Quart Nr. 27

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Quart Heft für Kultur Tirol Nr. 27 /16 E 16,–



finster


Linke Seiten

Auf den linken Seiten dieser Ausgabe ist ein Malachit (Inv. Nr. C1636)

Johannes Porsch Tropology

aus den Schrofen des ehemaligen Silber- und Kupferabbaugebietes um Schwaz / Tirol zu sehen. Ab Mitte des 16. Jahrhunderts war er in der Wunderkammer Schloss Ambras, seit dem 19. Jahrhundert befindet er sich in der Mineralogisch-Petrographischen Abteilung des Naturhistorischen Museums Wien.

Tropen, die; von altgriechisch tropos, tropé – Wendung,

Das traubig-nierig ausgeformte Malachitaggregat wurde in einer Reihe

Drehung, Richtung, Weg; tropein – wenden, lenken, (ver)

von Drehungen vor neutral grauem Hintergrund abfotografiert, wie bei

ändern, wechseln. In der Rhetorik die zusammenfassende Bezeichnung für die sprachlichen Ausdrucksmittel der

Objektdokumentationen im Naturhistorischen Museum Wien üblich.

uneigentlichen Rede. Tropen betreffen das Einzelwort

Zum einen folgt die Logik der Bildstrecke buchstäblich dem Begriff „Tro-

oder die sprachliche Wendung, die nicht im eigentlichen

pe“: Die fotografische Serie zeichnet im Nacheinander der Einzelbilder

Sinn, sondern bildhaft, übertragen gebraucht werden: Hy-

die Figur einer Drehung nach; der Leser setzt diese in Bewegung, indem

perbel, Ironie, Litotes, Metapher, Metonymie, Oxymoron, Synekdoche.

er durch die Zeitschrift blättert. Dabei kehrt mit jeder gewendeten Seite der abgebildete Gegenstand als Phantom, Simulakrum – als sich selbst unähnlich Werdendes, sich in Unterschieden Verflüssigendes, Verflüchtigendes – wieder. Zum anderen verweist „Trope“ auch auf die der bildhaften Rede innewohnende Bewegung des Übertragens: auf das durch die serielle Fotografie zu einer differentiellen „Bildermaschine“ formatierte Objekt. Dessen Benennung unterläuft das serielle Bild insofern, als es in der wiederholten Darbietung von amorpher Materialität, „Abfall“ reproduzierend, Abweichung produziert. Dieser Überschuss flottiert keck unterhalb des Sprachlichen, auf dessen Grund, und fordert so Sprache heraus, hervorzubringen, was sie als Nichtsprachliches aus ihrem Bereich ausgeschlossen hat und abzuwehren trachtet. Mit täuschender Wendigkeit treiben sich die Bilder im Bezirk vermeintlicher Wahrheit herum und stiften dort Nicht-Sinn. Im Gegenzug setzt sich Sprache im Bild fest, indem sie mittels Konvention und Referenz das Abgebildete in Bedeutung erstarren lässt, Verstehen von Wirklichkeit suggeriert; in etwa so: Das ist ein Foto eines Steins, das ist ein Stein; oder auch: Das ist ein Foto eines Steins im Porträtformat aufgenommen, das ist ein Porträt. So bezeichnet fährt das Motiv fort, z. B.: Fratze, möglicherweise, oder, Haufen, unmögliches, Abbild, ohne, Ähnlichkeit, etwas, Heruntergekommenes, … „Das ist ein Foto eines Steins“: Der „Spalt“ zwischen Dingen und Sprache, der Abgrund des B­­­­edeutens in der Sprache, der vom konventionellen Verhältnis des „Das-ist-das“ verdeckt wird, gerät über den in die linke Seite gerutschten Textbeitrag der rechten Seite in den Blick. Die jeweiligen Textlayouts schieben sich so weit ins Bild, dass sie den Bedeutungsraum der Seite zwar ergreifen und für sich reklamieren – im (nichtbezüglichen) Bezug zum Bild – jedoch selbst in der Materialität ihrer Formbildung – oder auch irgendwie – dinghaft bleiben. Bruchstücke, die nun die Gegenständlichkeit der Sprache zeigen: etwa die Form der Buchstaben vorführen, auf Laute und Silben von Wortfetzen deuten und so in ein Verhältnis der Ähnlichkeit zur abgebildeten amorphen Masse des Minerals treten,

Foto / Making of: Reinhard Mayr, Johannes Porsch

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als sprachliche Schlacke diese eher nachahmen als bedeuten. (JP)


Inhalt

Mark Dion „The Phantasmal Cabinet (2016)“ Fotografie: Matthias Bildstein Halotech Lichtfabrik

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Johannes Porsch Tropology 4 Inhaltsverzeichnis 5 Fließtext von Monika Helfer Innsbrucker Rede oder: Warum Quart lesen? Von Michael Krüger Idee von Natur Fiona Liewehr über den Forscherdrang des Künstlers Mark Dion Mark Dion „The Phantasmal Cabinet (2016)“ Fotografie: Matthias Bildstein Die Zwischenräume im Schweigen Über Georg Trakl in Innsbruck Von Mirko Bonné Das Spiel und die Regel Marc Beckmann streift durch die Tiroler Fasnacht

7

9–19

Brenner-Gespräch (15): „Probleme mit der real existierenden Wahrheit“ Robert Renk trifft Katja Lange-Müller. Ein Gespräch über Schreiben, Lügen, Schnaps usw. 69–79 Christopher Grüner Originalbeilage Nr. 27

81–87

„Alle Teile des Ganzen sind irgendwo da.“ Monika Willi über ihre Arbeit im Schneideraum. Interview: Andrea Winkler

89–95

Landvermessung No. 4, Sequenz 8 Von Cavalese nach Borgo Valsugana Von Hans Platzgumer Fluid Existence Nora Schöpfer und ihre Zeit im Raum

96–107

109–117

21–25 Fliehe, Flieder, fliehe! Esther Strauß begibt sich in die rote Zone. 119–123 26–41

Satzspiegel von Milo Rau

125

Eigenwerbung

126 / 127

43–53 col legno music Haymon Verlag 55–67

Besetzung, Impressum

128 129 130 / 131


Fließtex

Von Mo

*

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Fließtext*

Von Monika

*

Helfer

— Text, der in einem Stück und ohne Unterbrechungen durch Absätze, Überschriften, Abbildungen, Fußnoten u. Ä. gesetzt wird. — Aufforderung, seinen Gedanken freien Lauf zu lassen und dabei nicht zurückzuschauen; freihändig draufloszulegen, ohne zu korrigieren; die Buchstaben zu Papier zu bringen und bedenkenlos aus der Hand zu geben.

„Hohlraummasse“ – diese Wortschöpfung stammte von einem bescheidenen Mann, der seine Arbeit am Fließband verrichtete. Er meinte mit „Hohlraummasse“ sein Gehirn und fand, das beschreibe präzise, was die Arbeit aus ihm gemacht habe. Wäre seine Arbeit umfassend, arbeitete er zum Beispiel an einem ganzen Stück, von Anfang bis Ende, müsste sein Gehirn einen anderen Namen haben. So aber passte der Name zu den zwei Elektroteilen, die er jeden Tag zusammenfügte. Je länger er über den Begriff „Hohlraummasse“ nachdachte, umso mehr fand er ihn philosophisch, und er kam zum Schluss, wäre dieser Begriff von einer Geisteskapazität ausgedacht worden, käme er zu den Wortschätzen der Philosophie. Gleichzeitig wusste der arme Mann, dass, wenn einer wie er sich so einen Begriff ausdachte, hieße es maximal, er sei originell. ¶ Mit solchen und ähnlichen Gedanken brachte der Mann seine Stunden am Fließband zu, manchmal träumte er, und Elektroteile kollidierten, und es kam zu einem Lohnabzug. ¶ Zuhause überlegte sich der Mann, während er die Suppe löffelte und seiner Frau und seinem Sohn beim Reden nicht zuhörte, wie es wäre, würde man zu den Händen „Former“ oder „Fühler“ sagen. „Er nahm den Löffel in seine Fühler und probierte die Suppe.“ War nicht in dem Wort „Fühler“ mehr enthalten als in dem Wort „Hände“? Oder man könnte zu den Händen „Former“ sagen, was ja auch zutreffend wäre. Gerne hätte er sich mit jemandem darüber unterhalten, aber seine Frau sprach über die Ungerechtigkeit an ihrem Arbeitsplatz, sein Sohn über die Lehrer, die sich für alles interessierten außer für die Schüler. ¶ Der Mann saß immer noch am Küchentisch, das Geschirr war längst abgeräumt, er formte seine Stirn in Falten, stützte die Ellbogen auf den Tisch und legte sein Gesicht in die Hände. ¶ Was hätte aus ihm werden können, wäre er in einer angesehenen Familie groß geworden, hätte gute Schulen besucht, wäre auf die Universität gegangen? Er würde jetzt nicht am Küchentisch sitzen, dessen Platte aus schäbigem Resopal war. Er würde in einem Anzug zwischen Bücherregalen in Bibliotheken herumschwärmen und mit Geistesmenschen reden. Hätte dann auch eine andere Frau geheiratet, keine Supermarktkassierin, die einmal sehr schön gewesen war, hätte einen brillanten Sohn. ¶ Oder vielleicht wäre der Sohn missraten, das kommt vor, dass es in den besten Familien Ausreißer gibt. Er rief seinem Sohn, und als der gelangweilt fragte, was denn los sei, wollte der Vater wissen, wie er sich seine Zukunft vorstelle. ¶ „Jedenfalls nicht am Fließband“, sagte der Sohn und drehte seinem Vater den Rücken zu.


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Innsbrucker Rede

Langjähriger Verleger und Autor Michael Krüger hielt zum Erscheinen von Quart Nr. 26 eine ganz und gar nachlesenswerte Rede: über aus der Mode gekommene Denkmoden, einen leeren Himmel, die Vulgarisierung der Verlagsprogramme und Kulturzeitschriften als Gradmesser einer Kultur.

In den sechziger Jahren, als ich zaghaft selber zu denken begann, beherrschten, noch vor den revolutionären Umtrieben um 1968, einige Themen und Motive die ästhetische Diskussion, später: den Diskurs, die heute, fünfzig Jahre später, bereits wie nach Steinzeit klingen: z. B. die Wiederentdeckung der Psychoanalyse als kulturkritische Methode, heute so total vergessen, dass man geradezu erschrickt, wenn in der Rezension eines literarischen Buches auf Freud oder Jung hingewiesen wird; oder die Frage nach der gesellschaftlichen Relevanz von Kunst, heute eine Lachnummer; brauchen freie Gesellschaften überhaupt Kunst, und wenn ja: warum eigentlich und welche? Oder die Frage, ob der dialektische Materialismus die Existenz und Bedeutung von Kunst besser erklären könne als der Idealismus, da lachen heute die Hühner; es wird gemalt und geschrieben und komponiert, was das Zeug hält, und natürlich wird erwartet, dass diese Produktion gefördert wird, an der Begründung wird nicht mehr gearbeitet; Kunst ist Kunst, und damit basta. Ökonomie des Kulturmarkts, ein Dauerthema der frühen sechziger Jahre – längst passé. Oder hat die Romantik mit ihrer Vergegenwärtigung einer versunkenen Welt, oder die Gegenaufklärung oder die Nachtseite der Vernunft, haben uns in einer durchrationalisierten Welt diese Begriffe noch etwas zu sagen? Die damalige Antwort: nein, alles falscher Schein; heute sind große Teile der kulturellen Produktion neo-romantisch und die Frage nach der Tradition gilt als obsolet. Referenzpunkt ist immer das letzte Ereignis, das Jetzt, alles was früher war, ist vergessen. Auch die schönste Sonntagsrede kann daran nichts ändern. Die Frage nach dem Ende der Kunst im Anschluss an Hegel, wohl eine der wichtigsten Fragen, die man sich aber gar nicht mehr zu stellen traut, die nichtsdesto-

trotz wichtig bleibt für den, der heute produziert: Warum bin ich der Ansicht, dass ausgerechnet MEIN Werk, mein Musikstück, mein Roman, meine Videoinstallation dem schon Vorhandenen noch etwas hinzufügt? Oder die Frage der Ethno-Poesie, von Hubert Fichte wortgewaltig vertreten, also die Frage danach, was die ehemals sogenannten primitiven Kulturen mit ihren synkretistischen religiösen Praktiken zu unserem Kunstverständnis beitragen können, eine Frage, die die Wissenschaft nach wie vor umtreibt, die aber praktisch als erledigt gilt – oder interessieren wir uns tatsächlich für afrikanische Literatur und Kunst? Und so weiter, und so fort, ich könnte lange Listen aufstellen. Wer einmal in die Literatur- und Kulturzeitschriften jener Zeit schaut, der kommt aus dem Staunen nicht mehr heraus. Mit welcher Emphase wurde ein Werk wie das von Walter Benjamin entdeckt und produktiv gemacht, mit welchem Ernst das Werk von Claude Lévi-Strauss diskutiert oder die Schriften von Roland Barthes und Michel Foucault und Hans Blumenberg! Und man fragt sich natürlich, wo dieser Schwung geblieben ist. Es ist merkwürdig, wie schnell Probleme, Werke und Autoren, die einer Generation als die wichtigsten erscheinen, der nächsten oder übernächsten Generation bereits wie Spinnweben vorkommen. Weil sie sich von selbst erledigt haben? Nein, ganz gewiss nicht. Weil sie zu radikal waren? Nein, nicht wirklich. Weil die postideologische Moderne einfach neue Probleme braucht, um sich nicht mit den alten zu langweilen? Da könnte was dran sein. Wer zehnmal in seinem Leben mit einer neuen Bildungsreform sich auseinanderzusetzen hatte, will partout von einer elften nichts mehr hören. Das ist verständlich. Man braucht neue Reize. Aber ist das eine anthropologisch nachvollziehbare Antwort? Sind


