Quart Nr. 21

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Quart Heft für Kultur Tirol Nr. 21 /13 E 14,–


FĂźr Werbung keine Zeit. Wir mĂźssen arbeiten.



The Souvenir of a Stranger

Für die Ausgabe Nr. 21 von Quart kam die Idee, fremde Texte mit fremden Bildern zu kombinieren – und dadurch Neues

Die linken Seiten dieser Ausgabe hat Wolfgang Lehrner

zu schaffen: Textfragmente von den rechten Seiten werden

gestaltet: Vor Jahren erstand er ein Archiv mit tausen-

zu Titeln für die Bilder, die durch ihre neue Bezeichnung zu

den Dias, sie stammten von einer Wohnungsauflösung.

Werken werden. Im völlig veränderten Kontext bleibt den

Der Eigentümer war verstorben, es gab wohl keine weite-

Dias lediglich ihre ursprüngliche Nummer.

ren Nachfahren, jedenfalls gelangten die Bilder zu einem Flohmarkt-Händler und von diesem zu Lehrner, der sie ins

Ein zeit- und ortsloser Einblick in das Zeitalter vor der

eigene Archiv eingliederte, lange Zeit nicht betrachtete, von

digitalen Bilderflut, ein Ausschnitt aus dem Leben eines

Atelier zu Atelier übersiedelte – in der Absicht, sie irgend-

Unbekannten.

wann einmal zu verwenden. 4/5


Inhalt

Martin Walde „enactments“: dangerous daydreams 2007 / 2013 Halotech Lichtfabrik Wolfgang Lehrner The Souvenir of a Stranger Inhaltsverzeichnis Fließtext von Jan Wagner Ferienhaus für Tanja oder: Das Schweigen des Galeristen Jedenfalls: Jochen Jung darf nicht hinein. Gefährliche Träume auf Papier Martin Walde, Alchemist des Alltäglichen. Von Harald Uhr Martin Walde „enactments“: two belt / Zwei Gürtel 2006 / 2013 dangerous daydreams 2007 / 2013 the constant gardener 2005 / 2011 Schwanenbeschimpfung 2008 / 2013 bubbles 2002 writing on ground 2005 putzen 1990 Brenner-Gespräch (9) Die ganze Kraft des Spiels Die Schriftstellerin Felicitas Hoppe im Gespräch mit Elmar Drexel Ein verstecktes Drama Robert Prosser berichtet aus dem – bald verschütteten – Padastertal. Tag 1 / 2; 29. / 30. März 2013; Kufstein–Wörgl–Innsbruck zu Fuß Michael Höpfner beschreitet kein Neuland und fotografiert trotzdem.

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Die Landvermesserin Landvermessung No. 4, Sequenz 2 Teresa Präauer wird in Axams „Dirndl“ genannt.

66–77

„Da geht noch viel!“ Der Musiker und Komponist Christof Dienz lässt sich von seinem Kollegen Bernhard Moshammer abhören.

79–89

Markus Bstieler Originalbeilage Nr. 21

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Wir müden Schwäne Ursula Timea Rossel zwischen Katernotizen und Schrödingers Katze

91–99

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4 5

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9–17

19–23

24–35

Stefan Heyne Das blaue Licht Mit einem Vorwort von Ralf Hanselle

101–111

Verdorbene Vorfreude Rundumschlag auf den Buchumschlag. Von Joachim Lottmann

113–115

Eigenwerbung

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HM MZS Der bartlose Mann auf dem 500-DM-Schein kam ursprünglich aus Tirol. Von Eva Maria Stadler 119–127 Satzspiegel von Konrad Paul Liessmann

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37–43

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Tiroler Architekten und Ingenieurkonsulenten Hypo Tirol Bank

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Quartessenz BTV – Vier Länder Bank

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Besetzung, Impressum 55–65

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Fließtext*

Von Jan Wagner

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— Text, der in einem Stück und ohne Unterbrechungen durch Absätze, Überschriften, Abbildungen, Fußnoten u. Ä. gesetzt wird. — Aufforderung, seinen Gedanken freien Lauf zu lassen und dabei nicht zurückzuschauen; freihändig draufloszulegen, ohne zu korrigieren; die Buchstaben zu Papier zu bringen und bedenkenlos aus der Hand zu geben. 6/7

Sobald ich die Augen schließe, stehe ich unter Wasser, dürfen die Fische sich nähern: Schwimmende Schönheiten des Pazifiks sind es gelegentlich, edler in ihrem Muster als Schlafzimmertapeten aus Versailles, schillernde Barockschwärme mit einem verschwenderischen Flirren und Funkeln, mit einem Leichtsinn von Farben; hier und da wagen sich die bizarren Gestalten aus der dunklen Experimentierkammer der Tiefsee hervor, weit öfter noch aber sind es die seit Kindertagen vertrauten Formen von Flunder, Forelle, Hecht und Dorsch – sie schweben heran, schauen fragend, schauen stumm, verschwinden mit einem leichten Schlag ihrer Flossen, tauchen ab, als wären sie mit einem Mal misstrauisch geworden, müssten den Zweibeiner meiden. Und tatsächlich fällt mir jetzt, da ich die Augen geschlossen habe, auch wieder ein, was Forrest vor einigen Jahren erzählte, als wir gemeinsam am Strand von Rhode Island spazierengingen, den wir ganz für uns allein hatten, als wir in einer späten Nachmittagssonne plaudernd an den verlassenen Rüstungen und den leeren Helmen einiger Pfeilschwanzkrebse vorbeiliefen: Wie die riesigen Schwärme der bluefish, der Blaubarsche, wie sie im Deutschen heißen, einmal im Herbst der Wärme des Golfstroms nach Norden folgen und vor der Küste bei Providence vorüberziehen, erzählte Forrest also; wie sie die wimmelden Schwärme kleinerer Fische vor sich her treiben, hinein in die Buchten von Rhode Island, aus denen es für ihre Opfer, das wissen die Blaubarsche, kein Entkommen gibt, allerdings, und dies wissen sie nicht, obwohl sich das blutige Ritual Jahr für Jahr wiederholt, auch für sie selbst nicht; wie sodann hunderte, ja abertausende von Heringen oder Makrelen auf ihrer Flucht die nasse Heimat verlassen, erzählte Forrest (und ich sah es vor mir), wie sie angsterfüllt aus dem Meer schnellen, sich in ihrer Panik aus den Wellen hinauskatapultieren, lieber an der fremden, feindseligen Luft verenden als Beute ihrer blauen Jäger zu werden; wie all diese Heringe und Makrelen also nunmehr aufs tödliche Land klatschen, in den Sand prasseln wie silberne Münzen, als würden sie ausgeworfen aus den Tiefen der Meeresmaschinerie, eine gewaltige Münzausschüttung, ein glitzernder, blinkender Jackpot – und eine Tragödie, die schon früh ankündigt wird: Von den Möwen nämlich, ihrem unmissverständlichen Zeichen, das sie am Vormittag schon aus weiter Ferne senden und das die Schuljungen in ihren Baseballmützen beobachten, das Zeichen, das sodann alle, Erwachsene und Kinder, Jung und Alt, zum Ufer hinuntereilen lässt, jener gefiederte Tornado aus Seevögeln also, der zunächst als winzige Fahne am Horizont zu sehen ist, dann als eine weiß leuchtende Säule übers offene Meer heranzieht, sich langsam und zuverlässig Richtung Bucht bewegt, wo man sie erwartet, der gierige Kreisel, der die Schwärme der Jäger und die Schwärme der Gejagten in sicherer Erwartung eines überreichen Mahls begleitet, dieses brodelnde Stück Meer, das erst von der Küste gestoppt


wird, wo es auf die Phalanx der Männer prallt. Und wie die Fischer, erzählte Forrest (und ich sah sie vor mir im Wasser), ihrerseits in langen Reihen in der Bucht auf das unabwendbare und herbeigesehnte Herbstspektakel warten, das die Truhen für den Winter und die Bäuche der Familie füllen soll, wie die hochgewachsenen und schweigsamen Männer von Providence, Richmond und Newport also konzentriert in die Bucht starren, das flache Wasser mit ihren Blicken durchdringen, in hohen schwarzen Gummistiefeln und Wachstuchjacken, mit hochgekrempelten Ärmeln knietief in der seichten Bläue stehen, im weichen Untergrund Halt suchen, sich ganz im Wasser verhaken und gar nicht erst auf die Heringe achten, das armselig glitzernde Kroppzeug, das hinter ihnen auf dem Sand schlägt und zuckt, weil die Männer einzig Augen für den wahren Hauptgewinn haben, für den fetten Fang, die Septemberbeute; denn die Blaubarsche selbst sind es, ihre kalte Meute, der Hunger und Jagdgeschick zum Verhängnis werden, wenn die Männer von Rhode Island sie zu dutzenden mit bloßen Händen, mit Stangen und Netzen aus dem Wasser zerren, sie herausreißen, aufs Land schleudern mit sicherem Griff, um die glatten, sich wehrenden Körper noch bei lebendigem Leib aufzuschneiden, sie sogleich auszunehmen, zu zerlegen; wie ihre groben und geübten Hände diese Atlantikgeschenke aufreißen, sie hastig zu verarbeiten suchen, um ja nicht die nächste Gabe zu versäumen, denn ein blinder Griff genügt, um einen weiteren Blaubarsch zu ergreifen. Ganze Stücke und Brocken sind an die Umstehenden zu verteilen, Arme werden gestreckt, hier, ruft man, hier, während der weiße Sand der Bucht sich einfärbt, dunkler und dunkler wird von dem Blut und von dem Gekröse, während der Wind ein paar Flocken von rötlichem Schaum hinauf in die Dünen treibt und die Düfte von Schlachtfest und Tod die kreischende Vogelwolke über den Köpfen noch wahnsinniger werden, noch irrwitziger sich in die Luft von Rhode Island schrauben lässt; kilo- und klumpenweise Fisch an die Familien, sogar an die Fremden, die sich zuverlässig eingefunden haben, keiner soll leer ausgehen bei diesem Septembermassaker, jeder wird heute bedacht und satt, darf sein blutiges und tropfendes Paket mit nach Hause tragen, mit beiden Händen sein kaltes Meerespräsent umfasst halten, berauscht vom Lärm, dem Salz auf den Lippen, benebelt vom Zucken und Tanzen der Körper, ein bisschen taub vom Schlachtenlärm, mag sein, von dem Gelächter der Jäger, dem kochenden Wasser der Bucht. Doch nichts von all dem an diesem Tag, an dem wir auf Sohlen aus feinem weißen Sand spazierengingen in einer Bucht, die ganz ruhig und ganz klar vor uns lag, an dem die Sonne hinter Providence verschwand und Forrest mir mit ausgestrecktem Arm den winzigen weißen Leuchtturm zeigte, der von der anderen Seite der Bucht friedlich zu uns herübergrüßte, sich langsam warm zu glühen begann für die Nacht.


der ursprüngliche Titel 1034

Das „Ferienhaus“ 7907

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Ferienhaus für Tanja oder: Das Schweigen des Galeristen In der Tiroler Gemeinde Mösern wachte bis vor kurzem die gewaltige „Friedensglocke“ über die Gegend. Dieser Frieden scheint nun in Gefahr zu sein, steht doch seit ein paar Monaten mitten in der Bergwelt das „Ferienhaus für Terroristen“ – so der ursprüngliche Titel der Kunstinstallation des deutschen Bildhauers Thomas Schütte. Bauherr dieser 100 Quadratmeter großen, begehbaren Skulptur ist der international tätige Galerist Rafael Jablonka, der Interessierten nach Terminvereinbarung Zugang zum „Nachdenkraum“ gewährt. Eigentlich. – Ein Hausbesuch von Jochen Jung

1 Jablonka, bitte melden! 12.02.2013, 13:20 Sehr geehrter Herr Jung, für die kommende Ausgabe von Quart hätten wir gerne einen Text von Ihnen. Es gibt auch eine konkrete Idee: Sicher haben Sie schon etwas vom „Ferienhaus für Terroristen“ gehört. Würden Sie für uns dorthin fahren und einen Text darüber schreiben? Wir wollen keine Kunstrezeption, sondern einen literarischen Beitrag, inspiriert von der Installation Schüttes und dem Ort. Würde Sie so etwas interessieren? Herzliche Grüße, die Redaktion 14.02.2013, 16:12 Liebe Quart-Redaktion, zunächst einmal danke für die Einladung, verbunden mit einem leichten Staunen darüber, dass Sie dafür an mich gedacht haben. Interesse hätte ich. Thomas Schütte ist mir als systematischem Feuilletonleser durchaus bekannt, ohne dass ich mich näher mit ihm beschäftigt hätte (seine Aquarelle gefielen mir allerdings immer sehr, aber das ist ja auch „kein Kunststück“.) Das „Ferienhaus“, so simpel es aussieht, ist natürlich eine vertrackte Sache, aber ein Nicht-Spezialist wie ich muss da vor gewissen Bezügen sowieso kapitulieren. Frage: Gibt es ein Honorar? Und vor allem: Kann man in dem Haus eine Nacht verbringen? Herzlich, Jochen Jung

15.02.2013, 9:45 Lieber Herr Jung, einen Termin für die Öffnung des Hauses – und die Antwort auf die Übernachtungsfrage – bekommt man bei den zuständigen Leuten vor Ort, da können wir helfen. Und, ja – es gibt ein Honorar. Noch Fragen? Herzlich, die Redaktion 18.02.2013, 10:15 Also, liebe Redaktion, ich nehme Ihre Einladung gern an. Ich würde Sie aber bitten, den Kontakt mit den „Zuständigen“ herzustellen, wg. Besichtigung und Übernachtung. Herzlich, Ihr Jochen Jung 18.02.2013, 13:59 Lieber Herr Jung, es freut uns wirklich sehr, dass Sie zusagen. Am besten schicken wir Ihnen einfach die Kontaktdaten desjenigen, der Sie ins Haus lässt. Herzlich, die Redaktion 19.02.2013, 12:48 Sehr geehrte Redaktion, geht es im März 9. oder 10.? Beste Grüße, Rafael Jablonka 19.02.2013, 12:56 Lieber Herr Jung,


an einem Wochentag 5489

TourismusbĂźro 1829

Einlass 1891

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melden Sie sich bei Herrn Jablonka? Schöne Grüße, die Redaktion 20.02.2013, 07:01 Guten Morgen lieber Herr Jung, steht die Verbindung zwischen Herrn Jablonka und Ihnen? Gibt es einen Termin? Herzlich, die Redaktion 21.02.2013, 09:57 Sehr geehrter Herr Jablonka, wie Sie gehört haben, hat die Redaktion von „Quart“ mich gebeten, etwas über das Ferienhaus für T. von Thomas Schütte zu schreiben, was ich auch sehr gern machen würde. Wie ich höre, haben Sie das Wochenende 9. / 10. März vorgeschlagen, an dem man mir das Haus öffnen könnte. Meine Fragen dazu sind: Kann ich im Haus übernachten? (Das schiene mir wichtig.) Und ginge es auch in der Nacht vom 8. auf den 9. März? Ich würde mich freuen, wenn ich auch Sie bei der Gelegenheit kennenlernen könnte, und grüße einstweilen herzlich, Jochen Jung

im Haus, am Wochenende drauf auf der Leipziger Buchmesse, am nächsten habe ich Vertretertagung, dann ist Ostern, dann Rauriser Literaturtage, dann ein Handke-Symposium im Theatermuseum – Sie sehen: Nicht nur Herr Jablonka hat so seine Termine. Herzlich, Jochen Jung 05.03.2013,16:55 Lieber Herr Jung, es wäre sehr schade, wenn die ganze Sache scheitern würde … was schlagen Sie vor? Herzlich, die Redaktion 05.03.2013, 17:22 Liebe Redaktion, das Problem liegt ja offenbar bei Herrn Jablonka. Wissen Sie, ob er der einzige mit einem Schlüssel für das Haus ist? Da ich ja eh nicht im Haus übernachten kann, ginge es eventuell auch an einem Wochentag, aber auch da sind meine Möglichkeiten beschränkt. Es ginge im März nur am 11., 18. und 27. Könnten Sie ihm einen Stups geben? JJ

02.02.2013, 16:27 Sehr geehrter Herr Jung, leider kann ich den Termin noch nicht bestätigen. Ich werde mich kurzfristig melden. Eine Übernachtung in dem Ferienhaus ist nicht möglich. Mit freundlichen Grüßen, Rafael Jablonka

05.03.2013, 17:36 Lieber Jochen Jung, im Tourismusbüro Telfs sagte man uns eben, dass wir uns an Herr Jablonka wenden sollten – wir werden ihm noch einmal schreiben und informieren Sie, sobald wir etwas Zweckdienliches herausfinden konnten. Schöne Grüße, die Redaktion

02.03.2013, 14:29 Sehr geehrter Herr Jablonka, können Sie mir inzwischen sagen, wann ich das Haus besichtigen kann? Mit freundlichen Grüßen, Jochen Jung

07.03.2013, 08:55 Lieber Jochen Jung, Zu Ihrer Information – Gleich nach unserem Mailaustausch haben wir an Herrn Jablonka geschrieben und erneut bei ihm in Telfs um Einlass gebeten – bis jetzt ist noch keine Antwort bei uns eingelangt. Wir halten Sie auf dem Laufenden und grüßen einstweilen herzlich, die Redaktion

05.03.2013, 16:48 Liebe Quart-Redaktion, es sieht ein bisschen wackelig aus: Ich bin Do / Fr nicht


der Alltag 1142

Modelle von Menschen 4354

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Modelle von Bauten 4354


12.03.2013, 08:58 Betreff: das Schweigen des Galeristen Lieber Jochen Jung, Herr Jablonka meldet sich einfach nicht bei uns. Jetzt hoffen wir leise, dass er sich bei Ihnen gerührt hat … ja? Wir würden unter diesen schleppenden Umständen auch den Redaktionsschluss etwas hinauszögern. Haben Sie einen guten Tag! Die Redaktion 12.03.2013, 09:30 Liebe Redaktion, Ich kommentiere das besser nicht, aber ich staune. Jedenfalls hat er sich bei mir auch nicht gemeldet. Aber Ihr Betreff ist ja ein sehr schöner Titel – darüber ließe sich doch auch was Hübsches schreiben … Whatsoever, herzlich, JJ 12.03.2013, 14:35 Wissen Sie was – das sollten wir / Sie machen! Schreiben Sie doch darüber, wie Sie um das Haus streunen und keinen Einlass bekommen …

II Thomas Schütte, 59, Düsseldorf Natürlich habe ich, noch während die Mails hin und her gingen, versucht, mich über Thomas Schütte halbwegs schlau zu machen, um wenigstens ungefähr zu wissen, mit wem ich es da zu tun bekommen würde. Hübsche Falle, zu sagen, man will nichts Kunsthistorisches, und einen dann zu einem Kunstwerk zu schicken, das bloß so tut wie ein Haus. Sah von Weitem so aus, als gäb’s da drei Werkgruppen: die Aquarelle, die Figuren, die architektonischen Gebilde. Schwer zu glauben, dass die alle denselben Urheber haben – waren aber alle unter demselben Namen zwischen zwei Buchdeckeln. Die Aquarelle sind reines Glück, um nicht zu sagen: entzückend. Es reißt einen vor Vergnügen, wenn man in ihnen blättert. Man sieht das Wasser und die im Wasser explodierenden Farbpartikel, man hört, wie

sie lachen, und man schaut dabei zu, wie sich in ihnen der Alltag (z. B. ein Ei mit Eierlöffel) wiedererkennt und gleichzeitig verwandelt. Die Farben machen ihn präsent und besonders, proletarisch und karibisch, und so ist auch der leichtfüßige Witz, der da überall um die Ecken kichert. Dann die Figuren. Erst kleine, puppenhaft gequetschte Modellchen, die unversehens wachsen und Modelle werden und am Ende riesig sind, überlebensgroß, und auf einmal und endlich hat dieses Wort auch etwas mit dem Überleben zu tun. Der Mann im Matsch etwa, der da als Riese mit Wünschelrute vor der Sparkassenzentrale in Oldenburg steht, Schüttes Oma wohnt da gleich um die Ecke: Rettet der sich? Findet er was, wovon auch andre was haben? Wird er überleben? Sowas kann jedenfalls nur einer erfinden, der nicht leicht lebt. Und seine Geister, immerhin so und so oft lebensgroß, die aussehen, als wär der Michelin-Mann unter die Räder gekommen, huu, wie die da damals in Wien herumstanden und aussahen wie Wiener … Und schließlich das Architektonische. Seltsam. Das ist Architektur, die aussieht wie Architektur, die nie Architektur werden wird, weil der Architekt durch alle Prüfungen gefallen ist und anschließend zwei Flaschen Riesling getrunken hat, um die Welt zu trösten. Denkt man. Zunächst. Es sind Modelle in allen Größen und aus preiswertestem Material, um nicht zu sagen: aus billigstem. Es sind Modelle, aber Modelle von was? Man muss immer wieder hinschauen, um herauszufinden, warum man immer wieder hinschauen muss, und eine Weile denkt man: weil da irgendwas fehlt, aber was? Oder weil da irgendwas zu viel ist, aber was nur? Es sind Modelle von Bauten, die es vielleicht irgendwann mal geben wird, so wie die Geister Modelle von Menschen sind, die irgendwann mal gelebt haben. Aber dann erfährt man, dass Schütte bereits drei Häuser gebaut hat, oder hat bauen lassen, und dann ahnt man, dass die Geister vielleicht doch noch nicht ausgestorben sind. Nun ist Thomas Schütte ja nicht der erste Künstler, der auf die Idee mit den Häusern gekommen ist, und in Österreich schon gar nicht, denn in Österreich gab es Walter Pichler, Tiroler übrigens, wenn auch aus dem Süden. Auch er fing eines Tages an zu bauen, in St. Martin an der Raab, im tiefen Burgenland. Jedes Auto hat seine Garage, hat er gedacht, nur meine Plastiken sollen ir-


kein Kommentar zur Landschaft 7564

auf Sockeln 4527 auch Sockel 7491

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gendwo herumstehen? Und dann hat er ihnen eben Häuser gebaut, rundherum um das alte Bauernhaus, in dem er selber wohnte. Jetzt hatten alle ein Zuhause. Es hatte Sinn, und es machte Freude. Und also blieb es nicht dabei, er baute die Häuser für seine Stelen, das Haus auf Syros für die Steine, die ein Freund gesammelt hatte, das Haus neben der Schmiede seines Großvaters, die Passage, und derzeit entsteht posthum ein unterirdisches Museum für einen Sammler in Innsbruck. (Nur das Haus im See ist nie gebaut worden.) Es sind Wohnhäuser für Kunst, die selber kunstvoll sind, aber nicht selber Kunst. Nicht direkt jedenfalls, denn ein bisschen ist ja alles, was ein Künstler macht, Kunst. Alle Häuser von Walter Pichler stehen in der Landschaft, in der sie gebaut sind, wie dafür erfunden. Als wären sie ein Teil davon. Die drei Häuser von Thomas Schütte, die es schon gibt, sind dagegen kein Kommentar zur Landschaft, sondern eine Behauptung: Hier stehe ich; ich könnte zwar auch anders, aber so gefällt es mir. Hinzu kommt, dass Schüttes Häuser eine ganz andere Mimik haben als die von Pichler. Es steckt eine seltsame Ironie dahinter, was ja nicht dasselbe ist, als wenn sich jemand lustig machen wollte über die Gegend, in die das Haus geraten ist. Oder doch? Man glaubt zu spüren, dass irgendetwas an all dem nicht stimmt. Jedenfalls nicht übereinstimmt. Mit den Erwartungen, die offenbar auch nicht stimmen. Und dann steht auch noch alles auf Sockeln. Auf Tischen, die Sockel sind, oder auf Plätzen, Wiesen oder Plateaus, die auch Sockel sind. Und auch die Titel sind so etwas wie Sockel, und außerdem sind sie eine Art Materialapplikation aus Sprache. Und alles sieht so unfassbar anfassbar aus, so sachlich, stofflich, zeugmäßig. In der Welt.

