auch eine andere Stimmung im Wort „angefeuchtet“ mit: die der Rührseligkeit – es bleibt offen, ob und wie ironisch das verstanden werden soll. Für das Reise- und Reimemonster Ringelnatz konnte eben überall Wunderland sein: Hier ist es Tirol. Die beiden Tirolgedichte erscheinen in den Jahren 1928 und 1929, in einem Jahrzehnt, in dem es für Ringelnatz eigentlich ganz gut läuft; regelmäßige Buchungen, für die angesagtesten Kabaretts zu arbeiten, Rundfunkaufnahmen, erhöhte (Flug-)Reisetätigkeiten wegen zunehmender Engagements, ein Filmprojekt wird angedacht (zerschlägt sich aber), schöne Bekanntschaften (etwa Cocteau in Paris) bringen ihn auf frische Gedanken, erfolgreiche Ausstellungen als Maler folgen. – Ringelnatz der Hansdampf, der Haudrauf, der Hasardeur … 1929 zieht er endlich ganz von München weg und nach Berlin, verkehrt dort u.a. mit Kurt Tucholsky, den Malern Otto Dix und Karl Hofer – 1930 schreibt Ringelnatz in einem Brief: „Der Hitler-Rummel lässt mich kalt.“ 1933 verbieten die Nazis Ringelnatz das Auftreten, in Dresden wird der Dichter von der Bühne geholt. Sei-

ne Bücher werden verbrannt. Da Auftritte Ringelnatz’ Haupteinnahmequelle sind, verarmen er und seine Muschelkalk rapide; es folgen letzte Auftritte in der Schweiz und eine mühsam mit Hilfe von Freunden (vor allem Asta Nielsen) gestemmte 50. Geburtstagsfeier. 1934 stirbt Ringelnatz in Berlin. Sein Künstlerfreund Renée Sintenis gestaltet die Grabplatte: aus Muschelkalk. Neun Personen begleiten den Sarg, man spielt sein Lieblingslied La Paloma. Ringelnatz’ Tirolbesuche fallen in seine glücklichen Lebensphasen. So wird der Dichter das auch für sich selbst verortet haben dürfen. Drei Tage Tirol Ich bin nach Tirol gereist Und hab das Zuhause vergessen. Ich habe viel Freiheit gefressen Und viel Gesellschaft gespeist. Landschaften hab ich gesoffen Und Illusionen geraucht. Die Menschen, die ich getroffen, Standen meist so zu den Sternen, Daß man, um sie kennenzulernen, Nicht erst zu verreisen braucht. Das nennt man Drahtseilbahn: Es hing Ein Zündholzschächtelchen an Zwirn. Und ein Gewitter kam. – Das ging Mir superior durch Herz und Hirn. Wie tut ein wildes Wandern wohl, Wenn man sein Einsamgehn durchleuchtet! An allen Stellen angefeuchtet Kam ich nach Hause aus Tirol.


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Karwendeln, im Juli Landvermessung No. 4, Sequenz 1 Scharnitz, Pleisenspitze, Arnspitze

Geschichten kann man auch durch geometrische Operationen auf der Landkarte generieren: In Quart folgen unterschiedliche Autoren mit unterschiedlicher Kondition unterschiedlichen Linien (s. Übersichtskarte auf der vorhergehenden Doppelseite). Wir befinden uns nun auf der Geraden, die von Garmisch-Partenkirchen ins Trentino führt. Lydia Mischkulnig begegnet auf ihrer Wanderung Holländern, kann sogar ihr Mobiltelefon benutzen und kommt mit einer kaputten Schuhsohle bis auf den Gipfel.

Scharnitz. Letztes Eck von Tirol. Das Gasthaus „Goldener Adler“ liegt an der Kurve neben der Kirche, praktisch auf einer Verkehrsinsel zwischen Isar und Straße, die nach Garmisch-Partenkirchen und in die Täler des Karwendels führt. Vom Balkon fällt der Blick direkt auf die Geleise der Karwendelbahn, die zwischen Innsbruck und München verkehrt. Das alte Niemandsland, das einst die europäischen Mitgliedsstaaten voneinander abgrenzte, liegt im Sattel gleich hinter Scharnitz, bildet den Einschnitt in den Bergstrang zu Deutschland. Der Durchzugsverkehr ist am Freitag und Samstag besonders stark. In aller Früh rauschen die Gäste aus ihren Quartieren ab, und am Nachmittag strömen sie aus den Niederlanden und Deutschland heran. Scharnitz hat 300 Gästebetten und geschätzte 1.300 Einwohner. Die Häuser sind renoviert, die Neubauten gepflegt. An der engsten Stelle drängen sich die Gebäude zu einem Kern, den die Straße jäh durchschneidet. Der „Goldene Adler“ an der Schnittstelle des Dorfes vermietet Zimmer mit Schallschutzfenstern. Der Internetauftritt des Gasthauses verleitet zur Phantasie, von Abgeschiedenheit und Stille umgeben zu sein, in idyllischer Bergigkeit, Einsamkeit. Im ersten Augenblick bot die Ankunft eine herbe Enttäuschung: Scharnitz war laut, befahren wie ein hochtouristischer Ort, aber völlig abseits vom Schuss. Das Gasthaus besaß dennoch seinen Charme, der sich erst auf den zweiten Blick eröffnete. Die Ambivalenz der Geschichte des Hauses umfing uns. Es roch nach Küche, Schank und Rauch. Das Holz wirkte warm und brach die Kälte der Steinmauern. Die Einrichtung war schlicht, funktional, aber echt im Unterschied zum Bauernkitsch anderer

Gasthäuser. Der „Goldene Adler“ liegt in der Senke und bildet sich als Kern im Ortskern heraus, sobald man im Garten Platz nimmt. Oben läuft die Hauptstraße durch, sie verliert ihre Trostlosigkeit durch die Bäume, die der verpatzten Raumplanung österreichischer Straßenbaupolitik mit Schatten spendender Krone trotzen. Seefeld liegt nicht weit entfernt von Scharnitz, gibt sich mondän, berühmt für sein Allerwelts-Casino, strotzend vor Unpersönlichkeit und Kitsch im Spiegel der Allerwelts-Touristik. Scharnitz strahlt Eigenwilligkeit aus, mit dem „Goldenen Adler“, dem Kirchlein, der Gedrängtheit rund um die Durchzugsstraße, dem Bella Vista Cafè-Restaurant, wo der Chef des Hauses gegen die falschen Versprechungen wettert. Als er das Haus übernommen hatte, rechnete er noch mit einer Goldgrube. Viele Leute würden einkehren, hatte es geheißen, aber die meisten Gäste befinden sich auf der Durchfahrt und nicht auf der Suche nach einer Erfrischung oder Erholung auf seiner Straßenterrasse. Wer ins Bella Vista geht, der kommt wirklich nach Scharnitz. Die Einheimischen arbeiten hier im Tourismus, auf den Berghütten, den Skiliften, in den Gewerbebetrieben der Umgebung, pendeln bis nach Innsbruck, Mittenwald oder Garmisch-Partenkirchen. Die Zimmerwirtin spürt unsere Skepsis, mit der wir ins Gasthaus einziehen. Der Verkehr ist laut, mitten im Gebirge nach stundenlanger Fahrt ist die Toleranz, weiteren Autolärm zu ertragen, geschrumpft. Sollen wir überhaupt bleiben? Das Wetter für den nächsten Tag verspricht Sonne und Hitze, das heißt, früh aufzu-


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stehen und bis Mittag am Gipfel zu sein. Zum Glück beschlossen wir zu bleiben. Der Charme des Gasthauses erschloss sich uns, als wir über den Parkplatz guckten, am Nachbarhaus vorbei, und zwischen Zugbrücke und Straße den Streifen der vorbeirauschenden Isar ausnahmen. Wir befanden uns an einem Verkehrsknotenpunkt der besonderen Art. Alle Wege sämtlicher terrestischer Fortbewegungsmöglichkeiten fließen hier zusammen. Dieses Momentum der Echtheit in Echtzeit barg die Ironie der Vorstellung vom Gebirge. Es gibt keine Bergidylle und deshalb fährt man ins Karwendel. Wer weiß, dass hier Todesmärsche stattgefunden haben, dass diese Gegend als Alpenfestung der Nazis geplant war, sucht nicht Idylle, sondern Hinweise auf Erinnerung. In Seefeld gibt es ein Denkmal und einen jüdischen Friedhof, wo die Opfer bestattet wurden. Die Stuben des Gasthauses tragen keine Zeichen der erschütternden Geschichte. Die Räume sind von Kopf bis Fuß original-getäfelt und verweisen nur auf ihr Alter. Die Fenster sind klein, das Glas ist geätzt und geritzt, kunsthandwerklich gestaltet. Erstaunen darüber, dass es während des Bombardements 1945 nicht geborsten und zersplittert ist. Wir besetzen den Balkon und feiern unsere Ankunft am Ort der Wege und Weiser. Scharnitz bietet Aufstiege ohne W-Lan und Internet, nichts für Work-aholics, aber Aufbruchsstätte für Stubenhocker. Die Nacht ist kühl und in Tücher und Jacken gehüllt sitzen wir im Hohsommer auf dem Balkon und trinken Wein. Schon ab zehn Uhr abends herrscht Stille im Ort. Nur die Isar braust. Nur wenige Kilometer entfernt entspringt der Fluß, aber trotzdem ist uns der Weg zu weit und zu monoton. Die Wirtin rät, Mountainbikes auszuborgen. Das Wasser treibt weiter und wir treten in die Pedale. Die angeschwemmten Kiesel werden einige Kilometer pro Tag von der Strömung mitgenommen. Kanten und Ecken schleifen sich ab. Jeder Stein ist einzigartig, heißt es, wenn Reiseführer auf die Naturleistung hinweisen. Trotzdem sind die Kiesel nichts extra-ordinäres, nur austauschbar und wie verworfen liegen sie aufgehäuft

im Schotterwerk. Nur endliche Metalle wie Gold, Ressourcen wie Öl gelten als Wert. Die Gipfel leuchten gräulich im Hellblau des Himmels. Sie verschwinden hinter den Wipfeln, sobald wir im Wald sind. Auf dem Parkplatz des Wiesenhofes stellen wir die Räder ab. Ein paar Autos sind bereits abgestellt. Sogar in der Pampa werden dafür Gebühren eingehoben. Der Parkplatz ist privat errichtet, um Kunden zu gewinnen und die Kosten zu amortisieren, ist der Rabatt für die Gebührenpflicht an eine Konsumation im Wiesenhof gebunden. Dafür haben wir Verständnis und bestücken sogar unsere Räder mit den Bons, die wir aus dem Automaten drücken. Wir bahnen uns in Schlingen den Bergfuß hoch, bis der Forstweg zu langweilig wird. Querwaldein schlagen wir uns durch das Dickicht der Fichten, kämpfen uns durch immer dichter und höher wachsendes Gras. Walderdbeeren blitzen rot aus dem Grün und locken, den Anstieg zu bewältigen. Baumstrünke bieten Platz für eine Rast. Das Moos ist feucht, die Nässe hat die Schuhsohlen aufgeweicht und abgelöst. Ich binde sie mit dem Schürsenkel fest. Das Mobiltelefon hat Saft, das Signal für den hergestellten Internet-Kontakt ertönt. Je höher wir kommen umso besseren Kontakt zur Welt, mit der wir verhangen. Jetzt sind wir also auch vom All aus ortbar. Unten in Scharnitz sind wir aus der Satellitensicht nicht zu erfassen, aber am Berg endlich in Reichweite. Wären wir der Natur verbunden, würden wir die Mobiltelefone abschalten? Erleben wir Kitsch als echt? Unseren Lebensweisen entspricht es, mit Mobiltelefonen ausgerüstet zu sein. Wir akzeptieren erfreut, dass sie in den Bergen fabelhaft funktionieren. Man ist auch Bergsteiger, wenn man als kommunizierender Mensch in den Bergen herumstiefelt. Die abgehende Sohle meines Wanderschuhs schlurft. Wir beschließen, nicht zu telefonieren, sondern die Berge zu genießen und miteinander ohne den Rest der Welt im Gebirge zu sein. Die Kehren kreuzen den wild eingeschlagenen Pfad, wir queren und streifen durch Mischwald. Unter dem Geäst der Fichten haben Ameisen ihren Bau aufgeschichtet. Die Sonne scheint auf das Getümmel.