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Sie, die ja alle jünger sind als ich, völlig verschiedene Menschen? So kam zum Beispiel – mit einem neuen Papst – die alte Religion wieder auf den Tisch, die so richtig tief keinen mehr berührte. Man hatte sich irgendwie daran gewöhnt, dass der Himmel leer war und auch die Metaphysik nichts anderes ist als eine Kopfgeburt. Aber aus irgendwelchen Gründen wollte man das noch einmal überprüfen, weil die Welt ohne Religion offenbar als zu ärmlich empfunden wurde. Offenbar konnte man den leeren Himmel nicht aushalten, und die Kunst, die einspringen wollte, um die Lücke zu füllen, hat sie nicht füllen können. Sie ist gescheitert, wenn sie mehr sein wollte als Kunst. Nietzsches Bemerkung: Wir brauchen die Kunst, um nicht an der Wahrheit zu Grunde zu gehen, geht ins Leere, wenn es DIE Wahrheit nicht mehr gibt und die tausend Wahrheiten jeglicher Verbindlichkeit ermangeln. Und auch das alberne Ranking, ein durch und durch abgeschmacktes kapitalistisches Gesellschaftsspiel, kann die Frage nach der Bedeutung und der Künstlichkeit der Kunst nicht beantworten. Und doch entstehen so Bedeutungen, wenn wir das Wort ganz neutral betrachten, zum Beispiel für den Kunstmarkt. So wie einer, der fünftausend Follower hat, eine andere Bedeutung hat als einer mit nur fünfundzwanzig. Und was die Religion betrifft, die plötzlich noch einmal hervorgeholt wurde, so wurden natürlich keine religiösen Glaubensfragen diskutiert, sondern es wurde zum tausendsten Mal die Frage nach der Enthaltsamkeit der Priester gestellt – und natürlich wieder vertagt, während eine andere Religion sich nicht mit solchen Kinkerlitzchen herumschlägt, weil sie zum unumstößlichen Gesetz wurde: Sie, von der wir fast nichts wissen, von der wir aber jeden Tag reden, soll mit terroristischen Mitteln durchgesetzt werden, also mit einer durch und durch gewalttätigen Methode, die wir aus unserer christlichen Kirchengeschichte nur gut genug kennen. Wer nicht an mich glaubt, soll verdorren. Dass dieser Islam Hunderte von Jahren als eminente Quelle der hellsten Inspiration gedient hat, geht im gegenwärtigen Krieg mit einer islamistischen Minderheit unter.

Kann man sich eine Situation vorstellen, in der wir unsere Religion noch einmal zum Gesetz erheben? Wir brauchen also neue Kontexte, um unsere alten, ungelösten Probleme überhaupt noch einmal zur Sprache bringen zu können. Aber kann man Kontexte herstellen? Ich erinnere mich in diesem Zusammenhang einer neuen Kontextualisierung an die Begeisterung, mit der der alte Robert Jungk in Salzburg von seinen Zukunftswerkstätten sprach, winzigen Einrichtungen in Afrika oder Asien, wo zwei oder drei sich zusammengetan hatten, um eine alte Technik der Töpferei zu pflegen oder ein frühmittelalterlich-jemenitisches System der Wasserversorgung. Dieses Recycling alter Methoden war für ihn die modernste Art, über Zukunft nachzudenken. Wo andere mit großen Theorien aufwarteten, empfahl er diese minimalen Revitalisierungen einmal gewusster Handwerkskünste zur Überwindung globaler Krisen. Wer heute über Zukunft nachdenkt, schaut zur Weltbank oder der Fed oder zum Entwicklungsministerium und kann sich dann, wenn er unbedingt will, zusammenreimen, warum der afrikanische Bauer, der mit dem jemenitischen Wassersystem seine Tomaten wässert, sich niemals einen Traktor anschaffen kann. Nie! Der Bauer war dann plötzlich nicht mehr interessant genug, um unser Interesse zu provozieren, wir interessierten uns für strukturelle Probleme. Solange die Tomate in der Auslage liegt und noch bezahlbar ist, so lange denken wir nicht mehr darüber nach, unter welchen Umständen sie dorthin gekommen ist. Der Bauer wurde erst dann wieder interessant, als er plötzlich vor unserer Tür stand, zusammen mit einer Million anderer Habenichtse, die ihre Hacken und altmodischen Bewässerungssysteme zurückgelassen haben und nun hier leben wollen. Sie wollen ihre Tomaten bei uns kaufen und verspeisen. Der neue Beruf der Bauern aus der dritten Welt lautet Flüchtling. Er will nicht mehr Teil eines strukturellen Problems sein, sondern ein konkretes. Er will nicht noch einmal zwanzig Jahre auf die Antwort auf seine Frage warten, warum er seine Märkte für die Waren


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des Westens öffnen soll, während der Westen auf seine Tomaten verzichtet. Eine dramatische Kontextveränderung hat den Tomatenbauer wieder interessant gemacht. Wenn nicht alles in die Luft geht, wird dieser Bauer oder das Kind oder Kindeskind dieses Bauern eines Tages auch in die Oper gehen wollen, um Nabucco zu hören oder die Aida und den Weltverbesserer oder die Neunte. Er will es, weil er wissen will, warum wir diese Dinge schätzen, und weil er sich anpassen will. Und was sieht und hört er dann? Und wie lange dauert es, bis er wollen will? Aber noch einmal zurück: Die beginnenden sechziger Jahre waren für uns, nach der lähmenden, stickigen Adenauerzeit, die eigentlich so weitermachen wollte wie vordem, ein Experimentierfeld: Jeden Tag ging, ohne dass man selber einen Handgriff tun musste, ein Fenster auf und ließ frische Luft in die Zimmer ein, die von den dichten Rauchschwaden des Existentialismus, des Geworfenseins und der Vergeblichkeit besetzt waren. Hatte uns als Schüler noch die Allegorie des armen Sisyphos in Bann geschlagen, der immer wieder von Neuem seinen Stein den Berg hinaufrollen musste, damit er, oben angekommen, wieder hinunterpolterte, so belebte uns nun der gerade erst wiederentdeckte Paul Valéry mit seiner süffisanten Bemerkung, immerhin habe der Sisyphos dadurch feste Muskeln erhalten, er soll also bitte nicht jammern. Ich will also auch nicht jammern, obwohl diese schönen Zeiten von Aranjuez nun weiß Gott lange vorbei sind. Das Entdeckerische wurde abgelöst vom Besserwisserischen, aus der eruptiven Revolte, die als Vorschein der Freiheit gefeiert wurde, wurde entweder ein terroristischer Rundumschlag gegen DIE Gesellschaft oder ein doktrinärer Marxismus, dem folgte ein langer, nicht besonders produktiver Katzenjammer, der als Neue Subjektivität verklärt wurde, die an ihrer eigenen Langeweile erstickte. Die frei werdende Diskursfläche wurde besetzt von einer sogenannten Postmoderne, die in allen Schattierungen und Potentialitäten auftrat, mal toll kostümiert, mal asketisch gewandet, aber so richtig ernst wurde die Kultur nicht mehr genommen. Alles war da und alles war möglich, für jeden Charakter und

für jeden Geldbeutel war ein Sitz reserviert, die Theorie der Kultur wurde von der Sonntagsrede abgelöst, und wem irgendwas nicht passte, der sollte halt an der nächsten Tür anklopfen. Auf jeden Fall gab es für alles eine offene Tür. Natürlich gab es Unterschiede zwischen den deutschsprachigen Ländern. In der Schweiz wurde durch Frisch und Dürrenmatt, Muschg und Bichsel die politische Geschichte des Landes unter einem dicken Teppich aus Verdrängung und Vergessen hervorgeholt und die dabei zum Vorschein gekommenen Konten der Diktatoren aller Länder für die Öffentlichkeit geöffnet; ästhetische Probleme waren zweitrangig. In Österreich dagegen hielt man es weniger mit der Theorie der Ästhetik als vielmehr mit der ästhetischen Praxis: Wenn unsereiner, von endlosen Debatten ermattet, nach Graz zum Steirischen Herbst oder nach Wien fuhr, staunten wir nicht schlecht über die enorme Breite, die ästhetische Differenz und die überraschende Widerborstigkeit der österreichischen Literatur, mit einem Wort: Wir staunten über ihre Lebendigkeit. Während bei uns die anhaltende Diskussion um die gesellschaftliche Relevanz der Literatur zu einer Verödung der literarischen Produktion geführt hatte, die dann zu Recht von Peter Handke in Princeton eins hinter die Ohren kriegte, hatte man in Österreich noch eine lebhafte und unspießige Vorstellung von Literatur. Ich weiß noch, wie Nicolas Born und ich in meinem Deux-Chevaux eigens nach Klagenfurt gefahren sind, um den Autor des Geometrischen Heimatromans aufzusuchen, Gert Jonke, der allerdings am selben Vormittag – ob Sie es glauben oder nicht – nach Afghanistan aufgebrochen war; ich hatte sein Buch in der FAZ besprochen, wo ich übrigens viele österreichische Bücher besprach, von dem handfesten Michael Scharang bis zu Dominik Steiger. Ich erinnere mich mit wohligem Schauder an die vollkommen verrückten Begegnungen mit Wolfi Bauer oder Helmut Eisendle, der damals den Kleinen Grazer Suizidkasten geschrieben hatte; ich kann mich gut an die Gespräche mit Alfred Kolleritsch in Graz über Heidegger erinnern, ein Gespräch, das damals in Deutschland mehr oder weniger unmöglich war; an Konrad Bayer, der mit meinem Bruder in Berlin


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Hörspiele produzierte; ich sehe noch vor mir, wie H. C. Artmann in großer Erregung – es ging natürlich um eine Frau – seine Schreibmaschine durch ein geschlossenes Fenster hindurch auf die Kleiststraße in Charlottenburg warf. Wie Gerhard Rühm mit todernstem Gesicht sein Gedicht Die Gute Hausfrau Stickt vorlas in einem Berliner Theater, und wie wir danach, schlapp vor Lachen, alle ins Exil gingen, zu Ossi Wiener, wo die österreichische Kolonie in Berlin sich am Abend traf, um mit herrlichen Mehlspeisen sich auf die Nacht vorzubereiten. Aber sogar später in München profitierten wir von diesem österreichischen Literaturwunder: Ich sehe noch Elfriede Jelinek vor mir, die ihr erstes Buch in der Autorenbuchhandlung vorstellte: Wir sind Lockvögel, Baby, oder Peter Handke, mit dem zusammen ich dreißig Jahre lang den Petrarca-Preis vergeben habe. Gar nicht zu reden von Ilse Aichinger, Ingeborg Bachmann, Friederike Mayröcker, Elfriede Gerstl oder Ernst Jandl, Christoph Ransmayr oder Gerhard Roth. Wenn es irgendwo wirkliche authentische Schriftsteller-Künstler gab, die diesen Namen noch verdienten, so meine damals vielleicht naive Vorstellung, dann in Österreich. Wie stolz war man, wenn man in einer österreichischen Zeitschrift gedruckt wurde, in den „manuskripten“, in „Text und Kritik“, in Otto Breichas „Protokollen“! Ich sage das mit Bedacht, weil wir hier ja die neue Ausgabe einer Zeitschrift feiern. Literarisch-künstlerische Zeitschriften waren und sind der Gradmesser einer Kultur, das gilt für alle europäischen Länder, die stolz auf ihre Kultur sind, von Gallimards „Nouvelle Revue Française“, die übrigens nie mehr als 1.500 Exemplare Auflage hatte und wohl dennoch die bedeutendste Literaturzeitschrift der Welt ist, bis zu T. S. Eliots „Criterion“ oder die mexikanische „Vuelta“ von Octavio Paz. Für einen langen Aufsatz, den ich dort veröffentlichte, erhielt ich nach Wochen einen Scheck über einen Dollar, der allerdings von Paz selber gezeichnet war, ein symbolisches Kapital! Das Verschwinden von Zeitschriften ist ein hundertprozentiges Indiz für die Anfälligkeit einer Kultur. Gerade in einer Zeit der extremen Konzernbildung im Verlagswesen und im Buchhandel, die ja zu einer ex-

tremen Vulgarisierung und Banalisierung der Verlagsprogramme führt, zu einem dramatischen Innovationsstopp, sind Zeitschriften auf höchstem ästhetischen Niveau, ganz gleich, in welcher Auflage sie gedruckt werden, das einzige Antidot. Kürzlich wurde mir von einem vollkommen erschöpften Postbeamten das gesammelte Frühjahrsprogramm der Bertelsmann-Verlage, des Bertelsmann-Konzerns, vor die Tür geworfen, 46 oder 64 Programme, auf Hochglanz gedruckt, ich schätze ca. zweitausend Bücher zusammen, eine einzige ästhetische Katastrophe, ein Offenbarungseid der Literatur, des Sachbuchs und der Erbauung. Es ist mir unbegreiflich, warum keiner darüber so schreibt, wie Hans Magnus Enzensberger im letzten Jahrhundert über Die Sprache des Spiegel in seinem Buch Einzelheiten geschrieben hat: Auch dieser Konzern, das ist das deprimierende Fazit, möchte, und nicht nur aus steuerlichen Gründen, als Kulturproduzent gelten. Aber was ist Kultur, wenn dieses fürchterliche Gemisch aus amerikanischen Bestsellern, zusammengeschusterten Ratgebern und zum Himmel schreiender Esoterik Kultur genannt werden darf? Müsste einer, und noch der einfältigste Leser, diese Bücher hintereinander lesen, würde er tot umfallen. Begründet wird diese Ansammlung tödlichen Ramschs mit der Behauptung, der gestresste Leser wolle halt leichte Unterhaltung, um sich von den Strapazen des Alltags zu erholen. Ist es nicht das selbe Argument, mit dem uns unser Fernsehen, zumindest in Deutschland, abspeist, obwohl es doch seiner Verfassung nach einen Kulturauftrag hat? Ist es nicht vielmehr so, dass der Zuschauer, wenn er ununterbrochen mit diesem Ramsch bedient wird, am Ende glaubt, es gäbe nichts anderes? Ich habe vor wenigen Jahren, nach dem Tod des bedeutenden Schriftstellers W. G. Sebald, dem Fernsehsender arte den Vorschlag gemacht, einen Film über den großartigen, auf der ganzen Welt der Literatur gelesenen Schriftsteller W. G. Sebald zu produzieren, der, nebenbei gesagt, einer der besten Kenner der österreichischen Literatur der letzten hundert Jahre war, und wurde beschieden, der Autor sei zu unbekannt, um ihm dem großen Publikum vorzustellen.