III Das Haus im Wald Es geschah in diesem sagenumwobenen Frühjahr 2013, das jeden Winter des neuen und wahrscheinlich auch des alten Jahrtausends in seinen eisigen Schatten stellte, dass ich mich mitten in der Karwoche bei grauer Kälte auf den Weg von Salzburg nach Mösern in Tirol machte, um dort Thomas Schüttes Ferienhaus für T. eben nicht zu besichtigen, sondern nur anzuschauen

und anschließend den Text zu verfertigen, den Sie gerade lesen. Herr Jablonka hatte sich bis zuletzt nicht gemeldet. Ferienhaus für Terroristen hieß das Haus ursprünglich, aber wie ich erfahren hatte, fanden die Ferienhausvermieter von Mösern das gar nicht komisch, denn die Ferienhausvermieter von Mösern kennen ihre Mieter. Die suchen Fewos oder eben ganze Häuser mit netter, friedlicher Nachbarschaft. Darum heißt es jetzt nur noch Ferienhaus für T., und während ich auf der Autobahn durch den Schneematsch fuhr, versuchte ich das T. zu entschlüsseln, und natürlich fiel mir als erstes ein: Touristen. Das war allerdings sehr naheliegend, also überlegte ich weiter und kam dann endlich auf: Thomas. Natürlich, der Meister hatte das Haus für sich gebaut, für wen denn sonst, er war der Terrorist, und er war gerade dabei, mich in die Falle zu locken. Auch Jablonka war natürlich niemand anderer als Thomas Schütte, 59, geb. in Düsseldorf, und das Ganze war nichts anderes als ein abgekartetes Spiel, bei dem auch die Redaktion von Quart – – – Eigentlich unfassbar, was einem so durch den Kopf gehen kann, wenn man auf der Autobahn durch Schneematsch fährt. Mann im Matsch, ach Schütte, du hast mich. Ich entschied mich für: Ferienhaus für Tanja. Zweimal über die Grenze, dann Tirol, auf Innsbruck zu, an Innsbruck vorbei und hinauf nach Telfs. Und da inzwischen die Sonne sich mehr als durchgesetzt hatte und über der nassen Straße Dunstschwaden wie kleine Geister tanzten und der Himmel blau war wie das Mittelmeer und jenseits des Inns die riesigen weißen Berge ein unfassbares Panorama boten, klopfte mein Herz aufs Heiterste, als ich in Mösern ausstieg. Da war auch die Architektur, die ich zu sehen bekam, so weit so gut, denn ich würde ja gleich ganz was anderes zu sehen bekommen. Der erste, den ich nach dem Ferienhaus für T. fragte, war ein ungarischer Gastarbeiter, aber schon der zweite, der Chef des Imbiss’, rief, nachdem er erst nichts davon wusste, ich ihm dann aber sagte, dass das ein Künstlerhaus sei, hocherfreut aus „ah, das Terrorischtenhaus“ und wies mir den „Dorfkrug“ und von da gehe es links die Straße hinauf, dann sei ich gleich da. Links die Straße hinauf war ein monströses Apartment-


neben dem Parkplatz 4225

mitten im Wald 0123

Frieden und Unfrieden 7906

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haus, bei dem ich immerhin mein Auto abstellen konnte und wo neben dem Parkplatz ein kleines Holzhaus stand, in dem gebrauchte Bücher und allerlei Nippes waren, für einen Euro durfte man sich etwas nehmen. Natürlich muss ein Buchmensch nach den Büchern schauen, und siehe da, zwischen all dem, bei dem es mir um jeden Euro leid gewesen wäre, fand sich auch eine Bibel, die ich, dort stehend, sofort aufschlug, um folgende Stelle zu lesen, Nehemia 3,35: „Tobija, der Ammoniter, stand neben ihm und fügte hinzu: Sie sollen nur bauen! Wenn ein Fuchs an ihre Mauer springt, dann stürzt die ganze Herrlichkeit zusammen!“ Ich warf den Euro in die kleine Spardose und dachte: Jedes Hotelzimmer hat eine Bibel, und dein Auto soll keine haben? Und nahm sie mit. Die nächsten anderthalb Stunden kürze ich ab. Noch sechs Menschen habe ich nach dem Weg gefragt und bin dabei steile Wege durch den Wald gegangen, was auf 1200 m Höhe meine kurzatmige Lunge mitnahm wie zuletzt vor Jahren der Anstieg auf die Stufenpyramide von Tenochtitlan. Eine Dame meinte, es im Fernsehen gesehen zu haben, war sich aber nicht sicher, die anderen hingegen waren sich sicher, es nie gesehen zu haben, und einer rief mir zu „ein Terrorischtenhaus, das kann überall stehen“. Ich gab ihm recht und fing schon an, mir den Text zurecht zu legen zu dem Thema „Wie ich einmal das … suchte und nicht fand“. Dann ging ich noch einmal zum Dorfkrug, und die liebenswürdige Bedienerin nahm mich geradezu an der Hand, und zwei Minuten später stand ich vor der ganzen Herrlichkeit. Wieder musste ich tief Luft holen, diesmal aber, weil ich etwas sah, was ich seltsamerweise nicht erwartet hatte: Schönheit. Ich sah mitten im Wald ein nicht sehr großes Haus mit flachem Dach auf einem Grundstück, das nur wenig größer war als das Haus selbst. Und dieses Haus stand auf einem in drei Stufen vorspringenden Kupfersockel, und auch das Dach war aus blinkendem Kupfer, und auf dem Dach war ein schräger Kupferschornstein mit ausgeklügelten Applikationen, und unter dem mittelmeerblauen Himmel sah es aus wie ein kleines Kreuzfahrtschiff. Auch die Stämme der Fichten um das Haus sahen aus, als wären sie aus Kupfer, da, wo die Sonne sie beschien, und auch das sah sehr schön aus. Und obwohl man das eine oder andere Auto hörte, war es

still, das Lauteste war der tauende Schnee, der von den Ästen fiel. Und kein Fuchs in der Nähe. Ich ging um das Haus herum, das zwischen Dach und Sockel ganz aus Glas war und das einen Grundriss wie ein Flügel hatte, einer, auf dem die Musik der Stille gespielt wurde. Hinter dem Glas war es fast ganz verhängt mit gefältelten pastellfarbenen Vorhängen, aber eben nur fast, denn im hinteren Bereich, da, wo sich der Grundriss verjüngt, gab es keine Vorhänge, sondern das Glas war knapp mannshoch Milchglas, und auf Zehenspitzen konnte ich einen Blick in den sanitären Bereich werfen und also auch auf das gegen jede Kunstbemühung so rührend resistente Klo. Und: an einem der drei Glastüreingänge waren die Vorhänge aufgezogen, und ich konnte in den Raum hineinschauen. Da war rechts der Kamin, auch schräg, wie sein Schornstein, und davor lagen Filzpantoffeln, links sah ich, wenn ich mich vorbeugte, ein Waschbecken, und geradeaus, in der Mitte des kleinen Raumes, stand nichts als ein Holzstuhl mit kurzen Lehnen, und der sah mich an. Und weil ich nicht hineinkonnte in das Haus, weil Jablonka sich nicht gemeldet hatte, setzte ich mich auf ein sonnenheißes Stück des Kupfersockels und dachte, dass mir die Fotos von diesem Haus, die ich gesehen hatte, gar nichts gezeigt hatten und dass an dieser Stelle jeder Terrorist seinen Frieden finden würde. Ja, dieses Haus ist Thomas Schüttes Friedensangebot an sich selbst, dachte ich. Ich schlug noch einmal in meiner neuen alten Bibel die Stelle bei Nehemia auf und sah, dass es da um den Wiederaufbau der Stadtmauer von Jerusalem geht und dass sie anschließend das Laubhüttenfest feiern, zum ersten Mal wieder seit langem. „Und alle waren glücklich und voller Freude.“ Als ich dann zu dem Parkplatz zurückging, auf dem mein Auto stand, und mir die Sonne ins Gesicht schien, jetzt, kurz vor Ostern, ging mir noch durch den Kopf, dass die Welt wirklich ein seltsames Gemisch ist aus Berg und Tal, Frieden und Unfrieden, Kunst und Unkunst, und grad, als ich in mein Auto steigen wollte, schaute ich auf und sah auf einem der obersten Balkons des riesigen Apartmenthauses einen splitternackten Mann, der sich seinen Liegestuhl zur Sonne richtete, und es schien mir, dass er mir von oben zublinzelte. Jablonka?


bedeutsame Rolle 9021

Erinnerung am Erinnerten 9044

geprägt von Elementen des Zufalls 9043

Sich dem Fremdartigen auszusetzen 2386 18 / 19


Gefährliche Träume auf Papier

Martin Walde hat mit seinen „enactments“ den Umschlag dieses Heftes und sechs Doppelseiten im Heftinneren (S. 24–35) gestaltet. – Harald Uhr über den Künstler als Seismographen, „der sich dem Rätsel verschrieben hat, um über die Magie der Niederschrift das Verborgene und Vergessene wie ein Orakel zum Sprechen zu bringen.“

Die Arbeiten, die Martin Walde für Quart kompiliert hat, sind zunächst, und hier trügt der Augenschein auch erst mal nicht, im vermeintlich klassischen Sinne Arbeiten auf Papier. Mit dem gleichen Recht könnte man sie aber darüber hinaus auch als Arbeiten mit oder über Papier bezeichnen, denn die Materialität sowohl der Papiere als auch der verwendeten Stoffe, mit denen die Ebenen der Bilder aufgetragen, beschichtet, überlagert oder imprägniert werden, spielen eine mindestens ebenso bedeutsame Rolle. Somit sprengen diese Arbeiten die Gattungsgrenzen – hin zu skulpturalen oder plastischen Artefakten, wenn sie denn als solche wahrgenommen und benutzt werden. So signalisiert das dünne, fragile Papier so etwas wie Verletzlichkeit, es kann schnell einreißen, Knicke abbekommen oder gänzlich zerknüllt als Wurfgeschoss dienen. In diesen Arbeiten auf oder mit Papier erweist sich Walde demnach nicht zuletzt eben auch als Bildhauer, weil er den Umgang mit jedwedem Material vornehmlich durch die Handhabung und die daraus bedingte Formbarkeit heraus „begreift“. Hierzu gehört zweifellos auch der Umstand, dass sein Trachten darauf gerichtet zu sein scheint, jegliche Begriffsbestimmung oder Festlegung einer Auflösung anzunähern. Treffend hat daher Roland Nachtigäller in einem Katalogbeitrag angemerkt: „Seit vielen Jahren sind Martin Waldes künstlerische Unternehmungen geprägt von Elementen des Zufalls, der Entropie, des Geheimnisvollen. Seine Skulpturen aus Glas und Silikon erweitern den bisherigen Skulpturbegriff. Der plastische Prozess ist in die Entstehung mit eingebunden. Diese Prozesshaftigkeit zeigt sich auch in seinen Zeichnungen. Obsession und Transformation sind die Grundlagen seiner Arbeiten. Ein kommunikativer Prozess verändert die Sichtweise auf den Gegenstand, entweder durch comicartige sprechende Zeichnungen oder durch Handlungsanweisungen in seinen Installationen und Skulpturen.“ Sich dem Fremdartigen auszusetzen gehört mithin zur bestimmenden künstlerischen Strategie des 1957 ge-

borenen Tirolers. Zu eben diesem Fremdartigen kann mitunter auch das vermeintlich Ureigenste, wie die eigene Wahrnehmung oder die Erinnerung, zählen. Was bedeutet es, wenn der Mensch uns so fremd wird wie ein anderes Tier? Mit solchen und ähnlichen Fragestellungen hat Walde wie kaum jemand sonst über die Jahre hinweg eine Neugier am anthropologisch noch Unbekannten Aufrecht erhalten und in seinen Arbeiten in immer wieder neuen Variationen thematisiert. Speziell die Erinnerung wird in Waldes Augen als eine handwerklich zu bewältigende plastische Aufgabe, als formender Prozess betrachtet. Als Mittel hierzu dienen ihm die konstant seit den 80er-Jahren entwickelten Zeichnungsserien, die ab 1997 den Titel „Loosing Control (enactments)“ tragen. Neueste aber auch ältere Beispiele aus diesem Fundus sind in die aktuelle Quart-Ausgabe hier unter dem Titel „Satelite Pictures of a man with many jobs“ eingeflochten. In loser Folge und zahlreichen Variationen bieten sie fortwährende Hinweise auf die Verzerrungen der Arbeit der Erinnerung am Erinnerten und belegen, dass der Zugriff auf das Wirkliche, das wirklich war, nicht fehlerfrei zu schaffen ist. Den Ausgangspunkt bilden zumeist Szenen im städtischen Umfeld, die jedenfalls auf den ersten, vielleicht aber auch den zweiten Blick, wenn er sich denn bietet, aus dem Raster der Normalität herauszufallen scheinen. Die Blätter beschreiben Ereignisse, die den öffentlichen Raum auf eine andere Weise sichtbar machen können – Geschehnisse, die die Schutzhülle unseres alltäglichen Normalitätsempfindens durchbrechen. Für Martin Walde ist „Enactments“ der kollektive Titel einer Serie von Zeichnungen, Scripts, Storyboards, oftmals Fotos und in Einzelfällen auch Videos, die solche Ereignisse im öffentlichen Raum registrieren und aufzeichnen. Es geht um den Versuch, Dinge zu visualisieren, die außerhalb des Dokumentierbaren liegen, zumal, oder erst recht, da Walde nicht bewusst oder gezielt nach diesen flüchtigen Momenten Ausschau hält, entsprechendes mediales Werkzeug nicht immer bei der Hand hat und somit das Medium


neu lesbare Orte 7833

Orte, die Relationen aufzeigen 9041

Konzentrat einer sich selbst suchenden Idee 9032

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„Erinnerung“ in Anschlag bringen muss. Etwa bei der Szene, wo Walde einen jungen Mann mit Strohhut beobachtet, der mit hochgekrempelter Hose im völlig verschmutzten Wienfluss steht und zwei Schwäne, die dort eher gleichmütig ihre Bahnen zeihen, mit Wasser bespritzt und beschimpft. Erst Jahre nach dieser Beobachtung entstanden die Fotos von dieser Lokalität und wurden von Walde mit der ursprünglich spontan angefertigten Zeichnung zusammengeführt. Ein weiteres Beispiel zeigt eine weibliche Person mit einem kleinen Damenrucksack, die über mehrere Jahre hinweg die Eisengitter, die die Bäume im öffentlichen Stadtraum umringen, vom Unkraut befreit. Walde bemerkte immer wieder diese Frau, die sichtlich ohne äußeren Auftrag ihrer Tätigkeit im öffentlichen Raum nachging. Nachdem jedoch die Eisengitter von städtischer Seite entfernt wurden, hat er sie im Straßenbild nicht wieder angetroffen. Eine dritte Sequenz sei hier noch angeführt: Eine Szene, die geläufig ist, die man aber dennoch selten sieht. Ein Auto blockiert die Fahrspur, aus der Haube quillt Rauch. Ein Mann in heller Hose beugt sich tief über die geöffnete Motorhaube. In dem ganzen Geschehen des weiterströmenden Verkehrs bekommt dieser herausgelöste Moment etwas Skulpturales. Mit seinen Bild- und Zeichnungssequenzen bestätigt Walde das ins Ereignis eingeführte Ich. Als Erinnerungsspur wird das Gestörte sichtbarer als das Nichtgestörte. Hierzu bedient sich Walde einer Chiffrenschrift, die zwischen dem Sinnlichen und dem Sinn zu vermitteln sucht – als Konzentrat einer sich selbst suchenden Idee. Aus der Fülle der Merkmale und Strukturen der Welt hebt der Künstler diejenigen hervor, die für ihn affektiv bedeutsam sind. Jenseits von Diskursivität und Regelsystemen und jenseits bloß intellektueller Intuition entwirft Walde ein Zeichen- und Begriffssystem, das aus der Innovation einer abschweifenden und spekulativen Sprache lebt. Friedrich Schlegels Diktum, dass die Worte respektive Bilder sich selbst oft besser verstehen als diejenigen, von denen sie gebraucht werden, kommt einem hierbei in den Sinn. Seine Bilderreihen tragen dazu bei, neue Gestaltungen des Sichtbaren, des Sagbaren und des Denkbaren zu entwerfen. Seine Haltung ist geprägt von der verhaltenen Sicherheit der vagabundierenden Spieler, Poeten und „Bastler“, die den Alltag gleichermaßen als Materiallieferanten wie als Baustelle

benutzen, als gegeben und infiltrierbar vorstellen. Im Ergebnis entstehen dann glücklich verwandelte und neu lesbare Orte, Orte, die Relationen aufzeigen, Energien und Utopien verhandeln. Auch für Walde steht daher die Beschäftigung mit den Zwischenräumen im Fokus seiner künstlerischen Grundlagenforschung. Seine zeichnerische, fotografische oder filmische Annäherung zeugt dabei von einer Intimität der Wahrnehmung und impliziert die Aufgabe eines rein distanzierenden und registrierenden Beobachtens. Die Dringlichkeit des Anliegens prägt dabei seine Formensuche. Hinter der Anschmiegung an Vorhandenes und Bekanntes setzt eine präzise Bildformung ein, deren Spiel mit der Wirklichkeit weder einfache Wiederholung noch eindeutiger Kommentar ist. Stattdessen gilt es, Irritationen und Störungen für das Überleben produktiv nutzbar zu machen. Behandelt werden die blinden Flecken unserer visuellen Weltaneignung, markieren doch die Abbildungen so etwas wie die Grenzen unseres Wirklichkeitshorizonts. Bereiche werden angesprochen, wo ein wahrnehmendes und identifizierendes Sehen sich mit emotionalen Gestimmtheiten und Atmosphären vermengt und eine klare Trennlinie nicht mehr auszumachen ist. Worin bestehen nun die Herausforderungen an das Auge, denen wir bei der Betrachtung der Arbeiten von Martin Walde ausgesetzt sind? Die Kunst Waldes ist nicht ortlos, sondern hat Ortlosigkeit zum Thema. Sie behandelt die Frage: Wie kann ich einen Bezug zu etwas haben, mit dem ich mich nicht in Beziehung setzen kann? Es entspinnt sich hier ein ausgetüfteltes, nahezu existentielles Spiel von Nähe und Distanz. Das Bild ist eben das, von dem ich ausgeschlossen bin. Nur wenn wir uns als fremd erfahren, verändern wir das Vertraute. Walde begreift die Welt, die menschlichen Beziehungen als „Ensembles“, als veränderliche Konstellationen von Wahrnehmung und Reflexion, von Normen, Geschichten, Emotionen und Theorien. Auf den ersten Blick handelt es sich um rätselhafte Gebilde mit unklarer Formenstruktur. Auf den zweiten Blick erkennt – oder vorsichtiger formuliert: erahnt – man ein komplexes System von bildimmanenten Relationen auf verschiedenen Ebenen. So ist die Form der Ensembles zwar offen und mehrdeutig, doch nach einem bestimmten Ordnungs- und Verweissystem organisiert. Sein prozesshaftes Arbeiten, das Reproduzieren, An-


das Verborgene und Vergessene 9034

auf den ersten Blick 8512

Zufall und Notwendigkeit 5343

Grenzen der menschlichen Bedingtheit 7932

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bauen und Wiedereinbauen bringt es mit sich, dass die Komplexität seiner Arbeiten kein fester, einmal erreichter Zustand ist, sondern sich ständig verändert. Es geht um Be- und Entgrenzung, der Grenze zwischen Innen- und Außenwelt, um die Notwendigkeit einer Grenzziehung, um die Entgrenzung traditioneller Zeichensetzung. In ihrer distanzierten Kargheit operieren die Bilder mit einer poetischen Verdichtung und weisen den Künstler als Seismographen für jenen zeitgemäßen Bewusstseinszustand aus, der sich dem Rätsel verschrieben hat, um über die Magie der Niederschrift das Verborgene und Vergessene wie ein Orakel zum Sprechen zu bringen. Die Erregung vor dem Unfassbaren wie die Anspannung selbst scheinen in den fragilen Gebilden gespeichert.

ten Moment im Hier und Jetzt einzufangen, enthoben und lediglich zur Ortsbestimmung eingesetzt. Durch die Überlagerung mit den gezeichneten Schablonen erweitert Walde das Spektrum um die Möglichkeiten der Malerei, die seit jeher von den zeitlichen Beschränkungen der Fotografie befreit war. In ihrem Zusammenwirken kommen schließlich plastische Komponenten zum Tragen. Mit seiner Visualisierungsstrategie, die bewusst auch Fehlerhaftes und Unvorhersehbares mit einschließt, verweist der Künstler auf die Arbeitsweise des menschlichen Bewusstseins, sein ständiges Schwanken und Driften zwischen Verengung und Erweiterung, sein Murmeln von Texten und Subtexten. Schließlich sind auch beim Denken und Erinnern chemische Prozesse und Substanzen am Werk.

Nicht nur durch die ständige Ergänzung und Variation der Motivreihen, sondern auch durch ein fortschreitendes Erproben und Erweitern der technischen Umsetzungsmöglichkeiten erweist sich die Serie der „Enactments“ als ein zentrales Versuchslabor für Martin Waldes Untersuchungen hybrider Zustände. Was auf den ersten Blick als reines Experimentieren mit chemischen Rezepturen und Mixturen für neuartige drucktechnische Lösungen bei der Zusammenführung von Fotos, Schrift und Bild daherkommt, bildet gleichermaßen eine subtile Auseinandersetzung mit den inhaltlichen Ebenen des Dargestellten oder Abgebildeten. Zufall und Notwendigkeit gehen dabei ungeahnte Verbindungen ein. Konsistenzen, Überlagerungen und Schichtungen werden versuchsweise in Stellung gebracht, um von einer grundsätzlichen Bestimmung und Infragestellung der Ausgangsmedien begleitet zu werden. Was ist ein Foto, was eine Zeichnung und in welchem Verhältnis stehen sie zueinander oder zu den Kategorien von Zeit und Raum? Oder wie beeinflusst die jeweilige Handhabung, der Druck auf den Auslöser, die Linienziehung oder Strichsetzung die Deutungsmöglichkeit der Kombinationen? Für das anvisierte, aber nie zu Gänze erreichbare Ziel einer vollständigen Aufzeichnung einer Realität bedient sich Walde jedweder Möglichkeit der Manipulation und entwickelt eine selbst entworfene Drucktechnik, bei der die Bilder durch verschiedene Experimente mit chemischen Rezepturen völlig individuell und nicht reproduzierbar auf das Papier übertragen werden. Die Fotografie wird dabei ihrer eigentlichen Aufgabe, einen ganz bestimm-

Auf spielerisch-kreative Weise erkundet Martin Walde somit die poetischen Freiräume unserer durch technische Medien normierten Bildwelten, ohne dass diese sich in jedem Einzelfall einer „Plausibilitätskontrolle“ durch den Betrachter unterziehen lassen. Die vertraut erscheinenden Motive erweisen sich als Versatzstücke einer imaginären Parallelwelt, die sich unserem Verlangen nach eindeutiger Zuordnung entziehen. Darin besteht jedoch auch ihre Gleichnishaftigkeit dem Leben gegenüber – einem Spiel, dessen Zweck darin besteht, die Regeln herauszufinden, wobei sich die Regeln andauernd verändern und immer unentdeckbar bleiben. Es zeugt von einem reflektierten Einsatz der Medien, wenn der Künstler zunächst deren Möglichkeiten und Bedingungen sowohl metaphorisch als auch konkret erkundet, dabei auf Brüche und Stolperstellen stößt, um diese dann in seinen Arbeiten zu thematisieren. Die Kunst des Kombinierens wird von ihm, bar jedweder Berührungsängste, zum Einsatz gebracht. Waldes Blattfolgen zwingen den Betrachter zur Neuverortung und machen den Zweifel am Sichtbaren mit Hilfe des Abbildes sichtbar. Die Zeichnungsserien von Martin Walde lassen sich als eine ehrlich gemeinte Aufforderung zur Kommunikation und zum persönlichen Austausch ohne zynische Distanz lesen. Mit seiner Aufwertung des Daseins wirbt Martin Walde für eine intensivierte visuelle Wahrnehmung der Welt, um damit die Grenzen der menschlichen Bedingtheit weiter hinauszuschieben und den Raum der menschlichen Freiheit zu erweitern.














Bewegung als Heilmittel 0526

EU-Größen 1203

Zeit und Geschichte 7521

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Brenner-Gespräch (9) Die ganze Kraft des Spiels

So viele Leute fahren über die Alpen nach Italien. Quart bittet herausragende Persönlichkeiten an den Straßenrand zu einer Jause und einem Gespräch. Folge 9: die Schriftstellerin Felicitas Hoppe im Gespräch mit dem Schauspieler und Regisseur Elmar Drexel über Slogans aus dem Mittelalter, den freiwilligen Verzicht auf Perfektion und Bewegung als Heilmittel gegen Schreibroutine.

Elmar Drexel: Ich möchte mit dir gerne zwei Dinge besprechen, die mich während meiner Inszenierung von Johanna, meiner Dramatisierung deines 2004 erschienenen Romans, besonders beschäftigt haben. Zum einen möchte ich – gemäß deiner poetologischen Auffassung, dass „das ICH ein Spiel mit Wörtern“ sei – über dieses „Spiel“ und das „Spielen“ mit dir reden, über den „homo ludens“ und den „Spieltrieb“ als Form der Erkenntnis. Zum anderen, was gedanklich daran anschließt und ja auch zum „Spiel mit Wörtern“ gehört, über das Vokabular im Roman Johanna. Es hat mich erstaunt, wie das im Roman verwendete Vokabular einer mittelalterlichen Lebenswelt entstammt – etwa die Begriffe Verrat, Krone, Herz oder Mundschenk –, und wie sehr eine ritterliche Geisteshaltung im Vokabular unserer Sprache noch immer verankert ist, wie sehr es in die Gegenwart hinein wirkt. Ein Beispiel dafür ist das im Roman von dir beschriebene Gesellschaftsspiel „Wie krönt man richtig?“. Ich hatte dabei immer Fotos vor Augen, auf denen sich die EU-Größen vor einer Kamera postieren – und über allem steht die Frage: „Wie krönt man richtig?“ Felicitas Hoppe: Vor kurzem erst habe ich mit jemanden genau darüber geredet: Wie stark verändern sich Zeit und Geschichte – und was können wir von diesen Geschichten verstehen? Im Fall Johannas sind uns natürlich bestimmte Zugänge versperrt, z. B. die Sache mit der Jungfernschaft. Das ist etwas, worüber ganz schwer ins Gespräch zu kommen ist. Darüber hinaus gibt es bei Johanna auch eine metaphysische Verknüpfung, die heute in dieser Weise nicht mehr existiert: Die ganze Johanna-Geschichte ist nicht denkbar ohne die Vorstellung, in einem göttlichen Auftrag zu handeln und sich auch in dieser Rolle zu sehen. Religion ist

auch heute ein großes Thema, aber in ganz veränderter Form. Schließlich gibt es dann aber auch diese andere Schiene, die die Insignien der Macht betrifft, ihre Darstellung, ihre Positionierung, das Ehrgefühl – alle diese Dinge. Da gebe ich dir vollkommen recht, das wirkt bis heute fort und zwar in einer ganz erstaunlichen Weise. D.: Wie ist das konkret an deiner Arbeit zu merken? H.: Meine Texte haben insgesamt einen starken Hang zur Devise. Die Devise ist eine mittelalterliche Form, ich bin geradezu besessen von diesen – heute würde man sagen – „Slogans“, die man benützen kann. „Wie krönt man richtig?“ ist eben einer davon. Das ist etwas Mittelalterliches, aber als plakative Sentenz heute immer noch präsent – also auch gut verwendbar und gut zu vermitteln. Der Slogan „Wie krönt man richtig?“ – oder die Fortsetzung davon „Kröne dich selbst, sonst krönt dich keiner“ in meinem Roman Hoppe –, das alles ist mittlerweile sogar in den Sprachgebrauch der Feuilletons übergegangen. Bei der Besprechung einer Musikgruppe in der FAZ, mit mir hatte das überhaupt nichts zu tun, lautete die Überschrift: „Kröne dich selbst, sonst krönt dich keiner.“ Das heißt, diese Sentenzen sind wirksam, weil sie auf Ordnungssysteme verweisen, die natürlich auch politisch sind. D.: Apropos „Slogan“ oder „Devise“ – ich habe zu den Schauspielern während der Proben immer gesagt: „Passt auf! Dieser Abend ist eine Anrufung!“ Das ist eine Formulierung von Heinz Schlaffer in seinem Buch Geistersprache, in dem er erklärt, dass eine Funktion der Lyrik die „Anrufung“ sei. Dein Text beinhaltet ja auch sehr viele lyrische Passagen. „Anrufung“ kommt mir so vor wie „Slogan“ oder „Devise“ – es ist viel-


monologischen Passage 7979

Ernsthaftigkeit des Spiels 7902

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leicht sogar ein bisschen mehr, ich würde sagen: Es ist dramatischer oder theatralischer. H.: Das ist noch viel treffender, weil es diese vorhin erwähnte metaphysische Dimension hat. Man spricht in einen Raum hinein, von dem man meint, da ist jemand oder etwas, aber man weiß nicht wer … Das ist übrigens ein Gestus, der mein ganzes Werk durchzieht. Es beginnt in Pigafetta mit einer monologischen Passage, die ins Dialogische geht, wo am Ende gesagt wird: „Hörst du mir überhaupt zu?“ – „Ja, ich höre dir zu! Nur, dass du deine Stimme mit meiner verwechselst!“ Es ist ein permanentes „Anrufen“ in meinen Büchern. In einer Vorlesung über „Mündlichkeit und Schriftlichkeit“ habe ich einmal versucht zu erklären, dass meine Werke sich ganz stark aus dem mündlichen Impetus speisen, demzufolge einem physischen Impetus. Das heißt, mein Schreiben ist – so artifiziell es scheint – eigentlich performativ. Und ich empfinde das bei der Herstellung des Textes genau so. Für mich ist mein Schreiben im Prinzip keine Geistesarbeit. Sie ist es nur insofern, als dass ich den Geist und den Körper gar nicht trennen kann. Schreiben kommt mir absolut natürlich vor, weil es aus dem Impuls kommt. Deshalb schreibe ich gern am Computer, dann habe ich das Gefühl, ich säße an einem Instrument; es ist wie Klavierspielen. Ich kann mich sozusagen rhythmisch in Gang bringen, das kann ich mit dem „Stift“ nicht. Am Computer habe ich auch immer das Gefühl, etwas Sportives zu machen, ich nehme neu Anlauf, ich wiederhole diese Form der Anrufung – in Johanna ist das sehr stark. Das sind keine Erzählungen, das ist „Stimme“ pur, selbst da, wo der Text nicht explizit in direkter Rede steht. Es ist immer die Stimme und für Johanna spielen die Stimmen natürlich eine wichtige Rolle, weil sie ja Stimmen hört. Da trifft „Anrufung“ die Sache ziemlich genau. D.: Wenn diese Sprache dann wirklich gesprochen wird, kommt der Rhythmus, der dem Text zugrunde liegt, gut zum Vorschein. Mit den Schauspielern bekommt der Abend einen ungeheuren Sog. H.: Man merkt das natürlich auch beim Vorlesen, der Text scheint zunächst sperrig. Eine Kollegin von mir

gab vor einiger Zeit eine Anthologie mit Liebeslyrik heraus und meldete sich bei mir. Ich fragte sie, wo sie denn bei mir Liebeslyrik gefunden habe, so was hätte ich doch überhaupt nicht geschrieben. Sie meinte darauf: „Na ja, ich möchte ein Stück aus Johanna nehmen!“ Ich war skeptisch, doch dann hat sie mir ihren Text geschickt und hatte einen Teil – irgendwas mit Herz kommt natürlich vor – quasi in Versform gesetzt. Es funktionierte perfekt als Gedicht! Bei Johanna ist der Text komplett durchrhythmisiert – und das ist ein dramatisches Element. Es ist ja kein Zufall, dass die Dramatiker sich der Versform bedienen, weil sie natürlich energetisiert. Sie gibt dem Text Kraft, bündelt ihn und macht ihn leichter memorisierbar, man merkt sich etwas Gereimtes leichter und es … D.: … schreibt sich auch schneller. Diese Vielschreiber, wie z. B. Molière, mussten ja ein gutes Schreibverfahren haben! H.: Ja, das ist wie eine Art Backform, ein Format. Beim Schreiben merkt man, das ist es, was einen vorantreibt. Für mich ist es die schwierigste Aufgabe, unrhythmisch zu schreiben. D.: Wenn der Text für die Schauspieler rhythmisiert ist, kommen sie auch leichter rein! H.: Da sind wir beim Thema des Spiels. Johan Huizinga erzählt in seinem Buch „Homo ludens“ von einem Vater, der nach Hause kommt und sein vierjähriger Sohn spielt Eisenbahn, er hat sich die Stühle wie eine Eisenbahn hingebaut, sitzt ganz vorne und macht „tsch-tsch-tsch“. Der Vater liebt seinen Sohn und küsst ihn zur Begrüßung. Da sagt der Sohn: „Papa, du darfst die Lokomotive nicht küssen, sonst denken die Wagen, es wäre nicht echt!“ Das, finde ich, zeigt die ganze Kraft – auch die Ernsthaftigkeit des Spiels! Das Wissen, dass es ein Spiel ist, aber dass dieses Spiel ernst zu nehmen und notwendig ist, weil es sonst als Spiel nicht funktioniert, finde ich großartig! Das Spiel und die Spielfreude darf man nicht unterschätzen. Im Falle Johannas kippt die Ernsthaftigkeit in ein lebensgefährliches Spiel – „Erkenne den König!“ – „Regiere