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Zu- und Ausgänge bilden kleine Löcher, wie Schießscharten einer Festung, die den Staat birgt. Erdbeeren wachsen gleich daneben. Wir kommen nicht mehr auf den Weg zurück. Die Karte gibt keine genauere Auskunft, das Ortungsprogramm unserer Mobiltelefone ist langsam, die Ungeduld treibt uns, selbst Auswege zu finden. Auf einer Lichtung bieten morsche Baumstrünke Platz an. Hier wird noch einmal das GPRS eingeschaltet. Jetzt bei Tag sind die Geräusche fast sichtbar. Zirpen, Summen, Wind. Rundum ragen die Spitzen als Kalkgestein und schroffem Schiefer auf. Steinbrocken liegen herum, rund, als wären sie Hinterhäupter. Totenschädel. Wanderer, die ins Gras bissen. Im Kalkgestein hausen Fossile. Große Steinbrocken peckt man mit Spitzhacke oder Messer auf. Abdrücke von versteinerten Urtierchen treten zu Tage. Und wie vergänglich leuchten die Erdbeeren. Obwohl Hochsommer ist und die Temperatur auch in 2.000 Meter Höhe über die dreißig Grad klettern kann, sind die Beeren noch unreif, denn die Süße fehlt ihnen, obwohl der Geschmack von Wald, Boden und rauer Luft sich in der Frucht schon bindet. Der Himmel ist hell wie ein Vergiss-mein-nicht, der Bergrücken reflektiert das Licht. Das Massiv der Rotwandlspitze hebt sich wie Schultern empor, als wollten sie Atlas entlasten. Wo die Sonne nun hinbrennt, rösten die Schlangen. Karwendel schmeckt nach Lavendel, wenn die Faust voll ist und die Früchtchen alle auf einmal zerkaut werden. Auf dem Baumstrunk sitzend und verloren auf dem Wege nach oben, zur Kuppe des Pleisenberges blinzelnd, läutet das Mobiltelefon. Während nun eine kleine Konferenz stattfindet und über Rabatte verhandelt wird, entdeckt ein Pfifferling sein Haupt. Das Geäst der Nadeln, der Moosfasern, aus dem Myzel hervorstrahlend, gelb wie eine Sonne, gibt er sich zum Pflücken hin, obszön in seiner Präsentation, die jetzt dran glauben muss. Das Myzel wird kastriert, die Frucht abgeschnitten mit dem Taschenmesser. Die Sonne brennt auf die Hänge und verwandelt die Wanderlust in eine Südsee-Phantasie. Das Urmeer, aus

dem hier das Gebirge entstieg, ist im Prinzip auch nur verdampft. Kalkschichtungen marmorieren die Bruchstellen der Brocken, die aus Erde ragen und mir als Stufe diene. Ich setze den Fuß auf, um die sich ablösende Sohle neu zu fixieren. Der Alpenboden federt unter den Füßen. Die Sohle verrutscht leicht, auf Zehenspitzen von Stein zu Stein trippelnd, muss ich sie alle paar hundert Meter einrichten. Latschen wuchern, hüfthohe Föhren verwachsen zum Dickicht. Die Fichten werden seltener, dafür nimmt der Bestand von Lärchen zu. Die Botanik wechselt ihren Look bei jedem Höhenmeter. Das Gebirge breitet seine zackige Formation über der Baumgrenze aus, nackter Stein, geologischer Strip. Die Alpen wachsen. Der Stein ist nicht tot. Außerdem wird er belebt. Adler, Habicht, Murmeltier, Wild und sanftstiller Bewuchs aus Moos. In den Schichten des Schiefers lagert das Steinöl. Es muss bergmännisch gewonnen, herausgeschlagen und geschmolzen, gefiltert werden, bevor es pharmazeutisch und für die Kosmetik genutzt werden kann. Der Berg, eine Brust aus Stein, nährt mit Erz und Salz, Blei und Trinkwasser. Der Bergrücken ist im direkten Sonnenlicht ausgeleuchtet und bietet seine Glätte als Projektionsfläche an. Heimatfilme. Alpenkino. Die Kälte eines herabschießenden Baches schütten wir uns flaschenweise in den Mund, über die Stirn und den Nacken. Die Hitze ist unerträglich für eine Bergwanderung. Wir folgen der Vernunft und bleiben in der Nähe des Baches, gehen zum Forstweg zurück, diesen hinan zur Hütte unterhalb der Pleisenspitze. Die Aussicht zwingt zum Verbleib. Die Südkette des Hohen Gleirsch und das Halltal bis zum Großen Bettelwurf scheinen zum Greifen nah. Die i-Phones sind mit Skyline-Detektoren ausgestattet. Wir legen das Okular an und nützen die Funktion, nehmen die Gipfel ins Visier und rufen ihre Namen ab. Riegelkarspitze, Hinterödkopf, Kaskarspitze, Großer Katzenkopf. Die Höhen erreichen Spitzen bis zu drei Kilometer über dem Meeresspiegel. Diese Masse erwuchs aus Meeresboden. Riff und Lagune. Schicht auf Schicht gelagert, wächst es immer noch. Das Gestein.


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Die Alpen entfalten sich seit Millionen Jahren um einen messbaren Millimeter pro Jahr. Die Erde bildet sie sich seit dem Urknall aus, die Klüfte und Risse werden sich eines Tages am Ende aller Zeiten glätten? Breitet sich das All mit der Welt aus? Kommt Zeit für einen Urknall? Der Kältetod ist sicher. Auch hier in den Bergen. Eis, Schnee. Winterreste in den Rinnen des Gebirges Richtung Seefeld. Die Hütte ist bei der Hitze tagsüber nicht gut besucht. Im Grunde bietet sie sogar für die Nacht Platz. Die Zimmer fungieren als Matratzenlager. Die Wirtin kocht, serviert, berät die Gäste und leistet erste Hilfe auf der Terrasse. Die Schirme geben nur wenig Schatten. Die Speisen sind köstlich, Sauerkraut mit Scharnitzer Wurst, Speck und Aufstrichen. Die Jause wird in Tirol Brotzeit genannt. Die Wirtin lebt sommers auf der Hütte, im Winter ist es zu rau, die ganze Woche hier heroben zu bleiben. Die Matratzenlager werden gern von Bergsteigern genützt, die erst nachmittags eintrudeln, um am nächsten Morgen in aller Frühe die Spitze zu erklimmen. Im Winter ist kaum Betrieb, interessiert der Gipfel nur wenige Gäste. Wie steil ist es bis zum Gipfelkreuz? Als trauten wir unserem eigenen Ermessen, den eigenen Augen und Ohren nicht, suchten wir Bestätigung aus dem Mund der Einheimischen. Es ist vor allem heiß, der Weg führt durch den blanken Stein in praller Sonne. Zwei Stunden dauerte die Tortur mindestens. Die Wirtin weist auf meine Schuhe hin. Es sei wenig ratsam, unter Materialermüdung aufzusteigen. Sie bringt Doppelklebeband und Tixo zum Tisch. Vielleicht gereichen die Utensilien zur Reparatur, damit ich die Wanderung nicht abbrechen muss. Ein junger Mann, verschwitzt bis auf das letzte T-Shirt, poltert über die Terrasse und Steinchen aus den Rillen der profilierten Sohle bleiben liegen. Die Sohlen meiner Turnschuhe erregen Aufmerksamkeit. Sie sind zu rutschig für das Gipfelkreuz. Das täuscht nur, behaupte ich und klebe die Sohle mit dem Doppelklebeband an den Schuh, presse die Teile mit meinem ganzen Gewicht gegeneinander. Schließlich hält die Konstruktion sogar.

Ein Bergsteiger-Pärchen bringt das Holz der Terrasse zum Schwingen. Das Geröll knirscht noch unter den schweren Tritten. Der junge Mann zieht das Hemd aus, wirft es über die Lehne, während die Begleiterin es auffängt und zum Lüften ordentlich ausbreitet. Sie bleibt wie selbstverständlich angezogen. Im Gebäudeschatten genießen wir die Aussicht, die wir den ganzen Tag schon vor Augen haben. Das Panorama bleibt immer gleich, aber die Perspektive ändert sich stetig. Von hier ist der Blick am schönsten, behauptet einer der Bergsteiger. Er ist stolz auf seine Leistung, denke ich. Alle zehn Meter mögen sich weitere Einblicke auf Gipfel,Täler, Klüfte und Halden eröffnen, das Gebirge ist vielschichtig. Das einstige Meer ist zum Gerippe erstarrt. Die Witterung hat Hohlformen geschaffen, Talflanken gebildet. Bruchflächen sind für Geologen offene Bücher, aus denen sie Erdgeschichte erlesen, um Zeitabschnitte zu bestimmen, den Übergang von Trias zu Jura zu studieren, und die Entstehung der Erdkruste zu erforschen. Auf der Terrasse sitzen die Landschafts-Genießer. Auffällig ist, dass Bergsteigerinnen selten allein unterwegs sind. Mit Sonnenaufgang musst du den Aufstieg vollziehen, sonst stirbst du in der Hitze, hören wir vom Nebentisch. Was hat man davon, hinaufzugehen? Frag ich mich. Die Berge können süchtig machen, heißt es, lass dich verführen vom Fels. Wir blättern in den ausgelegten Broschüren, informieren uns über die hier erfahrbare Natur. Hermann Hesse wird zitiert. Er gibt die Klänge der Isar als synästhetische Komposition wieder. Es wird mit den Augen gehört. Wir hören auch mit den Augen, ganz genau hören wir die Weite, das Himmelblau und sehen nicht den Autolärm, das Almrauschen unserer Mobiltelefone. Ameisen krabbeln stumm und es gibt kein Geräusch, obwohl tausende Nadeln berührt sind. Ein Ameisenhaufen von 250 Kubikzentimetern beherbergt eine Population von etwa 5.000 Insekten. Wer weiß, wie lange sie für die Beseitigung eines menschengroßen Körpers oder Kadavers bräuchten.