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Da Sie, Besucher einer Buchhandlung, wissen, was ich meine, will ich hier abbrechen. Wir haben vergessen, was Literatur ist oder sein könnte. Botho Strauß, auch einer der besten, obwohl er keine Romane mehr schreibt, hat einmal eine von dem Ethnologen Bronisław Malinowski notierte Beobachtung zur Beschreibung unserer kulturellen Lage zitiert. Malinowski berichtet von der Sitte eines Buschvolkes, das sich an einem bestimmten Tag im Jahr Butter auf den Kopf schmiert, Jahr für Jahr und mit großem Ernst, es war eine rituelle Tätigkeit, die eng mit der Identität dieses Stammes zusammenhing. Auf die wiederholte Frage, warum sie das täten, wurde ihm nach langem Nachdenken mitgeteilt: Man habe es leider vergessen. Lassen Sie mich noch einmal an den Anfang meiner kurzen, vielleicht aber auch schon zu langen Rede zurückkehren: In den sechziger Jahren wurde mit großer Leidenschaft ein Problem diskutiert, das man vielleicht wiederbeleben sollte, nämlich die Unterscheidung von E und U, von ernster Kunst und Unterhaltungskunst. Auch dieses Problem wurde nicht in der damaligen Zeit und schon gar nicht von uns erfunden, aber es erhielt damals eine neue Aktualität. Es war der aus dem amerikanischen Exil zurückgekehrte Philosoph Theodor W. Adorno, der es mit strenger Geste auf unseren Studiertisch legte. „Zur Selbstverständlichkeit wurde, dass nichts, was die Kunst betrifft, mehr selbstverständlich ist, weder in ihr, noch in ihrem Verhältnis zum Ganzen, nicht einmal ihr Existenzrecht …“, schrieb er, und weiter: „Ungewiss, ob Kunst überhaupt noch möglich sei; ob sie, nach ihrer vollkommenen Emanzipation, nicht ihre Voraussetzungen sich abgegraben und verloren habe. Die Frage entzündet sich an dem, was sie einmal war“ – heißt es in Adornos Ästhetischer Theorie. Für ihn war jede affirmative Kunst Teil der Kulturindustrie, was ihn gelegentlich zu harschen und oft auch nicht nachvollziehbaren Urteilen führte. Aber Adorno war so durchdrungen von der Vorstellung, dass die bloße Existenz von schlechter Kunst die wahre Kunst, mit h, als Adjektiv, zerstören würde, dass er diese Missverständnisse in Kauf nahm. Und hat er nicht grosso modo recht behalten?

Die Unterhaltungskunst hat auf allen Ebenen gesiegt und sich, verbrüdert mit ihrer Stiefschwester, der eitlen Repräsentationskunst, zur Diskursverwalterin entwickelt. Wie das geschehen konnte, und zwar total, von dem genannten Beispiel Bertelsmann über das Fernsehen bis zu einem Kunstmarkt, der jegliche Kriterien verloren und sich vollständig in die Arme des Kapitals geworfen hat, ist meines Wissens noch nicht untersucht worden. Wenn heute, um ein paar Beispiele zu nennen, ein neues Buch von Charlotte Roche erscheint, dann erscheinen noch vor den zu erwartenden Verrissen, am besten noch einen Tag vor Erscheinen des Buches, in allen seriösen und auch weniger seriösen Zeitungen ganzseitige Interviews mit der Autorin, die den Diskurs und damit auch den Verkauf lenken wollen; da man diese Huldigung nicht kritiklos stehen lassen kann, erscheint dann am nächsten Tag die Rezension, und das bei immer weniger Platz für Kultur in den Zeitungen. Oder wir lesen bis zum Überdruss auf den Medienseiten, wie toll und großartig die amerikanischen Serien sind, die als Narrativ angeblich schon lange den Roman abgelöst haben, während gleichzeitig im Fernsehen selber stundenlang die Verleihung der unansehnlichen deutschen Fernsehpreise gefeiert wird, was Millionen an Kosten verschlingt, während das Fernsehen in Bayern z. B. gleichzeitig seine beiden Büchersendungen kippt. Am Fernsehpreis nimmt natürlich der Ministerpräsident teil, weil er auf diese Weise einmal sich ungeschoren im Fernsehen zeigen darf. Das ist Repräsentationskultur, wie Bayreuth. Auch wenn die Inszenierung noch so schlecht ist, aus Repräsentationsgründen muss man die vier Stunden absitzen, damit das Kleid und der Smoking davor und danach im Fernsehen gezeigt werden dürfen. Auf die Frage des Reporters, wie denn die Aufführung gefallen habe, kommt dann wie aus der Pistole geschossen: Sehr gut! Aber auch sehr lang. Man möchte die Herrschaften mal in ein fünfstündiges Stück von Morton Feldman schicken, am besten im Schlafanzug. Was mit der Bildenden Kunst geschehen ist, ist in Kürze nicht darzustellen: Wie aus dem Quartett aus Künstler, Galerist, Sammler und Kritiker oder Begutachter ein mafiöses Abzockermodell entstanden ist, das einen ge-


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waltigen Markt zwischen New York, Abu Dhabi, Kiew und Peking zum Tanzen bringt, mit dem verglichen die Renaissance mit ihren Päpsten und Dynastien ein spießiges Kinderspielchen ist, das braucht den Atem eines Proust, um alle Details wirklich auszumalen. Unnötig zu sagen, dass der Künstler der Unwichtigste in diesem Trauerspiel ist, das wir alle natürlich finanzieren sollen. Ich höre hier auf, obwohl es endlich spannend zu werden verspricht. Deshalb nur noch ein Wort zu dem Anlass, der uns hier zusammengeführt hat, das neue Heft der Zeitschrift „Quart“. Bücher schreiben kann heute jeder, der so einigermaßen das ABC beherrscht, und wenn er oder sie keinen Verleger findet, dann gibt es für wenig Geld Möglichkeiten, das Buch drucken und über das Netz vertreiben zu lassen. Auch Fifty shades of grey stand zuerst im Netz und hat der Autorin immerhin rund 100 Millionen Dollar eingebracht, Bertelsmann weltweit sei Dank. Aber Zeitschriften machen können nur wenige, noch dazu solche, die nicht nur Texte hintereinander drucken, sondern auch eine spezielle Vorstellung von Text und Bild entwickeln, von optischer Überraschung und intellektueller Herausforderung. Ich gebe zu, ich bin ein Zeitschriftenfreak, ich muss Zeitschriften um mich haben, sie sind meine tägliche Nahrung. Ich kenne die österreichischen Zahlen nicht, aber in Deutschland liest der Erwachsene im Jahr doch immerhin zwischen vier und sechs Bücher, wenn er überhaupt lesen kann – zu meiner Überraschung gibt es immer noch viele Analphabeten, die nur zur Tarnung sich ein Buch vor die Nase halten, und wenn das Buch auf dem Kopf steht, weiß man, dass er wirklich lesen kann. Vier bis sechs Bücher! Mein Gott, bei der täglichen Masse an Informationen aus Kultur und Wissenschaft und Gesellschaft vier Bücher! Woher kriegt er oder sie die restlichen Informationen, um in dieser sich schnell drehenden Welt mithalten zu können? Wie kann er sein ästhetisches Niveau verbessern? Wie seinen Geschmack ausbilden? Mit vier bis sechs Büchern? Niemals. Ein Gartenbuch, ein Sportlerbuch, ein Memoirenbuch und ein erotischer Roman, damit kommt man nicht weiter.

Damit kann man sich einsargen lassen! Aber nicht jeder, sagen dann die der Aufklärung verpflichteten Kulturapostel, kann wie Sie dreihundert Bücher im Jahr lesen. Nein, natürlich nicht, sage ich dann, Sie sollen Zeitschriften wie „Quart“ lesen! Was denn sonst! Hier haben Sie sehr Vieles auf kleinstem Raum. In jedem Bus, in jeder U-Bahn wird man doch schauen, was der oder die da liest – nicht die öden Zeitungen, nicht die öden Liebes- oder Kriminalromane, nein, er oder sie liest etwas, was ihr ästhetisches Empfinden verändert, nämlich „Quart“. Und plötzlich hat der Typ gegenüber keine Chance mehr, weil er nur die Bild-Zeitung kennt oder wie das Pendant in Österreich heißt, er ist hoffnungslos verloren, er kann auch noch den vierten Knopf seines Hemdes aufknöpfen und sich noch so lässig hinflegeln – Er. Hat. Keine. Chance. Also sollte die Kulturpolitik alles tun, um dem unglücklichen Angeber, der keine Chance hat, eine Chance zu geben. Er soll auch „Quart“ lesen! Er soll auch teilhaben an der ästhetischen Erziehung des Menschengeschlechts, er soll freier werden, mutiger im Geiste, anspruchsvoller in seinem Geschmack. Und schließlich lernt man, wenn man „Quart“ liest, auch, dass der alte Antagonismus zwischen Zentrum und Peripherie ein Relikt aus dem neunzehnten Jahrhundert ist, als alles in die Städte strömte und eine städtisch geprägte Kultur entwickelte, die sich sehr wohl von der ländlichen unterschied. Es ist der alte Antagonismus zwischen Athen und Jerusalem, der nun ein für allemal verschwunden ist. Kultur kann nur dort existieren, wo Athen und Jerusalem aufeinandertreffen, also zum Beispiel hier in Tirol, wie es sich in „Quart“ spiegelt.


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Mark Dion hat den Umschlag dieser Ausgabe von Quart und die folgende Bildstrecke (S. 26–41) mit einem unheimlich leuchtenden Kuriositätenkabinett versehen. – Fiona Liewehr über einen großen Nomaden der Kunstwelt, oder: Porträt des Künstlers als Liebhaber von Dingen.

Der amerikanische Künstler Mark Dion befasst sich seit Mitte der 80er Jahre intensiv mit der Geschichte unseres Umgangs mit der Natur und untersucht speziell die Repräsentationen von Natur in den Wissenschaften als Symptome ideologischer Diskurse. Sein Schaffen kreist dabei wesentlich um unsere Vorstellungen von Natur, wie sie sich in den Methoden und Kategorien der Naturkunde manifestiert und letztendlich bis in die Gegenwart hinein in Naturhistorischen Museen in deren Repräsentationskultur niederschlägt. Dabei entwickelte Dion eine eigenwillige künstlerische Methodik, eine gleichsam wissenschaftliche Forschungsarbeit, die gepaart mit seiner großen Sammelleidenschaft und seinen präzisen ökologischen Fragestellungen das Verhältnis des Menschen zu seiner Umwelt stets neu thematisiert. Überall wo Mark Dion künstlerisch auftritt, durchstreift und erforscht er akribisch sein Umfeld, sammelt ortsspezifische Fundstücke, um diese wiederum neu zusammenzustellen und in materialreichen Installationen zu inszenieren. Mark Dion ist ein künstlerischer Nomade, er ist ständig unterwegs. Er erkundet Museen und hinterfragt deren Strukturen, Systeme und Sammlungen, durchstreift die Floh- und Altwarenmärkte auf der Suche nach kulturellen Artefakten, beschäftigt sich vor Ort aber auch mit der Natur im urbanen Raum und collagiert aus verschiedenen Versatzstücken Werke, in denen die Problematik des Gegensatzes von Natur und Zivilisation markant in Erscheinung tritt. Dabei wird Mark Dion oftmals von einem Team aus Künstlern, Assistenten, Fotografen, Dokumentaristen und Wissenschaftlern der unterschiedlichsten Disziplinen begleitet, auf deren Kollaboration der Künstler besonders dann angewiesen ist, wenn er ausgedehnte Feldforschungen unternimmt. So schlüpft der Künstler – mit der entsprechenden Schutzbekleidung und Gerätschaft ausgerüstet – gelegentlich selbst in die Rolle

des Archäologen, um historische Spuren vergangener Jahrhunderte zu Tage zu fördern. 1999 wurde er im Rahmen des Eröffnungsprogrammes der Tate Modern eingeladen, gemeinsam mit einem Team von lokalen Wissenschaftlern und Volontären die Ufer und Schwemmgebiete der Themse vor dem Museum in Bankside und in Millbank gegenüber der Tate Britain zu erforschen. Ziel war es, Londons bewegter Kultur- und Industriegeschichte anhand der im Schlamm und Kies vergrabenen Relikte nachzuspüren. Die Bandbreite der freigelegten Objekte und Fragmente war erstaunlich und reichte von Muschelschalen, Tierzähnen und einem menschlichen Schienbein über Konsumgüter wie Plastikspielzeuge und Schuhe bis hin zu Tonröhren und Töpferwaren. In einem akribischen naturwissenschaftlichen Prozess sammelte, identifizierte, archivierte und ordnete Dion gemeinsam mit seinen Mitarbeitern die Artefakte und Naturalien, um sie in einem extra angefertigten Mahagonischaukasten gemeinsam mit Fotografien der Forschungsgrabung und Aufzeichnungen der Gezeitenströmung zu einer komplexen Installation zu arrangieren. Transferiert in den kunstmusealen Kontext verlieren die Fundstücke einerseits ihre Funktion im Zusammenhang mit ihrem ursprünglichen Vorkommen, werden aber andererseits frei für die kritische Reflexion über Geschichtsschreibung im Allgemeinen und über die menschlichen Überzeugungen, Wünsche und Vorstellungen bezüglich der sozialen Kategorie von „Natur“. „Meine Werke sind nicht über die Natur, sondern über die Idee von Natur“¹, beschrieb Mark Dion einmal seine künstlerische Methodik. Eine individuelle und wiederum zeitspezifische Idee und Anschauung von Natur, denn erst mal als künstlerisches Werk abgeschlossen, dokumentiert, archiviert und in den musealen Kunstkontext eingebunden, fungiert auch Mark Dions Werk wiederum als Zeitkapsel, ist Ausdruck einer persönlichen Sicht des