Potential der Mรถglichkeiten 2355

Inszenierung einen Entspannungsmoment 7433

archaische Grundmuster 7305

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dich selbst!“ usw. Das hat auch etwas sehr Imperativisches! Es werden im Roman immer diese Imperative ausgegeben! „Tu dies!“ oder „Tu das!“ D.: Die Erfahrung, die wir mit den Theatervorstellungen von Johanna machen, ist die, dass die Leute diese provozierende Kraft der Poesie annehmen, sich darauf einlassen und einzelne Sätze mit hinausnehmen. Ich finde das wunderbar! H.: Die Freude über einen bestimmten Satz ist mehr wert als ein ganz toller Plot – ohne gegen den Plot argumentieren zu wollen. Es ist natürlich auch ein Spezifikum dieses Textes, dass man das Gefühl hat, er ist um gewisser Sätze willen geschrieben. Und die Figur wird mit Hilfe dieser Sätze, dieser Sentenzen umkreist. Eine Erfahrung, die ich öfter beim Vorlesen mache, ist die, dass Leute kommen und sagen: „Ich hab das gelesen, oder: Ich höre Ihnen jetzt zu, aber das Problem ist, es geht immer so schnell, da sind so viele Sätze.“ Man kann behaupten, der Text hat eine hohe poetische Dichte. Hier gibt es sozusagen eine gewisse Überdosis. Dadurch entsteht in dem Text selber so eine Art poetisches Gedränge und da könnte ich mir vorstellen, dass eine Inszenierung einen Entspannungsmoment bringt. Im Selbstleseprozess ist das wahrscheinlich viel mühsamer als auf der Bühne. D.: Die Vorstellung von der Figur Johanna bleibt ja bei der Prosa, im Selbstleseprozess, unbeschädigt. Am Theater ist natürlich schon die Besetzung eine radikale Interpretation. H.: Diese Entscheidungen sind ja auch toll, weil sie etwas auf den Punkt bringen, und das sorgt ja, wie im Leben auch, für Klarheit – wenn auch nur kurzfristig. Mit dem ersten Satz in der Prosa ist das genau so! Wenn ich sage, ich mache eine Setzung, dann schließe ich ja unendlich viele Sätze aus. Auf der anderen Seite öffnet die Entscheidung viele Möglichkeitsräume. Ich glaube ja, dass unser Handeln nicht neue Möglichkeitsräume vernichtet, sondern öffnet. Nur durch das Handeln wird uns die Präsenz des Möglichen bewusst. Es gibt den klassischen „Möchte-lieber-nicht-Typ“, der

dann im Gar-nichts-Tun verharrt, weil er eine anfallende Entscheidung nicht treffen will. Der unterschätzt, glaube ich, dass das Potential der Möglichkeiten durch die Handlung steigt. Dieser Gedanke hat mich auch bei meinem Buch Hoppe geleitet, in dem klar wird: Nicht das Bessere, nicht die Alternative wird hier beschrieben, es ist das Komplementär, eine Ergänzung. „Du wohnst in diesem Haus und in keinem andern“, heißt es. Aber nur die Existenz dieses Hauses erlaubt es, dir andere Häuser vorzustellen – davon bin ich überzeugt! Wenn man gar kein Haus hat, stellt man sich kein anderes mehr vor. Und das gilt vor allem für einen Kunstschaffenden, der ja immer Form gibt, auf den Punkt oder auf die Bühne bringt, inszeniert – wohl wissend, dass er es am anderen Tag anders machen würde. Das ist ja gerade das Tolle! Darin besteht die künstlerische Potentialität. Indem ich nicht ein perfektes Kunstwerk schaffe, sondern akzeptiere, dass diese eine Möglichkeit eine von vielen ist. Das ist natürlich auch eine Absage meinerseits an jedwede Form einer vermeintlichen Perfektion. Und damit sind wir wieder bei der Frage des Spiels. Es ist doch erstaunlich, dass immer wieder dieselben Spiele gespielt werden. Unsere Kinder sagen nicht: „Ödes Spiel! Das habt ja ihr schon gespielt!“ Im Gegenteil: Sie spielen es, weil wir es auch schon gespielt haben. D.: Und welches Motiv hatte deiner Meinung nach Johanna, so zu handeln, wie sie gehandelt hat? H.: In Johanna scheint man ja auf archaische Grundmuster zu treffen. Johanna greift quasi Dinge auf, die in der Luft gelegen haben müssen. Das ist ja bis heute unzureichend erforscht. Man darf nicht vergessen: Sie war eine Analphabetin! Woher kam das, was sie angetrieben hat? Wenn man die Legenden von dem Mythos herunterkratzt, hat man es mit einer ziemlich sensiblen, fantasiebegabten und aufnahmefähigen Person zu tun, die offenbar aus allem, was sie umgibt, ihre eigenen Schlüsse zieht und zu einem Handlungsschema bündelt, dem sie dann folgt. Das bedeutet, aus dem Leben wird Literatur – aber die Literatur kehrt auch wieder ins Leben zurück! Ich glaube, dass Johanna ohne gewisse märchenhaf-


Wie stellt ihr euch den Himmel vor? 7904

Nachtzug nach Paris 5309

Physis in Bewegung 0843

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te Grundmuster, ohne Idealisierungstypen nicht auskommt. Es ist ja der Text, oder besser: die Imagination, die sie überhaupt befähigt, etwas ins Werk zu setzen – sei es zum Guten, oder zum Schlechten, das kann man unterschiedlich bewerten. D.: Das Arbeitsmaterial, das ich für so eine Theaterproduktion zusammenstelle, ist immer ein bisschen zu umfangfreich. Im Arbeitsprozess ergibt sich dann, was bleibt und was rausfliegt. Bei so einer Arbeitsweise ist man sehr auf die Mitarbeit der Schauspieler angewiesen. Man muss erst hinschauen, wie das phänomenologisch funktioniert, was man sich im Kopf ausgedacht hat. H.: Das ist doch ideal, diese Form der Zusammenarbeit! Wenn man die vielen Johanna-Filme betrachtet oder all die Johanna-Figuren auf der Bühne, dann wird schnell klar: Das ist ein Stoff, der zum Monumentalen reizt … allein, wenn wir an dieses Motiv „Die Engländer kommen!“ denken. In meinem Roman Johanna wird das Ganze umgedreht. Johanna ist ein Kammerspiel, so sehe ich das. Und deshalb bist du wahrscheinlich auch auf die Idee gekommen, das zu dramatisieren. Du hast ja nicht aus einem historischen Johanna-Roman dieses Ding gebastelt, sondern aus etwas, was in der Tat zwar das ganze Personal aufruft, aber von der Personenkonstellation her ein absolutes Kammerspiel ist. Das Initial für den Roman war übrigens die Begegnung mit den historischen Protokollen, die mich wahnsinnig berührt haben. Sie sind zwar auch durch viele Hände und Transkriptionen gegangen – aber trotzdem: Mir war klar, dass ich damit etwas machen will! Ich bin beim Schreiben durch so viele Phasen gegangen. Ich dachte oft: „Das kannst du nicht stemmen! Das macht dich ja wahnsinnig!“ Aus diesem Prozess bin ich dann nicht nur erschöpft, sondern natürlich auch verändert hervorgegangen. Vor allem mit diesen Wechselbädern klar zu kommen, fand ich das Schwierigste. Es gab diese Tage, wo ich total triumphal gestimmt war und dachte: „Jetzt hab ich’s!“ Und dann gab es wieder Tage, an denen ich mir sicher war: „Es interessiert keine Menschenseele … und du kommst der Figur nicht

nach!“ Ich hatte das Gefühl, ich arbeite mich an der Figur ab. Es ist eigentlich wie in menschlichen Beziehungen auch. Bevor ich das letzte Kapitel schrieb – das „Himmelskapitel“, hatte ich das Gefühl, dass ich den Knoten kurzfristig zerhauen hatte. Ich dachte mir, das zieh ich jetzt bis zum Schluss durch! Plötzlich gab es einen Stopper und ich wusste, irgendetwas stimmt nicht. Eines Abends saß ich mit Freunden, wir unterhielten uns und da fragte ich alle: „Wie stellt ihr euch den Himmel vor?“ Eine Kindergartenfrage eigentlich! Und es kamen so viele verschiedene Varianten – der Abend war für mich sehr anregend und am Schluss bin ich aufgestanden, hab bezahlt und gesagt: „Ich fahre morgen nach Rouen!“ Ich merkte mit einem Mal, ich trete auf der Stelle, ich bin kurz davor in eine Art Schreibroutine zu verfallen. Ich kann die Geschichte ruhig so fertig erzählen, aber ich muss diesen Ort sehen, wo Johanna verbrannt wurde! Am nächsten Morgen kaufte ich ein Ticket für den Nachtzug nach Paris, fuhr weiter nach Rouen, war ungefähr drei Stunden dort und fuhr wieder nach Hause. Dann hab ich mich hingesetzt und das Buch in drei Tagen fertig geschrieben. Und „Bruder Martin“, der am Schluss in Johanna vorkommt, habe ich dieser Zugfahrt zu verdanken. Ich habe natürlich nicht diesen Bruder Martin getroffen! Aber diese Idee – die Szene im Bistro-Wagen, wirklich eine klassische Bühnenepisode, in der alle historischen Figuren noch einmal auftreten und das von vorne durchspielen –, die entstand nur, weil ich die halbe Nacht in diesem Bistro-Wagen gesessen habe. Das war eine sehr lustige Atmosphäre und ich habe ein paar nette Leute kennengelernt. Ich meine: Es ist nicht der Geist, der schreibt, oder der abgesonderte Geist, der da im Zimmer am Schreibtisch durch die Sprache zur Wirkung kommt. Das Schreiben ist und bleibt für mich … ja, es bleibt physisch, das ist schon eine ganz klare Sache! Es bedeutet auch: Du musst deine eigene Physis in Bewegung bringen. Es werden ganz andere Ressourcen freigesetzt, wenn ich, statt nur am Schreibtisch zu sitzen und zu brüten, in den Zug nach Rouen steige.


Trinkwasserkraftwerk 4225

die grĂśĂ&#x;te Deponie 4649

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Ein verstecktes Drama

Das Padastertal, ein bei Steinach am Brenner abzweigendes Almtal, wird zur Aushubdeponie des Brenner Basistunnels. Ein Lokalaugenschein von Robert Prosser

1 Als ich im März dieses Jahres erstmals ins Padastertal komme, ahne ich nicht, dass diese einzige unbewohnte Abzweigung des Wipptales Projektionsfläche für vielzählige Erwartungen und Hoffnungen ist, die die Region seit geraumer Zeit umtreiben, zu verlassen wirkt der von Steinach zwischen den Tälern von Navis und Schmirn nach Osten verlaufende Bergeinschnitt. Ein für die Gegend nicht untypischer kalter Wind friert eine dünne Schneeschicht auf Hausmauern und Wiesen fest; bis auf das Rauschen des über die gegenüberliegende Brennerautobahn donnernden Schwerverkehrs ist nichts zu hören. An einem Straßenschranken kündigt ein Warnschild eine Baustelle an, rechterhand, den Graben hinab, verliert sich ein schmaler Bach in großzügig angelegten Verbauungen und Auffangbecken. Später erzählt man mir, als eine von vielen in den Wirtschaften wie dem Schi-Café oder dem Bahnhofslokal kursierenden Anekdoten, dass der ehemalige Tiroler Landeshauptmann Wendelin Weingartner das Padastertal als Rückzugsgebiet schätzte und es während seiner Amtszeit regelmäßig aufsuchte. Er war vermutlich nicht der einzige, der in dieser dicht bewaldeten Einsamkeit seinen Kopf wieder freibekam, denke ich und scheitere doch daran, es mir vorzustellen, weil wie Weingartner auch der Wald von der Bildfläche bzw. aus dem Tal verschwunden ist. In mehr als zehn Jahren wird sich hier die größte Deponie des Brenner Basistunnelbaus befinden, um auf einer Länge von 1400 Metern und bis zu 80 Meter hoch an die 7,7 Millionen Kubikmeter Aushub zu lagern. Die Oberfläche der Deponie wird daraufhin neu gestaltet und bepflanzt, um aus dem ehemaligen „Sauloch“, wie es manche Steinacher nennen, eine landwirtschaftlich nutzbare Ebene zu formen. Noch gelangt man zu einer Holzbrücke, von welcher sowohl die in den 1970-ern mit Schubraupen in den Wald gepflügte Forststraße als auch ein „Kuhtod“ genannter, den Bach entlang verlaufender Steig zur Seaper Alm führen, der einzigen, teilweise bewirtschafteten Wohnstätte des Gebietes. Am Talbeginn ragt ein verlassener Hof auf, der in seinem durch zerschlagene Fensterscheiben erspäh-

ten Inneren ein aufgegebenes Bauernleben bezeugt. In dunklen, staubigen Räumen liegt blechernes Kochgeschirr auf verstaubten Anrichten, einzig der vordere Teil des Hauses wurde renoviert und dient der Bauleitung als provisorische Unterkunft. Dahinter stehen zwei Holzschuppen, sowie ein weiteres verlassenes Gebäude, welches ein Schild mit der Aufschrift „Zielhaus Naturfreunde Steinach“ trägt. Auf der anderen Seite des Baches zeigt sich im mit Spritzbeton befestigten Hang der Eingang des neu gebauten Padastertunnels. Am Straßenrand liegen schneebedeckte, bereits entastete Baustämme. Neben abgestellten Lastwägen und Baucontainern mit italienischsprachigen Infoblättern findet sich ein Trinkwasserkraftwerk. An der nördlichen Talseite erhebt sich eine Halde, die, wie ich erfahren werde, aus dem Aushub der ersten Phase geschaffen wurde. Bei dem im letzten Jahr erfolgten Bau des ins Padastertal führenden Tunnels fielen 250.000 m³ Gesteinsmaterial an, das sich nun unscheinbar unter gelbem Gras und Schnee bis zur Brücke zieht. Knapp vorm Wasserwerk liegt die St.-Wendelin-Kapelle, an deren Innenwänden gerahmte Partezettel und einige vergilbte Fotografien Verstorbener angebracht sind. Hinter einer schmiedeeisernen Abtrennung hält auf dem Altarbild Mutter Maria das Jesuskind im Arm, so farbverloren unkenntlich, geschwärzt von der Zeit, als wollte das Bildnis einen Vorgeschmack geben auf die Dunkelheit, die über diesen Teil des Tales in nicht allzu ferner Zukunft kommen wird und sich bereits anhand der abgeholzten Hänge erraten lässt: Etwa so hoch, wie die gerodete Fläche reicht, wird die Deponie letztlich sein, um über niedergerissene Gebäude und den Resten von Kapelle und Wasserwerk bis zur Holzbrücke das vordere Padastertal zu bedecken. 2 Will man tiefer in die Abläufe dieses Bauprojektes blicken, steht man erst einer unüberschaubaren Datenmasse gegenüber, hundertseitige Sachberichte und Bescheide formen sich im WWW zur virtuellen Deponie. Drei Herren der BBT-SE (der Errichtungsgesellschaft des Brenner Basistunnels) – der Leiter der Kommu-


nicht ortsĂźbliche Pflanzen 1843

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nikationsabteilung, der Chef der hiesigen Bauleitung und der Umweltsachverständige – laden zu einer Führung ein. Die Reduzierung des LKW-Verkehrs ist die Basis der Argumentation für die Deponie. Damit kein mit Aushub beladenes Schwerkraftfahrzeug Steinach durchquert, kommt der Tunnel ins Spiel, der am Beginn des Padastertales auf der südlichen Seite liegt. Innerhalb von 7 Monaten gebohrt und 700 Meter lang reicht dieser zur Baustelle im Ortsteil Wolf. Der Boden des Tunnels ist von Lastwagenrädern durchfurcht, unzählige Fahrten liegen darin festgefroren, an den Seitenwänden bilden die Reste des Winters unwirkliche, in der Dunkelheit dumpf schimmernde Eisformen. Bevor der Tunnel in Wolf endet, erkennt man im Berginneren den Ortsbrust genannten, derzeitigen Schlusspunkt, von wo im nächsten Schritt weitergebohrt werden wird. Derzeit läuft die Ausschreibung für dieses zweite Baulos, um den der Heiligen Barbara gewidmeten Stollen mit dem eigentlichen Brenner Basistunnel zu verbinden. Rund 4 Kilometer Entfernung sowie ein Abstieg von 400 Metern sind dabei zu bewerkstelligen, pro Vortrieb und Tag ist mit insgesamt 100 LKW-Fahrten zu rechnen. Nach einer etwa 6-monatigen Vergabeprozedur wird feststehen, welches Unternehmen den Auftrag erhält, der mit rund ca. 140 Millionen Euro veranschlagt ist. (Es ähnelt einer Lotterie: Die größten der von der BBT-SE ausgeschriebenen Lose bringen 700 bis 800 Millionen Euro). Ab 2017 sollen die Gesteinsmassen aus Haupttunnel und Erkundungsstollen mittels 20 Kilometer langen Förderbändern bis zu 800 Tonnen pro Stunde ins Padastertal bringen. Die Deponie wird während der gesamten, bis 2025 geplanten Bauzeit vorwiegend Quarzphyllit, Bündner Schiefer und Zentralgneis aufnehmen, die aus den Vortrieben zwischen Pfons, Brenner und Ahrental stammen. Der seit der Flussverbauung fischlose Padasterbach wird im nächsten Arbeitsschritt untertunnelt und soll nach der Rekultivierung in einer Betonrinne über die neu entstandene Ebene verlaufen, der unterirdische Verlauf bleibt für den Fall eines Hochwassers bestehen. Ein solches stürzte während schwerer Unwetter im August 2012 aus dem Padastertal, der Ortsteil Siegreith konnte dank bereits angelegter Auffangbecken vor einem Unglück bewahrt werden. Etwa zwanzig Meter den Stollen hinein liegt linkerhand eine Abzweigung, die zur vormals als Spreng-

stofflager benützten Kaverne führt. Jetzt ist das Gewölbe mit Sesseln, Bierbänken und einer Theaterbühne ausgestattet, die sich im Licht der Taschenlampe als Inneneinrichtung einer kleinen Hütte zeigt. Am 5. April 2013 luden die Volksschauspiele Steinach zur Premiere des Stückes „Die Wilde Frau“ von Felix Mitterer in den Stollen. Die Regisseurin möchte damit keinen künstlerischen Kommentar zum Eingriff ins Padastertal abgeben, erklärt sie auf Nachfrage, und freut sich über die gute Zusammenarbeit mit der BBT-SE. Felix Mitterer persönlich, erzählt man sich in Steinachs Lokalen, habe sich für eine der folgenden Vorstellungen als Zuseher angekündigt. 3 Ähnlich, wie Mineure Frauen einerseits Stollen widmen und sie andererseits aus dem Tunnel verbannen, weil sie dem Aberglauben zufolge Unglück ins Bergwerk bringen, so sieht sich der Umweltsachverständige des BBT-SE in einer Hassliebe zu den Sachverständigen des Landes Tirols gefangen, die ihn mit ihren Anforderungen und Umweltverträglichkeitsprüfungen auf Trab halten. An die 350 Naturschutzauflagen sind zu erfüllen, für die neun im vorderen Padastertal vorkommenden Fledermausarten (darunter unverhofft eine bisher in Tirol unbekannte) müssen beispielsweise neue Schlafplätze bereitgestellt werden. Fledermäuse gelten als anpassungsfähig, schwieriger gestalten sich die Verpflanzungen der gleichsam aufgefundenen Orchideen; das Gelingen ihrer Umsiedelung vermag niemand zu bestätigen. Ein eigener Sachverständiger wacht darüber, dass keine Neophyten – eingeschleppte, nicht ortsübliche Pflanzen – angesetzt werden, Samenfallen sieben die versteckten Passagiere des Pollenfluges aus. Letztes Jahr wurde mithilfe von Futterkrippen begonnen, das in großer Zahl ansässige Rotwild nach Norden zu locken; jedoch es kommt, vom neu ausgesäten Gras angezogen, zurück; oft sind am oberen Rand der Deponie Gämsen und Rehe zu beobachten. Jede Schicht von Aushub wird gewalzt, verdichtet, möglichst kompakt gehalten. Entlang des Berghanges wurde eine Druckleitung gelegt, die zum neuen Wasserwerk führt. Talbeginn, nahe dem Fahrradweg von München nach Verona, wird die St.-Wendelin-Kapelle aus Bündner Schiefer neu errichtet, die feierliche Eröffnung ist für diesen Sommer angesetzt. Luft, Wasser, Bodenerschütterungen werden aufgezeichnet und un-


Dolmetschern und Ăœbersetzungen 2354

Schlechtwetterprogramm 9323

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tersucht, die Daten und Proben gehen an Hygieneinstitute und an die Universität Innsbruck. Natürlich dient die genaue Datenerfassung von Seiten der BBT-SE auch dazu, bei Bedarf die eigene Unschuld zu beweisen, falls, was vorkommt, ein Bauer Jauche in den Fluss leitet und die überschrittenen Grenzwerte den Verdacht zuerst auf die Tunnelbaugesellschaft lenken. Gerne zieht man als Beispiel den in Bau befindlichen St. Gotthard Basistunnel heran, dortige Fehlschläge wollen analysiert, Erfolge genützt werden. Mit dem Aushub wurden in der Schweiz etwa Inseln im Zürcher See aufgeschüttet oder Forststraßen erneuert, was einen starken LKWVerkehr erfordert, Deponien sind eine vergleichsweise geringere Umweltbeeinträchtigung. Der Vorwurf, das gesamte Projekt gehe zu zaghaft vor sich, wird von der Bauleitung durch Unsicherheiten erklärt, die im Detail stecken, beispielsweise kann ein Bergmassiv unvorhergesehene Gesteinsschichten bereithalten. Auch die verschiedenen Grundrechte in Italien und Österreich sorgen für Aufschub: Wird hier unter einem privaten Grundstück gegraben, so zieht das ein Entschädigungsverfahren nach sich, da in Österreich der Grundbesitz, überspitzt ausgedrückt, bis zum Erdmittelpunkt reicht; in Italien dagegen endet dieser nach etwa 30 Metern. Tunnelbohrungen haben jenseits des Brenners nur beschränkt juristische Auswirkungen, führen in Tirol aber zu tausenden Verträgen, die, da es sich um ein Projekt zweier Staaten handelt, zweisprachig abgefasst werden müssen. Die schiere Menge an Verfahren, Dolmetschern und Übersetzungen muss überwältigend sein, vermuten die drei Herren der BBT-SE. 4 Laut Dorfchronik war das hintere Padastertal bis in die erste Hälfte des 18. Jahrhunderts bewohnt. Sechs Höfe wurden damals von einer Lawine zerstört, als die ansässigen Bauernfamilien sich in Steinachs Kirche zur Christmette eingefunden hatten. Bis in die 1980er lief durchs mit Sonnenschein nicht gerade gesegnete Padastertal eine offizielle Rodelrennstrecke, auf welcher auch Staatsmeisterschaften ausgetragen wurden. 1995 stürzten die zwei Brüder, die zum maroden Hof am Talbeginn gehörten, mit einem selbstgebauten Traktorengefährt auf der Rückfahrt von der Seaper Alm ziemlich genau vom Startpunkt der Rennrodelstrecke und verunglückten tödlich. Die Witwe eines der beiden bewohnte den vorderen Teil des Hofes und

wurde letztes Jahr von der BBT-SE ausgelöst. Erwähnenswert ist, dass sich 17 Einheimische in diesem Revier die Gemeinschaftsjagd teilen, um zu verhindern, dass ein reicher Italiener das Jagdrecht aufkauft und die Wälder leerschießt, wie offenbar an manchen Orten des Oberlandes bereits geschehen. In Steinach werden Unannehmlichkeiten meist aus dem Süden erwartet bzw. befürchtet, diesen Eindruck erwecken die geführten und mitgehörten Gespräche. Wer nach dem Padastertal fragt, dem wird mit Ansichten zum gesamten Brenner Basistunnel geantwortet. Wenige meinen, dass es schade um das Tal wäre. „Alles was die Gesellschaft macht, hat Hand und Fuß“, höre ich; auf die Frage, welche Meinung man zum Tunnelbau einnimmt, kommt die Antwort, man sei zu 100 % dafür. Der BBT-SE eilt der Ruf voraus, schnell und gut zu entschädigen, die Gesellschaft gilt als ausgezeichneter Geschäftspartner. (Es scheint, als würde die BBT-SE ein Füllhorn übers Wipptal ausschütten, an dessen Geldregen sich viele bedienen.) Hubert Rauch, ÖVPPolitiker und seit 1986 Steinachs Bürgermeister, erklärt mir, dass die Deponie vom Gemeinderat einstimmig beschlossen worden sei, wobei die Fraktion Rauchs mit 10 von 15 Sitzen die Mehrheit hält. Der existierende Schienenverkehr durchs Dorf ist sein erklärtes Feindbild, wichtig ist ihm, der Jugend ein lebenswertes Steinach zu bieten. (Diese Forderung wiederholen einige andere Gesprächspartner, der Verdacht der Floskel sei daher geäußert.) Der Bürgermeister erhofft sich bis zu 25.000 mehr Besucher pro Jahr, die, vom neu errichteten Infocenter angezogen, mit Baustellentourismus à la Gotthardtunnel Steinach und das Wipptal beleben. Ihm zufolge wird der Bau des Infocenters heuer im Mai begonnen und bis Weihnachten vollendet. Recherchen ergeben, dass das Projekt laut Vertrag zwar dieses Jahr aufgenommen werden muss, aber frühestens im nächsten Jahr mit der Fertigstellung zu rechnen ist. Es handelt sich dabei um einen Anbau an die Talstation des Schigebietes Bergeralm mit ca. 500 m² Fläche – samt Fachausstellung, Tunnelführung, Baustellenbesichtigung und Fachvorträgen. Laut dem Geschäftsführer des Tourismusverbandes Wipptal eine Initialzündung für die Region, stark besuchte Ortschaften wie Seefeld sollen das Infocenter ihren Gästen als Schlechtwetterprogramm anpreisen. Der Bürgermeister bestätigt, dass Deponie und Basistunnel ein gutes Geschäft für die Gemeinde sind. Abgesehen von den Ablösezahlungen