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Die Pleisenspitze liegt im Mittagsdunst. Die Isar schlängelt sich als blaugrüner Strich unten durchs Tal. Sie schimmert wie eine Blindschleiche durch das Geäst. Kühl und erfrischend, während Arnika und Almrausch besummt werden. Bremsen setzen sich auf die Haut, werden von flacher Hand erschlagen. Der Tritt in die Bergflanke sitzt und die Hitze wirft sich übermächtig zurück, so dass wir zurückscheuen und auf die Spitze verzichten. Meine geflickten Schuhe dienen nun doch als Ausrede. Zurück geht’s über den Forstweg. Der Parkplatz, wo unsere Räder stehen, liegt schon im Schatten des Tales. Eine Schweizer Familie aus dem Uri tourt mit neuem Auto durch Österreich und hält im Wiesenhof Rast. Die Autofahrer sind vernarrt in die Tiroler Berge, in die Lässigkeit des österreichischen Naturschutzes. Man darf das Auto überall parken, fast kann man bis zum Gipfel fahren. In der Schweiz gibt es striktes Fahrverbot schon in geringeren Höhen. Aber auch hier rund um Scharnitz sind die schönsten Abschnitte autofrei gehalten und nur zu Fuß zu erwandern. Die Preise für die wenigen zugelassenen Taxis sind geschmalzen.

Schweden im dreißigjährigen Krieg. In den napoleonischen Kriegen wurde sie eingenommen und geschliffen, als Tirol an Bayern fiel. Der Weg führt am Sockel des Fundamentes entlang. Durch den Wald streifend, verlassen wir den langweiligen Forstweg. Mountainbiker sind unterwegs, beißen sich das Steilstück hoch. Wir kämpfen uns lieber durch das Gestrüpp und lauschen dem Kreischen eines Sägewerkes, das im einstigen Niemandsland zwischen Scharnitz und Deutschland liegt. Zu Mittag läuten die Glocken. Danach herrscht Samstagsruhe.

Im „Goldenen Adler“ erfahren wir, dass die Nähe Mittenwalds nicht nur Anreiz für Deutsche darstellt, in Österreich den Urlaub zu verbringen, noch lieber kommen sie, um hier zu arbeiten; wegen des 13. und 14. Monatsgehaltes. Vor dem EU-Beitritt gab es die Grenzgängerbescheinigung, die es jedem erlaubte, im anderen Land zu arbeiten. Die Steuern sind an den Wohnsitz gebunden.

Zwischen den Bäumen durch sieht man weit in die Ebene von Mittenwald. Hin und wieder tauchen rot lackierte Pfosten auf, kniehoch, mit aufgesetzten weißen Kappen. Verläuft die Grenze über den Pfad oder ist der Pfad die Grenze? Wächter gibt es hier nicht mehr zu befragen. Irgendwo liegen die originalen Grenzsteine herum, vom Moos und Gras überwachsen. Auf Baumstämmen hängen die Schilder des deutschen Alpenvereins. Die Isar fließt aufwärts, scheint mir, Richtung München, das etwa eine Autostunde entfernt ist. Auf dem Weg zur Arnspitze schimmert das silbrige Dach eines aufgelassenen Bleibergwerks durchs Geäst. Wie weit ist Berchtesgaden entfernt? Salzburg? Zwei Autostunden. Während des Zweiten Weltkrieges wurde in dieser schönen Gegend ein Gemetzel veranstaltet. Tausende KZ-Häftlinge wurden zu Kriegsende aus den Konzentrationslagern ins Karwendel verfrachtet und zu Tode gejagt. Dazu der ständige Alliierten-Beschuss, nur wenige erlebten die Befreiung.

Am zweiten Tag unseres Aufenthaltes nehmen wir die Arnspitze nordwestlich von Scharnitz in Angriff. Die Wirtin warnt uns. Es sind schwere Gewitter vorhergesagt. Der Aufstieg erfordert drei Stunden. Auf der Suche nach dem Grenzstein zwischen Österreich und Deutschland, den wir als auffällige Markierung imaginieren, geraten wir am Ufer der Isar zur Festungsmauer der Porta Claudia. Goethe hatte die Festung auf seiner Italienreise beschrieben. Sie verriegelte das Tal, galt als Befestigungsanlage gegen die

Auf dem Grat des überhängenden Felsens ragt ein Kranz aus Fichten wie geschwungene Wimpern in die Höhe, als blickte dort oben das Auge des Berges ins Tal. Wolken ziehen auf. Erst sind es nur weiß gehauchte Schleier, dann verdichten sie sich zur opaken Decke, immer dunkleres Grau bauscht sich auf und schiebt sich vor, bis der Himmel unheilschwanger verdunkelt ist. Wind säuselt und zischelt, Bäume ächzen im anwachsenden Sturm, die Wipfel neigen sich.


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Der Abstieg ist gefährlich, die Steine sind locker, nicht festgetrampelt, doch mein Schuh hält. Der Pfad wird nicht gewartet, er wird zu wenig genützt. Die Stümpfe der im Hang gefällten Bäume dienen als Haltegriffe. Das verschlungene Wurzelwerk gereicht zum Geländer. Im belaubten Teil des Waldes treffen wir wieder auf den gemauerten Sockel der Porta Claudia. Die wahren Ausmaße der Festung eröffnen sich, sobald man hinaufklettert und auf dem Sockel das terrassierte Plateau entdeckt. Bäume wachsen auf den verschütteten Resten. Buschwerk. Farn. Immer höher steigt man an, von Plateau zu Plateau. Die einstigen Stockwerke der riesigen Festung schmiegen sich an den Felsen. Der höchste Punkt wird von einem punkerartigen Bau bekrönt. Das Gras ist weich und der Boden trocken. Die Wolken kumulieren wie schwarzer Schaum, noch ist kein Tropfen zu spüren. Der Ausblick ins Bayrische unter dem mit Gewitter sich aufladenden Himmel entspricht Waldmüller’schem Idyll. Und dann hören wir den Gruß: Gute Mittagszeit. Im Gras auf der Bel Etage der Ruine liegen zwei holländische Touristen. Einer meiner Begleiter, ebenfalls Holländer, scherzt über Scharnitz, dieses letzte Eck in Tirol, das so schön ist und eine Schlossruine bietet, die gleichsam unberührt wäre, wenn nicht zwei Holländer schon hier säßen und ihm den Tag verdürben. Schwarzer Humor soll verbindend sein. Die Mobiltelefone funktionieren auch auf der Porta Claudia einwandfrei, der Empfang ist gesichert und per Internet lässt sich jetzt sogar das Theaterprogramm von Telfs prüfen. Die ersten Tropfen sind spürbar. Wanderungsabbruch. Unten in Scharnitz gießt es in Strömen und das Signal für den Empfang erlischt. Die Bäckerei direkt neben der Durchzugsstraße offeriert Kaffee und Kuchen, während es schüttet. Der Verkehr fließt, und das Bella Vista hat Gäste, deren Köpfe in der Auslage erscheinen, um das Wetter zu kontrollieren. Der Regen punktiert den Asphalt. Unter der Markise ist genug Schutz vorerst. Als die Blitze Zacken in den Himmel reißen, ist es Zeit zu flüchten.

Nach zwei Stunden ist der Spuk vorbei, die Luft abgekühlt. Auf der Fahrt nach Telfs, wo Shakespeares „Die windigen Weiber von Winzor“ eher verspielt werden als tirolerisch aufgeführt, wie in der Zeitung versprochen, kommen wir an einer perfekt erhaltenen Burg vorbei. Sie thront über der Abfahrt nach Seefeld. Die Recherche wird ergeben, dass das Play-Castle das Denkmal einer Tourismuspleite darstellt. Über den Zirler Berg rollen Lkws im Schritttempo. Steil aufschießende Ausweichstraßen dienen als Bremshilfen. Die Kiesbetten am Kopfende dieser Bahnen sollen die Masse der Transporter, wenn einmal in Schwung gekommen und nicht mehr zu bremsen, aufhalten. Am Sonntag reisen wir ab. Frühstück. Wandertipps für Neuankömmlinge. Speck und Honig als Mitbringsel. Nach der Messe in der nahen Kirche schneit ein Stammgast herein. Immer weniger Einheimische gehen in die Kirche und immer weniger landen daher zum Frühschoppen an der Schank. Früher waren mindestens zwei Tische besetzt, erzählt die Wirtin. Es regnet immer noch. Wir hatten noch Hochsommer-Wetter und eine schöne Zeit, denn von jetzt an wird der Regen zunehmen und der Herbst einziehen. Die Heizperiode beginnt hier im August, erklärt der Gast. Scharnitz sei das Tor zum Karwendel, heißt es, aber das behaupten mittlerweile alle Orte der Gegend. 15 Gemeinden haben Anteil am geschützten Naturpark. Am Ursprung der Isar glitzert das Moos. Die Kühle leckt an den Wangen, füllt den Mund. Alpen-Leinkraut, Flussuferläufer, Uferspinnen und Tamarisken. Im Gebirge, ein Festland.