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Künstlers basierend auf einem spezifischen Auftrag, den örtlichen Gegebenheiten, technischen Forschungsmethoden und -vorgängen und Umsetzungsmöglichkeiten um die Jahrtausendwende. Dion arbeitet häufig mit naturkundlichen und naturwissenschaftlichen Institutionen zusammen, glaubt aber, dass die Wissenschaft kein Monopol auf Naturdefinitionen hat. Naturhistorische Museen versteht er als Orte, wo wissenschaftliche Erkenntnisse über die Natur dem Publikum vorgestellt werden können, die Einblicke in die Festschreibungen von Naturgegebenheiten geben können, dem Lauf der Natur aber nie entsprechen können. Seine Kunst illustriert nicht die Wissenschaft, die Philosophie oder sogar Glaubensfragen, aber sie macht Abstraktionen fassbar, die in diesen Disziplinen vorhanden sind, und eröffnet den Spielraum zu neuartigen Interpretationsmöglichkeiten unseres Umgangs mit der Natur, indem er unseren Denkgewohnheiten zuwiderläuft. Mit hintergründigem Humor, philosophischer Schärfe und akribischem Detailreichtum schafft er Assemblagen und Installationen von liebevoller Sinnlichkeit, die faszinieren statt indoktrinieren, die lehrreich sein können, ohne didaktisch zu wirken. So fügte er etwa im Rahmen der documenta 13 der einzigartigen Xylothek von Kassel, die Carl Schildbach Ende des 18. Jahrhunderts angelegt hatte, eine Präsentationsarchitektur hinzu. Die Holzbibliothek, die aus 530 „Büchern“ aus heimischen Baum- und Straucharten besteht, erweiterte er um sechs neue Bücher, deren Hölzer die fehlenden fünf Kontinente repräsentieren. Das sechste Buch aus Eichenholz ist eine Reminiszenz an Joseph Beuys’ Pflanzaktion von 7000 Eichen bei der documenta 7 und 8. Seine Installation stellt nicht den Anspruch an eine naturwissenschaftliche Sammlung. Sie ist – wenn auch enzyklopädisch gedacht – mehr Reflexion über Ordnungs- und Sammelsysteme. Formal und thematisch interessiert sich Mark Dion häufig für jene historische Übergangsphase im späten 17. und frühen 18. Jahrhundert, in der die subjektiven Ordnungen der Kunst- und Wunderkammern von der heute noch üblichen wissenschaftlichen Ausrichtung der Museen ersetzt wurden. Während die aus den Kuriositätenkabinetten hervorgegangenen europäischen

Kunst- und Wunderkammern der Spätrenaissance und des Barocks Naturalien und Artefakte, Raritäten und Kuriositäten von unterschiedlicher Herkunft und Bestimmung miteinander vereinten, begann mit der Aufklärung und deren neuen Wertmaßstäben von Skeptizismus und Rationalität die Spezialisierung, Systematisierung und Abgrenzung der einzelnen wissenschaftlichen Forschungsdisziplinen. Dion übernimmt vom Wunderkammer-Ansatz die heterodoxe Sicht auf das Material, die Art und Weise, wie die verschiedensten Disziplinen und Kategorien vereint werden, die unsere Vorstellung von natürlich und künstlich auf den Kopf stellt. Er macht bewusst, dass taxonomische Ordnungen – also hierarchisch gestaltete Klassifikationsschemata, mit denen die Naturwissenschaften versuchen, unsere Welt zu strukturieren und erklärbar zu machen – selbst wieder in örtliche, kulturelle und soziale Systeme eingebettet sind und mehr über gesellschaftliche oder politische Ideologien als über die Natur selbst aussagen. Mark Dions Anliegen ist kein wissenschaftliches, sondern ein politischökologisches: „Natur wird von links wie von rechts benutzt wie ein Schwamm, um Ideen und Ideologien zu konstruieren.“² Mark Dions Sicht auf und Reflexion über Natur ist deutlich pessimistischer und abstrakter geworden: Standen in den vergangenen Jahrzehnten in seinen Skulpturen und Installationen vorwiegend gefundene Artefakte und Kuriositäten, gebrauchte Alltagsgegenstände, Naturalien oder ausgestopfte Tiere im Zentrum seiner kritischen Reflexion von Natur und Kultur, werden in den letzten zehn Jahren in Kollaboration mit anderen Künstlern zunehmend Objekte neu erschaffen, die an die privaten oder bereits musealisierten Sammelstücke verweisen. Seit 2010 entstehen unter dem Titel The Phantom Museum künstliche Replikate von realen Objekten, die in Papiermaché oder Plastilin ausgeführt die Spezifizität des ursprünglichen Vorbilds verlieren, gleichsam zu dessen Phantom werden und die Grenzen zwischen Realität und Funktion erneut hinterfragen. Mark Dion wird oft als Sammler von Dingen verstanden und er selbst betont, dass er „definitiv ein Liebhaber von Dingen ist und wahrhaftig daran glaubt, dass


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Dinge sprechen können“³, dennoch ist er noch mehr ein Sammler von Ideen, einer, der Ideologien erforscht, prüft und kunstvoll gegenüberstellt, um die Verbindungen von Vergangenheit und Gegenwart nachzuzeichnen. So verfolgt er in seinem Phantom Museum (Wonder Workshop) 2015 die verschlungenen Wege von Naturalien und Kuriositäten vom Zeitalter der Aufklärung bis ins 21. Jahrhundert. Diese Sammlungsstücke, ihrem ursprünglichen ozeanischen Umfeld entrissen, über die Kolonialisierungswellen des 17. Jahrhunderts nach Europa gebracht, verkauft, gehandelt und gesammelt und in die oftmals privaten Kunst- und Wunderkammern eingegangen, versuchten zahlreiche Künstler und Naturwissenschaftler zu Beginn der Aufklärung einer breiteren Öffentlichkeit näher zu bringen. Sie wurden abgezeichnet, um Phantasiewesen erweitert, in Kupferstiche übertragen, in Bücher gebunden und so weitertradiert. Mark Dion abstrahiert nun diese Repräsentationen von Natur abermals, indem er die Kupferstiche in seine vereinfachten, typischen blau-roten Buntstiftzeichnungen überträgt, diese anderen Künstlern weitergibt, die wiederum farblose Objekte formen und so die ursprünglichen Dinge als deren „Geister“ auferstehen lassen. Durch die neu entstandenen Objekte, ihre Beschreibung und den Verweis aufs Original hinterfragt Mark Dion nicht nur den Zusammenhang von Signifikat und Signifikant, sondern auch die Kraft des Objekts an sich, unabhängig von professioneller Charakterisierung und Einordnung in ein historisches System. Mit dieser Dekontextualisierung stellt Mark Dion einen lebendigen Umgang mit Kulturgut den traditionellen, institutionellen Praktiken zur Erfahrung und Erschließung von Zeitgeschichte gegenüber. Inwieweit sich unsere Vorstellung und Repräsentationsformen von Natur durch die dominanten Massenmedien und Reproduktionstechnologien abstrahieren, ja mehr und mehr virtualisieren, und ob sie sich letztendlich von der Realität abzulösen drohen, kann noch nicht abgesehen werden. Tatsache ist jedoch, dass in heutigen Museen längst digitale Vermittlungsformen Einzug gehalten und teilweise die realen Anschauungsobjekte ersetzt haben; die fixen Systematisierungsformen wurden zugunsten einer neuer Form von Kontextualisierung und einer zunehmend massentauglichen,

kommerziell ausgerichteten Erlebniskultur verschoben. Fast scheint es, als würde Mark Dion in seinem Phantasmal Cabinet, das in Quart erstmals publiziert ist, die sich gegenwärtig hybridisierenden Sammlungs-, Ordnungs- und Präsentationsideologien zur Disposition zu stellen. Er bezieht sich auf den RenaissanceNaturforscher und Mitbegründer der modernen Zoologie, Ulisse Aldrovandi (1522–1605), der neben der Zusammenstellung von Naturalienkabinetten prachtvolle Publikationen herausgab, in denen er die damals bekannten europäischen Spezies exotischen Lebewesen aus der neuen Welt und phantastischen Fabelwesen gegenüberstellte. Auf Grundlage der Kupferstiche in diesen Publikationen formte Dion gemeinsam mit seinen Mitarbeitern fluoreszierende Skulpturen von Vögeln, Fischen, Säugetieren und Phantasiewesen, die er nach den vier Elementen Luft, Wasser, Erde und Feuer in einem setzkastenartigen Display ordnet und in einer Blackbox präsentiert. Gemeinsam mit einem Arrangement von menschlichen und tierischen Totenköpfen entsteht unter Blaulicht ein in der Dunkelheit leuchtendes, unheimlich anmutendes Kuriositätenkabinett, das die mit hyperbolischen Monstrositäten angereicherte Naturvorstellung Aldrovandis in eine zeitgenössische Repräsentationsform überträgt. Er schafft eine surreale Phantasmagorie von Natur, die den Rezipienten zugleich fasziniert wie beunruhigt und die ihm fremd und zugleich vertraut erscheint. Mark Dion bietet ein die Wirklichkeit übersteigerndes Spektakel, das deutlich macht, dass sich zwar der Wissensstand über die „Kategorie“ Natur und die auf sie angewandten Parameter verändern, eines jedoch über die Jahrhunderte gleichgeblieben ist: die Neugier erweckende Faszination der Natur, die den Forscherdrang der Menschheit bis heute antreibt.

1 Dieter Buchhart, Interview mit Mark Dion in: Kunstforum 157 (2001), S. 185–198. 2 Meier, Andreas in: Mark Dion, The Natural History of the Museum, Paris 2007, S. 8. 3 Vu, Mimi: Artful and Stunning Cabinets of Curiosities, New York Times, 25.02.2016, www.nytimes.com


















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Die Zwischenräume im Schweigen

Annäherungen an Georg Trakls Innsbrucker Jahre. Von Mirko Bonné

doch manche augenblicke nisten ohne datum in den stimmbändern C. W. Bauer Vom Schweigen zu sprechen erscheint paradox, ist aber in Wirklichkeit bitter nötig. So, wie es das beredte Schweigen gibt und wahrscheinlich gar kein anderes, so ist wohl jedes Sprechen auch verschwiegen. Nur denen, die reden, geht es um Unterhaltung. Als Dichter, Erzähler und Übersetzer bin ich Zweifelnder, daher ist über die Zusammenhänge von Äußerung und Schweigen, von Schreiben und Entäußerung zu sprechen schwierig für mich, wenn nicht unmöglich, rühren sie doch an die Fundamente meines Denkens und Fühlens. Spreche ich vom Schweigen, dann rede ich vom Schreiben, von meinen verschwiegenen Fundamenten, genauso aber von meinen auch für mich erstaunlicherweise nicht nachlassenden Versuchen, Lücken im Unaussprechlichen zu finden und der Unwirklichkeit zu entgehen, indem ich mit jemandem ins Gespräch komme, dem es vielleicht ähnlich ergeht und der mir die von ihm entdeckten Zwischenräume im Schweigen aufzeigt. Und dann muss ich von einem Satz erzählen, über den ich seit dreißig Jahren nachdenke, ein Satz, der für mich untrennbar mit Innsbruck verbunden ist: „Man kann sich überhaupt nicht mitteilen.“ Nach Edmond Jabès ist es das Fehlen, das Auslassen, was Wörter hörbar und sichtbar macht. Von Jabès stammt der Satz zwar nicht, der mir so lange schon nachgeht, doch auch er spricht von weißen Räumen des Schweigens zwischen den Wörtern, ohne welche sie unsichtbar wären. Jede beschriebene Seite sei „ein entfaltetes Knäuel Schweigen“. Die Klarheit und Poesie, mit der Jabès dem dichterischen Zugang zu Sprache und Welt Ausdruck gibt, empfinde ich als Ruheraum, in den ich mich zurückziehen kann. Doch es ist mir auf Dauer zu still dort. Ich werde das Gefühl nicht los, allein mit mir zu bleiben, wenn ich einzig aufs Wort lausche, und höre ich auch seine Echos, seine Musik. Ja, ich fühle mich weniger wirklich, wirklich hier, mitten in meinem, mitten im Leben rings, je tiefer ich mich einlasse auf den Hall-