Gemeinsam mit seiner Ehefrau 7402

BĂźrgerinitiative 7364

Tochterfirma 8474 50 / 51


der BBT-SE existiert ein Vertrag zwischen der Landesregierung und den Ortschaften, die an der Bahnlinie liegen. Errechnet nach der Länge des Tunnelbaus im Gemeindegebiet und der Beeinträchtigung durch die Baustelle bekommt Steinach demnach 25 % der Kommunalsteuer je nach Baufortschritt ausbezahlt. Im Taleingang gehört die Seite rechterhand den Österreichischen Bundesforsten, weiter hinein besitzt die Agrargemeinschaft Matrei einige Hektar. Die nördliche Seite der Deponie sowie der Großteil des Waldbesitzes im Padastertal fällt der Agrargemeinschaft Steinach zu. Die ca. 150 Mitglieder zählende Gemeindegutsagrargemeinschaft Steinach rodet ihre Deponiegründe und verkauft die geschlägerten Bäume zu 80 % als Nutzholz an Unternehmen wie Binder oder Pfeifer und zu 20% als Brennholz. Sie kassiert Entschädigung von der BBT-SE, weil die Bäume zwar qualitativ hochwertig, mit 50 bis 60 Jahren aber noch zu jung zum Fällen sind und es sich daher um einen Ertragsentgang handelt. Dieser Verdienst wird in den Ankauf neuer Waldgründe und in die Sanierung von Forstwegen gesteckt. Da die eigentliche Deponiepacht aber nicht der Agrar zukommt, sondern an die Gemeinde fließt, schätzt der Agrarier, mit dem ich mich unterhalte, dass bisher an die 500.000 Euro in die Ortskassa gelangt seien. Ohne die BBT-SE, stellt der Agrarier fest, wäre auch das veraltete Trinkwasserwerk im Padastertal nicht zu ersetzen gewesen. Im September 2009 kam es zu einer Protestwanderung vom Bahnhof in Steinach bis zur Seaper Alm, als Gemeinschaftsaktion der Bürgerinitiative Lebenswertes Wipptal, des Architekten Michael Prachensky und des Autors Winfried Linde. Dies blieb die einzige nennenswerte Tätigkeit, um auf die Bewahrung des Tales aufmerksam zu machen. Auffallend ist, dass den politischen Parteien und Akteuren bis auf Fritz Gurgiser von sämtlichen Beteiligten wenig bis gar keine Bedeutung zugemessen wird. Die Politik wirft in Gestalt der kommenden Landtagswahl einzig anhand von Plakaten, Witzeleien über Stronach und der Angst der Agrarier vor Rückgabeforderungen schmächtige Schatten über Steinach. Das Errichten einer Deponie im Padastertal war bereits 2002 im Gespräch, mindestens ebenso lang kursieren Gerüchte über die Rolle eines großen Tiroler Bauunternehmens bzw. dessen Zirler Tochterfirma.

Das Unternehmen dürfte bereits frühzeitig einen Tipp über geplante Deponien erhalten haben und begann – risikoreich, aber wirtschaftlich einleuchtend – sich im Wipptal Rechte an möglichen Ablagerungsplätzen zu sichern. Der das Padastertal betreffende Deal mit den Österreichischen Bundesforsten, der unter anderem in einem Artikel der Tiroler Tageszeitung vom 30.11.2011 nachzulesen ist, hätte bedeutet, dass die BBT-SE einen Deponiepreis von 2,75 Euro/m³ zahlen müsste. Laut BBT-SE wurde diese Problematik mittlerweile geklärt, die Entschädigung beträgt bei allen Deponien einheitlich 1,30 Euro/m³. 5 Gemeinsam mit seiner Ehefrau bewirtschaftet Otto Pils seit 1999 die im hinteren Padastertal auf 1619 Metern gelegene, rund 300 Jahre alte Seaper Alm. Wanderern, die sich über die Deponie beschweren, zeigt er Fotomontagen der BBT-SE, die einen Eindruck vermitteln sollen, wie das neubepflanzte Areal einmal aussehen wird; er steht dem Projekt positiv gegenüber und kann aufgrund der Vielzahl an Orchideen und Wildtieren, die sich im Talschluss findet, die Aufregung um bedrohte Lebensräume im vorderen Teil nicht nachvollziehen. Die Seaper Alm ist von Mitte Juni bis Mitte September geöffnet und dient als Stützpunkt für Jäger und die auf den umliegenden Weidegründen arbeitenden Bauern. Es ist keine Gastwirtschaft im eigentlichen Sinn, die Alm verfügt weder über Strom, Kanalanschluss oder Sonnenschirme. Die Baustelle hilft dem Bewirtschafter, das Ideal eines alpinen Rückzugsortes, der nur Eingeweihten zur Verfügung steht, zu bewahren, da nun noch weniger Besucher als zuvor kommen. Im Blickfeld der Stubaier und Zillertaler Alpen, den Olperer zum Greifen nah, passiert, wie man es sich von einer abgeschiedenen Alm erwartet, nie wirklich viel. Letztes Jahr sind fünf Kühe abgestürzt oder in einen Murmeltierbau getreten und mussten daraufhin verendet oder verletzt nach Steinach gebracht werden. (In der Schweiz, um ein dortiges Beispiel auch in Bezug auf die Almwirtschaft zu nennen, sprengt man tote Kühe an Ort und Stelle in die Luft). Der Name der Alm leitet sich von einem Grundbucheintrag in der Mitte des 19. Jahrhunderts ab. Die Vorfahren des jetzigen Besitzers Paul Spörr, zwei Brüder namens Hans und Josef vulgo Sepper besaßen Gründe im Talkessel. Beim Niederschreiben der Rechte wurde aus Sepp Seap – ein


Basistunnel 7991

Zugereisten 7480

Frage des Blickwinkels 7299

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der Unachtsamkeit eines Chronisten geschuldeter Fehler. Als Ausweichroute ins hintere Padastertal soll bei Deponiebetrieb eine Forststraße benützt werden, die über den südlichen Bergkamm führt. Diese ist vier Kilometer länger als die bisherige und bedingt bei Heufuhren und Viehtransport eine nicht unwesentliche Erhöhung der Fahrzeit von ca. 2 Stunden. Es gäbe oberhalb der Deponie zwar einen entlang der Wasserleitung errichteten Weg; dieser muss nach aktuellem Stand aber rückgebaut werden – manche meinen, auf Beschluss des Landes Tirol, andere, auf Entscheidung der BBTSE. Paul Spörr, Besitzer der Seaper Alm und Obmann der Weggemeinschaft der Bauern, die vor kurzem die Parteistellung für zukünftige Verfahren erhalten hat, bezeichnet es als eine Tragödie, dass die Bewirtschafter des hinteren Padastertales auf diese Forststraße ausweichen sollen. Wie so vieles liegt auch diese Angelegenheit in der Schwebe, vielleicht wird der Höhenweg freigegeben, vielleicht ist der Bauer, der die letzten 230 Meter der neuen Forststraße besitzt und sich bisher geweigert hatte, an die BBT-SE zu verkaufen, stur geblieben. Die Chancen, dass auch er sich abfinden lässt, stehen, wie Spörr meint, allerdings gut. (Zwei Tage nach unserem Gespräch erfahre ich, dass er mit seiner Befürchtung Recht hatte). 17 Bauern teilen sich im Gesamten rund 500 Hektar umfassende Weidegründe; zwei von ihnen führen Hof und Vieh im Vollerwerb, der Großteil betreibt die Landwirtschaft als Zweitberuf. Von Gemeinde und Agrariern sei nie Unterstützung gekommen, sagt Spörr. Erst seit er den ORF kontaktiert habe, wäre Gesprächsbereitschaft von Seiten der BBT-SE zu erkennen, was der vorherigen Aussage der Gesellschaft, es gäbe keine andere Möglichkeit als diese Ausweichroute, widerspreche. Spörr zufolge kommt es derzeit täglich zu 48 Fahrten von Bewirtschaftern Richtung Talkessel und zurück – so verlassen, wie man annehmen möchte, ist das Padastertal nicht. Aufgrund des längeren Weges und der damit bedingten verkomplizierten landwirtschaftlichen Tätigkeit, die nicht mit einer Lohnarbeit zu vereinbaren ist, werden die meisten Bauern die Entschädigungszahlungen annehmen und die Weidegründe aufgeben. Wie sich die befürchtete Verwaldung und der Verlust eines alpinen Kleinodes mit dem von der BBT-SE und dem Land Tirol forcierten Umweltschutz vereinbaren lassen, ist eine Frage, die Spörr nun mithilfe eines Anwaltes stellt. Fest steht, dass neue Deponiearbeiten erst

im nächsten Jahr begonnen werden, bis dahin bleibt der Talkessel wie gewohnt erreichbar. Was dann geschieht, weiß niemand. 6 Das Padastertal ist in all seiner abgeholzten Baustellenhässlichkeit eine Manifestation der Wünsche und Befürchtungen, die die Wipptaler Bevölkerung aufgrund des Transitverkehres seit Jahrzehnten beschäftigen. In Steinach hofft man auf weniger Verkehr und auf Mineure, die in hiesigen Privatunterkünften wohnen, in Lokalen und Gasthäusern konsumieren und so die lokalen Wirtschaft ankurbeln. Man hofft auf einen funktionierten Basistunnel, eine bewahrte Natur und auf eine Belebung des Ortes. Beim Autobahnbau 1971 fanden einige steirische Arbeiter in Steinach die Liebe und blieben hier, erzählt man. Von diesen Ausnahmen abgesehen werden die damals ins Wipptal gekommenen Männer bestenfalls als „wilde Hunde“ bezeichnet; viele erinnern sich einiger Streitigkeiten zwischen Arbeitern und Bevölkerung. Wie das Gemälde an der Außenmauer des Hotels Rose verrät, hat Steinach eine eigenwillige Beziehung zu Zugereisten: Als 1631, nach sechsjähriger Abwesenheit von 200 in den 30-jährigen Krieg gezogenen Soldaten sechs Männer aus der Schweiz zurückkehrten, brachte einer von ihnen ein Mädchen mit, weil er glaubte, seine Frau sei zwischenzeitlich verstorben. Wieder zuhause bemerkte er seinen Irrtum und ihm blieb nichts anderes übrig, als das Schweizer Mädchen zurückzuschicken. Auch in Felix Mitterers Stück „Die Wilde Frau“ kommt es zu unerwartetem weiblichen Besuch, zudem nimmt ein gekreuzigtes Reh eine symbolisch wichtige Rolle ein. Wer dem gewilderten Tier unters Fell schlüpft und von den Holzfällern verspeist wird, und wer wiederum diese Holzfäller sind, wird im Aufeinandertreffen von Naturschutz, Bauern, Agrariern, Gemeinderäten, Bürgerinitiativen, Baugesellschaften und Anrainern reihum ausgeschnapst und ist in erster Linie eine Frage des Blickwinkels. Die Volksschauspiele Steinach werden zumindest bis 2025 nicht zwingend auf fremde Stücke zurückgreifen müssen, im eigenen Dorf sollte genügend Stoff zu finden sein.


Weltgegenden 4633

in europäischen Landschaften 1452

entlang der Autobahn 7233 54 / 55


Tag 1/2; 29./30. März 2013; Kufstein – Wörgl – Innsbruck zu Fuß

Michael Höpfner geht seit 1995 zu Fuß durch verschiedene Weltgegenden: durch die Ukraine, Kasachstan, Tadschikistan, China, Indien, Nepal, Südkorea, Island, Libyen oder den Senegal … fotografiert, zeichnet, sammelt usw. Nun hat er eine Tirolreise begonnen, Bilder davon sind auf den folgenden Doppelseiten zu sehen. Zu den Tagen 1 und 2 seiner Wanderung hat uns Michael Höpfner die folgenden Notizen zukommen lassen:

„Im Vorjahr, bei einer Autofahrt über die Inntalautobahn und den Brenner kam mir die Idee, verschiedene Täler, vor allem Transittäler in Tirol abzugehen. Nach den langen Wanderungen in Zentralasien und Westchina in den letzten 10 Jahren hatte ich große Lust, das Zu-Fuß-unterwegs-Sein und alle Erfahrungen, die ich gesammelt habe, wieder in europäischen Landschaften anzuwenden. ‚Verlangsamung‘, ‚Hinausgehen‘, ‚Hinaussehen‘ sind Begriffe, die mir dabei immer wieder in den Sinn kamen. Ganz wesentlich erscheint mir, dass sich die Wahrnehmung unserer unmittelbaren Umwelt seit den 90erJahren (seit meinem Studium) vollständig verschoben hat. Der Begriff Realität wird anders angewendet, Realität wird mittlerweile am Bildschirm, am Smartphone akzeptiert. Das unmittelbare Erleben von Landschaft, Natur, Stadt bekommt eine andere Bedeutung. Das ist ein interessanter Moment, der vor allem in der visuellen Kunst behandelt / verhandelt werden muss. Die Schwarzweißfotos sind Teil einer Serie, die ich während der Wanderung – an Hauptstraßen, entlang der Autobahn, durch Wälder, an einem Freilichtmu-

seum vorbei – gemacht habe. Es sind unspektakuläre Orte, die aber alle dieses räumliche Verhältnis von Straße, Verbauung, Natur und Fußgänger (= Mensch) in sich haben (auffällig, dass in der ganzen Serie nur ein Mensch vorkommt). Es ist ein Anfang, das Projekt wird sich über das ganze nächste Jahr ziehen. Ich kehre sehr gern immer wieder auf bestimmte Routen zurück, schau nochmals hin, gehe andere Wege. Genauer hinsehen; skeptischer Blick; dem eigenen Blick misstrauen. In der nächsten Serie werden dann auch meine kleinen Zeltplätze auftauchen, die Wanderungen werden manchmal sicher auch ein oder zwei Wochen dauern; ein etwas anarchistischer Zugang zur Kulturlandschaft. S/W-Fotografie auf Film deswegen, weil mir die Arbeit mit dem Material wichtig ist, weil ich in der Dunkelkammer sofort perfekte Prints bekomme, weil S/W auch im Fall der Tirol-Fotografien eine seltsame Abstraktionsebene hat; mich hat überrascht, wie skulptural die Inhalte wirken.“ Courtesy Galerie Hubert Winter und Zeitkunst Galerie Kitzbühel












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Garmisch-Partenkirchen ins Trentino 0724

Grenzen der Darstellbarkeit 2283

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Die Landvermesserin Landvermessung No. 4, Sequenz 2 Von Seefeld Richtung Axamer Lizum

Geschichten kann man auch durch geometrische Operationen auf der Landkarte generieren: In Quart folgen unterschiedliche Autoren mit unterschiedlicher Kondition unterschiedlichen Linien (s. Übersichtskarte auf der vorhergehenden Doppelseite). Wir befinden uns nun auf einer Geraden, die von Garmisch-Partenkirchen ins Trentino führt. Teresa Präauer belauscht die Dorfjugend, begutachtet Fotografien, Tafelbilder und Trachten und wird vielleicht doch noch Sennerin in der Axamer Lizum.

Oswald Biss- und Blutspuren sind zurückgeblieben, wo Oswald gierig hineinbeißen hat wollen, aber noch vor dem Verschlingen der herrlichen Mega-Oblate ist er selbst verschlungen worden, ist im Boden versunken, und was er noch greifen wollte, um sich zu retten, ist zu Wachs geworden. So klein, möchte ich ihm nachrufen, kann ein Ort gar nicht sein, dass nicht sein Kirchlein etwas zu bieten hätte. In Seefeld in Tirol, gelegen auf 1.200 m Seehöhe, ist das das „Hostienwunder“, dargestellt auf einem „spätgotischen Tafelbild“, das man sich auch nicht viel anders vorzustellen hat als ein Comicbild mit viel Gold. Irgendwie verdreht und verschachtelt sind die Räume in der Malerei dieser Zeit gewesen, der Maler muss zumindest vier Augen offen gehabt haben, um so eschermäßig-wendig zwischen Treppen und Fenstern und Treppen und Fenstern umhermäandern zu können. Und der alte Streit zwischen Körper und Fläche ist auch hier nicht entschieden, was sich bis zu den Kleidern der versammelten Kerlchen auswirkt.

Schaut euch nur den Priester an: Der trägt ein weißes Untergewand voll Faltenwurf aus Licht und Schatten, gebauschten Ärmeln für die Hostienreichung – aber darüber einen goldenen Umhang, flach wie ein Brett und mit der Musterwalze ist darübergerollt worden, dass jede japanische Farbholzschnitt-Geisha darunter zu ächzen gehabt hätte. (Ja, das ist ein verdammt weiter Assoziationsraum für eine kleine „Landvermessung“.) Und Strümpfe tragen die Herren! Schwarzweiß gezackt oder gelb-schwarz gestreift, rot. Hüte mit Federn, Turbane, Mützen, Hauben, Kappen, Umhänge, seitlich geschlitzt mit Pelzbesatz oder vierfarbig und abgesteppt, sodass mein „Mode- und Kostümlexikon“ hier an seine Grenzen der Darstellbarkeit stößt und ich demnächst in das „Bildwörterbuch der Kleidung und Rüstung“ investieren werde. (Nein, nein, nicht das gesamte Honorar.) Fräulein E. Wie die Bauernhöfe ausschauen in Axams, darauf hat mich das, meines Wissens, ledige Fräulein E. aufmerk-


Streckenabschnitt 0101

Der Tourismusmensch 0142

Landvermessung 7241 das Lexikon 1423 70 / 71


sam gemacht. Sie hat mich auf einem Streckenabschnitt meiner ehrgeizigen Monstertour durchs Tiroler Gebirg – Steigeisen, Schneeschuhe, Tee aus Thermoskannen – begleitet, die in Wahrheit eine gemütliche Kaffeefahrt von zwei Pensionistinnen Mitte 30 gewesen ist. Im Axamer Tourismusbüro, wie es sich gehört, werden wir als „Dirndln“ begrüßt. (Wieso nicht frisch: „Ihr Rotzdirndln, ihr“?) Aber der Tourismusmensch ist natürlich sehr freundlich, und nachdem ich ihn über unsere Fähigkeit, Dialekt zu dekodieren, aufgeklärt habe, entspannt sich seine Sprachmelodie: „Was machen zwei Dirndln in Axams?“ Und, ungläubig: „War das eine gute Idee, nach Axams zu fahren?“ Der Tourismusmensch ist kein Illusionskünstler, empfiehlt dann aber doch ein gutes Wirtshaus und will, schade, das schöne Buch „Die großen Fasnachten Tirols“ nicht herschenken, in welchem ein trauriger, weißer Bär in Menschenkostüm durch die Dorfstraße trottet. Oder war es ein Mensch im Bärenkostüm? Wie die Bauernhöfe ausschauen hier in Axams und Götzens, das ist also so, dass man sich ein Haus mit Giebeldach denken darf, das in der Vertikalen optisch zweigeteilt ist: auf der einen ist die Fassade ganz aus Holz, teilweise sehr kunstvoll geschnitzt und verziert, dahinter scheint der Stall gewesen zu sein, und auf der anderen ist sie großteils gemauert und weiß verputzt und scheint den Wohnbereich gekennzeichnet zu haben. Bei manchen der renovierten, veränderten Häuser erahnt man diese Zweiteilung auch noch, wenn der Stall schon längst kein Stall mehr ist. Was sagt, nach der Rückkehr, das Lexikon? „Längsgeteilter Einhof“ (oder: „Eindachhof“), manchmal liegt

die Tenne zwischen Wohnbereich und Stall, manchmal hinterm Haus. Eine Vielzahl von Gehöftformen existiert, man kann sich lang einlesen und schachbrettartig die Möglichkeiten durchspielen und dabei auch irgendwie an Bernd und Hilla Becher denken. (Prost!) Und wie das Holz geschnitzt und verziert ist, das hab ich auch in Seefeld gesehen, dort sind Herzen in die Balken und Balkone geschnitten, Kreuze, vierblättrige Blüten, die sicher einen Namen haben. Ich wünsche mir:

einen traurigen, weißen Bären, bitte. Fadi Merza Wenn man den Umkreis meiner „Landvermessung“ auszirkelt, findet sich die Spitze des Zirkels so ziemlich im „Weissen Kreuz“ wieder. Wolfgang Amadeus schrieb: „JNSPRUCK. logiert beym weissen Kreutz.“ Ganz vortrefflich sogar, und gespeiset hab


Stift 5599

dreierlei รถsterreichischer 2374

Komplexe 1664

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ich ein paar Häuser weiter. Und weil einer der Kellner, Typus Fadi Merza, mich mit Stift und Zettel dort sitzen sehen und also so freundlich gegrüßt hat, hab ich mir gedacht, wie wäre es, wenn der jetzt meinen würde, ich wäre eine Restaurantkritikerin? Also los: Das „Gedeck Abend 3,00 EUR“ besteht aus einer Glasphiole mit Olivenöl, die, bittesehr, in einem dargebrachten Granitstein steckt, von Fadi Merza (oder Fadi Merzas Bruder) mit reichen Worten, grobem Meersalz und gröberen Kräutern auf einem kleinen Vorspeisenteller angerichtet, dazu Weißbrot. Als Vorspeise wähle ich „Bouillon mit dreierlei österreichischer Suppeneinlage“ (4,90 EUR): Griesnockerl, Frittaten und nudelig gehäckselte Karottenstreifen, dreimal äußerst bissfest bis allzu körnig. Vor dem Hauptgang fragt Fadi, ob man eine „kleine Pause“ zwischen den Gängen einzulegen wünsche, was ich bejahe. Ich bestelle „Bachforelle mit Polentakruste“ (19,90 EUR). Dazu gibt’s „Wasabi-Erdäpfelpüree“ und Mangold. Das Wasabi-Erdäpfelpüree ist mit Lebensmittelfarbe grün gefärbtes Erdäpfelpüree. Der Fisch ist zu stark gegart, die Kruste hat eine Konsistenz wie dreierlei Gummi. Okay, der „Sauvignon blanc“ (3,90 EUR) ist gut. Um Wasser muss man sich bemühen: es steht auf einem Schrein, zu dem nur Fadis Kickboxhand Zugang hat. Nach dem Fisch bestelle ich ein weiteres Glas Wein, es wird ins selbe Glas nachgeschenkt. Einerlei, nach dem Fisch ist vor dem Fisch. Am Ende träume ich von einem Faustschlag auf die Nase. Und seltsam: er kommt. Unaufgefordert. Den hab ich gebraucht. Und floate mit der Loungemusik dahin. Grausliche Loungemusik,

aber das passt mir jetzt. 2 von 5 Gourmetpunkten. Gute Nacht. P.S.: Besser zum „Wetterwirt“ in Axams! Kevin Von Seefeld nach Innsbruck fährt man mit dem Zug hoch über der Stadt und hängt mit den Waggons in den Wolken. Die Dorfjugend gibt einen akustischen Eindruck von ihrem Leben: „Haben wir was am Laufen gehabt, hat sie mich dann abgeschossen, interessiert mich seither gar nix mehr, hab ich mit zwei im Lokal was am Laufen gehabt, ist die dritte dazugekommen, hat mich voll angeschrien, Arschloch, hab ich mit der einen was am Laufen gehabt, hat sie einen Zettel in der Früh hinterlassen: danke für die schöne Nacht und schau dich einmal in deinem Zimmer um; hat die Bitch voll aufgeräumt gehabt in meinem Zimmer, also voll super. Bin ich sechzehn, bist du siebzehn, mir soll meine Bitch immer voll aufräumen und Essen am Tisch, hab ich geträumt, mein Schwanz sei abgeschnitten, hab ich in der Früh gleich hingegriffen, ob er noch da ist, hab ich geträumt, hab ich Aids, hab ich geträumt, dass du mit dem Auto einen Unfall gehabt hast, und die Alte sich gleich einen anderen gesucht hat, Schwuchtel, Smartphone, YouTube, Google Glass, das hol ich mir gleich, da renn ich das ganze Jahr nur noch mit der Brille herum, die Bitches wollen, dass aufgeräumt ist, ich wollte was von ihr, aber sie hat gesagt, sie sei zu schiach für mich. Immer haben die die Komplexe, die’s nicht nötig haben, die brauchen immer Bestätigung, und die anderen mit 100 Kilo in der Legging, die Panzer in den Leggings, bei uns


die Schwester von 5322

leicht aufgebogen 7254 74 / 75


jetzt Nike Vollausstatter, die neuen Snowboardboots, die Adidas mit so austauschbaren Teilen voll geil, die Abercrombie & Fitch-Tasche da so schwul.“ Ich stelle mir vor, wie ich als 16-jähriger Bursch am Land lebe. Karl Schranz In den „70ern am Gschwandtkopf“, so ist es auf dem Seefelder Tourismusinformationsplakat fotografisch verbürgt, war der Karl Schranz mit der „Enkelin von Ernest Hemingway“ im Bilde und, man mag mutmaßen: am selben Tage gar, mit der „Schwester von Robert Kennedy“. Er trägt jeweils eine weiße Mütze mit rotem Rand und eine schwarze Sonnenbrille, wohl der Marke „Carrera“. Während die Schwester von Robert Kennedy von Karl Schranzens Charme wenig beeindruckt, doch mütterlich-wohlgesonnen, neben ihm steht, scheint die Enkelin von Ernest Hemingway von der schwarzbehandschuhten Umarmung des Karl Schranz mehr angetan und senkt lächelnd ihre Lider. Das Haar hat sie nach hinten gebunden und ein schwarzes Stirnband als Schutz gegen die Kälte am Gschwandtkopf bis zu den Augenbrauen gezogen, dessen betont wulstartige Form, nämlich des Stirnbandes, modisch bereits die 80er Jahre ankündigt. Gehen wir einige Jahrzehnte weiter zurück an den „Beginn des alpinen Schisports in Seefeld“, sehen wir den „Erfinder des Parallelschwunges“, Toni Seelos, im Übrigen ein sehr fescher Kerl, beim Prüfen eines Schis. Wobei ihm die Slalomläuferin Regina „Poppi“ Schöpf, später als Regina Bacher (das sah ich durch mein „Google Glass“) begraben am 3.11.2008 in Seefeld, über die

Schulter schaut im kurzärmeligen roten Shirt mit Startnummernhemdchen. Und man hofft, die beiden hätten damals ein paar Parallelschwünge gemeinsam in den Schnee gezogen, bevor dann der Herr Bacher in Poppis Leben getreten ist. Auf der „Eislaufarena vor dem Hotel Wetterstein“ wiederum drehte die „Schletterer Zenzi“ ihre Runden, „Tiroler Meisterin 1951“, und wollen wir wetten?: sie konnte auch klettern. Und lassen wir sie in Gedanken noch ein bisschen auf dem Eise kreisen, bevor wir uns fragen, ob das vorhin Margaux Hemingway gewesen sein mag oder doch ihre Schwester, und dann denken wir lieber nicht daran, was aus der glücklosen Margaux geworden ist. Vinzenz Wäre die Tracht der Tiroler, beruhend auf meinen Beobachtungen, nicht die „North-Face“-Jacke, wäre sie, beruhend auf den Beschreibungen des Seefelder Tourismusbüros, bei den Frauen ein Rock aus schwarzem Wollstoff, ein Leibchen aus schwarzer, blauer, roter oder lila gemusterter Seide mit Blümchen besetzt und einem schwarzen Seidenband, dessen Ziernaht aus Kreuzel- und Grätenstichen bestünde. Das weiße „Schalkl“ wäre an den Ärmeln mit handgeklöppelter Spitze besetzt, und ein helles Seidentuch würde den Halsausschnitt bedecken, hinzu kämen Schürze und Feldhut. Die Männer würden festen tannengrünen Loden tragen mit kleinem Stehkragen aus schwarzem Samt und rotem Vorstoß. Dazu schwarze Halbschuhe und weiße oder graue Wollsocken und einen Hut aus Filz oder Seidenplüsch, schwarz, oval, leicht aufgebogen, mit Flaum und schwarzer Seidenschnur.


aus Wien gekommen 9323

Draufgänger 8424

Grund des Vaters 7210

Davonlaufen Richtung 0377 76 / 77


Ich würde zu ihnen sagen, ich sei mit der Bahn aus Wien gekommen und hier auf Sommerfrische, und sie würden mir das Melken zeigen, und ich sollte es einmal versuchen und würde mich ganz ungeschickt anstellen. Dann würden sie mich auslachen und sagen, so ein Wiener Mädel sei viel zu blass und mager, ich möge doch meine Sommerfrische verlängern um zwei Wochen, um wieder Speck an die Hüften zu bekommen und Farbe ins Gesicht. Ich würde bleiben, mich zuerst in den Draufgänger Vinzenz verlieben, der mein Herz brechen tät’, und am End’ würd’ die wahre Lieb’ siegen und ich würde Sennerin werden auf einer Hütte auf der Axamer Lizum. Dann würde der „Beginn des alpinen Schisports“ die Axamer Lizum einnehmen, ich würde davon sehr stark profitieren, meine Hütte würde ich zu einem Tempel ausbauen und mit meinen 140 Jahren noch modische Dirndlschürzen tragen. Ich würde den Schönheitschirurgen anrufen, den ich bei meiner Übernachtung im „Weissen Kreuz“ im Fernsehen beglotzt habe, und er würde sehr viel Verständnis dafür aufbringen, dass es nötig ist, mein gesamtes „überschüssiges Gewebe“ direkt in meinen Balkon zu stopfen, wo die Geranien blüh’n. Abspann Beim „Bäcker Ruetz“ in Götzens hängt an der Wand im Hinterzimmer eine kleine Sammlung von Deckeln alter Keramikbehältnisse, geordnet und angebracht wie kleine Bildobjekte. Sehr schön ist das. Das „Krustenbrot“ ist auch gut, der „Kaffee“ aber zum Davonlaufen Richtung „Bus 4162“.