Eigenwerbung

Quart Nr. 1–19: Stefan Abermann, Nathan Aebi, Andreas Altmann, Architekten Moser Kleon, Clemens Aufderklamm, Ludovic Balland, Thomas Ballhausen, Susanne Barta, Othmar Barth, Christoph W. Bauer, Ruedi Baur, Wolfgang Sebastian Baur, Xaver Bayer, Gottfried Bechtold, Sven-Eric Bechtolf, Friedrich Biedermann, Johanna Bodenstab, Mirko Bonné, Julia Bornefeld, Bureau Mirko Borsche, Kurt Bracharz, Carmen Brucic, Maria E. Brunner, Markus Bstieler, Daniel Buren, Ferdinand Cap, Ernst Caramelle, Michael Cede, Günther Dankl, Hans Danner, Delugan-Meissl, Marco Dessi, Georg Diez, Dimitré Dinev, Klaus Doblhammer, Moritz Eggert, Fred Einkemmer, Olafur Eliasson, William Engelen, EOOS, Beate Ermacora, Carsten Fastner, Martin Feiersinger, Werner Feiersinger, Friederike Feldmann, Thomas Feuerstein, Christian Flatz, Stefan Flunger, Ellinor Forster, Katja Fössel, freilich landschaftsarchitektur, Barbara Frischmuth, Martin Fritz, Daniel Fügenschuh, Marta Fütterer, Heinz Gappmayr, gelitin, Michael Glasmeier, Rolf Glittenberg, Christian Gögger, Peter Gorschlüter, Martin Gostner, Barbara Gräftner, Franz Gratl, Andrea Grill, Daniel Grohn, Georg Gröller, Walter Grond, Walter Groschup, Sabine Gruber, Gebhard Grübl, Egyd Gstättner, William Guerrieri, Carla Haas, Ernst Haas, Georg Friedrich Haas, Florian Hafele, Katja Hagedorn, Händl Klaus, Andreas Hapkemeyer, Marlene Haring, Jens Harzer, Michael Hausenblas, Krista Hauser, Sigrid Hauser, Clementina Hegewisch, Werner Heinrichmöller, Heinz D. Heisl, Dietrich Henschel, Peter Herbert, Wolfgang Hermann, Ralf Herms / Rosebud, Margarethe Heubacher-Sentobe, Klasse Hickmann, Stephan Hilpold, Christoph Hinterhuber, Paulus Hochgatterer, Richard Hoeck, Candida Höfer, Siggi Hofer, Johanna Hofleitner, Robert Holmes, Anton Holzer, Stefanie Holzer, Heidrun Holzfeind, Johann Holzner, Sascha Hommer, Albert Hosp, Johannes Huber, Sebastian Huber, Stephan Huber, Barbara Hundegger, Stefan Hunstein, Helmut Jasbar, Ivona Jelcic, Peter Stephan Jungk, Ulrike Kadi, Fabian Kanz, Bernhard Kathan, Otto Katzameier, Manuela Kerer, Leopold Kessler, Kurt Kladler, Walter Klier, Gerhard Klocker, Margit Knapp, Peter Kogler, Alfred Komarek, Moussa Kone, Markus Koschuh, Hubert Kostner, Annja Krautgasser, Andreas Kriwak, Brigitte Kronauer, Florian Kronbichler, Gustav Kuhn, Martin Kusej, Ulrich Ladurner, Bernhard Lang, Patrizia Leimer, Sonia Leimer, Paul Albert Leitner, Clemens Lindner, Christine Ljubanovic, Ove Lucas, Constantin Luser, Fritz Magistris, Brigitte Mahlknecht, Sepp Mall, Andreas Maier, Urs Mannhart, Dorit Margreiter, Raimund Margreiter, Edgar Martins, Barbara Matuszczak, Manfred Alois Mayr, Friederike Mayröcker, Milena Meller, Bernhard Mertelseder, Klaus Merz, Thomas Mießgang, Lydia Mischkulnig, Wolfgang Mitterer, Philipp Mosetter, Walter Müller, Paul Nagl, Olga Neuwirth, the NEXTenterprise architects, Walter Niedermayr, Michaela Nolte, NORM, Thomas Nußbaumer, Peter Oberdorfer, Nick Oberthaler, Walter Obholzer, José F.A.Oliver, Fritz Ostermayer, Ulrich Ott, Walter Pamminger, Thomas Parth, Pauhof Architekten, Karin Pernegger, Hans Karl Peterlini, Christoph Peters, Robert Pfaller, Andreas Pfeifer, Marion Piffer Damiani, Hans Platzgumer, Jorge Reynoso Pohlenz, Helmut Pokornig, Wolfgang Pöschl, Wolfgang Praxmarer, Gerald Preinfalk, Othmar Prenner, Martin Prinz, Robert Prosser, Manuela Prossliner, Irene Prugger, Carl Pruscha, Florian Pumhösl, Thomas Radigk, Gottfried Rainer, Bernhard Rathmayr, Simon Rees, Helmut Reinalter, Robert Renk, riccione architekten, Alice Riegler, Gerhard Ruiss, Ingrid Runggaldier, Corinne L. Rusch, Katharina Rutschky, Michael E.Sallinger, Georg Salner, Peter Sandbichler, Benedikt Sauer, Susanne Schaber, Hans Schabus, David Schalko, Lukas Schaller, Peter Scheer, Simon Schennach, Markus Schinwald, Elisabeth Schlebrügge, Eva Schlegel, Nikolaus Schletterer, Fridolin Schley, Birgit Schlieps, Hanno Schlögl, Ferdinand Schmatz, August Schmidhofer, Wendelin Schmidt-Dengler, Olaf A. Schmitt, Gunter Schneider, Roland Schöny, Fred Schreiber, Raoul Schrott, Franz Schuh, W.G.Sebald, Christian Seiler, Walter Seitter, Peter Senoner, Q. S. Serafijn, Sergison Bates architects, Cyrus Shahrad, Martin Sieberer, Christoph Simon, Jens Soentgen, Alessandro Solbiati, Gertrud Spat, spector cut+paste, Götz Spielmann, Clarissa Stadler, Thomas Stangl, Martina Steckholzer, Esther Stocker, Karl Stockreiter, Bernhard Studlar, Michael Sturminger, Sylvia Taraba, Rudolf Taschner, Text ohne Reiter, Paul Thuile, Johanna Tinzl, Susanne Titz, Ernst Trawöger, Heinz Trenczak, Ilija Trojanow, Thomas Trummer, Wolfgang Tschapeller, Erdem Tunakan, Karl Unterfrauner, Sandra Unterweger, Roman Urbaner, Katrien van der Eerden, Andrea van der Straeten, Rens Veltman, Joseph von Westphalen, Klaus Wagenbach, Martin Walde, Peter Warum, Peter Waterhouse, Vitus H. Weh, Hans Weigand, Lois Weinberger, Oliver Welter, Wendy & Jim, Gabriele Werner, Günter Richard Wett, Margret Wibmer, Roman Widholm, Martin Widschwendter, Erika Wimmer, Robert Winkel, Heinz Winkler, Franz Winter, Wolfgang Wirth, Robert Woelfl, Erich Wucherer, Erwin Wurm, Anton Würth, Andrea Zanzotto, Jörg Zielinski, Stefan Zweifel 100 / 101


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Wer Quart abonniert, bekommt sicher ein Heft (bevor es vergriffen ist, was vorkommt). Soweit Argument Nummer eins. – Zweitens: Es kommt billiger! Zwei Hefte kosten € 21,– (statt € 28,–). Und drittens gibt es als Abogeschenk Beiträge aus den ersten 16 Ausgaben Quart in Buchform: Quartessenz (siehe Rückseite der eingeklebten Postkarte). Wenn Sie einen neuen Abonnenten werben, gibt’s gleich 2 Geschenke: eines für den neuen Abonnenten und eines für Sie!


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Kalt, nass und schwarz

Wie es in und um Tirol unter der Erde aussieht? Robbie Shone fotografiert seit etlichen Monaten die Höhlenforscher rund um Christoph Spötl bei der Arbeit (zu sehen auf den Seiten 108–117). Der Musiker und Schriftsteller Bernhard Moshammer traf den Wissenschaftler zum Gespräch – und wagt sich ebenfalls in die Tiefe:

So ein Planet hat’s auch nicht leicht. Er hängt im Nichts, sein Nachbar ist mickrig, anorganisch und langweilig, die anderen leben viel zu weit weg, er muss tausend Jobs gleichzeitig erledigen (sein Hauptberuf ist Wirt), er arbeitet rund um die Uhr, unbezahlt, ohne Urlaubs- oder Pensionsanspruch, lässt sich beackern, bebauen und aussaugen und da ist kaum etwas, das er vor seinen Parasiten geheimhalten kann – eine Privatsphäre wird ihm ganz einfach verwehrt. Vom Familienschmuck, seinen Erinnerungen, bis hin zu den buchstäblichen Leichen im Keller gibt es nichts, was der Parasit nicht für sich selbst beansprucht. Ja. Aber: Stellen Sie sich vor, Sie entdecken an Ihrem Partner eine nie zuvor gesehene Körperöffnung. Noch bevor Sie über ihre Existenz und Sinnhaftigkeit nachdenken können, wird Ihr Finger tasten, bohren, experimentieren, eindringen. Ihr Auge wird ihm sogar zuvorgekommen sein – der Finger ist nur der Sklave des Auges, sein Werkzeug. Säuglinge und Einsame brauchen nicht einmal Partner, kurz: Der Mensch ist grundsätzlich neugierig – der geborene Wissenschaftler. Er ist nicht zu bremsen – wie die Natur oder die Zeit selbst. Das ist selbstverständlich genau so wenig neu wie die Tatsache, dass er zuweilen ein triebgesteuertes, sexbesessenes Monster sein kann, aber solange es Ausnahmen gibt (wie Sie und mich, die wir sensibel, respektvoll und wirklich nur, wenn’s sein muss oder Spaß macht, grob sind), besteht Hoffnung. Das Besondere existiert. Jetzt stellen Sie sich vor, ihr geliebter Partner ist kein Mensch. Nein, auch kein Vierbeiner – er ist der eingangs erwähnte riesige, runde, geschlechtslose, unglaubliche Organismus, den wir Erde nennen. Wenn Sie so wollen und Sie der Vorwurf ödipaler Tendenzen

kalt lässt, auch: Mutter Erde. Ja, der Mensch vergewaltigt, plündert und missbraucht sie, aber auch hier gibt es Ausnahmen, auch hier existiert das Besondere: Uns beide selbstverständlich und dann Menschen wie Christoph Spötl, Professor am Institut für Geologie und Paläontologie an der Universität Innsbruck. Ein Mann, der die Intimzonen der Erde studiert und kennt wie nur ganz wenige – eine Elite im Sinne einer guten Definition von Elite, wie er sagt –, wenngleich es auch mehrere tausend Höhlenforscher in Österreich gibt, vor allem im Osten des Landes; zumeist engagierte Frauen und Männer, die einen Gutteil ihrer Freizeit, Energie und Leidenschaft darauf verwenden, systematisch in die Erde einzudringen. So wurden selbst bedeutende Höhlen schon von Hobbyforschern oder auch ganz zufällig von spielenden Kindern aufgespürt, und erst letzten Mittwoch hat Christoph Spötl im Zillertal zwei Höhlen entdeckt. Die Erde wiederum, so lasse ich mich beim Anblick von Robbie Shones Fotografien in naivem Staunen gehen, belohnt den Höhlenforscher, indem sie sich entblößt, ihm ihre fragile Schönheit offenbart, ihn konfrontiert mit einer überbordenden Ästhetik absurden Ausmaßes, die jeden milliardenschweren Fantasy-Blockbuster ins Disney-Regal verweist. Nun, hakt der Professor ein, zweifelsohne ist man beim Anblick dieser fantastischen Bilder geneigt, das zu denken, man vergisst aber schnell, dass der Fotograf sich auf gut erforschtem Terrain bewegt und ein professionelles Team von Beleuchtern dabeihat. Auch die für Bilder oder Filme dieser Art verwendete Musik ist gern bemüht, das Unterirdische überirdisch zu machen, füge ich hinzu, der Natur, wenn man so