raum der Wörter, solange sie einzig Zeichen auf der Buchseite sind oder aufglimmen auf dem Bildschirm. Kein Wort aber sollte die Unwirklichkeit verstärken, vielmehr jedes beitragen zur Lebendigkeit. Es sollte von sich selbst absehen und mir helfen, dass auch ich von mir absehe. Ja! Von jedem Wort verlange ich, dass es in Austausch tritt, gerade weil man sich überhaupt nicht mitteilen kann. „Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen“ – die Schlussfolgerung des „Tractatus logico-philosophicus“ ist berückend, fast ein Vers. Ein philosophisches Axiom sollte jedoch am Puls überprüft sein, und so wäre ich, wenn ich vor hundert Jahren gelebt und den Mut gehabt hätte, dem Autor wohl ins Wort gefallen: „Entschuldigen Sie, Herr Wittgenstein, aber wovon man nicht sprechen kann, darüber sollten wir reden!“ Austausch und Überlieferung – das lebendige Wort – waren für Ludwig Wittgenstein von erheblicher Bedeutung. Obwohl Erbe eines immensen Vermögens, beschloss er, Lehrer zu werden und seine gesamte Habe an mittellose Künstler zu verschenken. In Edmond Jabès’ Geburtsjahr 1912 begann Wittgenstein mit der Niederschrift der „Logisch-philosophischen Abhandlung“, die er später Tractatus nannte und die sein einziges zu Lebzeiten veröffentlichtes Werk blieb. „Wir fühlen, dass selbst, wenn alle möglichen wissenschaftlichen Probleme gelöst sind, unsere Lebensprobleme noch gar nicht berührt sind“, heißt es darin. „Freilich bleibt dann eben keine Frage mehr; und eben dies ist die Antwort.“ 1912 lernte Wittgenstein auch die Dichtungen Georg Trakls kennen, von dem der Ausspruch stammt, man könne sich überhaupt nicht mitteilen. Wittgenstein ließ Trakl ebenso wie Adolf Loos, Oskar Kokoschka und Rainer Maria Rilke 20.000 Kronen zukommen, eine Summe, der heute in etwa 100.000 Euro entsprächen. Für den von Alkohol, Kokain, Opium, Morphium, Veronal und Chloroform schwer gezeichneten Trakl kam die Zuwendung, die seine jahrelange Odyssee auf der Suche nach einer Anstellung in einer Behörde, beim Militär oder in einer Apotheke beendet hätte, zu spät. In seinem letzten Lebensjahr


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1914, im Innsbrucker Sommer vor Ausbruch des Krieges, war Trakls Verzweiflung über die nicht lebbare Liebe zu seiner in Berlin unglücklich verheirateten Schwester Grete einer stummen Todessehnsucht gewichen und seine Zerrüttung längst unumkehrbar. Von „einem namenlosen Schmerz“ schreibt er, und noch ein Jahrhundert später ist es bestürzend, dass anders als etwa zeitgleich Kirchner oder später Kafka niemand Trakl therapeutisch oder nur ärztlich zu Hilfe kam. Alle Welt schien in ihm die Ausgeburt eines moribunden Engels zu sehen und sonnte sich in seinem schwarzen Licht. Wittgenstein ging als Kriegsfreiwilliger nach Polen, der k. u. k. Medikamentenakzessist Trakl fuhr von Innsbruck nach Wien und als Lazarettsanitäter im Offiziersrang mit einem Viehwaggon weiter an die galizische Ostfront, wo man ihn nach Wochen miterlebter Kriegsgräuel „zur Beobachtung seines Geisteszustandes“ in ein Garnisonsspital abkommandierte. Als Wittgenstein erfuhr, dass Trakl in Krakau in der Psychiatrie einsaß, zögerte er nicht und fuhr den Dichter besuchen, obwohl er nie ein Wort mit ihm gewechselt hatte, kam allerdings nicht mehr rechtzeitig. Drei Tage zuvor, am 3. November 1914, war Georg Trakl an den Folgen einer Kokainvergiftung gestorben. Auch mit Gedichten könne man sich nicht mitteilen. Man könne sich überhaupt nicht mitteilen! Angeblich sagte Trakl das am späten Abend des 27. Juni 1912 in einem Gespräch, das der Schriftsteller und Beamte Karl Röck in seinem Tagebuch aufzeichnete. Für Röck blieb Trakl in dessen Innsbrucker Jahren ein dunkles Rätsel, ein unfassbarer Mensch. Wie eine Katze sei er umhergeschlichen, und alles habe er riechen können! Röck gab 1917 die erste Gesamtausgabe von Trakls Werk heraus. In der „Stehbierhalle“ am Innsbrucker Marktgraben sagte Georg Trakl laut Karl Röck: Alles Gedichtemachen sei nichts. Was brauche man Gedichte und Welt als Wille und Vorstellung, wenn man das Evangelium habe. Ein paar Worte des Evangeliums hätten mehr Leben und Welt und Menschenkenntnis als all diese Gedichte. Selig sind die Armen im Geiste, denn ihrer ist das Himmelreich – daneben seien die Dichter so überflüssig, so dumm. Alle Dichter seien eitel, und Eitelkeit sei widerlich. Mitteilen könne man sich auch nicht mit Gedichten. Man könne sich überhaupt nicht mitteilen.

In einem Sommer hundert Jahre später nahm ich mir vor, einen Band mit nie veröffentlichten Gedichten zusammenzustellen. Nach dem Namen der kleinen Grünfläche am Innsbrucker Innufer nannte ich das Buch „Traklpark“, denn seit 1986, als ich zum ersten Mal Georg Trakls Grab auf dem Neuen Friedhof von Innsbruck-Mühlau besuchte, bin ich immer wieder auch dort in dem von Straßenverkehr umtosten Park am Inn gewesen. Mit den Jahren ist er für mich zu einem Stück Herzland geworden. Das liegt auch an seiner oasenartigen Ruhe. Der grüne Fluss strömt vorbei. Leise rauschen die alten Bäume. In fast drei Jahrzehnten habe ich im Traklpark einzig mit Freunden, die mich begleiteten, und mit dem toten Georg Trakl gesprochen. Nie war sonst jemand dort. Ich liebe jeden Fleck, auch dass jemand auf einen Stromkasten RISE gesprüht hat, und auch den Gedenkstein, der am Ufer steht und auf dem ein Vers aus Trakls Gedicht „De profundis“ zu lesen ist. „Gottes Schweigen / Trank ich aus dem Brunnen des Hains.“ Alles in diesem Vers fand ich vor an diesem seltsamen Ort: Der Brunnen war der Inn, der Hain der Park. Gott schwieg zum Singen der Vögel, zum Rauschen der Bäume und zum Brausen der Busse und Autos auf der Brücke. Und auch ich war da. Wo im Leben stehst du, frage ich mich im Traklpark. Was bedeutet dir Glaube, was Fremde? Und deine Zeit, und die Vergangenheit? Was Landschaft, was Liebe? Geben deine Gedichte das wieder? Können, sollen sie’s wiedergeben? Wie hätte wohl Trakl heute Gedichte geschrieben? Wozu überhaupt noch Gedichte? Und wie sollen die aussehen, wenn die Welt selber kein Aussehen mehr hat? Trakls radikalen Lebendigkeitsanspruch in einem Park verwirklicht zu sehen erscheint widersinnig. Im Traklpark ist mir stets zum Lachen und zugleich Weinen zumute, und vielleicht gehe ich deshalb, um diesem Widerspruch auf die Schliche zu kommen, immer wieder dorthin. Egal wo auf der Welt, in welchem Park ich mich auch umsehe, stets denke ich an den Traklpark und frage mich dann, ob die Verbindung zwischen meinem Herzensdichter und einer umlärmten Grünfläche wirklich so absurd ist. In gewisser Weise sind auch Gedichte parkähnliche Inseln inmitten der Sprachen des Alltags und der auf sie einstürzenden Diskurse. Und das Gedicht als Park


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der Bedeutungen gibt der Liebe zu allen Erscheinungen und zugleich den schrecklichsten Zweifeln Ausdruck. Diese innige Skepsis ist Trakls Erbe und durchzieht jedes Gedicht, das ich schreibe. Immer öfter glaube ich, für das, was mir vorschwebt, wäre eigentlich die einzig angemessene Form, es nicht aufzuschreiben. Erinnere dich lieber beizeiten zurück, an dein Erlebnis, an den Vers davon, den Satz, den Absatz, an das ganze unerhört stumme Gedicht, so wie an ein Lied, das du nicht hören musst, um es still vor dich hinzusingen, so wie an einen lieben Menschen, der gar nicht da zu sein braucht, damit du seine Stimme im Ohr hast. Lass es, wie es ist. Lass es gut sein, es lässt sich eh nicht sagen, jedenfalls nicht so, wie du es im Sinn hast. In seinem im März 1914 im Innsbrucker Literaturmagazin Der Brenner abgedruckten Gedicht „Frühling der Seele“ gelingen Trakl Bilder von einem poetischosmotischen Austausch zwischen Welt und Gemüt, die meine Vorstellung von Unwirklichkeit und Nichtsagenkönnen genauso tief geprägt haben wie mein Festhalten an der Tröstlichkeit der Betrachtung: „Dunkler umfließen die Wasser die schönen Spiele der Fische. / Stunde der Trauer, schweigender Anblick der Sonne; / Es ist die Seele ein Fremdes auf Erden.“ Die Seele oder, wie wir heute noch kryptischer sagen, die Psyche ist bei Trakl nicht fremd in ihrer Welt, vielmehr ist sie „ein Fremdes“. Mehr oder minder hilflos übertragen das die drei Übersetzungen ins Englische, die ich kenne, mit „something strange“, „a strange shape“ und „a stranger“. Wer sich jedoch etwas Nichtausdrückbarem gegenübersieht, etwas dennoch Geahntem und Erspürtem, der begreift Trakls Bild unmittelbar, denn es spricht ihm aus der Seele. In Tirol ist Georg Trakl seit Frühjahr 1912 immer öfter. Salzburg, Wien, München, Venedig, Berlin, Krakau – in anderen Städten ist er zeitlebens nicht gewesen. Innsbruck wird zu seinem Fluchtort. Als Militärmedikamentenbeamter leistet er dort Probedienst, wohnt zunächst in Pradl und bezeichnet die Stadt trotzdem als „die brutalste und gemeinste“, „die auf dieser beladenen u. verfluchten Welt existiert“. In Innsbruck findet er zu seinem bildgewaltigen, oft atemberaubend schroffen Ton, die Gedichte gewinnen eine geradezu furchterregende Kraft, aber auch aus den Briefen der Jahre in Tirol spricht eine schonungslose Dringlichkeit,

etwa wenn er in einer Nachricht an seinen Salzburger Freund Buschbeck schreibt: „Ich bin wie ein Toter an Hall vorbeigefahren, an einer schwarzen Stadt, die durch mich durchgestürzt ist, wie ein Inferno durch einen Verfluchten.“ Bald erscheinen regelmäßig Gedichte im Brenner, dessen Herausgeber Ludwig von Ficker und die Beiträger Carl Dallago, Max von Esterle und Karl Kraus Trakl persönlich kennenlernt. Später wird er besonders Igls liebgewinnen, wo Fickers Bruder Rudolf die alte Hangburg Schloss Hohenburg besitzt, in der Trakl vorübergehend eine Bleibe findet. Oft wandert er über die Hänge am Waldrand entlang nach Lans, um bei der „Isserwirtin“ im Gasthof zur Traube einzukehren. Einige seiner schönsten Gedichte entstehen in Igls, „Elis“ und „Hohenburg“, aber auch „Abend in Lans“, das schließt: „Silberne Wasser rinnen über die Stufen des Walds, / Die Nacht und sprachlos ein vergessenes Leben.“ Wenn er vom Café Katzung oder aus dem „Max“ kam und hinauslief nach Mühlau, wo Ficker wohnte und der Brenner-Kreis sich traf, dann ging er am Inn entlang und durch die Uferauen, die es damals noch gab. Einen Park, wo heute der Traklpark liegt, gab es nicht, dafür aber den Gasthof Dollinger, und dort kehrte Trakl nicht selten auch dann ein, wenn er sich in der Stadt bereits schwer betrunken hatte: „Drei Liter Roten im Bauch. Nüchtern.“ In Mühlau, in einem Zimmer mit Loggia in der Rauch-Villa Ludwig von Fickers, schrieb er im Winter 1912 / 13 den „Helian“, ein fünfteiliges Gedicht aus langen, fließenden, von Licht und Bewegungen aus Träumen und Alltag durchzogenen Versen. Der „Helian“ ist Trakls Generalmobilmachung, sein umfassendster Versuch, der unumkehrbaren Zerrüttung innigste Bilder und Gestalten abzulauschen, eine Musik der Angst und furchtbaren Ahnungen, die dennoch festhält an der Möglichkeit zu Glück, Schönheit, Unschuld, Güte und Miteinander. Nacht und Umnachtung sind dabei allgegenwärtig, das Böse, der Schmerz, die Verkommenheit, die Verbitterung und die Verlassenheit ebenso. Aber Trakl beginnt den „Helian“ so: „In den einsamen Stunden des Geistes / Ist es schön, in der Sonne zu gehen / An den gelben Mauern des Sommers hin. / Leise klingen die Schritte im Gras; doch immer schläft / Der Sohn des Pan im grauen Marmor. // Abends auf