Der Supermarkt „MPREIS“ ist gut. Amen. Die Pfarrkirche in Götzens birgt ein zirka zwei Meter langes Bühnenbild aus bemaltem Karton, das den Kreuzweg Jesu darstellt, so wunderbar, so witzig und schräg, ach, Meister des Barock, schau owa! Das wäre auch einmal eine Hauptabendserie: „Birgitz, Natters und Götzens: die drei bösen Schwestern aus dem Inntal“. Besser: die schönen! Aber eine davon ist immer böse oder schiach, damit etwas passiert. In Axams grenzt der Misthaufen an die Friedhofsmauer. Das „Braunvieh“ bekommt viele Preisplaketten, die aktuellste, die ich entdeckt habe, ist aus dem Jahr 2010. 1963 wiederum war der „Stalldurchschnitt über 3.500 kg Milch mit über 3,90 % Fett“, laut Plakette der „Landwirtschaftskammer für Tirol“. Noch eine Serie: „Die Landvermesserin“. Habe ich doch auch gerade erst im Schlepptau des Geometers den Grund des Vaters – Aushub, Böschung, Schnee, Tee aus Thermoskannen – abgeschritten. Und, ja, es gibt in Axams einen Weg, der seinem Namen nach dazu auffordert, was ich mit diesem Text nun tun werde: „Mailsweg!“


Endlosschleife 1685

Einsamkeit 2088

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in fiktiver Harmonie 1683


„Da geht noch viel!“

Der Musiker und Schriftsteller Bernhard Moshammer über den Musiker und Komponisten Christof Dienz.

Zur Chronologie: Ich kenne Dienz nicht. Wir schreiben uns, er schickt mir einen Link – da kann ich mich durchhören, wenn ich mag. Danach wollen wir uns treffen. Geschrieben, getan, los geht’s. Erstens. IM TURM. Simultanprotokoll einer Reise durch die Fremde Logbuch: https://soundcloud.com/user8683949 Erde (ich bin mir aber nicht sicher), April 2013 Ich kann die Stubn, in welcher der Mann mit seinen Gefährten aufspielen soll, nicht finden. Im Erdgeschoß ist sie nicht, ich war in jedem Winkel. Im ersten Stock stehen die Fenster offen. Alles was ich vorfinde, ist ein Stück einer Saite – eine Zithersaite? Ich stecke sie in meine Tasche. Wieder unten entdecke ich im Holzboden eine Falltür. Ich öffne sie – aaaaah, hier spielt die Musik. Ein einsames Klinkenkabel brummt gemütlich, dazu gesellt sich Ungemütlicheres. Ein Klavier nähert sich an und verliert sich in einer Endlosschleife, ein Kontrabass streicht und kratzt manisch-depressiv, Rückkopplungen, Schlagzeug, Saxophon und dann das unsichere, elektrische Zittern des Klinkenkabels auf der Suche nach dem Eingang. Augenblicklich identifiziere ich mich mit dem Klinkenkabel. Einzelne Signale aus allen Richtungen verweben sich zu tonalen Landschaften, verweigern aber jegliche Melodie. Der Titel des Stücks erscheint an der Wand: amplifly für vl., kb., alt-sax., klavier, perkussion + klinkenkabel (2007). Darin – und das ist erst das erste Stück – liegt, wie’s aussieht, alles, ein ganzes Leben, eine ganze Welt verborgen: Stille, Einsamkeit, Urknall, Evolution, Schönheit, Verunsicherung, Zusammenbruch. Ich komme ins Schwitzen. Da, eine Tür – ich öffne sie. Flageolett-Töne einer Gi-

tarre mitten in einem Ozean. Ich gebe zu, ich fürchte mich im Meer. Mein Respekt vor der Welt, den Welten unter Wasser ist einfach zu groß, aber ich bin mitten drin, kann nicht zurück. Endlich ein beruhigender Titel: swing-konzertstück für gitarre und kammerorchester (2010). Das klingt vertraut. Nein, das klingt nicht vertraut. Hier herrscht das Neue, Ungewisse, hier wird umdefiniert, alte Möbel werden umgestoßen und neue werden nicht einfach gekauft, sondern entworfen – nein, auch falsch: Die Sinnhaftigkeit der Möbel wird gnadenlos infrage gestellt. Materie ist nicht. Alles fließt. Stimmt, wir sind ja im Meer. Verschwörungsgedanken strömen durch meinen Kopf: Die wollen mich hier umprogrammieren, da ist jemand in meinem Hirn! Ja, der Mann heißt Christof Dienz und er öffnet Fenster in meiner Wahrnehmung, von deren Existenz ich bislang nicht in Kenntnis gesetzt wurde. Ich fühle mich unwohl. Nach sechzehn Minuten setzt Applaus ein – frenetischer, drei Minuten andauernder Jubel. Menschen! Festland. Dann lotsen mich zwei Klarinetten in den nächsten Raum – hey driver, cool down the h s-kanon für 2 bassklarinetten (2008). Aber kaum wippt mein Kopf in ihrem Rhythmus, verweigern sie diesen und lachen meiner Erwartungshaltung ins Gesicht, hanteln sich Hand in Hand nach oben, verlieren sich, finden sich wieder und lassen ihre Meister juchazn. Haben die Spaß? Ich bin skeptisch. Ich denke, die beiden lieben sich und wollen unbedingt zusammenbleiben, aber irgendetwas hindert sie daran. Sie entfremden sich, kämpfen aber weiter. Sehr sympathisch. Und da denke ich: Vielleicht drückt konventionelle Musik immer nur Sehnsüchte aus, suhlt sich in fiktiver Harmonie – möglicherweise ist das hier echter, näher dran am Leben? Hey, jetzt aber! my private exil. Ich lese Exit und sage Ja. Da stehe ich wieder im Erdgeschoß dieses rück-


ein Film 1288

ein Traum 1208

Afrika hat nichts mit Geografie zu tun 5582

Zentrum des Turms 2362 80 / 81

Anfang der Welt 4692


sichtslosen Gebäudes. Ein Hip-Hop Beat, fest in den Boden geschraubt, gibt mir Sicherheit. Hier fühle ich mich schon eher zu Hause. Aber auch hier geschieht Eigenwilliges: Die Zither ufert aus, Geisterstimmen kreisen über mir, ich halte mich an dem Beat fest. Nach drei Minuten bricht das Stück abrupt ab – das nächste schleudert mich umgehend aufs Dach, wo es stürmt und seltsame Dinge vom Himmel fallen. Sind das Kröten? das bing enpuppt sich als aufregende Loop-Kreatur. Ich vermute, all ihre Geräusche sind der Zither entlockt. Und weiter geht’s. Ich bleibe am Dach, der Himmel hat sich endlich beruhigt, prahlt stolz mit seinen Lampions. Ich traue ihm nicht. seelenbaumel. Ja, genau. Die Zither dreht fast schon melancholische Runden, eine Reverse-Spur hinter sich nachziehend. Unbemerkt wechseln sie die Plätze. Irgendetwas stößt mich vom Dach, ich falle tief, lande weich. around the bush. Ich bin mitten drin im Gestrüpp der Erde, Afrika hat nichts mit Geografie zu tun und dies ist der Anfang der Welt. Irgendeiner Welt. Cut. Willkommen in der nächsten Welt am anderen Ende des unbezäunten Gartens: number one. Ein unglaublich hypnotischer Groove – ich glaube, in den 90ern hat man das eine Zeit lang Trance genannt. Ich will lauter drehen, aber da ist kein Regler. Oh, es wird doch lauter – ich muss anscheinend nur daran denken. Fantastisch! Ich will mich ausziehen und meinen Körper mit Kreide beschmieren. Oder so. Ich gehe wieder ins Haus, die Kellertür steht immer noch offen. Ich höre Stimmen, fremde Zungen, Sprache, Rhythmus, da unten ist nicht nur eine neue, andere Welt – das ist die ganze Welt: conversation. Noch eine Falltür. Ich betrete einen Club, er heißt taxi brousse. Die Droge hier heißt Jazz. Aber jeder der unsichtbaren Musiker muss verschiedene Dosierungen abbekommen haben. Ich befinde mich anscheinend im urbanen, intellektuellen Zentrum des Turms. Aber ich bin ein Bauer! Ich nehme keine Drogen, warum wanke

ich hier, verloren im Rausch? Da vorne ist eine Tür, beschrieben mit: black smoker. Das muss der Chill-OutRoom sein. Ja, Streicher, Zither – egal, her damit. Ich inhaliere alles und weiß nicht mehr, wo ich bin. Ist das ein Film, ein Traum oder tatsächlich immer noch Musik? Ich atme aus und schau auf meinen Körper, aus ihm wachsen ein Dutzend Beine in Trachten gewickelt und beschuht – ich bin eine Volkstanzgruppe! Wie ein multipler Derwisch lasse ich mich gehen. Jetzt geht’s Schlag auf Schlag: quertanz, in die ribisl, knödelpolka. Ich verliere mich in einer Masse. Das ist, glaube ich, ein gutes Gefühl – dennoch weiß ich, dass ich weine. (Ich erinnere mich an eine Begebenheit am Donauufer in Ulm vor ein paar Jahren; der Auftritt einer ungarischen Volkstanzgruppe hatte mich zu Tränen gerührt, weil ich in ihren Augen so etwas wie Zusammengehörigkeitsgefühl, Erdverbundenheit und Zufriedenheit erkannt und mich augenblicklich heimatlos und allein gefühlt hatte. Ich stelle mir vor, dass Dienz nicht geweint hätte. Ich stelle mir vor, dass er eine schöne ungarische Tonfolge memoriert und später in ein eigenes Stück umgewandelt hätte.) dub minor. Ich sitze im Erdgeschoß, die Beine langgestreckt, Hände in den Hosentaschen – da ist diese Saite, ich halte sie fest – und warte. Kann es sein, dass meine Hand blutet? Aus einem Nebenzimmer höre ich Applaus. Ich öffne die Tür, ein Konzertsaal. Weit vorne ein Orchester. Ich bleibe in der Tür stehen und höre zu. Eine sehr elegante Frau dreht sich zu mir und sagt: „brachen goldrosen.“ „Wie bitte?“, frage ich. Sie grinst: „brachen goldrosen.“ (Ein Anagramm auf Arnold Schönberg, wie ich später erfahre.) Ich nicke lächelnd, hebe meinen Daumen und bedanke mich. Keine Ahnung, was sie mir sagen will. Ich zücke einen Kugelschreiber und kritzle eitel auf meine Hand: Aus den Mitten meiner Seele brachen Goldrosen ins Nichts. Ich weiß auch nicht. Ich schließe meine Augen und schwimme auf den Wellen, die das Orchester erzeugt, davon – zurück ins so gefürchtete Meer. Aber


Festland 1205

Die Nachbarn 2210

Kontext 1892

magische Momente 2209 82 / 83


alles ist gut. Es geht durch melancholische Ebben und befremdliche Fluten und wieder zurück oder immer weiter, ich weiß es nicht. Irgendwann Applaus. Menschen. Festland. Christof Dienz ist kein Musiker. Er ist zwölf oder vielleicht dreißig Musiker, vielleicht kommt mit jedem seiner vielen Projekte einer dazu. (Quadrat:sch, Dienz Zithered, Dienztag, Mon Afrique, The Babyzithers, Kammeroper, Die Nachbarn, Die Knödel, Auftragswerke für Orchester oder digitale Spielkonsolen, Kurator des FM RIESE Forward Music Festivals in Wattens etc.) Sein Turm reicht wahrscheinlich tatsächlich bis in den Himmel. Von jedem Zimmer führt eine weitere Tür in ein weiteres Zimmer. Vielleicht ist er auch ein Geschichtenerzähler oder ein Schamane. Ich weiß nicht genau, was er ist, aber die Fenster, die er auf dieser Reise in mir geöffnet hat, werden nimmer zugehen. Ich treffe ihn heute um fünf. Zweitens. ÜBER DEN TURM. 17:00. Wir sitzen in einer Filiale der Kaffeehauskette „Aida“, unser Gespräch verzichtet auf eine Aufwärmphase. Ich merke schnell, Dienz ist sich keiner Sache sicher. Sein Lieblingswort ist eindeutig Kontext. Manchmal kommt er zu einem klaren Punkt, den er aber zumeist schnell wieder relativiert – das ist sympathisch und, wie er gleich selbst sagen wird, eine mögliche Ursache für seine Getriebenheit und Vielfältigkeit. Er ist 1968 in Innsbruck geboren, aber das ist eigentlich egal. Bernhard Moshammer: Kannst du einen konkreten Ausgangspunkt, ein sogenanntes musikalisches oder künstlerisches Zuhause überhaupt festmachen? Christof Dienz: Nein. Was mich grundsätzlich antreibt, ist die Neugier nach Musik, die ich selbst noch nie gehört habe. Dass ich scheinbar aus jedem Genre für

mich etwas extrahieren kann, ist vielleicht Stärke und Schwäche zugleich – jedenfalls hält mich diese Neugier bei Laune, lässt mich auf Konzerte gehen und meine Ohren offen halten. Ich bin klassisch ausgebildeter Musiker und war drei Jahre lang als Fagottist an der Wiener Staatsoper beschäftigt – das ist das Umfeld, aus dem ich komme, aber bald auch wieder ausgebrochen bin. Davor hatte ich ein Jahr lang das Musikmachen ganz verweigert, war einer der Mitbegründer des alten Wiener Flex und also Veranstalter. M.: Hast du auch selbst Punk gespielt? D.: Genau ein Mal, genau einen Song lang. Ich war der Schlagzeuger und wir waren insofern Punks, als keiner von uns irgendetwas konnte. Meine Sehnsucht nach Offenheit konnte ich dort also auch nicht stillen – im Gegenteil, so reizvoll die Verweigerung jeglicher Konventionen auch war, mir erschien diese Szene konservativer als alles andere. Das Aufkommen der CD beispielsweise ließ die Punks aggressiv in Tränen ausbrechen und überhaupt war jeder, der nicht ins Flex ging, böse. Total vertrottelt also. Dann wechselte ich als Konzertveranstalter ins WUK, wo es uns damals schon ein großes Anliegen war, verschiedenste Stile an ein- und demselben Abend einer Öffentlichkeit zu präsentieren. Ich habe nie verstanden, warum die Jazzer die Klassiker scheiße finden, die Klassiker Pop nicht ernst nehmen können und Popmusiker von Klassik gar keine Ahnung haben. Alle Vorurteile sind immer falsch. Dieses Gegeneinander war mir immer fremd. Mir fällt zu allem etwas ein. Und dann ist da das Aufeinandertreffen mit anderen Musikern, das führt zu so vielen Inputs, die zu so vielen nicht vorhersehbaren Ergebnissen führen können. Dazu kommt, dass mir das freie Improvisieren sehr wichtig geworden ist. Du verlässt dich nur auf deine Ohren und dein Gegenüber, bist total im Augenblick, da gibt’s geradezu magische Momente. Das ist sehr


Andererseits 5400

Gleichgesinnte 5403

komplett frei 4622

Die magischen Momente 2209 84 / 85


befriedigend. Andererseits wiederum habe ich erst im Dezember Gran Partita, eine Bläserserenade von Mozart, gespielt und auch das hat mir wahnsinnig Spaß gemacht.

immer auch riskant, das Ergebnis hängt von so vielen Faktoren ab, bleibt also auch immer offen und spannend. Wir reden auch nur selten über Musik, zumeist fangen wir einfach an und landen dann im Irgendwo.

M.: Ich persönlich halte es ja immer für besonders – geradezu für den Ausnahmefall –, auf wesensnahe Musiker zu stoßen, mit denen es leicht fällt zu spielen. Ist das überhaupt ein Problem für Dich, Gleichgesinnte zu finden?

M.: Und in welche Schublade wird diese Musik dann offiziell gesteckt?

D.: Nein. Wenn einer ein super Hornist ist, ist es einfach toll, mit ihm zu musizieren. So einfach ist das. Mozart hat es ja ganz gut verstanden, gute Musiker zusammenzuführen – auf das kann man sich auch verlassen. Und die meisten widmen sich ihrem speziellen Bereich genauso intensiv wie du oder ich, so gesehen zahlt es sich fast immer aus, sich auf andere einzulassen. M.: Drängt Dich die Zither eher zur Improvisation als andere Instrumente? D.: Das ist ganz unterschiedlich. Die Musik mit Quadrat:sch beispielsweise klingt ziemlich offen, ist aber bis auf wenige Teile durchkomponiert. Die zweite CD des Quadrat:sch-Doppelalbums mit der Harfenistin Zeena Parkins ist wiederum größtenteils frei. Im Moment mache ich vor allem Konzerte mit dem Drehleierspieler Matthias Loibner – da spielen wir zwar komplett frei, proben aber sehr viel. Das mag paradox klingen, macht aber Sinn. Da ist eine originäre und auch wiedererkennbare Musik im Entstehen. M.: Die sich dann durch das Proben auch nicht wiederholt? D.: Nicht unbedingt. Die magischen Momente lassen sich ohnehin nicht reproduzieren. Das freie Spielen ist

D.: In Berlin wurden wir Impro-Volks-Jazz genannt, eigentlich voll daneben – andererseits sagen wir selbst Music from the electric mountains dazu – das heißt auch nix. M.: Deine Zither klingt bisweilen bemerkenswert groß und voll und so gar nicht alpin. D.: Wenn man, sagen wir, Clubmusik mit einer Zither machen will, muss man ein bestimmtes Klangbild erfüllen. Die Phase, in der ich solo mit meiner E-Zither unterwegs war, war ziemlich erfolgreich. Da habe ich unter anderem als Opener für die Asian Dub Foundation gespielt – richtig harte Kerle, auch im Publikum – denen brauchst nicht mit Neuer Musik kommen, aber mit der E-Zither kann man richtiggehend Stadionrock machen, das hat hervorragend funktioniert. M.: Du hast auch für das Klangforum Wien geschrieben, oder eine Kammeroper, dabei handelt es sich um die eben erwähnte Neue Musik, die – wenn ich ganz ehrlich sein darf – in meinen Ohren oft improvisiert oder gar beliebig klingt, was sie aber ganz sicher nicht ist. D.: Diese Musik findet nur über die Auseinandersetzung den Weg zu Hirn und Herz. Erst wenn man sich ihr intensiv widmet, tut sich ein Zugang auf. Ich versuche aber schon immer, den Kontext zu brücksichtigen; wenn ich für das Innsbrucker Symphonieorchester ein Trompetenkonzert schreibe, arbeite ich sicher anders


andere Grenzen 7834

das größte Glück 1233

Definition von Schönheit 1410

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und setze andere Grenzen als bei einem Auftrag für das Klangforum. M.: Wie gehst du an so ein Neues Musik-Stück heran? D.: Auch da folge ich keinem Prinzip. Für die 25-JahrFeier des Klangforums habe ich brachen goldrosen gemacht, das besteht mehr oder weniger aus zerschnipselten Teilen von Schönbergs erster Kammersinfonie, jenem berühmten Stück, das den Ausgangspunkt für die Besetzung des Klangforums darstellt, also schien es passend. Zunächst inspiriert mich – hoffentlich! – immer der Kontext des Auftrags. Ich lasse mich grundsätzlich gern vom naheliegendsten, klarsten und wenn möglich objektivsten Gedanken zum vorgegebenen Thema leiten – die Grundstruktur entsteht dann zumeist von selbst. Das heißt, ich will nie bewusst etwas Kompliziertes oder Abgehobenes schreiben, aber manchmal ist das Formale eben tonangebend.

Schiach-Thema. Die Frage Was ist schön? stellt sich mir nicht. Schön ist ein uninteressanter Begriff. Ich will, dass etwas das Hirn anregt oder mitreißt oder berührt. Und vom Gedanken, es jedem recht machen zu wollen, muss man sich sowieso verabschieden. M.: Du hast auch das Sounddesign für ein Computerspiel gemacht. D.: Ja, das wurde von sehr erfolgreichen jungen Buben (www.brokenrul.es) programmiert – ein Spiel für die Nintendo Wii U-Konsole (Chasing Aurora). Die Arbeit war herrlich! Es ist das größte Glück für mich, in ein Metier einzutauchen, von dem ich keine Ahnung habe. Im Moment mache ich Kindertheater für Babys. M.: Nach allem, was die Musikgeschichte zu bieten hat – von der reinen Harmonie über die Kreissäge bis zur Stille wurde ja schon alles komponiert –, denkst du je darüber nach, wo das alles hinführen wird?

M.: Aber objektiv denken – geht das? D.: Ich meine damit, ich versuche, meine Person aus allem rauszuhalten. Mich nervt selbstgefälliges Künstlergehabe, eitle Reden über die Verwirklichung des Individuums – was interessiert mich denn der Gedanke von so einem! Ich bin immer vom Außen abhängig. Mein Musikmachen ist immer auch ein Recyclen von Einflüssen. M.: Irgendein Komponist hat einmal gemeint: Wenn das Radio mit zeitgenössischer Musik voll wäre, würden sich unsere Hörgewohnheiten automatisch ändern und auch unsere Definition von Schönheit müsste eine Evolution durchmachen. Stimmst du dem zu? D.: Ob jetzt eine Kreissäge jemals als gleich schön wahrgenommen werden wird wie Die kleine Nachtmusik, bezweifle ich – aber das ist das alte Schön-

D.: Es gibt immer wieder neue Techniken, die neue Musik zulassen. Oder auch alte – man experimentiert ja schon seit längerem wieder mehr mit alternativen Intervallverhältnissen, also verschiedenen Stimmungen, die wieder zu neuen Hörbildern führen. Und neue, digitale Medien eröffnen ein unermesslich weites Feld. Andererseits wird ein schönes Lied immer ein schönes Lied bleiben. Da geht also noch ganz viel. M.: Was würdest du gern als Nächstes machen? D.: Am liebsten einmal gar nichts.


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Markus Bstieler Originalbeilage Nr. 21

Berlin–Palermo als Fotostrecke im Wortsinn: Der Fotograf Markus Bstieler dokumentierte die über 2.200 km lange Nord-Süd-Verbindung aus einer Perspektive, die dem Bahnreisenden verwehrt bleibt – aus der Perspektive des Lokführers. Eine im Führerhaus der Lokomotive nach vorne gerichtete Kamera wurde im Halbstundentakt ausgelöst, in den knapp 38 Reisestunden sind 75 Aufnahmen entstanden, die im Zeitraffer die Reise quer durch Europa festhalten, Umsteigen inklusive. Daraus entstand ein Daumenkino, das dieser Ausgabe von Quart beiliegt!

Reisezeit: ab Berlin 22.08.11, 06:17 an Palermo 24.08.11, 16:59

Streckenführung: Berlin, Nürnberg, München, Innsbruck, Brenner, Verona, Roma, Villa San Giovanni, Messina, Palermo

Triebfahrzeugsetappen: 1 Berlin – Nürnberg 2 Nürnberg – München 3 München –Verona 4 Verona – Bologna 5 Bologna –Villa San Giovanni 6 Messina – Palermo


Raumzeit Wirklichkeit 8674

Keine Welle ohne Teilchen 8702

Paralleluniversen 6693

Wahrheit-Schรถnheit-Wirklichkeit 8523

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Wir müden Schwäne Der Kryptogeograph reist nach Innsbruck, fasst dorten eine Strafaufgabe von der Quantenfakultät der Technischen Hochschule Alpbach in Tirol aus und versöhnt sich blendend mit Erwin Schrödinger, seines Zeichens Liebender, Dichter, Nobelpreisträger der Physik, Katzenquäler, Vedantakenner und Wahltiroler (Universalgenie). Von Ursula Timea Rossel.