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will, einen spirituellen Hut aufzusetzen. (Wir diskutieren kurz Werner Herzogs sehr sehenswerten Film Die Höhle der vergessenen Träume über die berühmte Chauvet-Höhle in Frankreich.) Wahrscheinlich ist das auch naheliegend: Egal, ob wir auf einem Berg sind, über den Wolken, unter Wasser oder eben unter der Erde, die Wucht der Natur macht uns klein, demütig, bisweilen religiös. Ihre Dimension ringt Spötl viel mehr Respekt ab als alle von Menschen geschaffenen Kunstwerke. Auch er ist ein religiöser Mensch, sagt er, und sich im Innern der Erde, in möglicherweise urzeitlichen Lebensräumen aufzuhalten, macht einen selbstredend ruhig und kontemplativ, nicht zuletzt der etwas enterischen Akustik wegen (eine Schauhöhle in den Salzburger Zentralalpen heißt gar Entrische Kirche): vereinzelte Tropfen, der eigene Herzschlag – vielleicht wäre die angemessene Musik für Höhlenfilme gar keine Musik –, aber grundsätzlich, und nur dies entspricht dem Alltag des Höhlenforschers, ist eine Höhle immer nur eines: kalt, nass und schwarz. Vielleicht ist es meiner katholischen Prägung zuzuschreiben, dass meine erste Assoziation mit diesem Thema die Hölle war – dass jene nur einen Buchstaben von der Höhle entfernt liegt, scheint jedoch verständlich, ist sie ja keineswegs eine Erfindung des Christentums. Bereits 50.000 Jahre vor unserer Zeitrechnung war es angeblich üblich, die Toten zu begraben. Im Gilgamesch-Epos lässt der Held ein Loch in die Erde graben, um den Geist seines toten Freundes Enkidu zu befragen, was er in der Hölle gesehen hat. „Sage mir, mein Freund, die Ordnung, die du unter der Erde schautest!“ „Sag ich dir die Ordnung der Erde – du müsstest dich setzen und weinen!“ Hätten die Sumerer nur Robbie Shones Fotografien gesehen – die christliche Hölle hätte keine Chance gehabt! Die Menschen hätten sich vielmehr das Paradies in die Erde hineingedacht. Nun gut, meine Naivität geht wieder mit mir durch, aber es gab in der Vergangenheit durchaus Dichter, die dem Unterirdischen Alternativen

zum Heim der Verdammten, ewigen Qualen und vergeltenden Foltern zuzusprechen versuchten. So betritt in einem kleinen um 1420 entstandenen Büchlein (Le Paradis de la reine Sibylle) ein Ritter eine Grotte, die ihn in ein wundersames Land der Wollust und Liebe führt. Im Park von Bomarzo, Italien, den ein gelangweilter Fürst ca. 1570 erbauen ließ, wird der Besucher mit steinernen Plastiken, monströsen Kuriositäten konfrontiert, die man, wenn man will, auch in die bizarren, mit Sinter (Höhlenmineralen) überzogenen Höhlengesteinsformationen hineininterpretieren kann – was sich der Professor für jene kühnen Männer der Vergangenheit, die sich nur von Fackellicht begleitet in die Tiefe wagten, schon vorstellen kann. In diesem Park gibt es den sogenannten Höllenschlund, ein in Stein gehauenes Riesenmaul, in dessen Oberlippe folgende, aus Dantes Göttlicher Komödie abgeleitete Inschrift gemeißelt ist: Lasst jeden Gedanken fahren, ihr, die ihr eintretet. Wer weiß also, wonach all die Höhlenforscher suchen, wenn sie suchen? Der klassische Höhlenforscher, holt Christoph Spötl mich auf den rationalen, sicheren Boden seiner Zunft zurück, sucht nach Ritzen und Spalten im Fels, aus denen kalte Luft strömt, dies ist seine Fährte, die er buddelnd verfolgt – und wenn er Glück hat, stößt er tatsächlich auf interessante Hohlräume, möglicherweise sogar auf Knochen oder Werkzeuge. (So gut wie alle relevanten archäologischen Funde Europas wurden in Höhlen gefunden.) Ob diese dann jedoch von irgendeinem größeren, wissenschaftlichen Wert sind, erweist sich zumeist erst nach langwierigen Untersuchungen. So liegen gleich mehrere fantastische Funde aus österreichischen Höhlen, deren Daten noch zu wenig gesichert sind, in Tresoren und warten darauf, der Öffentlichkeit präsentiert zu werden. Der ihm und, wie er meint, den meisten Höhlenforschern jedoch wichtigste Aspekt beim Besteigen von Höhlen ist neben der Abenteuerlust und dem Draußensein in der Natur die Kameradschaft. Plan, Ordnung, Disziplin, Zusammenhalt – das ist, was die Höhle den Menschen abfordert. In der Höhle lösen sich gesell-


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schaftliche Raster auf – da hängen dann nicht der Elektriker und der Generaldirektor im Seil, sondern einfach der Sepp und der Franz. Der Mikrokosmos Höhle also als ideales Muster für menschliches Zusammenleben? Sollten Familien oder Paare in Krisenzeiten Höhlen besuchen? Aber, um Gottes Willen, bitte nur die Schauhöhlen! (Es gibt immerhin 28 in Österreich.) Würde der Professor da anmerken, der davon überzeugt ist, dass das manuelle Arbeiten in der Natur auf jeden Fall ein guter Therapieansatz ist. Das krasseste Gegenteil der Höhle, die Megacity, ist ihm suspekt. Wir betrachten Höhlen aber eher als Fenster in die Vergangenheit, sagt er dann über die Tätigkeit seiner Arbeitsgruppe, welche sich vor allem der Erforschung des Klimas und der Umweltbedingungen des Quartärs widmet – und zwar anhand der Analyse von Sintern und Tropfsteinen. Der Tropfstein als Speicher der Erdgeschichte also, als Klimaarchiv, welches „weiter zurückreichende Rekonstruktionen erlaubt als oberflächliche Archive wie See- und Gletscherablagerungen oder Baumringe – mittels einer verbesserten Altersbestimmungsmethode (Uran-Thorium-Massenspektrometrie) sogar bis zu einer halben Million Jahre.“ Ein Tropfstein wird mit mineralhaltigem Wasser gefüttert und geformt – so entstehen in unvorstellbarer Langsamkeit seine Schichten. Wenn diese Wasserzufuhr ausbleibt, weil, sagen wir, gerade Eiszeit ist, entsteht eine Schichtlücke, welche möglicherweise einen Zeitraum von mehreren hundert oder tausend Jahren umschreiben kann. Das Ende einer Schicht bedeutet also immer: Irgendetwas ist passiert. In der Geologie steckt die Geschichte in den Lücken. Diese zu erkennen, zu datieren und zu deuten ist Teil des langwierigen, detektivischen Aufgabenbereichs, für welche das Team um Spötl auch internationale Anerkennung erfuhr. Pioniere sind sie aber keine, meint der Professor bescheiden. Insider mögen das anders sehen, aber wie auch immer: Stars der Mainstream-Medien würden sie auch als No-

belpreisträger keine werden – der größte Fernsehstar ist nämlich immer noch der Wettermann. Natürlich gibt es mittlerweile auch die Wetterfrau, aber die Menschen sagen immer noch: Schen hot er angsagt. Die Leute machen ihren Alltag von ihm abhängig, scheinen ihm fast ihre Lebensplanung unterzuordnen. Dennoch liegt er auch immer wieder mal falsch, wenn er das Wetter fürs nächste Wochenende prognostiziert. Beim Thema Zukünftiges Klima ist Spötl vorsichtig sowie froh, damit als Wissenschaftler nichts zu tun haben zu müssen. Die Klimaforschung muss ihre Daten und Ergebnisse derart simplifizieren, um sie Kanzlern und Ministern in den Mund legen zu können, dass sie, sind sie erst einmal in den Medien angelangt, wahrscheinlich immer falsch oder fehlerhaft sind. So wird der viel zitierte Klimawandel stets nur auf den Treibhauseffekt reduziert, um im bestgemeinten Fall Menschen oder gar Systeme zu mobilisieren, Gutes, oder wie Politiker und Konzerne es momentan gerne ausdrücken, Nachhaltiges zu tun. Gut und schön, richtig und politisch korrekt, aber macht das auch den angekündigten und gewünschten Sinn? Können wir klimatische Entwicklungen tatsächlich aufhalten? Sind all die selbsternannten Rufer in der Wüste, die uns selbstgefällige Schlafende wecken wollen und unsere Gewissen täglich aufs Neue beschweren, nicht immer auch ein wenig zweifelhaft? Natürlich sorgt sich der Höhlenforscher um die Erde, aber, so sagt er trocken, wir sind eben verdammt viele Leute, die verdammt viele Kinder kriegen und täglich duschen wollen. Bleibt nur noch eine Frage zu klären – die wichtigste! Jene, die meine elfjährige Tochter mir aufgetragen hat, ihm zu stellen: Haben Sie jemals an einer Stalaktite geleckt? Nein, sagt er ganz ernst, aber darauf geklopft – und das sei reinste Musik. Also: Selbst im kalten, nassen, einsamen und unberührten Schwarz der Erde liegen Schönheit und Musik verborgen. Das Besondere existiert!












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Der letzte Tag vor der Flucht? „Nichts Besonderes.“

Zu Besuch bei Peter Gewitsch in Haifa: Christoph W. Bauer porträtiert Jüdinnen und Juden mit Tiroler Wurzeln, die aus Österreich vertrieben wurden. – Vorabdruck des neuen Buches, das im Frühjahr 2013 erscheint.