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der Terrasse betranken wir uns mit braunem Wein. / Rötlich glüht der Pfirsich im Laub; / Sanfte Sonate, frohes Lachen.“ Meine Lieblingsstrophe bildet die Mitte des zweiten Teils, drei Zeilen, aus denen unverbrüchlich die Liebe zum Leben und das lebendige Glück sprechen: „Schön ist der Mensch und erscheinend im Dunkel, / Wenn er staunend Arme und Beine bewegt, / Und in purpurnen Höhlen stille die Augen rollen.“ Ein Stabreim aus Sprache gewordenem Schweigen: „schön“, „erscheinend“, „staunend“, „stille“. Der Schluss kündet von den „Stufen des Wahnsinns in schwarzen Zimmern“, von Kummer und Verzweiflung; denn an „den Wänden sind die Sterne erloschen / Und die weißen Gestalten des Lichts.“ Anders als ich lange glaubte, ist Trakls Gott nicht abwesend, oder wenn doch, dann wie Jabès sagt, „als Leere der Leere, Abwesenheit der Abwesenheit“. Als der Gott mit eisigem Atem, der sich mit dem „Wind von den Sternen“ äußernde Gott einer dahintaumelnden Welt scheint er jedoch oft ebenso traumverloren zu sein wie die Menschen, wenn er auch die denkbar offensten Augen hat. Trakls Gott greift ein, nur wie und wann, bleibt unverstanden. Wachend über allem, ist er alles andere als unbeteiligt – und sein Mitgefühl so grenzenlos, wie es menschlich erscheint. Doch er ist ein Schweigender, ja scheint Stille und Schweigen selbst zu sein. Der „Helian“ schließt: „O ihr zerbrochenen Augen in schwarzen Mündern, / Da der Enkel in sanfter Umnachtung / Einsam dem dunkleren Ende nachsinnt, / Der stille Gott die blauen Lider über ihn senkt.“ Ist es hier nicht so, dass Gott, indem er die Lider schließt, den Enkel hineinnimmt in seine Augen? Auch dort scheint ein Zwischenraum im Schweigen auf, wo Gott und die Menschen einander zu begegnen vermögen. In der Mühlauer Rauch-Villa fand im Januar 1914 ein Gespräch statt, das der Schweizer Russland-Reisende Hans Limbach später unter dem Titel „Begegnung mit Georg Trakl“ aufzeichnete. Limbach war während einer Europareise Gast des Südtiroler Naturphilosophen und Kirchenkritikers Carl Dallago, mit dem gemeinsam er nach Innsbruck kam, um Ludwig von Ficker und dessen Kreis kennenzulernen. Ganz wie Trakls Äußerungen in der Stehbierhalle über die Eitelkeit allen Dichtens und die Brüchigkeit ver-

meintlicher Mitteilungsbrücken ist das verhörartig anmutende Gespräch Dallagos mit Trakl für mich seit langem von zentraler Bedeutung, und das, obwohl es nicht wenige Stimmen gibt, die die Authentizität von Limbachs Erinnerungen anzweifeln. Denn diese gespenstische Mühlauer Begegnung führt mitten hinein ins problematische Spannungsfeld zwischen Wirklichkeit und Wahrhaftigkeit, in ein Problem also, das mit Trakls Lebenshaltung und seiner Dichtung – in meinen Augen sind sie nicht zu trennen – sowie seiner von ihm selbst nur in wenigen Briefsätzen ausgesprochenen Poetologie eng verknüpft ist. Gerade die verstörend beharrliche Einsilbigkeit des in die Mangel genommenen Dichters ist es, die einen hellen Raum jenseits der vermeintlichen Verstocktheit öffnet, in dessen Licht man den Menschen Trakl unvermittelt zu begreifen glaubt. An Hans Limbachs Protokoll hat mich nie interessiert, ob es authentisch ist – sollen sich Literaturwissenschaftler und -historiker der Frage annehmen –, denn ich verbinde damit etwas weitaus Aufwühlenderes. Es taucht darin nämlich ein Satz, den Georg Trakl sagt, nicht auf, ein Satz, den er aber – paradox, das zu behaupten – in meiner Erinnerung sehr wohl gesagt hat an diesem Innsbrucker Abend. Wann und wo habe ich den Satz gelesen? Wohin ist er verschwunden? Habe ich ihn womöglich geträumt? Stammt er am Ende gar nicht von Trakl, sondern, ja, von wem, mir selbst? Wäre er dann nicht ein Satz, den Georg Trakl mir eingeflüstert hat, eine lebendige Überlieferung? Der Satz lautet: „Das Evangelium hat ja noch gar nicht begonnen.“ Auch Röck meint ja, sich an eine Evangelien-Äußerung Trakls in der Innsbrucker Stehbierhalle erinnern zu können: „Ein paar Worte des Evangeliums haben mehr Leben und Welt und Menschenkenntnis als all diese Gedichte.“ Hans Limbach erinnert sich, dass Carl Dallagos offene, etwas kindliche Natur Trakl zu reizen und herauszufordern schien: „Denn es war ihm, allem Anschein nach, peinlich, Rede und Antwort stehen zu müssen, und jener schien dies nicht genügend zu beachten“, berichtet er. „Trakls Wesen war tiefste Verschlossenheit. ,Ich bin ja erst halb geboren!‘, sagte er einmal und behaupte-


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te, bis zu seinem zwanzigsten Lebensjahr überhaupt nichts von seiner Umwelt bemerkt zu haben außer dem Wasser.“ „Aber Dallago mochte nun einmal kein Organ für seine Art haben und rückte ihm immer näher auf den Leib. ,Kennen Sie eigentlich Walt Whitman?‘, fragte er ihn plötzlich. Trakl bejahte es, fügte aber bei, dass er ihn für verderblich halte. ,Wieso‘ – fuhr Dallago auf – ,Wieso verderblich? Schätzen Sie ihn denn nicht? Sie haben doch gewiss in Ihrer Art manches Verwandte mit ihm?!‘ Von Ficker bemerkte, dass doch wohl eher ein tiefer Gegensatz zwischen den beiden zu erkennen sei, indem Whitman das Leben einfach in allen seinen Erscheinungsformen bejahe, während Trakl durch und durch Pessimist sei. Ja, ob er denn gar keine Freude am Leben habe? – bohrte Dallago weiter. – Ob ihm denn z. B. sein Schaffen gar keine Befriedigung verleihe? ,Doch‘ – gab Trakl zu –, ,aber man muss gegen diese Befriedigung misstrauisch sein.‘ Dallago lehnte sich vor maßlosem Erstaunen in seinen Stuhl zurück. ,Ja, warum gehen Sie dann nicht einfach in ein Kloster?‘, fragte er endlich nach kurzem Schweigen. ,Ich bin Protestant‘, antwortete Trakl dumpf. ,Pro – te – stant?‘, fragte Dallago gedehnt – ,Das hätte ich allerdings nicht gedacht! – So sollten Sie doch wenigstens nicht in der Stadt, sondern auf dem Lande leben, wo Sie dem wüsten Treiben der Menschen ferner und der Natur näher gerückt sind!‘ ,Ich habe kein Recht, mich der Hölle zu entziehen‘, gab Trakl zurück. ,Aber Christus hat sich ihr doch auch entzogen!‘ ,Christus ist Gottes Sohn!‘ antwortete Trakl. Dallago wusste sich kaum zu fassen. ,So glauben Sie also auch, dass alles Heil von ihm komme? Sie verstehen das Wort Gottes Sohn im eigentlichen Sinne?‘ ,Ich bin Christ‘, antwortete Trakl. ,Ja‘ – fuhr Dallago fort, ,wie erklären Sie sich denn solche unchristlichen Erscheinungen wie Buddha oder die chinesischen Weisen?‘ ,Auch die haben ihr Licht von Christus bekommen.‘

Wir verstummten, über die Tiefe dieses Paradoxes nachsinnend. Doch Dallago konnte sich noch nicht zufrieden geben. ,Und die Griechen? Glauben Sie denn nicht auch, dass die Menschheit seitdem viel tiefer gesunken ist?‘ ,Nie war die Menschheit so tief gesunken wie jetzt nach der Erscheinung Christi‘ – versetzte Trakl. ,Sie konnte gar nicht so tief sinken!‘, fügte er nach kurzer Pause hinzu. Dallago schien nicht wahrhaben zu wollen, dass Trakl immer mehr sich in sich zurückzog und verschloss“. Den Kopf nicht länger gesenkt, sah Trakl auf, maß sein Gegenüber mit einem seltsamen Blick und schwieg. „Aber nach einer Weile schien er sich seines Wortes über Christus zu besinnen. ,Es ist unerhört‘ – begann er – ,wie Christus mit jedem einfachen Wort die tiefsten Fragen der Menschheit löst! Kann man die Frage der Gemeinschaft zwischen Mann und Weib restloser lösen als durch das Gebot: Sie sollen Ein Fleisch sein?‘“ Über Dostojewskis Sonja „sprach er das schöne Wort aus – wieder mit funkelnden Augen –: ,Totschlagen sollt’ man die Hunde, die behaupten, das Weib suche nur Sinnenlust!‘“ Die Frau suche ihre Gerechtigkeit, so gut wie jeder von uns. „Dallago schien frappiert und bemerkte nach kurzem Schweigen: ,Ja, das ist’s. Vielleicht werd’ ich auch noch eine Ehe in diesem Sinne zustande bringen.‘ Unterdessen waren die Flaschen leer geworden, und als sich auch in der Küche kein Wein mehr vorfand, nahm Trakl die Flaschen ohne Weiteres unter den Arm, stieg, als wäre er der Wirt, in den Keller hinab und brachte sie gefüllt zurück.“ Verschlossenheit, Verstummen. Stille, Nachsinnen. Beharren auf die eigene Stimme. Schmale Lücken in der Unsagbarkeit, die Zwischenräume im Schweigen sind der eigentliche Gegenstand dieses Gesprächs, ob es in Mühlau seinerzeit so stattgefunden hat oder nicht. „Das Evangelium hat ja noch gar nicht begonnen“ – ich denke heute, gut dreißig Jahre, nachdem ich Limbachs Niederschrift zum ersten Mal las, dass ich diesen wie aus einer fernen Zeit und durch einen geträumten Himmel herbeigesegelten Satz vor allem deshalb in das Gespräch hineinlese, weil Georg Trakl darin von Jesus von Nazareth wie von einem Dichter spricht. Er erwähnt keine Wunder, keine Taten, weder Jünger noch


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Auferstehung. Er spricht von Christi Erscheinung, einem Licht, das, wie rückwärts durch die Zeit, schon ein halbes Jahrtausend zuvor Siddhartha Gautama und seine Nachfolger erleuchtet habe. Unerhört, habe Trakl gesagt, sei es, wie Christus mit jedem einfachen Wort die tiefsten Fragen der Menschheit löse – nicht gelöst habe, sondern löse. Weder Handlungen noch Wunder lösen die Probleme der Menschen, sondern Worte. Die Frohe Botschaft ist so verstanden noch immer unterwegs. Sie mag ausgesprochen sein, im Leben angekommen ist sie nicht. Es gebe in jedem Buch eine Zone der Dunkelheit, einen undurchdringlichen Schatten, den sein Leser erst nach und nach entdecke, schreibt Edmond Jabès. Sosehr der Schatten irritiere, man spüre genau: Hier ist das wirkliche Buch, um das herum die gelesenen Seiten angeordnet sind. Dieses ungeschriebene, so rätselhafte wie enthüllende Buch entzieht sich fortlaufend. Nach Jabès erlaubt nur die Intuition dem Leser, es in seiner wahrhaftigen Dimension zu erkennen. Mit dem Spannungsfeld zwischen sprachlicher Wirklichkeit und lebenserfüllter Wahrhaftigkeit beschäftigt sich auf ganz eigene Weise noch in seinen allerletzten Aufzeichnungen auch Georg Trakl. Bevor er Ende August 1914 über Wien abfuhr an die galizische Ostfront, überreichte er, an der Mütze eine wippende Nelke, wie es heißt, am Innsbrucker Bahnhof dem befreundeten Herausgeber des Brenner einen Zettel. Neben zwei Gedichten, die er Ludwig von Ficker aus Galizien schicken sollte, sowie ein paar Feldpostnachrichten sind die auf dem Blatt notierten Zeilen das letzte, was Trakl schrieb: „Gefühl in den Augenblicken totenähnlichen Seins: Alle Menschen sind der Liebe wert. Erwachend fühlst du die Bitternis der Welt; darin ist alle deine ungelöste Schuld; dein Gedicht eine unvollkommene Sühne.“ Das Gedicht als Wiedergutmachungsversuch – als Versuch, die eigene Mitverantwortung am Zustand der Welt und des menschlichen Miteinanders anzuerkennen. Es ist das Bekenntnis zu einer lebenszugewandten Aufgabe der Dichtung. In Momenten abgrundtiefen Verlorenseins, der Versteinerung und Verzweiflung, dem „totenähnlichen Sein“, auch dann – erst dann? – fühlt man, dass jeder, ebenso man selbst, der Liebe wert ist, auch der eigenen.