Alle möglichen Zustände befinden sich außerhalb der Raumzeit (Platon: Sein) und interferieren miteinander konstruktiv, destruktiv oder beides. Kommt es zum Kollaps, wird eine der atemporalen Möglichkeiten in der Raumzeit Wirklichkeit (Platon: Werden). Die Funktion des Kollapses besteht darin, der andauernd wachsenden Komplexität vorübergehend Einhalt zu gebieten, das würde sonst alles völlig aus dem Ruder laufen, und das Einfachste ist eben ein eingetroffenes Ereignis. Das Universum atmet: Es öffnet sich in zig gegenseitig sich aufschaukelnden Möglichkeiten und zieht sich zusammen, wenn einzelne Möglichkeiten in die Wirklichkeit kollabieren. Zum Kollaps kommt es dann, wenn sich die Komplexität (mathematisch) ins Chaos steigert und das Interferenzmuster somit in Dekohärenz (kuhl!) zerfällt. Geht es also für den Wissenschaftler und den Künstler darum, aus den Zilliarden Möglichkeiten die barbarisch-poetischsten auszuwählen und sie einen vollkommenen Augenblick (------ lang ----------------- / , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , ewig) in der Schwebe zu halten? Kawumms!, guckt der Physiker bolzengrad in die Wahrheit und erblindet, rradapummm!, erfüllt sich die Liebe des Dichters und die Feder fällt ihm aus der Hand (oder umgekehrt, sie sind ja beide Eulen und watscheln gen Rom). Dös wär aber nicht gut! Ich stelle mir gern einen sehr sanften, langsamen (nonsensisch, „vor-wirklich“ ist ja atemporal), VOLL-CO-BEWUSSTEN Kollaps vor, der genau synchron mit der Formulierung der Einen Formel, mit dem Vierzehnten Vers des Sonetts zusammenfällt, in die Wahrheit-Schönheit-Wirklichkeit. Die Unterscheidung zwischen Wirklichkeit und Realität übrigens ist fundamental. Der Realismus ist seit Jahrzehnten widerlegt, aber das haben irgendwie die Wenigsten mitgekriegt, weil den meisten seit Jahrhunderten noch immer Äpfel auf die Birne fallen. INNSBRUCKER KATERNOTIZEN I. Man kommt automatisch zum G. Dachl. Abartig, die Touri-Meile. Ein Kind heult am Händi: „Aber i hob kei Krawat-

te!“ oder so. Bier, Almdudler zuckerfrei und Käse fürs Piggnigg. Man kann sich mitten in der Stadt auf eine Stufe setzen und wird in Ruhe gelassen. Eine Pennerin im Rollstuhl hält mich an, ob ich ihr in der Bäckerei einen ???N oder einen ?!X??!XN oder XZ?!?!XXZNN hääää? kaufen könne, drückt mir 2 Euro in die Hand. Lasse mir die Liste wiederholen, versteh wieder nichts, ich kauf ihr dös, sie vergisst schier das Wechselgeld zu nehmen. Angenehm unfreundlich. So was gibt’s zuhause nicht. VaniiiliekropfN. / 10 Uhr empört wach wegen Lärmbrüdern. Welche Versumpfung! Weiß nicht, wie ich gelesen habe. (edito: bin sehr stolz auf das umgeworfene Wasserglas.) Aber sicher ist: nur hier, in der Agglo von Alpbach, kann ich mit der Schrödingerkatz® landen! Die haben das hier im Blut. --- So finden mich aber die Schergen der Quantenfakultät, die mir seit vier Jahren auf den Fersen sind5 … Hélas! Keine Welle ohne Teilchen. Schrödinger selbst wird die Zeit rückbiegen, um mir seine Billets, von denen ich lieber nie erfahren hätte (danke, Robert!), im rechten Winkel durch die abgezweigten Paralleluniversen zuzustecken. Davon ahnte ich jetzt noch nichts. Dafür lassen mich die Bluthunde des Vatikans5 vielleicht endlich in Ruhe, weil ich in selbigen Innsbrucknotizen schrieb: --- Kitschdom (grenzt an Gotteslästerung). Erwin Schrödinger ins Blaue: LOHN Warum noch heut eine schöne frau jung wie der morgentau mir ihre warmen lippen beut ich künd es dir genau: Weil mir zu keiner stund kein irdisches geschmeid, keines ruhmes wichtigkeit über die liebe der frauen ging.


Vergangenheit (Fehlwahrnehmung) 8666

oberflächliches Abendteuer 2087 92 / 93


Über dem kuss vom geliebten mund war mirs gering. Oft wurd ich gescholten dass ich das leben verträume, lieber als rechne reime, Jetzt – wird mirs vergolten.1

Abendteuer solltest du dir zu schade sein.“ – Sic! (Und wenn schon wünsche ich von Horoskopen gefälligst gesiezt zu werden.) ... Hat das Universum eigentlich nichts Besseres zu tun als mir ans Bein zu pissen? Die Reizüberflutung ist der Grund dafür, dass ich mich zu Tode fürchte vor allem, was ich wirklich will. Erwin Schrödinger an Werner Heisenberg:

(Oh nein!) Timea dazu nur:

Wenn es doch bei dieser verdammten QuANTeNSPRINGeReI bleiben soll, so bedaure ich, mich mit der Quantentheorie überhaupt beschäftigt zu haben.3

ZIPFELGEDICHT prüde bin ich geh zur kuh mache meine löcher zu wer jetzt dabei ist wird mich lange meiden über allen nippeln ist ruh warte nur balde ruhet er auch (der zipfel) Der Nobelpreis kann warten. Ich mache jetzt auch Liebesgedichte. Kann ja noch nicht mal spazierengehen, ohne danach wegen akuter Reizüberflutung darniederzuliegen. Da klebte ein Zettel an einem Straßenkandelaber mit der Frage: „Wann wird der Umkehrdruck berechnet?“ – Na vermutlich am einfachsten, wenn die Stadtverwaltung abschaltet und das dröge frühe Tageslicht das depressionsorangene Laternenlicht durch den Pfahl hinunter unter den Asphalt und in den Bauch der Erde drückt. Aber solls berechnen wer will. Ich tus nicht. Ich bin jetzt wieder auf HUHN-UND-EI-DIÄT. Determinismus ist so dämlich! Man kann das Ei doch in das Huhn zurückstopfen, das Huhn deflationieren und ins Ei zurückpuzzeln, sooft man will, und wenn man den Zeitstrahl umkehrt (was den Photonen wurscht ist, ist für uns eine Pappnase, Erdnüssli), verläuft die Reaktion sogar exotherm, und man kann auch noch den Käse an der Huhn-Ei-Huhn-Ei-Meiler-Zeile abschmelzen. Alles ist gleichzeitig da und alles ist nicht da oder zum Vornherein woanders. Was wäre denn so schlimm daran? Als ob das des Spotts noch nicht genug wäre, sagt mein Horoskop: „Für ein oberflächliches

NICHTS WIRD GUT WERDEN. Aber dem Ende ist das so lang wie breit, es kommt trotzdem. Neulich gelang es mir, all meine grauen Auswüchse, rostigen Ketten, fetten Spinnenseile in die Vergangenheit (Fehlwahrnehmung) einzuziehen und alle meine feuerwerksgrünen Tentakel und fanalorangen Rockfalten und neongelben Leuchtraketen in die Zukunft (Illusion eines Komplettidioten) zusammenzuraffen. Alles unter den Hintern gescharrt und mich draufgesetzt, als müsste ich erst ausbrüten, was mir widerfuhr und was mir wartet. Ich schrumpfte und schrumpfte und schrumpfte, bis ich kaum noch da war, ein imaginärer Punkt im Jetzt. Ich war sehr überrascht, als ich feststellte: ein erregendes Gefühl, SO KLEIN ZU SEIN IN DER ZEIT. Könnte ich in dem Zustand bloß verharren, dann würde ich vom Ende gar nichts merken. Und jene, die mein baldiges Ende mit Schweigen und Drohungen angekündigt haben, könnten mich in dem Unterschlupf, in der Jetzt-Einstülpung der Zeit, nicht finden. Welch fulminantes Paradoxon! Aber schon quelle ich wieder über die Ränder des Jetzt hinaus in alle Zeiten, ein Teig außer Kontrolle. Das einzige, was mich retten könnte, schaffe ich nicht: so klein zu sein in der Zeit. DIE SONNE GEHT NICHT AUF! Ich krieg sie nicht auf! Knöpfe, Ösen, lichtjahrlange Stoffbahnen, Klebeband, Packpapier, Schuhbändel, Noppenfolie, verdammtnochmal!, Knöpfe, Knöpfe, Knöpfe (Perlmutt), Fliegenleim, Haken, Reiß- und Klettverschlüsse, Muttern und Schrauben, Schnüre, schlimmer als ein HighEnd-BH!, Kabel, voll vernagelt, diese Sonne. Ich krieg sie einfach beim besten Willen nicht auf! Welche Arschgeige hat den Stern so eingepackt? Habe alles gegeben und mir dabei nur den Bizeps gezerrt und die Pfoten verbrannt. Ich sag ungeschminkt, was Sache ist: Die Sonne geht nicht auf. Ihr werdet jetzt alle


Jahrtausendvielfachen 5332

Materiewesen 6691

Gravitation 8678

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erfrieren. So. Und ich allein bin schuld daran. Freut mich irgendwie diebisch. Erwin Schrödinger an Timea: MITTE SEPTEMBER Wenn erst die gleiche vorbei kommt wieder sonnenglanz; leuchtender als im mai wirbelt der blättertanz durch die alleen. Bräutlicher neigen die überreichen zweige sich zum spiegel der seen. Aber nein, nein, vorüber ist neues grünen, vorüber die kühnen furchtlosen pläne. Nur mit geliehnen fittichen sühnen wir müden schwäne zum nichtsein hinüber. So sagen andre. – Glaub es nicht, wandre mutig und frei durch all dies sterben. Nur den vermessenen selbstvergessenen ist es verderben. uns schafft es neu.

Zeit eingewickelt; klaustrophobisch, nur noch eine einzige Richtung. Wesen aus Materie kamen unfreundlich, ja unverhohlen drohend, auf mich zu und fragten, was ich hier wolle, und ich sah auch einige, die ich gekannt hatte, bevor sie geboren wurden. Es schien ihnen gar nicht gut zu gehen, aber sie taten so, als kennten sie mich nicht. Innerhalb von Jahrtausendvielfachen lief der Film meiner gesamten Zukunft vor meinem physischen Auge ab, und es türmte sich Schuld auf Schuld auf Schuld. Ich gehöre hier nicht hin! Ich will nicht da sein! Bin ich schon zu nah, um vorwärtszukehren? Ich kämpfe. /// Eine diffuse Mischmasse aus Gesetzen, Ideologien, Werten und Materiewesen knallen mir ihre Nachricht ins Gesicht: Du bist nutzlos. --- Ja, natürlich. Was könnte man sonst sein? --- Du kriegst kein Geld mehr. --- Kein was? --- Kein Geld. --- Aha. Versteh ich nicht. --- Dann wirst du’s bald verstehen und endlich den Arsch hochkriegen. --- Pardon? Ich habe nie um einen Arsch gebeten! /// Ich werde herausfinden, dass Geld etwas ist, das so tut, als wäre es Materie, und das man hier benötigt, um Materie zu tauschen, die die zerfallende Materie des Körpers ergänzt. Geld hat noch weitere Zwecke, materielle und andere, die entweder den Körper erhalten oder Materiewesen günstig oder neidisch stimmen sollen. Eine Kackwelt, das hier! Die tun mir einen Gefallen, indem sie mir das Geld abklemmen. Mein Körper wird zerfallen und ich werde vorwärtskehren und den Lichtwesen von meiner Nahlebenserfahrung erzählen und dass das Leben die größte Scheiße ist, in die man überhaupt geraten kann. Ich werde Vorträge halten und nach einem Mittel gegen das Leben forschen und einen Nobelpreis abstauben. Erwin Schrödinger an Timea:

Schöner als einst im mai wirbelt im herbstesglanz leuchtender blättertanz – nichts ist vorbei.1 ICH WILL NACH HAUSE! … prallte auf einen Klotz aus Schatten, angezogen von der Gravitation. Die Lichtwesen baten mich zu bleiben, aber als sie einsahen, dass sie mich nicht vorwärtsholen konnten, lachten sie haltlos. Ein heftiges Gefühl des Unfriedens erfasste mich. Ich war wütend, angeekelt und nervös und verlor jede Hoffnung. Auf einmal sah ich mich nicht mehr und merkte, dass ich innerhalb meines Körpers war. Nun wusste ich, was es heißt, kotzen und speien und scheißen zu müssen. Der Körper wiederum war in

ENTRÜCKUNG Du versuchst dir selber es zu sagen ausdruck suchend für das ungemeine, doch das wort vertrocknet wie ein fluss dumpfverbrandend. Heisse schläfen jagen an die stirne, glühnde pulse jagen … weil sich einer erst versammeln muss den der blitz traf der einmalig eine, der den zeichnet den das schicksal liebt und ihm jenen himmel, drin zu wohnen, wo gott selber und die engel thronen wie ein landhaus still zu eigen gibt.1


wissenschaftliche Gemeinde 7993

Realitätsorientierung 8476

astronomischen Dämmerung 8679

96 / 97


Timea demütigst: sprachlos. Erwin Schrödinger derweil an die wissenschaftliche Gemeinde: � iћ ψ (t)  = Ĥ  ψ (t) �t         Die Welt: Hä?!4 Timea (im Oktober 2010!) an die wissenschaftliche Gemeinde: DIE FROHE BOTSCHAFT: DAS HIGGS-BOSON IST GEFUNDEN!4 Es rollte schon die ganze Zeit unter meinem Bett herum. Und ich dachte, ich hätte bloß einen Poltergeist zu Gast. Jetzt verrate ich natürlich keinem, wie das Teil aussieht und was es so den lieben langen Tag macht (nicht zu reden von der Nacht!). Derweil erpresse ich vom CERN Lösegeld. Oder präziser – da es denen ja gar nicht entlaufen, sondern mir aus freien Stücken zugekullert ist – ich verhandle über die Bedingungen der Auslieferung. Ich bin eine gemachte Frau! Erst noch eine mit Nobelpreis für Physik. Erwin Schrödinger an Timea: PARABEL Was in unserm leben, freund, wichtig und bedeutend scheint, ob es tief zu boden drücke oder freue und beglücke, taten, wünsche und gedanken, glaube mir, nicht mehr bedeuten als des zeigers zufallsschwanken im versuch, den wir bereiten zu ergründen die natur: sind molekelstösse nur. Nicht des lichtflecks irres zittern lässt dich das gesetz erwittern. Nicht dein jubeln und erbeben ist der sinn von diesem leben. erst der weltgeist, wenn er drangeht, mag aus tausenden versuchen schliesslich ein ergebnis buchen. – Ob das freilich uns noch angeht? 1 CERN (im Juli 2012) an die Welt: Wir haben es! (Das Higgs-Boson). PFFFF.

MED. GUTACHTEN: Keine Hirnwerkzeugstörungen. Dynamischer Gesamteindruck. Keine konkrete Lebensplanung. Auch bei näherem Nachfragen keine realistischen Vorstellungen erfragbar. Inhaltliches Denken unrealistisch bzw. magisch. Hinweise auf Störungen des Zeiterlebens. Fehlender realistischer Bezug zwischen Selbst- und Fremdeinschätzung. Neigung zu Ambivalenz oder auch Ambitendenz. Realitätsorientierung wechselhaft, zeitweise verzerrt. Realitätsanpassung gemindert. Empfehlung: gleichförmige, minderqualifizierte Beschäftigung. Die Person ist ihrem Umfeld zumutbar.4 (Anmerkung Timea: Das Umfeld ist der Person nicht zumutbar.) Erwin Schrödinger an Timea: SCHATTEN eiligfliehnde schatten an der wand an der öden blankgekalkten mauer warum hastet ihr? Liegt wer in lauer anzutasten euren schattentand? Oder lockt euch ein gelobtes land. Oder steht ihr stille und es regt sich in euch selber nichts. Langsam bewegt sich nur die rampenlampe die euch fand und vorüberwandert an den rand der belanglos … und wo einer stand still und reg- und leblos steht er noch: eine selbstbewusste marionette welcher bloss der ahnungslos kokette tiefmitfühlende beschauer nachblickt in das finstre loch und sein schnupftuch presst in trauer.1 Die Tränen des Sternwarts! Tagsüber schläft der Sternwart, deshalb hat er keine Frau. Er ist Jungfrau (das stimmt wohl so nicht …) und saturnalisch im Aszendent. Nur die Eulin wirft zwei schreckliche gelbe Augen auf ihn, wenn er in der astronomischen Dämmerung den Bunker verlässt. Er verträgt kein Tageslicht. Wenn es ihm auf die Schulter fällt, zerbröselt seine nachte Haut. Er hat einen Buckel, weil er nicht in die Knie geht vor der Galaxis, sondern seinen Rücken krümmt, um durch das Bubble-Teleskop zu spähen. Lang oh grausam lang sind seine siderischen Nächte.


Mitbringsel 1063

Orbit 1067

Verlust der Kausalität 7901

unding 1053

98 / 99


Ein Sternwart hütet Sterne, das ist sein Beruf. Aber ein Großer Bär hat die Herde aufgestört. Die Sterne, die dem Sternwart anvertraut, stieben auseinander nach allen Sonnenwindrichtungen, schneller als teleportierte Menschen jemals lichtfliegen könnten. Sie sind zu fix, diese Sterne, die Hirtenmonde hecheln ihnen hinterher mit hängender Zunge und können sie nicht wieder zusammentreiben. Der Sternwart pfeift die Wächter zurück, weil sie sonst tot aus dem Orbit fallen würden. Im Morgengrauen regnet’s. Oh, weine nicht, Sternwart, weine nicht! Supernova wartet dir, Skorpion wirst du dann sein. Weine nicht. Erwin Schrödinger, verlegen, an die Nase (einer anderen): EIN ANDERES Heilige vor dir knie ich durch dich zieh ich den atem der welt. Ich bin dein. Wenn dirs gefällt hör ich auf zu sein.1 Timea an einem 14. Februar, an die Nase des geliebten Waadtländers:

Kann man die condition humaine präziser fassen? Dieses unnatürliche Sitzen an Tischen unterscheidet uns vom Tier und macht uns lächerlich vor Gott. Überhaupt: Es werden die Menschen immer dünner und die Fahrräder immer dicker. Diese Missproportion schmerzt an der Herzlinse, es deprimiert mich. Ein letztes braves Bier im Stehen. / Hingelegt, geduscht, wieder hingelegt. Dann das alles noch 2 x. Kann nicht ohne Mitbringsel heim, bloß weil ich verkatert bin: Speck posten. Kaffee, Klo, zum Bahnhof stiefeln, wieder Kaffee. Tiroler Tageszeitung: ISS-Astronauten auf der Flucht vor Elektroschrott. Michaux: Docteur de la charcuterie. … Aber wovor ich nun auf der Flucht bin! QUANTESSENZ. Wir müssen endlich den Verlust der Kausalität verkraften! Die Synchronizität wagen und uns darüber klarwerden, was „Kollaps der Wellenfunktion“ tatsächlich heißt: Das Universum erleichtert sich vom Spannungszustand all der wabernden Möglichkeiten! „Wirklichkeit“ ist ein Niesen, der Orgasmus, ein Furz des Universums. Muss uns das immer gefallen? Es erfüllt uns mit großer Zärtlichkeit. Erwin Schrödinger an alle: ein rein verstandesmässiges Weltbild ganz ohne Mystik ist ein unding.6

PREUVE D’AMOUR A un Vrai Homme de sa Gonzesse Si ton nez était la scie il n’y aurait plus d’Amazonie le matin Sur la vaste plaine le soir je compte mon mouton noir joyeuses St-Valentin Erwin Schrödinger: Im Augenblick plagt mich eine neue Atomtheorie. Wenn ich nur mehr Mathematik könnte! Ich bin bei dieser Sache sehr optimistisch und hoffe, wenn ich es nur rechnerisch bewältigen kann, so wird es sehr schön.7 INNSBRUCKER KATERNOTIZEN II. Finde heraus, wer hier der Dichter ist. Stephan Groetzner!: Ich sitze am Tisch und stinke.2

1 Zit. nach der Erstveröffentlichung der GEDICHTE des mit dem Nobelpreis ausgezeichneten Physikers Erwin Schrödinger (1949). 2 Groetzner, Stephan: Die Kuh in meinem Kopf. Graz, Droschl 2012. 3 Heisenberg, Werner: Die Entwicklung der Deutung der Quantentheorie, Physikalische Blätter 12, S. 289–304 (1956). 4 Quantenfakultät der Technischen Hochschule Alpbach in Tirol: Prozedere der immemorialen Physik. Alpbach, monatlich. 5 Rossel, Ursula Timea: Man nehme Silber und Knoblauch, Erde und Salz. Zürich, bilgerverlag 2011. 6 Schrödinger, Erwin: Mein Leben, meine Weltansicht. Zürich, Diogenes 1989. 7 von Meyenn, Karl (Hrsg.): Eine Entdeckung von ganz außerordentlicher Tragweite. Schrödingers Briefwechsel zur Wellenmechanik und zum Katzenparadoxon. Berlin, Springer 2011.


Licht und Schatten 2276

neuen deutschen Abstraktion 6439

die Stille 5388

100 / 101


Das blaue Licht

Im März dieses Jahres schuf der Berliner Fotokünstler und Bühnenbildner Stefan Heyne exklusiv für Quart neun faszinierende Fotoarbeiten in seiner radikal abstrakten Sichtweise (zu sehen auf den folgenden 5 Doppelseiten). Entstanden sind sie an den Nordausläufern des Karwendel-Gebirges. Eine exaktere Ortung ist bildlich nicht möglich. Man ahnt Schnee, man ahnt Bergnächte und weite Himmel. Was indes wirklich gelichtet ist, das ist einzig das Licht selber – ein alpines Leuchten, das wie geschaffen scheint für Heynes Bilder. Denn der 1965 in Brandenburg geborene Fotograf interessiert sich nicht für die klassischen Aspekte des fotografischen Bildes – Schärfe und Wiedererkennbarkeit. Hell und Dunkel; Licht und Schatten, mit diesen elementarsten Bauteile seines Mediums schafft Heyne meist großformatige Bilder von geheimnisvoller Strahlkraft und ist mit dieser Reduktion in den letzten Jahren zu einem der wichtigsten Vertreter einer neuen deutschen Abstraktion in der Fotografie geworden. In zahlreichen Büchern und Ausstellungen hat er eine „Lichtkunst“ zelebriert, die nicht mehr erkennen und zeigen, sondern die vor allem leuchten will. Sicherlich: Man könnte das Karwendel auch wie gewohnt in riesigen Panoramabildern abbilden; doch hätte man damit sein Wesen näher erfasst? „Uns’re Freuden, uns’re Wehen, / Alles eines Irrlichts Spiel“, heißt es schon in Schuberts „Winterreise“. Und so ist es auch bei Stefan Heyne. Die Erhabenheit, die Stille und Schönheit der Alpen – das alles liegt für den Berliner Künstler nicht in Form und Oberfläche verborgen. Es liegt tiefer: in einem magischen Licht. (Ralf Hanselle)












in fremden Bibliotheken 2289 Autor, Titel und Verlag 2285

Verlorene Generation 4582

Inhaltsangaben 2255

Burnout 5388 112 / 113


Verdorbene Vorfreude

Über Sinn und Unsinn von Klappentexten in der Literatur. Eine Polemik von Joachim Lottmann

Natürlich kennen wir alle den Effekt der verdorbenen Vorfreude, wenn wir ein Buch, das einem gerade jemand geschenkt hat, aufklappen und den Klappentext lesen. Für mich hat das dazu geführt, dass ich seit meinen Studententagen die Schutzhüllen der Bücher – auf denen Klappentexte und Rückseiten-Werbung stehen – gleich nach Erhalt wegwerfe. Aber soviel Courage lässt sich nicht ein Leben lang durchhalten. Auch ist es nicht möglich, diese brutale Methode in fremden Bibliotheken oder bei geborgten Büchern anzuwenden. Drittens ist man auch oftmals zu faul, sich ein eigenes Urteil zu bilden. Zum Beispiel, wenn einem Autor, Titel und Verlag nichts sagen. Da erhofft man sich wenigstens einen schnellen Einstieg in die vorzunehmende Einschätzung. Viertens möchte zumindest ich bei befreundeten Kollegen wissen, wie sie sich selbst und ihr Buch darstellen lassen. Zum Beispiel Wolfgang Herrndorf. Ich kenne ihn gut. Wir haben das erste Jahrzehnt des neuen Jahrhunderts miteinander verbracht, und im Gegensatz zu mir war er der beliebteste Mensch der gesamten Literaturszene. Der Klappentext kündigt seinen Debütroman „In Plüschgewittern“ etwas anders an: „Ein Roman aus der Mitte Berlins und dem Zentrum einer verlorenen Generation.“ „Mir persönlich ist in deutscher Sprache kein Buch bekannt, das dem ‚Fänger im Roggen‘ näher käme.“ „Überaus unterhaltsam. Ein lesenswertes Kunstwerk.“ Das sind drei Aussagen, die sich Redakteure der „Zeit“, der „SZ“ und der „Welt“ abgerungen haben. Was sagen sie mir? Was sollen sie bedeuten? Verlorene Generation? Der Fänger im Roggen? Der Mann ist 1965 geboren, geht somit auf die 50 zu. Ein Kunstwerk? Unterhaltsam? Lesenswert? Am besten, ich schaue einmal, was auf seinem neuesten Roman steht, „Sand“, letztes Jahr erschienen und inzwischen ein Bestseller: „Wie Wolfgang Herrndorf erzählt, mit einer Sprache, nach der man süchtig werden kann, das ist brillant.“ „Auch in fünfzig Jahren wird dies noch ein Roman

sein, den wir lesen wollen. Aber besser, man fängt gleich damit an.“ „Wolfgang Herrndorf wurde unter anderem mit dem Deutschen Erzählerpreis (2008), dem Brentanopreis (2011) und dem Deutschen Jugendliteraturpreis (2012) ausgezeichnet.“ Aha, ein Mann, der Preise abräumt. Ist das gut? Nein, das ist immer ganz schlecht. Das heißt nämlich, dass er nach dem Geschmack langweiliger Juroren schreibt. Somit gäbe dieser Klappentext doch einen nützlichen Hinweis. Brillante Sprache? Nach der man süchtig wird? Das schreit förmlich nach einer Überprüfung. Schlagen wir willkürlich eine Seite auf und lassen die Sprachdroge auf uns wirken, ganz ergebnisoffen, vielleicht stimmt ja der Klappentext: „In den wenigen Tagen, an die er sich erinnern konnte, hatte er mehr ungereimtes Zeugs erlebt als mancher Mensch in 70 Jahren. Und nun lief er Gefahr, dieses neue Leben erneut zu verlieren. Helen verschwunden, Dr. Cockcraft verschwunden, eine Arztpraxis hatte vielleicht niemals existiert. Die Mine gestohlen, Bassirs Ultimatum abgelaufen, und möglicherweise schnitt gerade jemand seinem Sohn den Finger ab oder vergewaltigte seine Frau …“ Hm. Schwer zu sagen, ob man gern noch mehr über den potenten Dr. Cockcraft lesen würde. Verlorene Generation in Berlin Mitte? Ist da der Dritte Weltkrieg ausgebrochen? Es klingt so. Mein Urteil: unbestimmt. Zum nächsten Buch: René Freund schreibt im österreichischen Deuticke-Verlag den Roman „Liebe unter Fischen“. Bei Deuticke bestehen die Klappentexte bequemerweise immer nur aus simpel nacherzählten Inhaltsangaben. So auch hier. Nach der Lektüre dieser Zeilen ist die Neugier auf die Handlung des Buches und ihrem Ausgang sauber abgetötet: „Fred Firneis, Lyriker mit Sensationsauflagen, leidet nach langen alkoholdurchtränkten Jahren an einem Burnout. Seine Verlegerin, die ihn in seiner Berliner