Wenn er spricht, hat man das Gefühl, er würde aus einem Buch lesen, das er über Jahrzehnte in sich hineingeschrieben hat und dessen erstes Kapitel nach Wien führt, ins Rudolfinerhaus. Dort wird Peter Michael Gewitsch geboren, im Jahr 1928. Zehn Jahre später muss er mit seinen Eltern in Triest an Bord der Galilea, Fahrtrichtung Haifa. Hier hatte sein Großvater Isidor Gewitsch ein Haus gebaut, er war 1934 ausgewandert. Bereits einen Tag nach Schuschniggs Vorführung auf dem Berghof am 12. Februar 1938 setzt sich Gewitschs Vater mit Isidor Gewitsch in Verbindung, um die Ausreise der Familie voranzutreiben. „Wir müssen weg, hier blüht uns nichts Gutes, hat mein Vater gesagt“, erinnert sich Peter Gewitsch. „Mein Vater war ein alter Zionist und mein Großvater einer der ersten Zionisten Wiens und ein persönlicher Freund Herzls.“ Gewitsch sinkt ins Sofa zurück, neben ihm sitzt seine Frau Eva geb. Mayr, auch sie eine Heimatvertriebene. Die beiden bewohnen ein Appartement in einem Altenheim in Haifa. Mit der Eisenbahn nach Triest. Die Familie muss einige Tage warten, ehe das Schiff ablegt. Wie viele Zwischenhalte es auf der Fahrt gegeben hat, weiß Gewitsch nicht mehr genau zu sagen. Vielleicht auf Zypern, bestimmt aber in Jaffa. Von dort dann nordwärts. „Am Nachmittag des 4. Juli, gegen vier, halb fünf sind wir im Hafen von Haifa angekommen.“ Der Großvater hat Vorsorge getragen, die zur Einreise benötigten Zertifikate besorgt. Erst mit der Ankunft vollzieht sich der Bruch zum bisherigen Leben zur Gänze. Peter Gewitschs Mutter Helene wurde in Innsbruck geboren. Ihr Vater, Michael Brüll, war in den 80erJahren des 19. Jahrhunderts aus Mähren nach Tirol gekommen, wo er als gelernter Tischler behände einen Betrieb aufbaute. Binnen weniger Jahre gehörte das Möbelhaus Brüll mit angeschlossener Tischlerei zu den wirtschaftskräftigsten Unternehmen der Stadt. Und war mehr als ein ökonomischer Faktor: Im Mö-

belhaus Brüll wurde Synagoge gehalten, bald galt der Firmensitz als erste Anlaufstelle jüdischer Zuwanderer. Helene Gewitschs Mutter Nina Brüll geb. Bauer war Tochter einer Kaufmannsfamilie, die das bis 1938 größte Warenhaus Westösterreichs miteignete. Bis zu ihrer Hochzeit mit Robert Gewitsch lebte Helene in Innsbruck, nach der Heirat zog sie nach Wien. Allein aufgrund seines Namens wusste Peter Gewitschs Vater bei seiner Zukünftigen von Anfang für Sympathie zu sorgen. Stammte doch deren Vater aus Jevíčko, heute eine tschechische Stadt in Mähren, zu Zeiten der Habsburgermonarchie war sie zum größten Teil deutschsprachig geprägt und hieß Gewitsch. Robert Gewitsch, gebürtiger Wiener, war gelernter Jurist. Nach seinem Studium arbeitete er zunächst in einer Bank, wurde später Rechts- und Finanzdisponent bei einem Großunternehmen und bekleidete dort eine verantwortungsvolle Position. Diese ermöglichte einen Umzug von der Wiener Josefstadt nach Döbling, in die Döblinger Hauptstraße 57. „Hinter diesem Haus war ein Garten, in dem der Nachbarsohn – der Sohn vom Hausmeister – und ich sehr viel zusammen gespielt haben.“ Nur ein paar Schritte entfernt, in der Osterleitengasse, lebte Fritz Molden. Auch an die elterliche Wohnung kann sich Peter Gewitsch erinnern: „Es gab ein Kinderzimmer, ein Speisezimmer, ein Schlafzimmer, eine Veranda und das Dienstmädchenzimmer – also ein kleines Kabinett.“ Hier wohnte man zur Miete, keineswegs in einer Villa, wie Gewitsch betont, aber die Kindheit sei eine sorgenfreie gewesen. Daran änderte auch die Einschulung nichts. Gewitsch hatte keinerlei Probleme im Unterricht, war ein sehr guter Schüler. Früh zeigte sich seine Vorliebe fürs geschriebene Wort, er las viel, am liebsten die Zeitungen der Erwachsenen. Nur hinsichtlich der Musikalität haperte es bei ihm, im Gesangsunterricht wurde er wiederholt vom Lehrer aufgefordert: „Ah, Gewitsch. Gewitsch, sing nicht mit“. Und das ganz zum Verdruss der musikalischen Mutter, die gerne auf dem Klavier in


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der Döblinger Wohnung musizierte. Sie war strenger als der Vater, was Gewitsch mit einem Augenzwinkern auf ihre Tiroler Herkunft zurückführt. „Kinder haben zu gehorchen und nicht zu fragen, sondern zu machen, was man ihnen sagt. Das war die Einstellung meiner Mutter. Der Vater war liberaler.“ Liberalität auch in religiösen Belangen. Gefeiert wurden lediglich die Hauptfeste, die jüdischen Speisegesetze seien schon dann und wann mal umgangen worden, sagt Gewitsch. „Dabei habe ich, mit Ausnahme des Sohns vom Hausmeister, nur jüdische Freunde gehabt.“ Wie sie teilte er die Faszination für die laufenden Bilder. Jedes Mal wenn ein Shirley Temple Film vorgeführt wurde, bat er seine Mutter, ihn ins Kino mitzunehmen. Das befand sich in unmittelbarer Nähe der elterlichen Wohnung, eines der wenigen, die es damals in Döbling gab. Nach dem Krieg, bei einem Besuch in seiner Geburtsstadt, traf Gewitsch einmal Fritz Molden wieder. „An der Ecke war ja das Ideal Kino“, sagte Molden zu ihm und er darauf: „Herr Molden, vergessen Sie nicht, es ist über dem Eingang gestanden: Ideal Tonkino.“ Und Molden antwortete: „Ja, ja, ganz richtig, Sie erinnern sich genau.“ In die Volksschule in der Pyrkergasse hatte Gewitsch es ebenfalls nicht weit. Wie seine Mitschüler trug er das Abzeichen mit der Aufschrift Seid einig. Ein Lehrplan ganz auf Vaterlandsliebe abgestimmt, die Kinder wurden auf Dollfuß eingeschworen, nach dessen Ermordung auf Schuschnigg, „und wir haben uns alle als große österreichische Patrioten gefühlt.“ Bis zu jenen Tagen im März 1938. „Da war plötzlich keine Rede mehr von Österreich. Bereits in der ersten Zeichenstunde nach dem ,Anschluss‘ wurde gelehrt, wie man eine Hakenkreuzfahne zeichnet. Und im Gesangsunterricht wurde das Horst-Wessel-Lied eingepaukt.“ An der Einstellung der Klassenkameraden brauchte sich wenig zu ändern, sie waren schon zuvor nicht philosemitisch. „Aber interessanterweise hat sich ihre Reaktion nicht augenblicklich in Gewalt gegen uns gerichtet.“ Wenige Monate später musste Gewitsch die Schule wechseln, kam in die Pantzergasse. „Dort waren wir nur jüdische Kinder. Wir saßen da, brav und still, aber es gab keinen Unterricht mehr. Der blieb den sogenannten arischen Schülern vorbehalten.“

Woran er sich sonst noch erinnern könne? An die Schulwanderungen durch Wien in der Zeit vor der Hitlerei, von einer Sehenswürdigkeit zur nächsten, botmäßig dem Lehrer hinterdrein und aufmerksam bei seinen Erläuterungen über die große Geschichte Österreichs. Und dass sein Vater, der im Ersten Weltkrieg für den Kaiser an der Westfront gestanden war, gleich nach dem „Anschluss“ seine Offizierspistole in einem Gebüsch des Währinger oder Döblinger Parks hat verschwinden lassen, um keine zusätzlichen Scherereien mit den braunen Horden zu provozieren. Der letzte Tag vor der Flucht? „Nichts Besonderes.“ Mit Kindern im Garten der Döblinger Wohnung, Gewitsch teilte ihnen mit, dass er am nächsten Tag wegfahren werde. Das aber hat er in bester Erinnerung: „Wir haben uns über den Weltmeisterschaftskampf im Schwergewicht unterhalten, Schmeling gegen Joe Lewis. Und die anderen haben natürlich alle gesagt, der Schmeling wird siegen, der Schmeling wird siegen.“ Schmeling hat den Kampf bekanntlich schon in der ersten Runde verloren. In Sicherheit. Was nun? Man ist auf finanzielle Unterstützung durch Isidor Gewitsch angewiesen, doch dessen Mietshaus wirft wenig ab. Der Vater arbeitslos, er versucht Hebräisch zu lernen und Fuß zu fassen, was die Mutter nicht schafft, sie kann sich in Haifa nicht einleben. Auch Peter Gewitsch wird die Sprache zum Problem. In Wien war er ein guter Schüler, nun muss er eine Klasse wiederholen, „das war für mich eine Art Trauma“, sagt er noch heute. Er hat einen kleinen Kreis von drei, vier Freunden, Kinder deutschsprachiger Eltern. Dadurch fallen sie auf, was er als sehr unangenehm empfindet. Hänseleien bestimmen diese ersten Schulwochen, er trägt sommers eine Lederhose aus den Tagen vor der Flucht, „und dafür wurde ich ganz gut verspottet.“ Er bittet seine Eltern, ihm neue Hosen zu kaufen, doch sie lehnen mit Hinweis auf die momentane Geldnot ab. Im Alter von siebzehn Jahren erklärt er dem Vater, dass er die Schule verlassen möchte. Er setzt seinen Willen durch, tritt mit der sechsten Mittelschulklasse aus und beginnt in einer Bank zu arbeiten. Sein umfangreiches Wissen, das Gesprächspartnern oft die eigenen Gren-


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zen aufweist, ist autodidaktischen Ursprungs. Seine Kenntnisse packt er in eine Sprache, die sich druckreif nennen lässt. Er spricht in einem Duktus, wie man ihn aus der Presse der frühen 1930er-Jahre kennt, verwendet ab und zu aus der Mode gekommene Begriffe. So sagt er: Seine Mutter habe herum tibuliert, als er zum Militär eingezogen wurde, doch er habe in keinster Weise mit ihren Bemühungen kooperiert. Anfang 1948, zwei Monate, nach dem UNO-Beschluss über die Teilung Palästinas, tritt er seinen Militärdienst an. Der Israelische Unabhängigkeitskrieg beginnt, Gewitsch nimmt an zahlreichen Kampfhandlungen teil. „Ich hatte das Gefühl, nicht nur für das Recht des jüdischen Volkes auf ein eigenes Land einzutreten, für mich war es auch ein Zeichen an alle Minderheiten, sich nicht von Mehrheiten unterdrücken zu lassen.“ Zwei Jahre dauert der reguläre Militärdienst, dann dient Gewitsch weitere 33 Jahre in der Reserve. Er arbeitet wieder in der Bank, auch sein Vater hat eine Anstellung gefunden, als Buchhalter in einer Getreidefirma. Doch die Eltern hält es nicht in Israel, sie kehren 1956 nach Österreich zurück, nach Innsbruck. Gewitsch besuchte bereits zwei Jahre zuvor seine Geburtsstadt. „In Wien, 1954, habe ich doch eine sehr starke innere Bindung an die Stadt empfunden. Und so leistete ich damals den Eid – ich habe ihn bis heute gehalten – es dürfen niemals wieder 16 Jahre vergehen, bis ich Wien wiedersehe.“ Mitte der 1950er-Jahre hat er sogar Pläne, Israel zu verlassen, kündigt bei der Bank. Doch dann lernt er seine Frau Eva kennen. Die gebürtige Preßburgerin kam erst nach dem Krieg nach Palästina, überlebte die nationalsozialistischen Schreckensjahre als Flüchtling in Belgien, in Lagern. Sie will Israel nicht mehr verlassen. „Und so sind wir geblieben. Es war unser gemeinsamer Entschluss“, betont Gewitsch. Wie ernst ihm aber mit einer Rückkehr gewesen sein muss, zeigt sein Antrag auf Ausstellung eines österreichischen Passes im Jahr 1957. Das Procedere sei mühsam gewesen, so wie vieles in der Nachkriegsgeschichte seines Geburtslands kein Ruhmesblatt, aber letztlich haben er und seine Frau die Dokumente erhalten. Mit den Eltern steht er zunächst nur in schriftlichem Kontakt. „Kostspielige Auslandsreisen konnten wir uns nicht leisten.“ Mit seiner Frau kauft er eine Woh-