Trakl spricht von Augenblicken statt Momenten – ein Unterschied, der körperliche Teilnahme voraussetzt, Blicke, Sprache, mit der das Mitgefühl einsetzt, die Blicke der Augen, in denen Empathie sich abzeichnet und die sie spiegeln. Aus diesem Schweigen jenseits von allem aufgewacht, macht man die Augen auf und fühlt – die Welt lässt es einen spüren –, wie bitter doch die sogenannte Realität ist. An ihr also scheitert man? Laut Ludwig von Ficker notierte Trakl die Zeilen unmittelbar vor der Abreise an die Ostfront. Er war 27, sein Leben ruiniert, die Zukunft nur mehr „schwarze Novemberzerstörung“. „Bisweilen fällt dann ein Strahl der letzten sonnigen Innsbrucker Tage in diese Düsterniß und erfüllt mich mit tiefster Dankbarkeit für Sie und all’ die edlen Menschen, deren Güte ich in Wahrheit so gar nicht verdiene“, schrieb er ein Jahr zuvor an Ficker. „Zu wenig Liebe, zu wenig Gerechtigkeit und Erbarmen, und immer zu wenig Liebe; allzuviel Härte, Hochmut und allerlei Verbrechertum – das bin ich.“ Er sehne den Tag herbei, an dem die Seele „diese Spottgestalt aus Kot und Fäulnis verlassen wird, die ein nur allzugetreues Spiegelbild eines gottlosen, verfluchten Jahrhunderts ist.“ Bitter auch, dass der Zettel vom Innsbrucker Bahnhof seit 1915 verschollen ist. Niemand außer dem BrennerHerausgeber hat ihn je gelesen. Somit ist er wie das von Röck aufgezeichnete Gespräch in der Stehbierhalle am Marktgraben und der von Limbach festgehaltene Mühlauer Disput mit Dallago eine weitere ungesicherte Äußerung Georg Trakls. Und das heißt? Es mag keine Brücke geben zwischen nötigem Realitätssinn und gegebenem Unwirklichkeitsempfinden. Liebe lässt sich vielleicht nicht mitteilen, nicht mit Worten, die nie Küsse sind. Aber es gibt Zwischenräume im Schweigen, die etwa Musik und das Gedicht auszuloten versuchen. An diesem innigen Sprechen heißt es festzuhalten. Es gibt kein besseres.


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Das Spiel und die Regel

Der in Berlin lebende Fotograf Marc Beckmann hat sich im Auftrag von Quart in den Trubel der Tiroler Fasnacht gestürzt und die jahrhundertealten Bräuche des Imster Schemenlaufens und des Axamer Wampelerreitens dokumentiert. Auf den folgenden Seiten (56–67) zeigt Beckmann seine kaleidoskopartige Erinnerung an diesen Ausflug.

Aus dem Logbuch des Fotografen: „Seit über zehn Jahren arbeite ich an meinem Projekt ‚Jahrestage‘. Ich dokumentiere historische Ereignisse – wie den Mauerfall, 9/11 oder die islamische Revolution – indem ich die Feierlichkeiten fotografiere. Mich interessiert dabei mehr, was sich hinter dem ‚Event‘ verbirgt, dadurch bekomme ich einen genaueren Blick auf das eigentlich Wichtige dieses Tages: Die gemeinsam begangene Erinnerung, das nur dieser einen Gruppe (Nation, Ethnie, Religion etc.) gemein ist. Das sinn- und identitätsstiftende Ereignis in der Vergangenheit ist das zentrale Moment, das diese Gruppe erst zu dem macht, was sie ist. Ein ähnliches Prinzip findet man bei der Fasnacht in Tirol, genauer: beim Imster Schemenlaufen. Das gemeinsame Erleben des Brauchtums ist die Quelle der

eigenen Identität. Das Fest ist eine Art Spiel mit Verkleidungen, zugewiesenen Rollen und einem bestimmten Regelwerk, das es einzuhalten gilt. Diese Tatsache ist zwar für den im Wesen gesetzlosen ‚Karneval‘ paradox, für die Identität als Gruppe hingegen ist sie maßgeblich. Der Karnevalsumzug selbst ist eigentlich ein Widerspruch in sich – die ‚Narrenfreiheit‘ unterliegt einer Reglementierung des närrischen Treibens. Ich habe nichts anderes gemacht, als mich in der Kulisse des Geschehens zu bewegen. Die Bilder sind Ausdruck der Suche nach der Regel und dem Spiel: nach der Regel, die dem Karneval Struktur gibt, und dem Spiel, in dem die Beziehungen entstehen und Rollen gespielt werden. Das gemeinsame Feiern des Faschings gleicht einer öffentlichen Demonstration von Identität, in der sich eine Gemeinschaft ihrer selbst vergewissert.“














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Brenner-Gespräch (15): „Probleme mit der real existierenden Wahrheit“ So viele Leute fahren über die Alpen. Quart bittet herausragende Persönlichkeiten an den Straßenrand zu einer Jause mit Gespräch. Folge 15: Die Autorin Katja Lange-Müller im Gespräch mit Robert Renk über Autobiographie und Autotherapie, Schreiben und Lügen, die polnische Art Schnaps zu brennen und Wiener Würstchen in Ulan Bator.

Robert Renk: Sie haben einmal gesagt, Sie würden nichts Autobiographisches schreiben, denn das würde Ihnen ohnehin niemand glauben.

ich gelesen, diese Zeit sei der Antrieb für Ihr Schreiben gewesen, um das, was man nicht fassen kann, das Unerklärliche, erklärbar zu machen.

Katja Lange-Müller: Ich hätte dazu auch keine Lust und halte es mit Stanislaw Lem. Den hatte mal einer gefragt: „Sagen Sie, Herr Lem, wie kommen Sie denn auf all diese wunderbaren, phantastischen Einfälle zu Ihren Science-Fiction-Geschichten?“ Lem hat sein Gegenüber ungerührt angeguckt und erwidert: „Was heißt hier Einfälle, was heißt hier Phantasie! Das ist alles autobiographisch!“

L.-M.: Hab’ ich mal behauptet, ja. Vielleicht stimmt es sogar. Ich weiß es nicht. Immer, wenn man so gefragt wird, erfindet man natürlich eine Legende zur Legende zur Legende. Wenn man kein Problem mit der real existierenden Wahrheit hätte, würde man ja auch nicht schreiben, sondern am Kneipentisch sitzen und sich für eine gute Story Biere spendieren lassen.

R.: Sie schreiben gerne über Figuren, die … L.-M.: … also über schon mal gar nicht, wenn, dann höchstens von, weil über ist eine Perspektive, die ich ablehne. Über uns sind die Wolken oder der, der in seinen Wolken ist, aber an den glaub ich ja nicht. R.: Also, Sie schreiben gerne von Figuren und Szenarien, die Sie gut kennen: Druckerei, Psychiatrie … L.-M.: Ja, aber nie direkt. Ich erfinde Figuren, denen mein Erfahrungsschatz zu Gute kommt, verleihe ihnen bestimmte Züge. Es wäre ja blöd, einen Bauarbeiter zu erfinden, denn ich habe nie am Bau gearbeitet. Da erfinde ich doch lieber eine Krankenschwester; denn damit kenne ich mich aus. Man sollte immer über das schreiben, wovon man Ahnung hat. Vom meisten hat man eh keine Ahnung. Nicht mal von dem, wovon man Ahnung hat. R.: Sie haben acht Jahre als Psychiatriehilfspflegerin gearbeitet. In einer Laudatio von Nike Wagner habe

R.: Wie sehr hat Sie die Zeit in der Klinik tatsächlich zum Schreiben bewogen? L.-M.: Ich weiß es nicht genau. Einerseits war ich natürlich sehr beeindruckt von dem dort Geschehenen. Andererseits hatte ich wenige Gesprächspartner. Mit einer anderen Krankenschwester kannst du über den Scheiß nicht reden. Und wenn man mal zusammen Tanzen war – man war ja noch jung und knackig – und einer forderte dich auf und fragte: „Na, und was machst du so?“, und du sagtest, „na ja, Psychiatriekrankenschwester“, dann hatte der plötzlich gesplittertes Gletschereis im Blick und murmelte: „War nett, Sie kennenzulernen“ und machte auf dem Absatz kehrt. Also dort konntest du dein Herz auch nicht ausschütten. Und irgendwo musst du ja hin mit dem Erlebten. – Kein Mensch, der was von der Materie versteht, wird es leugnen und selbst wenn er’s tut, weiß er insgeheim, dass es stimmt: Die Anfänge sind immer autotherapeutisch beim Schreiben. Immer. Ob das fruchtet oder nicht, ob es was nützt, das steht auf einem ganz anderen Blatt. Und dieses Blatt beschreibt der Autor in der Regel nicht selbst.


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R.: Zum Anfang und zum Schluss bei Geschichten: Es gibt Autoren, die mir erzählt haben, sie könnten mit einem Text nur anfangen, wenn sie den Schluss schon kennen. L.-M.: Ja, zu denen gehöre ich natürlich. Die Autorin, die Ihnen das erzählt hat, war wahrscheinlich ich! Du kannst Erzählungen nicht ins Blaue hinein schreiben. Du musst den Schluss kennen, sonst fehlt von Anfang an der Sog. Eine Erzählung hat ja eine ganz andere Oberflächenspannung. Je weniger Wörter ein Text hat, desto wichtiger ist jedes einzelne. Desto mehr kannst du dich am Schluss noch an den Anfang erinnern, und das ergibt insgesamt eben eine andere Oberflächenspannung. R.: Die Autoren, die sagen, sie lassen sich von Satz zu Satz treiben, sie lassen sich von ihren Figuren an die Hand nehmen, sind dann ausschließlich Romanautoren? L.-M.: Bei Romanen kann das schon passieren, dass du dir sagst: Ach ja, jetzt schreib ich mal einen Satz, mal sehen, welcher Satz sich als nächster zu Wort meldet. Aber meine Methode ist das nicht, nicht mal beim Roman. Der Schluss ist ja nichts anderes als der reziproke Anfang. Wenn du den Grund nicht kennst, kommst du auch nicht an die Oberfläche, oder anders gesagt: Wenn du das andere Ufer nicht zumindest ahnst, schwimmst du gar nicht erst los. Alles andere ist in meinen Augen Quatsch, außerdem ist es spannungsfeindlich. Und ohne Spannung verlierst du den Leser. Der sagt dann: „Ach, noch ne Beschreibung von einem Esstisch mit einer ungebügelten Decke drauf, das halt ich nicht mehr aus“ und schmeißt das Buch in die Ecke. Kann er ja machen, will aber der Autor in der Regel nicht. R.: Wie ist beim Schreiben das Verhältnis zwischen Lügen und Wahrheit? L.-M.: Brecht hat das Zeigen seiner dramaturgischen Mittel zur Methode erklärt, das war dann auch wieder ein Fehler. Soll man nie machen. Man soll nicht

vor Publikum mit den Instrumenten jonglieren. Aber klar ist es so, dass du eine Wirklichkeit simulierst, die in keiner Wirklichkeit der Welt geerdet ist. Das hat Schreiben mit dem Lügen gemeinsam, bei beidem musst du überzeugend sein. Du kannst nicht gut lügen, ohne dich diverser Wahrheitspartikel zu bedienen. Man kann auch den alten Spruch von Adorno aus der Mottenkiste holen: Die Wahrheit lässt sich auch lügen. Am schönsten hat es immer noch Tucholsky gesagt in seinem Gedicht Zwei Seelen. Da heißt es in einer Stelle: „Sogar wenn er lügt, lügt er“. Das ist natürlich nicht zu toppen! R.: Sie verwenden ja statt wahr lieber das Wort wahrhaftig. L.-M.: Es gibt immer unterschiedliche Wahrheiten, die in unterschiedlichem Ausmaß wahr sind, aber du kannst sie nur in eine Wahrhaftigkeit überführen. Und das ist der Prozess des Schreibens. Die Herstellung der Wahrheit mit den Mitteln der Lüge. Oder die Herstellung der Lüge mit den Mitteln der Wahrheit, und in dem Falle nennt man die Lüge Wahrhaftigkeit. R.: In Ihren Texten spürt man, dass sie perfekt recherchiert sind. So spielt etwa Ihr Roman „Die Letzten“ im Schriftsetzer-Milieu. L.-M.: Ja, den Beruf habe ich gelernt. Ich arbeitete in einer kleinen Druckerei, die entstand, weil in der DDR – wegen verschiedener Versorgungsengpässe – Privatwirtschaft im kleinen Rahmen wieder erlaubt wurde. Das ist ein bisschen so, wie wenn du den heutigen Elefanten mit Erbgut vom Mammut kreuzt. Die Rückkehr des Kapitalismus in den real existierenden Sozialismus war somit auch der Anfang vom Ende. R.: Im Herbst erscheint Ihr neuer Roman mit dem Titel „Drehtür“. L.-M.: Und bevor ich angefangen habe, diesen Roman zu schreiben, da plagte mich ein Traum. Eines Nachts saß ich senkrecht im Bett, mit gesträubtem Nackenhaar, weil ich geträumt hatte, dass ich vergessen hät-