Handyempfang 4498

James Bond Daniel Craig 4223

Mai, Juni, Juli 1233

No-Name 8544

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Wohnung aufspürt, schickt ihn in eine Holzhütte in die Alpen nach Österreich. In Grünbach am See gibt es weder Strom noch Handyempfang, und Firneis kommt wieder zu Kräften. Doch dann taucht Mara auf, eine junge Biologin aus der Slowakei, die ihre Doktorarbeit über die Elritze schreibt, einen spannenden kleinen Schwarmfisch. Bald interessiert sich Fred für sämtliche Details von Biologie, Verhaltensforschung – und Mara, die jedoch plötzlich verschwindet. Eine alpine Liebesgeschichte mit Humor und Showdown in Berlin.“ Ein Lyriker mit Sensationsauflagen? Den hat es seit dem antiken Rom nicht mehr gegeben. Also beginnt das Buch gleich mit einer faustdicken Lüge, von der es sich nach menschlichem Ermessen gar nicht mehr erholen kann. Aber vielleicht ist ja auch hier eine süchtigmachende brillante Sprache, wie sie noch in fünfzig Jahren die literarische Welt wird erbeben lassen, am Werk? Der Deuticke-Verlag schweigt hierzu diskret. Aber kann man es denn besser machen? Nehmen wir als Kontrast einmal absolute Hochkultur, Musils Klassiker „Der Mann ohne Eigenschaften“. Hier steht schon auf der Titelseite, unmittelbar unter dem Titel, das professionelle Eigenlob: „Sinnbild für eine in Auflösung und Zerfall begriffene Zeit“ (Der Spiegel). „Ein enzyklopädisches Werk, das erfahren und erkundet sein will, ein Lebensbegleiter“ (Günter Blöcker). Hat jemand nach diesen Platitüden noch Lust, diesen vielleicht besten Roman aller Zeiten anzufangen? Zumal, es sind nicht nur Platitüden, es ist ja sogar falsch. Der Österreicher hält ja grundsätzlich jede Zeit für eine der Auflösung und des Zerfalls. Das ist sein negatives Karma, seine Todessehnsucht. Aber objektiv war das Jahrhundert vor dem Ersten Weltkrieg, in dem der Roman spielt, das für Österreich stabilste und glücklichste. Und dann das andere Lob, das von Günter Blöcker. Wer ist der Mann? Wieso darf dieser No-Name, dieses Nichts, über einen Gott wie Musil urteilen, direkt auf der Front Page. Hatten sie keinen anderen? Und dann ist das Lob auch noch vergiftet: Es downgraded die wunderbare Geschichte zu einer staubtrockenen Enzyklopädie. Klingt nach Arbeit. Wer will denn sowas,

am Feierabend, in den Ferien? So gesehen machen die Leute von Deuticke doch den besseren Job. Nehmen wir einen Großen von heute, einen echten Shooting Star, Clemens J. Setz, 30 Jahre jung, berühmt geworden durch „Die Liebe zur Zeit des Mahlstädter Kindes“. Schon mit Mitte 20 schrieb er den ebenso hochgelobten Schmöker „Die Frequenzen“. Das kleingedruckte 700-Seiten-Werk wird so beworben: „Nach Söhne und Planeten, seinem Debüt, das ihm einhelliges Lob der Kritik einbrachte, legt Clemens J. Setz ein Werk vor, das alle Erwartungen sprengt: atemberaubend kraftvoll, virtuos-verspielt, sprachgewaltig und zart.“ Ja, servus! Hat der Mann einen neuen James Bond Roman geschrieben? Kraftvoll wie Daniel Craig, atemberaubend sprachgewaltig wie eine kriminelle Rapper Gang? Ausufernd und beliebig wie eine Billig-Soap? Oder feiert da jemand mitsamt seinem Verlag sein sinnund beziehungsloses „Talent“? Die 700 oder auch gern mal 1.000 Seiten seiner Prosa sind wie ein hochtourender Motor mit gerissenem Keilriemen. Nicht ganz falsch steht dann auch noch auf der Rückseite des Kartons: „Das Leben als Kettenreaktion, ein Roman als Weltmaschine: Ein Buch über Liebe, Wahnsinn und Ohrgeräusche – reich und raffiniert, bunt und komisch.“ Auf deutsch: Hier darf sich einer austoben. Über alles und somit nichts. Zum Schluss soll auch ich drankommen. Viel lästern und es selbst genauso machen, das geht nicht. Also lesen Sie den legendären Klappentext des Romans „Mai, Juni, Juli“. Er war es vielleicht, der das Buch zum Bestseller gemacht hat: „Kein Sex, keine verdammt gute Literatur, keine Monomanie, keine Exzesse, kein Tiefgang, kein lasterhaftes Auskotzen, kein Buch für Gaumenfreunde, keine Phantasie, Mystik, l’amour fou, Aberglaube, kein Geraune im Imperfekt, keine Unzucht im Mittelalter, kein Vergangenheitsbewältigungsmist, kein AvantgardeScheiß. Tut mir leid, Brillenfreunde.“


Eigenwerbung

Quart Nr. 1–20: Stefan Abermann, Nathan Aebi, Andreas Altmann, Architekten Moser Kleon, Clemens Aufderklamm, Ludovic Balland, Thomas Ballhausen, Susanne Barta, Othmar Barth, Christoph W. Bauer, Ruedi Baur, Wolfgang Sebastian Baur, Xaver Bayer, Gottfried Bechtold, Sven-Eric Bechtolf, Friedrich Biedermann, Johanna Bodenstab, Mirko Bonné, Julia Bornefeld, Bureau Mirko Borsche, Kurt Bracharz, Carmen Brucic, Maria E. Brunner, Markus Bstieler, Daniel Buren, Ferdinand Cap, Ernst Caramelle, Michael Cede, Günther Dankl, Hans Danner, Delugan-Meissl, Marco Dessi, Georg Diez, Dimitré Dinev, Klaus Doblhammer, Moritz Eggert, Fred Einkemmer, Olafur Eliasson, William Engelen, EOOS, Beate Ermacora, Carsten Fastner, Martin Feiersinger, Werner Feiersinger, Friederike Feldmann, Thomas Feuerstein, Christian Flatz, Stefan Flunger, Ellinor Forster, Katja Fössel, freilich landschaftsarchitektur, Barbara Frischmuth, Martin Fritz, Daniel Fügenschuh, Marta Fütterer, Heinz Gappmayr, gelitin, Michael Glasmeier, Rolf Glittenberg, Christian Gögger, Peter Gorschlüter, Martin Gostner, Barbara Gräftner, Franz Gratl, Andrea Grill, Daniel Grohn, Georg Gröller, Walter Grond, Walter Groschup, Sabine Gruber, Gebhard Grübl, Egyd Gstättner, William Guerrieri, Carla Haas, Ernst Haas, Georg Friedrich Haas, Florian Hafele, Katja Hagedorn, Händl Klaus, Andreas Hapkemeyer, Marlene Haring, Jens Harzer, Michael Hausenblas, Krista Hauser, Sigrid Hauser, Clementina Hegewisch, Werner Heinrichmöller, Heinz D. Heisl, Dietrich Henschel, Peter Herbert, Wolfgang Hermann, Ralf Herms / Rosebud, Margarethe HeubacherSentobe, Klasse Hickmann, Stephan Hilpold, Christoph Hinterhuber, Paulus Hochgatterer, Richard Hoeck, Candida Höfer, Siggi Hofer, Johanna Hofleitner, Robert Holmes, Anton Holzer, Stefanie Holzer, Heidrun Holzfeind, Johann Holzner, Sascha Hommer, Albert Hosp, Johannes Huber, Sebastian Huber, Stephan Huber, Barbara Hundegger, Stefan Hunstein, Helmut Jasbar, Ivona Jelcic, Peter Stephan Jungk, Ulrike Kadi, Fabian Kanz, Walter Kappacher, Bernhard Kathan, Otto Katzameier, Manuela Kerer, Leopold Kessler, Kurt Kladler, Walter Klier, Gerhard Klocker, Margit Knapp, Peter Kogler, Alfred Komarek, Moussa Kone, Markus Koschuh, Hubert Kostner, Brigitte Kowanz, Annja Krautgasser, Andreas Kriwak, Brigitte Kronauer, Florian Kronbichler, Gustav Kuhn, Martin Kusej, Ulrich Ladurner, Bernhard Lang, Patrizia Leimer, Sonia Leimer, Paul Albert Leitner, Clemens Lindner, Christine Ljubanovic, Ove Lucas, Constantin Luser, Fritz Magistris, Brigitte Mahlknecht, Sepp Mall, Andreas Maier, Urs Mannhart, Dorit Margreiter, Raimund Margreiter, Edgar Martins, Barbara Matuszczak, Manfred Alois Mayr, Friederike Mayröcker, Milena Meller, Bernhard Mertelseder, Klaus Merz, Thomas Mießgang, Lydia Mischkulnig, Wolfgang Mitterer, Philipp Mosetter, Bernhard Moshammer, Walter Müller, Paul Nagl, Olga Neuwirth, the NEXTenterprise architects, Walter Niedermayr, Michaela Nolte, NORM, Thomas Nußbaumer, Peter Oberdorfer, Nick Oberthaler, Walter Obholzer, José F.A.Oliver, Fritz Ostermayer, Matthias Osterwold, Ulrich Ott, Walter Pamminger, Thomas Parth, Pauhof Architekten, Karin Pernegger, Hans Karl Peterlini, Christoph Peters, Robert Pfaller, Andreas Pfeifer, Marion Piffer Damiani, Hans Platzgumer, Jorge Reynoso Pohlenz, Helmut Pokornig, Wolfgang Pöschl, Wolfgang Praxmarer, Gerald Preinfalk, Othmar Prenner, Martin Prinz, Robert Prosser, Manuela Prossliner, Irene Prugger, Carl Pruscha, Florian Pumhösl, Thomas Radigk, Gottfried Rainer, Bernhard Rathmayr, Arne Rautenberg, Simon Rees, Helmut Reinalter, Robert Renk, Maria Rennhofer, riccione architekten, Alice Riegler, Gerhard Ruiss, Ingrid Runggaldier, Fritz Ruprechter, Corinne L. Rusch, Katharina Rutschky, Michael E.Sallinger, Georg Salner, Peter Sandbichler, Benedikt Sauer, Susanne Schaber, Hans Schabus, David Schalko, Lukas Schaller, Peter Scheer, Simon Schennach, Markus Schinwald, Elisabeth Schlebrügge, Eva Schlegel, Nikolaus Schletterer, Fridolin Schley, Birgit Schlieps, Hanno Schlögl, Ferdinand Schmatz, August Schmidhofer, Wendelin Schmidt-Dengler, Olaf A. Schmitt, Gunter Schneider, Roland Schöny, Fred Schreiber, Raoul Schrott, Franz Schuh, W.G.Sebald, Christian Seiler, Walter Seitter, Peter Senoner, Q. S. Serafijn, Sergison Bates architects, Cyrus Shahrad, Robbie Shone, Martin Sieberer, Christoph Simon, Jens Soentgen, Alessandro Solbiati, Gertrud Spat, spector cut+paste, Götz Spielmann, Clarissa Stadler, Thomas Stangl, Martina Steckholzer, Esther Stocker, Karl Stockreiter, Bernhard Studlar, Michael Sturminger, Sylvia Taraba, Rudolf Taschner, Text ohne Reiter, Michael Thalheimer, Paul Thuile, Johanna Tinzl, Susanne Titz, Ernst Trawöger, Heinz Trenczak, Jan Peter Tripp, Ilija Trojanow, Thomas Trummer, Wolfgang Tschapeller, Erdem Tunakan, Karl Unterfrauner, Sandra Unterweger, Roman Urbaner, Katrien van der Eerden, Andrea van der Straeten, Rens Veltman, Joseph von Westphalen, Klaus Wagenbach, Martin Walde, Peter Warum, Peter Waterhouse, Vitus H. Weh, Hans Weigand, Lois Weinberger, Oliver Welter, Wendy & Jim, Gabriele Werner, Günter Richard Wett, Margret Wibmer, Roman Widholm, Martin Widschwendter, Erika Wimmer, Robert Winkel, Heinz Winkler, Franz Winter, Wolfgang Wirth, Robert Woelfl, Erich Wucherer, Erwin Wurm, Anton Würth, Andrea Zanzotto, Jörg Zielinski, Stefan Zweifel 116 / 117


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Wer Quart abonniert, bekommt sicher ein Heft (bevor es vergriffen ist, was vorkommt). Soweit Argument Nummer eins. – Zweitens: Es kommt billiger! Zwei Hefte kosten € 21,– (statt € 28,–). Und drittens gibt es als Abogeschenk Beiträge aus den ersten 16 Ausgaben Quart in Buchform: Quartessenz (siehe Rückseite der eingeklebten Postkarte). Wenn Sie einen neuen Abonnenten werben, gibt’s gleich 2 Geschenke: eines für den neuen Abonnenten und eines für Sie!


Kürzel 1664

historische Zusammenhänge 7980

bildliche Repräsentation 4500

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HM MZS

Was verbirgt sich hinter einem geheimnisvollen Kürzel wie diesem? Ein Maler, der vor fast 500 Jahren in Schwaz in Tirol einen bartlosen Mann malte und es damit 1965 auf den 500-DM-Schein schaffte. Ein Porträt von Eva Maria Stadler, die seit 2011 die Galerie der Stadt Schwaz leitet.

Am Ende der Franz-Josef Straße in Schwaz in Tirol, unmittelbar neben der Liebfrauenkirche, die 1502 fertiggestellt worden ist, befindet sich das Palais Enzenberg, das 1515 von Christian Tänzl erbaut wurde und heute die 1994 gegründete Galerie der Stadt Schwaz beherbergt. Die Tänzls waren erfolgreiche Schwazer Bergwerksunternehmer, die anlässlich der Hochzeit von Maria Tänzl mit Moritz Welzer im Jahr 1524 bei Hans Maler, Maler zu Schwaz, Porträts des Hochzeitspaares in Auftrag gaben.1 Die Beschäftigung mit Hans Maler aus heutiger Perspektive eröffnet einen Blick auf historische Zusammenhänge, in denen Schwaz hinsichtlich der Verstrickungen von Politik, Kunst und Wirtschaft eine zentrale Rolle spielt. Was Hans Maler nach Schwaz geführt hat, wissen wir nicht. Seine Präsenz und seine künstlerische Tätigkeit in der Tiroler Stadt am Beginn des 16. Jahrhunderts spielten jedenfalls eine wesentliche Rolle hinsichtlich der politischen Repräsentation der Habsburger und der Wirtschaftsmacht der Fugger. Aus Ulm kam der Maler Hans Maler nach Schwaz in Tirol, wo er sich nachweislich ab 1520 aufgehalten hatte. Schwaz war in diesen Jahren wirtschaftlich höchst erfolgreich. Der Grund dafür lag in seinen reichen Kupfer- und Silbervorkommen, die als ökonomische Anziehungskraft wirkten und der Stadt einen enormen Bevölkerungszuwachs bescherte. Aus ganz Europa kamen Menschen nach Schwaz, weshalb die Stadt am Beginn des 16. Jahrhunderts um die 20.000 Einwohner zählte. Schwaz war damals somit nach 1 Hans Belting und Christiane Kruse, Die Erfindung des Gemäldes. Das erste Jahrhundert der niederländischen Malerei, München 1994, S. 45

Wien die zweitgrößte Stadt Österreichs. Innsbruck etwa war nur halb so groß. Eng verknüpft mit dem Erfolg der Stadt war die Geschichte der Fugger, jenen zu Berühmtheit gelangten Augsburger Bürgern, die sich über mehrere Generationen zu einem der bedeutendsten Handelsgeschlechter ihrer Zeit entwickelt hatte. Es scheint jedoch kein Zufall zu sein, dass sich Hans Maler, aus dem Schwäbischen kommend, in Tirol niedergelassen hat. Er fand seine Auftraggeber unter den Fuggern genauso wie beim habsburgischen Hof. Zunächst war es Kaiser Maximilian I., der bei Hans Maler mehrere Porträts von sich und seiner Familie in Auftrag gab. Es waren dies in erster Linie Kopien bereits existierender Gemälde. Die kunsthistorische Forschung setzt sich mit der Frage der Zuschreibung der unterschiedlichen Porträts auseinander und nimmt an, dass es sich im Zusammenhang mit den Porträts Maximilians und seiner ersten Frau, Maria von Burgund, wahrscheinlich um Kopien von Bildern aus dem Umkreis von Bernhard Strigel handelt – einem Künstler aus Memmingen, der regelmäßig für den Habsburger Hof tätig war. Kaiser Maximilian I. war einer der ersten, der in der Verbreitung seiner Konterfeis einen medialen Effekt sah. Er versprach sich Präsenz durch die bildliche Repräsentation genauso wie durch die prunkvolle Lebensführung, die vor allem eines tun sollte – beeindrucken. Schlösser, Residenzen oder Preziosen wie der Prunkerker mit dem Goldenen Dachl dienten und dienen der Demonstration von Reichtum und Glamour und stellen eine Form von Machterhalt dar, der sich aus der Produktion von Affekten generiert und das ästhetische Empfinden prägt. Maximilian engagierte Künstler wie Albrecht Dürer, Hans Burgkmair, Bernhard Strigel, Hans Schäufelin oder eben unseren Maler Hans Maler, Porträts bzw.


Kopien 9207

Hintergrund 4255

Wiedererkennungsgrad 7903

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Kopien anzufertigen. Auffallend ist, dass Maximilian nicht einen oder mehrere Hofkünstler beschäftigte, sondern mit quasi freien Künstlern arbeitete, die er jedoch kontinuierlich beauftragte. Für das Porträt von Maximilian I., das sich heute im Schloss Ambras in Innsbruck befindet, folgte Hans Maler einem bestehenden Bildtypus. Der Kaiser im Dreiviertelprofil, vor einer rot ornamentierten Wandbespannung dargestellt, trägt eine Krone mit Edelsteinen, Perlen und goldgetriebenen Krabben sowie eine Rüstung und drüber einen bestickten Mantel. In der rechten hält er ein Schwert und in der linken Hand ein Szepter. Von diesem Bildtypus sind uns mehrere Varianten erhalten, die Bernhard Strigel und Hans Maler zugeschrieben werden. Die Abweichungen beziehen sich auf die Gewänder und auf das rechte obere Bildfeld, nicht jedoch auf die Körperhaltung, den Blick und die Gesamtkomposition, die im Wesentlichen gleich bleiben. Besonders interessant scheint das Bildfeld rechts oben, das in den Ausgaben von Hans Maler schwarz geblieben ist. In anderen Ausführungen wurden in diesem Feld Inschriften angebracht, oder es war als Fenster angelegt, das den Blick auf eine Landschaft freigibt. Der schematisch angelegte Hintergrund besteht aus der meist roten Fläche der Wandbespannung, vor der der Kaiser sitzt, der schwarzen „Leerfläche“ rechts oben, sowie einer grauen Fläche darunter, die für eine Brüstung oder ein Wandelement steht, und stellt damit eine abstrakte Komposition dar, auf deren Basis die Porträts, die Maximilian bestellte, in Serie gefertigt wurden. Maximilians Ziel war es, einen Porträttypus zu schaffen, der einen hohen Wiedererkennungsgrad aufwies. Und mehr noch – über den Werbeeffekt hinaus war es den Habsburgern wichtig, einen idealen Herrschertypus zu propagieren. „Hier war eine Person zunächst einmal eine Norm, so sehr sie auch die Norm in einer einmaligen Existenz verkörperte“2, schreibt Hans Belting über die Malerei in Deutschland und den Niederlanden im 15. Jahrhundert. Hans Malers künstlerischer Spielraum bestand also nicht in der Komposition, sondern in erster Linie in der Zeichnung der Gesichtszüge und in der malerischen Ausführung der Details, die er nach und nach verfei-

nerte und individualisierte. Anzunehmen ist, dass sich die Verbindung zu den von Hans Maler Porträtierten im Lauf der Jahre intensivierte, dass er sie persönlich kennenlernte und ihm dadurch ein größeres Spektrum an Subjektivierungsstrategien zur Verfügung stand. Maximilian und Jakob Mit einer gefinkelten Heiratspolitik sowie mit einer Reihe von Kriegen in erster Linie gegen Frankreich und die Niederlande hat Maximilian I. das Reich der Habsburger stark ausgedehnt und sich dafür und für ein aufwändiges höfisches Leben in große Schulden gestürzt. Sein wichtigster Bankier war – und hier beginnt sich unsere Geschichte zu verzahnen – Jakob Fugger, auch Jakob der Reiche genannt. Fugger, aus einer seit dem 14. Jahrhundert in Augsburg ansässigen Handelsfamilie stammend, gewährte Maximilian I. hohe Kredite, um Zugang zum habsburgischen Hof zu erlangen und damit seine wirtschaftlichen Interessen verfolgen zu können. Zunächst waren es mehrere Grafschaften, wie Kirchberg in der Nähe von Ulm, Pfaffenhofen, Weißenhorn und Wullenstetten, die er erwarb. Aufgrund seines Standes wurde er von dem in den Grafschaften ansäßigen Adel jedoch nicht anerkannt. Seine Investitionen wären wertlos gewesen, wenn ihn nicht Maximilian 1511 in den Grafenstand erhoben hätte. Im Gegenzug unterstützte Jakob Fugger die Habsburger mit Krediten, die Maximilian zum Ausbau und zur Sicherung des Machterhalts einsetze. So ernannte er sich selbst im Jahr 1508 zum deutschen Kaiser. Im Jahr 1515 waren die Schulden der Habsburger auf 300.000 Gulden angewachsen.3 Karl, Jakob und Anton Nach dem Tod Maximilians im Jahr 1519 ging es um die Wahl seines Enkels Karl V. zum deutschen König und später zum deutschen Kaiser. Jakob Fugger investierte die enorme Summe von 545.585 Gulden4, um 2 Hans Belting und Christiane Kruse, Die Erfindung des Gemäldes. Das erste Jahrhundert der niederländischen Malerei, München 1994, S. 45 3 Stefan Krause, Die Porträts von Hans Maler. Studien zum frühneuzeitlichen Standesporträt, Dissertation, Uni Wien, 2008, S. 48 4 http://de.wikipedia.org/wiki/Jakob_Fugger


gesellschaftlichen Status 8497

nach seiner Rückkehr 8475

imaginäre Präsenz 4212

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New Yorker Bildes 7802


die Wahl des französischen Königs Franz I. zu verhindern. Will man sich die Größenordnung dieses Kredites klar machen, muss man sich vergegenwärtigen, dass Jakob Fugger für den Erwerb von vier Grafschaften nur 50.000 Gulden bezahlte. Die hohe Investition erschien ihm wohl auch deshalb nötig zu sein, weil er mit dem Machterhalt der Habsburger auf die Rückzahlung der bereits vergebenen Kredite hoffen konnte. Jakob Fugger, Maximilian I. und seine Nachfolger Ferdinand I. und Karl V. verstrickten sich also immer mehr in ihren wechselseitigen Abhängigkeiten. Denn mittlerweile waren die Habsburger gar nicht mehr in der Lage, derart hohe Summen zurückzuzahlen, weshalb sie Jakob und später seinem Neffen Anton Fugger nach und nach anstelle von Geld Abbaurechte für die Schwazer Silberminen gewährten, um die Schulden abzubauen. Das Schwazer Silber wurde auf diese Weise zum Spielball europäischer Geschichte. Hans Und Hans Maler? Die bildliche Repräsentation war ein wesentlicher Bestandteil der Informations- und Kommunikationsstrategien, die sich die Habsburger und die Fugger zunutze machten. Mit der Distribution von Porträts durch Kopien und Druckgrafiken etablierte sich ein neues Verhältnis zur herrschenden Macht. Die imaginäre Präsenz des Kaisers entfachte eine Kraft, die über das einzelne Bild hinausging und so etwas wie Allgegenwärtigkeit zu vermitteln vermochten. „Gleich beim eintritt ins Gasthaus hast Du [Cranach] mit einer vom Kohlbecken genommenen und gelöschten Kohle das Bildnis Sr. Maiestät des Kaisers Maximilian auf die Wand so gezeichnet, dass es von Allen erkannt und bewundert wurde“5, huldigte Christoph Scheurl (1481–1542) Lukas Cranach d. Ä. Anfangs wurden die Bildnisse in kleiner Zahl an Mitglieder des Hofes verteilt, mit der Verbreitung der Holzschnitte jedoch kam es zu einer größeren Auflage der höfischen Konterfeis. Nun erkannten auch bürgerliche Personen, wie Jakob, 5 Brief von Christoph Scheurl an Lukas Cranach d. Ä. (1508) zit. nach Christian Schuchardt, Lucas Cranach des Aeltern Leben und Werke, 1851–1871, Bd. 1, 1851, S. 30 f.

Ulrich und später Anton Fugger, die Bedeutung und Wirkung eines Porträts und ließen sich zu spezifischen Anlässen malen, um ihren politischen und gesellschaftlichen Status zu untermauern. Jakob Fugger starb im Jahr 1525, sechs Jahre nach Maximilian, und setzte seine Neffen Ulrich und Raymund als Nachfolger ein, da er selbst keine Kinder hatte. Anton Fugger blieb unberücksichtigt, er entwickelte jedoch zunehmend kaufmännisches Verständnis, profilierte sich bei einem Rom-Aufenthalt, bei dem er die Geschäfte mit der Kurie betreute, und rückte nach seiner Rückkehr durch den frühen Tod Ulrichs in der Nachfolgeregelung Jakobs vor. Ulrich und Anton Hans Maler porträtierte Ulrich und Anton mehrfach. Erhalten sind Gemälde, die sich heute im Metropolitan Museum in New York bzw. in der Kunsthalle in Karlsruhe befinden und die zu den eindrücklichsten Arbeiten von Maler zählen. Immer noch folgt er dem Kompositionsschema der Zeit, doch Gesichtszüge, Blick und Ausdruck geben nun weit mehr preis, als dies noch die typisierten Bildnisse von Maximilian taten. Die Porträts des früh verstorbenen Ulrich sind von einer besonderen Sensibilität. Stirn- und Augenpartien des New Yorker Bildes sind mit feinen, doch energischen Linien herausgearbeitet, die Flächen der schlichten Kleidung – weißes Hemd mit schwarzem Mantel und schwarzer Kappe – sind exakt voneinander abgegrenzt, wodurch sich eine relativ harte Zeichnung ergibt. Die Augen sitzen nicht tief und gleichen sich in ihrer Helligkeit an die hohe Stirn und den lichten Hintergrund an. Die künstlerischen Möglichkeiten waren begrenzt, doch nutzte Hans Maler den Rahmen, den ihm die Auftraggeber gewährten, und fand eine Form, die mit Distanz und Nähe gleichermaßen operierte. Zeitgenossen von Hans Maler waren unter anderen Hans Holbein oder Albrecht Dürer. Sie setzten neue Maßstäbe im Umgang mit dem Genre „Porträt“ und übertrafen sich gegenseitig in der Kunst, Wesenszüge von Menschen zu erfassen.