nung in Haifa, benötigt dazu ein Darlehen. Sobald es die finanziellen Möglichkeiten jedoch erlauben, sind beide oft in Europa, in Preßburg, in Wien oder in Innsbruck. Sich wie seine Eltern in Tirol ansässig zu machen, das hatte Peter Gewitsch nie vor. „Ich wollte nach Wien. Oder nach London.“ Er fühle sich als Europäer, gerate dabei aber immer in einen Zwiespalt, sei er doch auch überzeugter Israeli. Wobei man ihm den Israeli äußerlich nicht ansehe. „Wenn ich zum Flughafen komme und die Sicherheitsbeamten beginnen ihre Routinefragen, werde ich immer zuerst auf Englisch angesprochen. Man hält mich stets für einen Touristen, der jetzt auf dem Rückflug ist. Und erst wenn ich auf Hebräisch sage: Mit mir können sie Hebräisch sprechen, ich bin aus Haifa, dann“ – In Israel versuchte Gewitsch eine Annäherung an die Religion. Er ging oft in die Synagoge, feierte den „Sederabend“ zu Pessach, hielt sich dabei an die vorgegebenen Speisegesetze. Doch die liberale Erziehung der Eltern hatte Spuren hinterlassen. Eine gänzliche Ablehnung der Religion löste aber deren wiederholter Missbrauch durch machtpolitische Interessen aus, von denen Gewitsch sich früh distanzierte. Ungebrochen blieb seine Neugier am kulturellen Leben, zahlreiche Theater- und Konzertbesuche standen in den 1960erund 1970er-Jahren auf dem Programm. Auch das Kino kam nicht zu kurz. Bis zu seiner Pensionierung arbeitete er für das traditionsreichste israelische Kreditinstitut, die Bank Leumi. Sie war aus der 1902 von Theodor Herzl mit anderen Mitgliedern der zionistischen Bewegung in London gegründeten Anglo Palestine Company hervorgegangen. Gewitsch bekleidete zuletzt das Amt eines stellvertretenden Direktors in der Zentrale in Haifa, er ging in Frühpension, im Alter von 56 Jahren. Danach engagierte er sich ehrenamtlich in verschiedenen Organisationen, unter anderem in der Gesellschaft IsraelÖsterreich. Ihr Ziel: die Aufrechterhaltung der Verbindung zu Österreich mittels Vorträgen, Lesungen und Diskussionsrunden. Auch im Verband der Einwanderer aus Mitteleuropa war Gewitsch jahrelang aktiv, der Verband ließ auch das Heim errichten, in dem Eva und Peter Gewitsch heute leben.


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„Ich habe verschiedene Sachen aus Österreich, hier in der Wohnung.“ Peter Gewitsch erhebt sich vom Sofa, er wirkt jetzt noch größer als zuvor an der Rezeption des Heims, wo er auf den Besuch aus Österreich wartete, der ihm mit vielen Fragen in den Ohren liegen würde. Er schiebt die Brille zurück, streicht sich über den Kopf und führt lächelnd in einen anderen Bereich des Appartements. „Das ist unsere sogenannte österreichische Wand.“ Zu sehen sind die Kriegserinnerungsmedaille des Vaters und andere Verdienstzeichen, Lithographien, Fotos – „und das ist das Wappen der Monarchie.“ Jeder Gegenstand erzählt eine Geschichte, wird zum Kapitel eines Buches, aus dem Gewitsch geduldig vorliest, befragt man ihn zu seinem Leben. Sich selbst spart er dabei aus, was ihm genommen wurde, verschweigt er. Dass er gerne Jus studierte hätte, ist ihm gerade mal einen Nebensatz wert. Was er an sich selbst für typisch österreichisch halte? „Ziemlich viel“, antwortet er prompt. Und spricht dann über den aus einer jüdischen Prager Familie stammenden Hans Kelsen, der zu den bedeutendsten Rechtswissenschaftlern des 20. Jahrhunderts zählt. Kelsen ist einer der drei Professoren, die auf dem Doktordiplom seines Vaters zu finden sind. „Und diese drei Professoren haben doch eine gewisse Einstellung eingeprägt, was Recht und Gerechtigkeit ist, und sich dafür eingesetzt, die Rechte der Minderheit zu wahren. Das halte ich für meinen Erbteil aus Österreich. Zum Beispiel.“ Und nach einer längeren Pause fügt er schmunzelnd an: „Und die Vorliebe für die österreichische Küche. Aber leider bin ich Diabetiker und die wunderbaren Rezepte – Aber nein, ich hab viel aus Österreich, sehr viel mitbekommen an der Gestaltung meines Charakters.“ An den politischen Verhältnissen in Österreich zeigt er sich nach wie vor interessiert, vermöge Wahlkarten gibt er sein Votum ab. Und wann immer er es schafft, besucht er das Land, aus dem er vertrieben wurde. Mittlerweile hat er eine stärkere Bindung zu Innsbruck als zu seiner Geburtsstadt. Beide Elternteile liegen in Innsbruck begraben, die Mutter stirbt 1980, der Vater überlebt sie um vier Jahre. „Das Grab meiner Eltern ist ein Familiengrab, meine Großeltern sind hier begraben

und die meisten ihrer Kinder, Söhne und Töchter.“ Bis zu ihrem Tod wohnen die Eltern im Stammhaus der Familie Brüll, in der Anichstraße, wo Michael Brüll einst sein prosperierendes Möbelgeschäft betrieben hat. Dieses Haus kennt Gewitsch seit Kindheitstagen, besonders die Holztreppen haben sich ihm eingeprägt und die Türen mit den alten Messingbeschlägen. „Meine Mutter hat mir erzählt, sie habe als Kind immer gerne Süßigkeiten beim Geschäft Daler, ein Haus weiter, gekauft, sie war sehr vernascht.“ Kürzlich sei er bei einem Innsbruck-Besuch an diesem Geschäft vorbeigegangen, „in dem immer noch Süßigkeiten verkauft werden, also gut 110 Jahre nachdem meine Mutter dort als Kind Stammkundin war.“ Auch von der Familie Brüll weiß er viel zu erzählen, von seiner Cousine Ilse Brüll, die im Alter von 17 Jahren in Auschwitz ermordet wird, von ihren Eltern, die das KZ Theresienstadt überleben und nach der Befreiung jahrelang um Rückerstattung des arisierten Besitzes kämpfen müssen. Als dies endlich gelungen ist, arbeitet Peter Gewitschs Vater im Möbelhaus mit, engagiert sich in der Kultusgemeinde und wird deren Präsident. Es ist Abend geworden, Peter Gewitsch hat wieder am Sofa Platz genommen. Er schaut zum Fenster hinaus, der Wüstenwind trübt das Licht ein und verweigert einen Blick aufs Meer. Er sei froh, in Israel leben zu dürfen, das Land gewährleiste ihm die Sicherheit, dass Juden sich nicht als Verfolgte oder geduldete Minderheit sehen müssten. „Es ist ein Paradox, wenn ich das sage: Israel ist meine Heimat und in Österreich fühl ich mich zu Hause.“ Seine Herkunft holt ihn zuweilen unversehens ein. Einmal will er sich auf der Straße eine Notiz machen, zieht aus seiner Tasche ein Blatt Papier, hat jedoch keinen Stift. Also fragt er einen Passanten: Pardon, haben Sie eine Feder? „Das sind vier Worte auf Hebräisch. Schaut der mich an und fragt auf Hebräisch zurück: Sagen Sie, sind Sie aus Wien?“ Vorabdruck aus: Christoph W. Bauer: Die zweite Fremde. Begegnungen in England und Israel. Das Buch erscheint im März 2013 im Haymon Verlag, ISBN 978-3-7099-7021-8 · www.haymonverlag.at


Besetzung

Christoph W. Bauer, Kolbnitz Innsbruck / Kirchberg in Tirol: Freier Autor; Lyrik, Prosa, Dramatik, Hörspiel, Essay, Libretti, Texte für Kinder und Jugendliche; Herausgabe / Betreuung diverser Anthologieprojekte; Konzeption des Literaturteils im GaismairJahrbuch; Leitung von Schreibwerkstätten, Lyrikworkshops; Referent an der Pädagogischen Hochschule; mehrere Publikationen, zuletzt: „mein lieben mein hassen mein mittendrin du“, Gedichte, Haymon 2011. www.cewebe.com Walter Kappacher, Salzburg Obertrum: geboren 1938. Arbeitete in mehreren Motorradwerkstätten, in mehreren Reisebüros, versuchte daneben zu schreiben (Morgen, Die Werkstatt, Rosina, Der lange Brief) und lebt seit 1978 als „freier“ Schriftsteller (Ein Amateur, Silberpfeile, Selina, Der Fliegenpalast, Land der roten Steine). Er erhielt u. a. den Hermann-Lenz-Preis, den internationalen Salzburger Preis für Kunst und Kultur und den Georg-Büchner-Preis. Wien: Bildende Künstlerin. Studium an Brigitte Kowanz, Wien der Hochschule für Angewandte Kunst, Wien; seit 1997 Professur an der Universität für Angewandte Kunst, Wien. Ausstellungen (Auswahl): 2012 Borusan Contemporary Art Collection, Istanbul; 2010 „NOW I SEE“, MUMOK Museum moderner Kunst Stiftung Ludwig, Wien; 2007 VO_LUMEN, Kunsthalle Krems. Ausstellungsbeteiligungen (Auswahl): 2012. Neon – La materia luminosa dell’arte, MACRO Museo d’arte contemporanea Roma; 2011 Live Theory, Bryce Wolkowitz Gallery, New York; Interventionen im architektonischen Bereich: 2010 / 2011 BEYOND RECALL, Staatsbrücke Salzburg; 2006 IN VIVO IN VITRO, Max Planck Institut, Münster (Architektur: Kresing Architekten Münster). www.kowanz.com