Zeit des Ăœbergangs 7554

Die neue Form der Ă–konomie 7532

Macht des Geldes 7302 seine Familie 9406

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Hans Maler scheint Ulrich und Anton besser gekannt zu haben. Um 1520 hielten sich mehrere Mitglieder der Familie Fugger für längere Zeit in Schwaz auf. Grund dafür waren Veränderungen, die sich in Bezug auf den Abbau des Silbers ergeben haben. Solange die Gewinne aus dem Silber- und Kupferabbau kontinuierlich gesteigert werden konnten, hatten die Fugger keine Sorge, dass ihre Kredite an die Habsburger gesichert waren. Als sich jedoch abzeichnete, dass die kostbaren Rohstoffe nicht endlos sind, reagierte Jakob Fugger, indem er den Sitz der Fugger von Innsbruck und Hall, wo sich die Münze befand, die den Handel des Silbers organisierte, nach Schwaz verlegte, um direkt in das Silbergeschäft einzusteigen und dem einsetzenden Raubbau entgegenzuwirken. In diesem Zusammenhang hielten sich sowohl Urich als auch Anton um 1520 in Schwaz auf. Die Porträts, die Hans Maler von den Nachfolgern Jakobs machte, sind wie gesagt von größerer Vertrautheit gekennzeichnet. Maler unternahm hier den Versuch, die jeweilige Persönlichkeit zu erfassen, wobei es dennoch stets um das Subjekt in seinem gesellschaftlichen und politischen Kontext ging. Die neue Form der Ökonomie, die mit den Fuggern Raum griff, war zum einen von geographischen Erweiterungen, zum anderen durch die scheinbar grenzenlose Anhäufung von Vermögen gekennzeichnet. Bereits Jakob Fugger unterhielt Handelsbeziehungen mit Madrid, mit Lissabon und Antwerpen, mit Tschechien und der Slowakei. Anton dehnte diese nach Westindien, Mexiko und Argentinien aus. Dieses Phänomen eines frühen bürgerlichen Kapitalismus rief jedoch auch Kritiker auf den Plan – so bemühte sich Martin Luther, eine Vermögensobergrenze einzuführen, um für Verteilungsgerechtigkeit zu sorgen. Und das so genannte Volksbuch ‚Fortunatus‘, das im Jahr 1509 in Augsburg veröffentlicht wurde, kann als ironischer Kommentar auf die einsetzende Macht des Geldes gelesen werden. Der Text erzählt die Geschichte von einem „Glücklichen“, der von Zypern, wo seine Familie bankrott gegangen ist, zu einer Weltreise aufbricht. Von einer Fee erhält er ein „Geldseckel“, das sich stets von Neuem auffüllt. Der Stoff wurde u. a. auch von Hans Sachs aufgegriffen, dessen Wege ebenfalls nach Tirol führten,

wo er als Schuhmachergeselle am Hof Maximilians diente, und der sich auf der Seite Martin Luthers sehr für die Ideen der Reformation eingesetzt hatte. Der Beginn des 16. Jahrhunderts war in vielerlei Hinsicht eine Zeit des Übergangs: Die soziale Ordnung verzeichnete einen Übergang von der Stratifikation – der sozialen Schichtung, wie sie in dem bei den Habsburgern beliebten Abzählreim „Kaiser, König, Edelmann, Bürger, Bauer, Bettelmann (...)“ zum Ausdruck kommt – zu einer funktional differenzierten Gesellschaft, in der die freie Wirtschaft, aber auch die Wissenschaft, das Rechtssystem und die gewählte Politik an Bedeutung zunahmen. Geld wurde, wie in Schwaz, aus dem Berg geholt, und es entwickelte sich eine Geldwirtschaft, die aus Geld Geld machte. Matthäus und Wolfgang Hans Maler porträtierte aus dem Umkreis der Fugger eine weitere Persönlichkeit, die in Bezug auf den neuen Bürger eine wichtige Rolle spielte. Der Buchhalter Matthäus Schwarz war ein wichtiger Mitarbeiter im Bankhaus Fugger, er führte nach italienischem Vorbild die doppelte Buchführung ein und arbeitete an einer Reihe von wirtschaftswissenschaftlichen Büchern. Das Bildnis von Hans Maler, das sich heute im Louvre befindet, zeigt im Halbporträt einen aufwändig gekleideten Mann, der die Laute spielt. Matthäus Schwarz hielt sich kurz nach dem Tod von Jakob Fugger, dessen vertrautester Mitarbeiter er war, in Schwaz auf und ließ sich in diesem Zusammenhang porträtieren. An den Personen, die bei Hans Maler Bilder in Auftrag gaben, lässt sich ablesen, wie die soziale Struktur im Begriff war, sich zu ändern: Nicht nur der Kaiser, auch Angestellte nutzten das Medium der visuellen Repräsentation. Matthäus Schwarz war wohl eitel und auf seine Erscheinung sehr bedacht. Um seine Auftritte zu dokumentieren, führte er über mehrere Jahrzehnte ein Trachtenbuch, in dem er präzise alle Kleidungsstücke notierte und auf diese Weise eine Kostümbiographie6 erarbeitete. Diese aus historischer Sicht wichtige Quel6 Der Maler Hans von Schwaz, Heinz von Mackowitz, SchlernSchriften, hrsg. von R. Klebelsberg, Universitätsverlag Wagner/ Innsbruck, 1960, S. 52


kaum Formen des Widerstandes 7943

das Individuum 7896 126 / 127


le kann dabei mehr als Marotte des Buchhalters denn als Zeugnis für die umfangreichen Ordnungen und Regeln der damals herrschenden Kleiderordnung gesehen werden. So war genau festgelegt, welcher Stand wie viel Schmuck tragen oder wie viele Schlitze ein Wams haben darf, denn Schlitze waren sowohl Ausdruck für Verschwendung als auch für eine womöglich allzu erotische Ausstattung. Hans Maler hatte es sicherlich mit genauen Angaben zu tun, die Matthäus Schwarz machte, und so liegt die Besonderheit dieses Bildes stark in den Details der Gewänder mit dem Hemd, dem pelzgefütterten Mantel, der Goldkette. Die Gesichtszüge sind geradlinig ausgeführt und entsprechen vielleicht auch darin dem Wunsch des Auftraggebers, einen schönen, entschlossenen Mann wiederzugeben. In der Alten Pinakothek in München hängt in der Abteilung Altdeutscher Malerei neben Werken von Michael Pacher, Bernhard Strigel, Lucas Cranach d. Ä. u. a. ein Porträt von Wolfgang Ronner, eines weiteren Mitarbeiters des Unternehmens der Fugger, das unter Hans Maler firmiert.7 Ein junger Mann in grünem Mantel vor rotem Hintergrund hält einen Brief mit der Fugger’schen Handelsmarke in der Hand, darauf die Inschrift: „Ronner /ZwHannd(en)/ Swats“. Ob das Bild von Hans Maler ist oder ob es von seinem Schüler Christoph Amberger fertiggestellt wurde, kann nicht mit Sicherheit geklärt werden. Mehr als die Frage der Zuschreibung sind die kontextuellen Bedingungen zur Zeit des Entstehens der Bilder von Bedeutung, und darüber hinaus spielt der Kontext, in dem wir den Arbeiten Malers und seiner Zeitgenossen heute begegnen, genauso eine Rolle für die Wahrnehmung wie für das Verständnis von politischen und kulturellen Zusammenhängen. Wie erwähnt, ist die Jahrhundertwende vom 15. /16. Jahrhundert von entscheidenden politischen Umwälzungen geprägt. Wie groß diese Änderungen waren, kommt nicht zuletzt auch in der Kunst zum Ausdruck. Denn während sich die sakrale Kunst noch an der Spätgotik orientierte, bot die Porträtmalerei neue Möglichkeiten in der Darstellung, die weit mehr auf das Individuum eingingen als dies bislang üblich war. Hans Maler, Maler zu Schwaz, war ein Künstler, dessen

Bilder nicht wie die von Dürer oder Holbein zu Weltruhm gelangten, immerhin befindet sich ein Großteil von den ca. 40 Bildern, die heute noch erhalten sind, in den berühmtesten Museen und Sammlungen der Welt, wie dem Louvre, den Uffizien, dem Metropolitan Museum oder dem Kunsthistorischen Museum in Wien. Seine Bilder sind aber vor allem deshalb von Interesse, weil sie mehr als eine neue ästhetische Ausdrucksform die Bedingungen veranschaulichen, unter denen Hans Maler arbeitete. Als Künstler war Hans Maler abhängig von den Aufträgen von Hof, Kirche und dem aufstrebenden Bürgertum. Seine Involviertheit in die ständische Ordnung ist seiner künstlerischen Haltung abzulesen, die kaum Formen des Widerstandes erkennen lässt. Die Porträtierten blicken stets in die Leere, jede Beziehung im Verhältnis zum Maler bzw. zum Betrachter wird vermieden und bleibt dadurch gewissermaßen unverbindlich. Seine formale Könnerschaft nutzte Hans Maler nur selten, um sich vom gängigen Kanon zu emanzipieren und damit den Herrschaftsstrukturen entgegenzutreten. Die künstlerische Anpassung jedoch, die Hans Maler vornahm, um seinen Auftraggebern gerecht zu werden, gibt Aufschluss über die Produktionsbedingungen des frühen 16. Jahrhunderts und deren historischen Implikationen, die bis heute fortwirken. Im Kunsthistorischen Museum in Wien befindet sich heute „Das Bildnis eines bartlosen Mannes“ von Hans Maler. Dieses Bild gelangte aus einem Grund zu Berühmtheit, der mittlerweile historisch zu nennen ist: 1965 wurde in Deutschland ein 500-DM-Schein aufgelegt. Der bartlose Mann Hans Malers wurde als gespiegelte Grafik auf den Geldschein geprägt. HM MZS8, der Ulmer Maler, dessen Familienname sich mit seinem Beruf deckt, hatte einmal mehr Anteil an der Geschichte des Geldes.

7 ebd., und Stefan Krause, S. 21. Die Zuschreibung des Bildnisses Wolfgang Ronner wird von der kunstgeschichtlichen Forschung jedoch in Frage gestellt. 8 HM MZS lautet die Signatur, die Hans Maler für einige seiner Gemälde verwendete.


Satzspiegel *

von Konrad Paul Liessmann

ÜBER DIE ALLMÄHLICHE VERFERTIGUNG DER GEDANKEN BEIM SCHREIBEN. Ein merkwürdiger Text Heinrich von Kleists aus dem Jahre 1805 trägt den Titel „Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden“. Anhand eines historischen Beispiels – der Rede des Grafen Mirabeau im Jahre 1789 vor den Generalständen, die in der Proklamation der Nationalversammlung endete – versucht Kleist zu zeigen, was es im äußersten Fall bedeuten kann, wenn vielleicht erst während einer Rede ein Einfall formuliert wird, der entgegen allen Absichten und entgegen allen Erwartungen alles ganz anders werden lässt. Aus einer höflichen Antwort auf eine königliche Anfrage wird dann plötzlich der Aufruf zur Revolution – durch einen Gedanken, der dem Redner erst während des Redens kam, ein Gedanke, der in keinem Manuskript stand, den kein Ghostwriter vorgab, den niemand auswendig gelernt und dann aufgesagt hatte. Kleist macht klar, was rhetorische Spontaneität in einer politischen Situation bedeuten kann. Was aber bedeutet dieses Konzept, wenn man keine Rede hält, sondern eine solche, oder etwas anderes, 128 / 129

schreiben will? Gibt es auch so etwas wie eine allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Schreiben? Lässt der Schreibprozess dieses Ausmaß an Spontaneität, den unmittelbaren Einfall, die situative Lust an dem, was einem zufällt, überhaupt zu? Schreiben, zumal professionelles journalistisches oder wissenschaftliches, aber auch literarisches Schreiben erscheint in unserer nüchternen Zeit eher als kontrollierbarer Produktionsprozess, denn als Mischung von Intuition und Spontaneität. Da werden Ideen, Informationen und Materialien gesammelt, Konzepte und Gliederungen erstellt, Recherchen vorgenommen, Argumente und Belege gesucht, Abschnitte strukturiert, Thesen formuliert und Schlussfolgerungen gezogen. Von Schreiben in einem emphatischen Sinn kann da eigentlich nicht mehr die Rede sein, und soll das Ergebnis solcher Bemühungen eine „Präsentation“ sein, reduziert sich dieser Prozess überhaupt auf das Kommentieren mehr oder weniger sinnig zusammengestellter Bilder, Graphiken, Zitate und Verweise. Dieses Verfahren ist dann oft auch assoziativ und plakativ, Gedanken werden keine mehr verfertigt.


*

— Nutzfläche auf der Seite eines Buches, einer Zeitschrift oder anderen Druckwerken; ein bedruckten Flächen zugrundeliegendes schematisches Ordnungssystem, das den Grundriss von Schrift, Bild und Fläche definiert. — Aufforderung, Sätze zu formulieren, die für die eigene Arbeit stehen und deren Grundgerüst bilden; das eigene Schaffen zu spiegeln und dabei die tagtäglich gebrauchten professionellen Ausdrucksmittel möglichst außer Acht zu lassen.

Allerdings: Es gibt – nach wie vor – ein Schreiben, durch das sich die Gedanken überhaupt erst im Prozess des Schreibens entwickeln. Dann steht keine Idee, keine Anregung, keine vorgegebene Frage, keine strukturierte Projektbeschreibung am Anfang, sondern eine große Leere. Und diese will gefüllt werden: mit einem ersten Satz. Und dieser erste Satz zeitigt den zweiten Satz. Ein Wort gibt das andere, vielleicht hat man sogar Ideen gehabt, auch was man schreiben wollte, schien klar, nun aber steht etwas ganz anderes da. Denn die Formulierung, die man gewählt hat, erträgt eine vorher anvisierte Fortsetzung einfach nicht mehr, der Begriff, den man verwendet, erfordert eine andere Argumentation als die, die man schon für stichhaltig hielt, auf Grund der Lesbarkeit, der Eleganz, und des Klangs liegt es vielleicht nahe, einen Konjunktiv statt eines Indikativs zu verwenden, und schon steht etwas da, was man weder gemeint noch beabsichtigt hatte. Wenn der Prozess des Schreibens selbst kreativ ist, dann weiß man in dem Moment, in dem man den ersten Satz formuliert, nicht, wie der letzte Satz lauten könnte. Schreiben in diesem avancierten Sinn heißt nicht, Ge-

danken, Argumente, Überlegungen oder Theorien in eine angemessen sprachliche Form zu bringen, sondern im Vertrauen auf die mögliche Eigendynamik des Schreibens darauf zu bauen, dass aus dem Fortschreiben der Wörter die Gedanken und Ideen überhaupt erst entstehen. Die Voraussetzung dieses Vertrauens aber ist eine Freiheit, die den Schreibenden an keinerlei Vorgaben bindet – ein Thema mag vielleicht vage im Raum stehen, mehr muss es nicht sein. Schreiben in diesem Sinne heißt, ohne schon eine plausible Kette von Gedanken, die zu Papier gebracht werden sollte, im Kopf zu haben, dennoch die Leere einer Seite füllen zu wollen. Nicht Ideenreichtum ist deshalb der eigentliche Ansporn für eine Verfertigung von Gedanken beim Schreiben, sondern Ideenarmut. Die Hand, die Worte niederschreibt, wird zum eigentlichen Organ des Denkens. Wer sich diesem Verfahren überlässt, wird mitunter erstaunt sein, was am Ende dann tatsächlich dasteht. Ohne solch eine Offenheit ist das Denken aber das Papier nicht wert, auf das es gebannt wird.


Besetzung

Markus Bstieler, Brixlegg Innsbruck: Fotografie. Artist in Residence, Paliano 2010. Ausstellungen / -beteiligungen im In- und Ausland. www.markusbstieler.at Elmar Drexel, Innsbruck Wien / München Innsbruck: Schauspieler, Regisseur, Autor. Promovierter Literatur- und Kulturwissenschaftler. 1979 Mitbegründer des Innsbrucker Kellertheaters, Leitung von 1981–1989; 1993 Eröffnung des Theaters im Pub, jetzt Stadttheater Bruneck. Zahlreiche Regien und Engagements, u. a. am Tiroler Landestheater, am Münchner Volkstheater, am Wiener Volkstheater und bei den Telfer Volksschauspielen, zuletzt Dramatisierungen von Händl Klaus „Legenden“, Kathrin Röggla „Wir schlafen nicht“ und Felicitas Hoppe „Johanna“. Zahlreiche Filmrollen, u. a.: „Tatort – Elvis lebt!“, „Vier Frauen und ein Todesfall“, „copstories“. Buchveröffentlichungen: „Die silberne Gasse“ (2007), „Lanser See“ (2008). Ralf Hanselle, Detmold Berlin: freier Journalist und Kunstkritiker. Studierte Germanistik und Philosophie in Bonn. Publikationen für art, Cicero, mare, taz u. a. Stefan Heyne, Brandenburg / Havel Berlin: Fotokünstler und Bühnenbildner. Zahlreiche Ausstellungen, Publikationen und Bühnenbilder für Oper und Schauspiel, 2010 für den Nestroy nominiert, zuletzt erschienen: „Speak to Me“, Hatje Cantz 2012. www.stefan-heyne.de Wien: Studium an der Akademie der Michael Höpfner, Krems Bildenden Künste Wien und an der Glasgow School of Art. Seit 1995 Wanderungen zu Fuß durch viele Weltgegenden. Ausstellungen (Auswahl): Museo d’Arte Orientale Turin, MUAC Mexico City, Rhode Contemporary Copenhagen, Galerie Olaf Stüber Berlin, Anni Art Gallery Beijing, FormContent London, Landesmuseum Ferdinandeum Innsbruck, Kunstverein Salzburg, Zentrum Paul Klee Bern, Galerie Hubert Winter Wien, Künstlerhaus Wien, Kunsthalle Wien, Neue Galerie und Forum Stadtpark Graz, Zeitkunst Galerie Kitzbühel. Salzburg: Verleger, Kritiker, Jochen Jung, Frankfurt am Main Schriftsteller. Zuletzt erschien „Wolkenherz. Eine Geschichte“. Welt: (*1980) ist Reisender, Künstler Wolfgang Lehrner, Wien und Unternehmer und lebt unter permanentem Fernweh in Wien. www.wolfganglehrner.com Konrad Paul Liessmann, Villach Wien: Professor am Institut für Philosophie der Universität Wien, seit 1996 wissenschaftlicher Leiter des renommierten „Philosophicum Lech“. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in der Ästhetik und Kulturphilosophie sowie in der Gesellschafts- und Bildungstheorie. Er erhielt zahlreiche Auszeichnungen, darunter den Österreichischen Staatspreis für Kulturpublizistik, den Ehrenpreis des Österreichischen Buchhandels für Toleranz im Denken und Handeln, den Danubius-Sachbuchpreis sowie den Vize 97 der Vaclav Havel-Foundation Prag. Im Jahre 2006 wurde er zum Österreichischen Wissenschafter des Jahres gewählt. Er ist Vizepräsident der „Deutschen Gesellschaft für Ästhetik“ und der internationalen „Gesellschaft für Bildung und Wissen“. Zuletzt sind unter anderem erschienen: Theorie der Unbildung. Die Irrtümer der Wissensgesellschaft (2006); Ästhetische Empfindungen (2008); Schönheit (2009); Das Universum der Dinge. Zur Ästhetik des Alltäglichen (2010); Lob der Grenze. Kritik der politischen Unterscheidungskraft (2012). 134 / 135

Joachim Lottmann, Hamburg Wien: verheiratet mit „Profi“Ikone Christa Zöchling, wurde erstmals bekannt durch den Roman „Mai, Juni, Juli“, der als Beginn der deutschen Popliteratur gilt. 2005 gelang ihm der Bestseller „Die Jugend von heute“. Lottmann lehnt Literaturpreise ab, mit Ausnahme des von keiner Jury vergebenen „Wolfgang Koeppen Preises“, den ihm 2011 Sibylle Berg verlieh. Wien: Musiker und SchriftBernhard Moshammer, St. Pölten steller. Im Oktober 2012 erschien sein dritter Roman „Die Zukunft wird kein Honiglecken“ im Milena Verlag, Wien. Er hat mehrere CDs produziert und macht Musik für Theater (März 2013: „Der Talisman“ gemeinsam mit Karsten Riedel, Akademietheater Wien, Regie: David Bösch) und Fernsehen („Schlawiner“, „Im Schleudergang“, Regie: Paul Harather). www.boern.com Wien: Autorin und bildende Künstlerin. Teresa Präauer, Linz Publikationen: „Taubenbriefe von Stummen an anderer Vögel Küken“ (2009), „Die Gans im Gegenteil“ (mit Wolf Haas, 2010), „Für den Herrscher aus Übersee“ (2012). 2012 aspekte-Literaturpreis für das beste deutschsprachige Prosadebüt, 2013 Stipendiatin am Literarischen Colloquium Berlin. Robert Prosser, Alpbach Wien: Schriftsteller. Zuletzt erschienen: Feuerwerk (Klever, 2011). Einige Auszeichnungen, u. a. Literaturpreis Floriana 2010, Wiener Autorenstipendium 2012, Aufenthaltsstipendium Schloss Wartholz 2013. www.robertprosser.at Olten: Kryptogeographin, als solUrsula Timea Rossel, Thun che Anhängerin einer markanten, wenn auch wenig bekannten und noch weniger exakten Wissenschaft. Verfasserin des bisher einzigen Standardwerkes der Kryptogeographie „Man nehme Silber und Knoblauch, Erde und Salz“ (bilgerverlag 2011). Weitere Informationen unter www.kryptogeographie.ch München: Kuratorin für zeitgenössiEva Maria Stadler, Graz sche Kunst. Lehraufträge an der Akademie der bildenden Künste in München und an der Universität für angewandte Kunst in Wien. Seit 2011 leitet sie die Galerie der Stadt Schwaz. Von 1994–2005 war sie Leiterin des Grazer Kunstvereines, von 2006–2007 curator in residence an der Akademie der bildenden Künste in Wien und von 2007–2011 Kuratorin für zeitgenössische Kunst am Belvedere in Wien. Harald Uhr, Leverkusen Kritiker und Kurator.

Bonn: Kunsthistoriker, freier Autor,

Berlin: Übersetzer englischer Lyrik, bis Jan Wagner, Hamburg 2003 Mitherausgeber der Literaturschachtel DIE AUSSENSEITE DES ELEMENTES. Neben vier Gedichtbänden – zuletzt „Achtzehn Pasteten“ (2007) und „Australien“ (2010) –, der Essaysammlung „Die Sandale des Propheten. Beiläufige Prosa“ (2011) sowie dem Buch „Die Eulenhasser in den Hallenhäusern. Drei Verborgene“ (2012) veröffentlichte er mit Björn Kuhligk die Anthologien „Lyrik von Jetzt“ (2003) und „Lyrik von Jetzt zwei“ (2008). Er erhielt u. a. den Anna-Seghers-Preis (2004), den Ernst-Meister-Preis (2005), den Wilhelm-Lehmann-Preis (2009), ein Villa-MassimoStipendium in Rom (2011), den Friedrich-Hölderlin-Preis der Stadt Tübingen (2011) sowie den Kranichsteiner Literaturpreis (2011). Martin Walde, Innsbruck Wien: Studium an der Akademie der bildenden Künste bei Max Weiler und Arnulf Rainer. Einzelausstel-


lungen: Generali Foundation Wien, Wiener Secession, Fuchu Art Museum Tokyo, Salzburger Kunstverein, Villa Arsen Nice, Galerie im Taxispalais Innsbruck, Neue Galerie Graz, ZKM Karlsruhe, Kunstraum Dornbirn u. a. Gruppenausstellungen: Biennale di Ve-

nezia, Istanbul Biennale, Documenta X, Biennale de Montréal, Bloomberg Space London, Museum Tinguely Basel, The Hayward Gallery London, Kunstmuseum Luzern, Biennale 3 Sevilla, Kunsthalle zu Kiel, Moscow Biennale, Art Zuid Amsterdam u. a.

Quart Heft für Kultur Tirol

Kulturzeitschrift des Landes Tirol Herausgeber: Markus Hatzer, Andreas Schett Chefredaktion: Heidi Hackl, Andreas Schett Anschrift der Redaktion: Circus, Kochstraße 10, 6020 Innsbruck (A), office@circus.at Anschrift des Verlags: Haymon Verlag, Erlerstraße 10, 6020 Innsbruck (A) T 0043 (0)512 576300, order@haymonverlag.at, www.haymonverlag.at Geschäftsführer / Verleger: Markus Hatzer Aboservice: T 0043 (0)1 740407814, aboservice@haymonverlag.at Bezugsbedingungen: Quart Heft für Kultur Tirol erscheint zweimal jährlich. Jahresabonnement: € 21,– ( SFr 28,90) · Einzelheft: € 14,– (SFr 19,50) · Preise inkl. MwSt., zzgl. Versand Die Bezugspreise unterliegen der Preisbindung. Abonnement-Abbestellungen müssen spätestens 3 Monate vor Ende des Kalenderjahres schriftlich erfolgen. Mitarbeiter dieser Ausgabe: Markus Bstieler, Elmar Drexel, Ralf Hanselle, Stefan Heyne, Michael Höpfner, Jochen Jung, Wolfgang Lehrner, Konrad Paul Liessmann, Joachim Lottmann, Bernhard Moshammer, Teresa Präauer, Robert Prosser, Ursula Timea Rossel, Eva Maria Stadler, Harald Uhr, Jan Wagner, Martin Walde Kuratoren: Ruedi Baur, Othmar Costa, Karin Dalla Torre, Eduard Demetz, Georg Diez, William Engelen, Martin Gostner, Helmut Groschup, Franz Hackl, Hans Heiss, Stefanie Holzer, Sebastian Huber, Gabriele Kaiser, Otto Kapfinger, Walter Klier, Martin Kofler, Gustav Kuhn, Christoph Mayr-Fingerle, Milena Meller, Walter Methlagl, Wolfgang Mitterer, Walter Niedermayr, Thomas Nußbaumer, Dominique Perrault, Wolfgang Pöschl, Helmut Reinalter, Robert Renk, Arno Ritter, Benedikt Sauer, Benno Simma, Gerhard Steixner, Vitus H. Weh, Lois Weinberger, Maria Welzig u. a. Linke Seiten: Wolfgang Lehrner Visuell-editorisches Basiskonzept: Walter Pamminger Farbkonzept: Peter Sandbichler Grafische Realisation: Circus, Büro für Kommunikation und Gestaltung, Innsbruck / Wien, www.circus.at Druck: Lanarepro, Lana, Italien Papier: Luxo Samt 135 g/m2 Schriften: Sabon LT Std, Gill Sans Std, Neutral BP Verwendung der Karte „Tirol-Vorarlberg 1 : 200.000“ auf den Seiten 66 / 67 mit freundlicher Genehmigung von Freytag-Berndt u. Artaria KG, Kartografische Anstalt. Sämtliche inhaltlichen Beiträge dieses Heftes sind Ersterscheinungen, Auftragswerke, Uraufführungen. ISBN 978-3-7099-7037-9 · © Haymon Verlag, Innsbruck-Wien 2013 · Alle Rechte vorbehalten.

Das Daumenkino von Markus Bstieler wurde mit freundlicher Unterstützung des Landes Tirol, der Stadt Innsbruck und der Aktionsgemeinschaft Brennerbahn realisiert.



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