Guter Musik Berlin e.V.“ zur Förderung experimenteller Musikperformance. Walter Pamminger, Gmunden Wien: arbeitet in Wien als Chemiker, Buchgestalter, Autor und Kurator. Publikationen und Texte zu Kunst und visuellem Design, zuletzt: „Exzess des Buches“, Institut für Buchkunst, Leipzig, 2007; Riss / Lücke / Scharnier A, (Mithg.), Scheidegger und Spieß, Zürich, 2010; „Viel / Falten, Versuchsanordnungen zu Werken Fritz Ruprechters“, (Mithg.), Bucher Verlag, Wien, 2010. Kuratorische Tätigkeit, zuletzt: Symposium zur Buchgestaltung „Unvertraute Nähe“ für die typopographische gesellschaft austria, 2008. Symposium: „Das Verborgene im Werk, Einfälle, Skizzen, Modelle, 2012“, für die Neue Wiener Gruppe / Lacan Schule Arne Rautenberg, Kiel Kiel: geboren 1967. Nach dem Studium der Kunstgeschichte, Neueren Deutschen Literaturwissenschaft und Volkskunde an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel lebt Arne Rautenberg seit 2000 als freier Schriftsteller, Künstler und Kulturjournalist in seiner Geburtsstadt. Sein literarisches Hauptbetätigungsfeld ist die Lyrik. Gedichte und Geschichten sind in mehreren Einzeltiteln sowie zahlreichen Anthologien und Zeitschriften erschienen. Zudem sind viele seiner Gedichte in Schulbücher aufgenommen worden. Zuletzt erschienen seine beiden Gedichtbände „der wind lässt tausend hütchen fliegen“ (Boje Verlag, Köln 2010) und „mundfauler staub“ (Horlemann Verlag, Berlin und Leipzig 2012). www.arnerautenberg.de Robert Renk, Innsbruck vermittler

Innsbruck: Buchhändler & Kultur-

Lydia Mischkulnig, Klagenfurt Wien: lehrt an der Universität für angewandte Kunst, Gastprofessuren in Japan. Zahlreiche Preise und Auszeichnungen, u. a. Manuskriptepreis, Elias CanettiStipendium. Schreibt Erzählungen, Romane, Essays. Zuletzt erschienen: „Esperanza, Schiff der Alpen, Lied aus der Partisanenoper.“ In: Peter Pirker / Anita Profunser: Aus dem Gedächtnis in die Erinnerung. Die Opfer des Nationalsozialismus im Oberen Drautal, 2012. „Japan himmlisch.“ In: Jürgen Draschan, Bertlinde Vögel: Japan Nachbeben, 2012. „Macht euch keine Sorgen. Neun Heimsuchungen“, Erzählungen, Haymon 2009, „Schwestern der Angst“, Roman, Haymon 2010.

Maria Rennhofer, Wien Wien: Publizistik- und Kunstgeschichtestudium an der Universität Wien. Kulturjournalistin und -publizistin für Hörfunk, Zeitungen und Kunstzeitschriften. Langjährige Tätigkeit für das ORF-Radioprogramm Ö1, 2004–2009 Leiterin Aktuelle Kultur ORF-Hörfunk. Seit 2010 als freie Autorin und Journalistin (PARNASS, EIKON) sowie mit Kultur- und Medienprojekten selbstständig tätig. Chefredakteurin des Magazins „spielorte“, Kuratorin der Kulturveranstaltungen in der ehemaligen Expedithalle der Wiener Ankerbrotfabrik. Mehrere Buchpublikationen, u.a. Monografien über österreichische Künstler wie Gustav Klimt, Egon Schiele, Albin Egger-Lienz und Koloman Moser.

Wien: Musiker und SchriftBernhard Moshammer, St. Pölten steller. Im Oktober 2012 erschien sein dritter Roman „Die Zukunft wird kein Honiglecken“ im Milena Verlag, Wien. Er hat mehrere CDs produziert und macht Musik für Theater (Dezember 2012: Acht Frauen, Landestheater St. Pölten, Regie: Maria Happel) und Fernsehen (u. a. Schlawiner, Regie: Paul Harather). www.boern.com

Wien: 1972–1974 StudiFritz Ruprechter, Matrei in Osttirol um der Malerei an der Akademie für angewandte Kunst in Wien; 1974–1976 Studium und Diplom an der Akademie Minerva in Groningen, Niederlande; 1977/78 Auslandsstipendium in Kairo, Ägypten; 1978 Förderungspreis der Stadt Wien; 1988 halbjähriger Aufenthalt bei Indianervölkern mit der Ethnologin Paz Grünberg in Südamerika; 2007 Santiago de Chile, Artist in residence mit Ausstellung im Museo de Arte contemporaneo; 1986–2012 mehrere längere Studienreisen nach Japan und Südamerika; 2010 Viel / Falten, Buchkonzept von Walter Pamminger. Preis: eines der schönsten Bücher Österreichs; 2012 Auslandsstipendium in Istanbul, Türkei; zahlreiche Ausstellungen in Europa, Japan, Chile, China und USA. Vertretung: Artmark Galerie, Wien

Matthias Osterwold, Hamburg Berlin / Schwaz: seit 2001 Künstlerischer Leiter von „MaerzMusik – Festival für aktuelle Musik der Berliner Festspiele“ und ab 2013 des Festivals „Klangspuren“ Schwaz / Tirol. Studierte Soziologie, Volkswirtschaft, Stadtforschung in Hamburg, Musikwissenschaft in Berlin. Arbeitete als Musikkurator 1992–1994 am Podewil in Berlin, 1999–2001 am ZKM in Karlsruhe und in der künstlerischen Leitung diverser internationaler Festivals, u. a. „sonambiente – festival für hören und sehen“ Berlin 1996 / 2006; „Pfeifen im Walde“, Lucerne Festival 1997; „Festival of Vision – Berlin in Hongkong“ 2000; „Kontraste“ Krems 2003–2009; Beijing Modern Music Festival 2007. 1983 Mitbegründer und seitdem Leitungsmitglied von „Freunde 134 / 135

Innsbruck: Fotograf, seit Robbie Shone, Manchester, England Jahren spezialisiert auf Höhlenfotografie, lebt seit einigen Monaten in Innsbruck. Michael Thalheimer, Frankfurt Berlin: Regisseur (Schauspiel und Oper). Aktuell: „Elektra“ von Hugo von Hofmannsthal, Burg-


theater Wien; nächste Premieren: „Kleiner Mann, was nun?“ von Hans Fallada (Jänner 2013, Schauspiel Frankfurt); „Geschichten aus dem Wiener Wald“ von Ödön von Horvath (März 2013, Deutsches Theater Berlin). Michael Thalheimers Inszenierungen erhielten zahlreiche Auszeichnungen, darunter den Innovationspreis des Fernsehsenders 3sat sowie den Berliner Friedrich-Luft-Preis, den Nestroy-Preis und die Moskauer „Goldene Maske“. Viele seiner Produktionen wurden zum Berliner Theatertreffen eingeladen. Mittelbergheim / Elsaß: Maler. BeJan Peter Tripp, Oberstdorf suchte in seiner Heimatgemeinde Oberstdorf / Allgäu zusammen

mit dem späteren Schriftsteller W. G. Sebald die Oberrealschule. Die beiden verband bis zu Sebalds Tod im Jahr 2001 eine tiefe Freundschaft (u. a. widmete Sebald in seinem Essayband „Logis in einem Landhaus“ das letzte Kapitel Tripps Malerei). Nach Beendigung des Studiums der Malerei und der Bildhauerei hielt sich Tripp für einen Monat im psychiatrischen Landeskrankenhaus Weissenau nahe Ravensburg auf. Die dort entstandenen Radierungen machten ihn überregional bekannt. Seit 1971 stellt er in vielen Galerien und Institutionen im In- und Ausland aus. Er gilt als einer der wichtigsten deutschen Vertreter des Realismus.

Quart Heft für Kultur Tirol

Kulturzeitschrift des Landes Tirol Herausgeber: Markus Hatzer, Andreas Schett Chefredaktion: Heidi Hackl, Andreas Schett Anschrift der Redaktion: Circus, Kochstraße 10, 6020 Innsbruck (A), office@circus.at Anschrift des Verlags: Haymon Verlag, Erlerstraße 10, 6020 Innsbruck (A) T 0043 (0)512 576300, order@haymonverlag.at, www.haymonverlag.at Geschäftsführer / Verleger: Markus Hatzer Aboservice: T 0043 (0)1 740407814, aboservice@haymonverlag.at Bezugsbedingungen: Quart Heft für Kultur Tirol erscheint zweimal jährlich. Jahresabonnement: € 21,– ( SFr 30,50) · Einzelheft: € 14,– (SFr 20,90) · Preise inkl. MwSt., zzgl. Versand Die Bezugspreise unterliegen der Preisbindung. Abonnement-Abbestellungen müssen spätestens 3 Monate vor Ende des Kalenderjahres schriftlich erfolgen. Mitarbeiter dieser Ausgabe: Christoph W. Bauer, Walter Kappacher, Brigitte Kowanz, Lydia Mischkulnig, Bernhard Moshammer, Matthias Osterwold, Walter Pamminger, Arne Rautenberg, Robert Renk, Maria Rennhofer, Fritz Ruprechter, Robbie Shone, Michael Thalheimer, Jan Peter Tripp Kuratoren: Ruedi Baur, Othmar Costa, Karin Dalla Torre, Eduard Demetz, Georg Diez, William Engelen, Martin Gostner, Helmut Groschup, Franz Hackl, Hans Heiss, Stefanie Holzer, Sebastian Huber, Gabriele Kaiser, Otto Kapfinger, Walter Klier, Martin Kofler, Gustav Kuhn, Christoph Mayr-Fingerle, Milena Meller, Walter Methlagl, Wolfgang Mitterer, Walter Niedermayr, Thomas Nußbaumer, Dominique Perrault, Wolfgang Pöschl, Helmut Reinalter, Robert Renk, Arno Ritter, Benedikt Sauer, Benno Simma, Gerhard Steixner, Vitus H. Weh, Lois Weinberger, Maria Welzig u. a. Linke Seiten: Michael Thalheimer Visuell-editorisches Basiskonzept: Walter Pamminger Farbkonzept: Peter Sandbichler Grafische Realisation: Circus, Büro für Kommunikation und Gestaltung, Innsbruck / Wien, www.circus.at Druck: Lanarepro, Lana, Italien Papier: Luxo Samt 135 g/m2 Schriften: Sabon LT Std, Gill Sans Std Verwendung der Karte „Tirol-Vorarlberg 1 : 200.000“ auf den Seiten 86 / 87 mit freundlicher Genehmigung von Freytag-Berndt u. Artaria KG, Kartografische Anstalt. Sämtliche inhaltlichen Beiträge dieses Heftes sind Ersterscheinungen, Auftragswerke, Uraufführungen. ISBN 978-3-7099-7027-0 · © Haymon Verlag, Innsbruck-Wien 2012 · Alle Rechte vorbehalten.



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