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te, im Krankenhaus zu kündigen und trotzdem nicht zum Dienst erschienen war. Irgendwas war mir also vollkommen entglitten. Meine Anwesenheit dort auf Station wäre aber zwingend nötig gewesen. Im Traum grübelte ich nun herum, wie ich mir jetzt Einlass ins Krankenhaus verschaffen könnte, aber undercover, und wie ich es hinkriegen könnte zu kündigen, ohne noch in Kontakt mit irgendjemandem dort zu treten. Und davon wachte ich auf und fragte mich: Wie wäre mein Leben weitergegangen, wenn ich nicht angefangen hätte zu schreiben, sondern Krankenschwester geblieben wäre? Und schon hatte ich das Setting für den nächsten Roman. R.: Also schreiben Sie doch autobiographisch? L.-M.: Ja und nein. So ist es doch mit der Literatur, du erlebst ja kaum mal eine Situation – schon gar nicht eine existenzielle – bis zum Ende. Oft verlässt man Situationen, aus Angst oder weil man schon ahnt, wenn man da jetzt nicht die Flucht ergreift oder sich anderweitig verpisst, dann wird das womöglich eine NeverEnding-Story. Und da wir ja alle eine biologische Verfallszeit haben, geht man manchmal stiften. Man haut einfach ab und sagt sich, egal wie’s ausgeht, ich will nicht mehr dabei sein. Und Jahre später denkst du dir: Okay, wenn ich nicht abgehauen wäre, wie wär’s denn weitergegangen? R.: In Ihrem ersten Erzählband taucht die Mongolei auf, sonst nie. Sie haben eine Zeit dort verbringen müssen. Stiften gegangen? L.-M.: Na ja, nicht wirklich. Wenn ich davon richtig schreiben wollte, müsste ich noch einmal hin, und dagegen sträubt sich alles in mir. Man kann von einer Gegend eigentlich nur schreiben, wenn man entweder nur kurz da war oder länger als ein Jahr. Genau ein Jahr ist eine ganz schlechte Zeit, weil du dann schon ahnst, dass du nicht wirklich etwas weißt von dem, was da abgeht, dass du noch zwei Jahre bleiben müsstest, um wenigstens die Sachen zu kapieren, die in der Epidermis vorkommen – bis auf die Knochenhaut dringst du eh nicht durch. Dazu müsstest du dich zwingen,

das noch einmal zu machen. Das wäre Recherche am offenen Herzen, sozusagen. Aber ich will dort partout nicht noch mal hin. R.: Wie hat es Sie dorthin verschlagen und wie kamen Sie zurück? L.-M.: Von der Geschichte, wie ich zurückgekommen bin, gibt es ein paar Varianten, ich weiß mitunter selbst nicht mehr, was nun wirklich passiert und was in meiner Phantasie dazugekommen ist. Die Sache mit dem Hinkommen ist klar. Ich studierte noch am Literaturinstitut in Leipzig, und da seinerzeit eine Hochschulreform die nächste jagte und immerfort irgendwelche Hochschulrahmengesetze neu erfunden wurden, lautete eins davon, dass nunmehr auch die Absolventen von Kunsthochschulen ihr Praktikum in der sozialistischen Produktion zu absolvieren hätten. Du kriegtest dein Diplom nicht, bevor du nicht deine drei Monate abgedient hattest, hieß es. R.: Sozialistische Produktion gab’s doch auch zu Hause oder in Ungarn, der Tschechoslowakei oder Polen. Warum mussten Sie in die Mongolei? L.-M.: Am Ende des Studiums musste man sowieso für wenig Geld ein dreimonatiges Praktikum absolvieren. Es fehlte hinten und vorne an Arbeitskräften und man dachte sich, bevor wir die Studenten für immer in die intellektuellen und damit wenig produktiven Sphären ihres Lebens entlassen, müssen die noch drei Monate was tun. So weit so gut, hat ja auch keinem geschadet. Kurz bevor es so weit war, kam eine Kommission ins Leipziger Literaturinstitut und sagte, man habe sich überlegt, dass es auch unter den Absolventen der Kunstschulen Leute gebe, die ordentliche Berufe erlernt hätten, die nicht gleich nach dem Abitur angefangen haben, Malerei, Schauspiel oder Literatur zu studieren. Diese Spitzenkräfte sollten ihr Praktikum in einem befreundeten sozialistischen Land absolvieren, welches – na ja – noch nicht so hoch entwickelt sei, wie die Deutsche Demokratische Republik. Und dann war von Angola die Rede und von Kuba, nicht mit einem Wort von der Mongolei.


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Angola oder Kuba, dachte ich, why not? Die ließen mich irgendwas unterschreiben. Dann ging das Studium weiter. Mit Ach und Krach verfasste ich schließlich meine Diplomarbeit über die Berliner Expressionisten, bestand sogar und fuhr in die Ferien. Ich hatte völlig vergessen, dass ich irgendwann mal zugesagt hatte, mein Praktikum … Plötzlich kam ein Brief, dass ich mein Praktikum anzutreten hätte, nicht nur für drei Monate, sondern für ein halbes Jahr, weniger würde sich für die Genossen hinterm Kaukasus gar nicht lohnen. Ich hatte mich grade frisch verliebt – weiß jetzt gar nicht mehr, in wen, spielt auch keine Rolle … – jedenfalls hatte ich überhaupt keinen Bock darauf, ein halbes Jahr zu entschwinden und auch nicht den Schimmer einer Ahnung, was das sein soll, die Mongolei. Ich war ja eher auf Angola oder Kuba fixiert gewesen. Am Globus suchte ich das Land und ich las, dass es dort sehr kalt ist, aber trotzdem Kamele gibt; das fand ich ziemlich widersprüchlich. Und dann schrieb ich zurück, dass von der Mongolei und einem halben Jahr nie die Rede gewesen sei. Erneut erhielt ich einen Brief, zwei dürre Zeilen: Ich solle mich am soundsovielten da und dort einfinden, um Genaueres zum Praktikum zu erfahren und mein Ticket in Empfang zu nehmen. Und dann hätte ich mich gefälligst in die Mongolei zu verfügen, ansonsten bekäme ich kein Diplom. Bei dem anberaumten Termin hieß es, es würde wohl eher ein Dreivierteljahr werden. Ich war völlig von den Socken. Wieso jetzt ein Dreivierteljahr? Antwort: Schreiben können Sie doch überall! Dafür müssen Sie nicht in Berlin sein. R.: Und die Druckerei, in der Sie praktizieren sollten? L.-M.: Von der war nichts zu sehen, nicht mal der Grundstein war gelegt. In die damaligen Landkarten der Mongolei waren auch drei Stauseen eingezeichnet, die nicht existierten. In der DDR-Botschaft meinte man: Wir haben hier zwei Produktionsbetriebe, die mit Mitteln der DDR errichtet worden sind. Sie dürfen sich entscheiden, entweder die Teppichfabrik Wilhelm Pieck oder das Fleischkombinat Ernst Thälmann. Ich war ja schon froh, wenigstens die Wahl zwischen ei-

ner Teppichbude und einem Schlachthof zu haben. Logisch, dass ich die Teppichfabrik genommen habe. Außerdem gab es noch die Schnapsfabrik Julius Fučík, benannt nach dem größten tschechischen Kommunisten. Ich kam aus der DDR und hätte schlecht in der tschechoslowakischen Schnapsfabrik arbeiten können. Also musste ich in die Fransenbude. Dort arbeiteten sie an über drei Meter hohen Doppelteppich-JacquardWebstühlen, eine französische Technologie. Über die Webstühle liefen gelochte, aneinandergeheftete Karten und wo jeweils ein Loch war, fuhren die Nadeln durch, wo keins war, wurden sie gestoppt. So entstand das Teppichmuster. Diese Karten wurden geschlagen, auf einer Maschine, die der Linotype ähnelte, also einer Setzmaschine. Nur dass dort auf der Tastatur keine Buchstaben waren, sondern Farben. Statt eines Manuskripts hattest du das Teppichmuster vor dir. Das war sehr nah an meinem früheren Beruf als Schriftsetzerin dran. Ich war also gar nicht so unnütz in der Kartenschlägerei, hab auch ein bisschen Mongolisch gelernt. R.: Konnten Sie sich nicht auf Russisch verständigen? L.-M.: Die Mongolen hatten zwar alle Russisch in der Schule, wollten diese Sprache aber partout nicht sprechen, das war ja die Sprache der Besatzer. Die Russen haben sich da wirklich benommen wie Kolonialisten. Ich hab’ mich lieber mit den Polen angefreundet. Polen konnten ja, im Unterschied zu DDR-Bürgern, überallhin reisen. Wir haben angefangen, Schnaps zu brennen, unter Zuhilfenahme einer ausgeklügelten, selbstgebastelten Kühlschlange, die aus den Glaskörpern aneinandergeschmolzener Glühbirnen bestand – wirklich eine tolle polnische Technologie. Die Maische kam in tschechische Oberlader-Waschmaschinen, die mit einer Abzugshaube bestückt waren. Wir hatten natürlich keine guten Materialien für die Maische, nur Reis oder Weißbrot, manchmal Kartoffeln aus der Sowjetunion. Brennen ist immer eine delikate Sache; du musst aufpassen, dass du keinen Methylalkohol fabrizierst. Es gibt den berühmten Test: Du lässt den ersten Tropfen auf eine Untertasse fallen, trägst sie in einen stockdusteren Raum, zündest das Ganze an, und wenn’s mit klarer blauer Flamme verbrennt, ohne gelben Rand,


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dann ist das Zeug trinkbar. Wehe aber du nimmst einen gelben Rand wahr, dann hast du Methylalkohol. Falls du den trinkst, wird es wirklich finster. Entweder du stirbst gleich daran oder du erblindest. Irgendwie waren die Polen nicht blöd und unser Schnaps erwies sich als prima Handelsgut. – Ich sag’s Ihnen, wenn Sie aufgefordert werden, auf eine einsame Insel zu ziehen, um dort das Überleben zu üben, und Sie noch drei Leute mitnehmen dürfen, dann sorgen Sie dafür, das zwei von denen Polen sind. R.: Wie kamen denn die Polen nach Ulan Bator? L.-M.: Die Polen sollten dort ein Elektrizitätswerk errichten. Das war mit großen Schwierigkeiten verbunden, weil u. a. der Mongole als solcher den rechten Winkel nicht akzeptiert, für den muss alles rund sein. In Polen war außerdem gerade Solidarność am Gipfel der Bewegung, und darum streckten die Polen ihren Aufenthalt in der Mongolei ein wenig. Sie waren auch besser versorgt als wir, und ich hatte mich besonders mit einem dieser Polen sehr angefreundet. Wir wurden so eine Art notgemeinschaftliches Paar, von Kochen bis Beischlaf war alles dabei. Und das war auch wichtig, man brauchte jemanden, sonst wär’ man untergegangen. Eines Tages hatten wir wieder mit großem Erfolg viel Schnaps gebrannt und mit diesem wurde wie folgt umgegangen: Ein Liter 90%iger Alkohol – aus drei Eimern ungeschälten, rohen Kartoffeln gewonnen – wurde auf zwei, drei leere Flaschen verteilt, immer ungefähr die halbe Flasche mit Alkohol, dann Wasser dazu, und dann nahm man ein Stück mongolischen Weißbrots, höhlte es aus, tränkte es mit Schnaps, füllte Zucker in die Vertiefung und zündete das Ganze an. Dann ließ man die schwarz verbrannten Perlen aus Zucker und Stärke in den Alkohol tropfen, füllte mit Wasser auf und schüttelte zuletzt die Flaschen durch. R.: Was sollte das bringen? L.-M.: Tja, die Sache färbte sich bräunlich, schmeckte ein bisschen verkohlt und ein bisschen süß. Und mit fest geschlossenen Augen und halbbetäubtem Gaumen

erinnerte das Gesöff sehr entfernt an Cognac. Davon hatten wir 10 Flaschen erzeugt. Wir konnten sämtliche polnischen Kumpels kommen lassen, es reichte für alle. R.: Und dann kam die Sache mit der Zugkontrolle? L.-M.: Ja, die Polen hatten sich vorgenommen, nach Peking zu fahren. Und du musst dir nur die Landkarte angucken, wo Ulan Bator und wo Peking liegt. Peking ist nicht weit. Zu der Zeit fuhr aber ein Zug nur bis Irkutsk, dort musste man umsteigen. Bis dahin war das schon eine Reise von zehn Stunden, natürlich nur, weil der Zug an jeder Jurte und jeder Milchkanne hielt, obwohl er Express hieß. Ich jammerte rum – wir waren ja alle recht betrunken von dem selbstgebrannten Zeug: „Ich will aber auch nach Peking!“ Eine Frau, eine Ingenieurin aus Erdenet, knallte mir ihren polnischen Pass hin und meinte: „Na fahr doch! Ich habe sowieso keine Lust.“ Wir waren ungefähr im selben Alter, beide Langnasen, schwarz-weiß-Fotos … Ging sich aus. Am nächsten Tag sind eigentlich nur Staschek, mein Pole, und ich los. Wir haben uns aus den Resten des Festes erhoben und uns zum Bahnhof geschleppt. Klar wurden wir beobachtet, zwei Ausländer, die in den Zug stiegen. Und klar sind wir sofort im Zug eingeschlafen. Irgendwann, irgendwo wurden wir unsanft wachgerüttelt. Es stand eine mongolische Militärstreife vor uns und verlangte die Papiere. Ich hatte nur diesen polnischen Pass mit. Staschek ließen sie sitzen. Mich aber verluden sie in ihren Jeep und brachten mich zurück nach Ulan Bator in die DDR-Botschaft. Dort kriegte ich, zum ersten Mal seit fast einer Ewigkeit, Wiener Würstchen zu essen. War eine super Gefangenschaft in der DDR-Botschaft. Richtig klasse! Eine Woche drauf haben sie mich mit dem Postkurier zurück in die DDR geschickt – in Handschellen! R.: Etwas übertrieben? L.-M.: Na ja, was ich gemacht hatte, war nach den Gesetzen der DDR ein Gesetzesverstoß. Die glaubten mir nicht, dass ich mir nur Peking angucken und dann zurückkommen wollte. Die meinten, dass ich mich dort gleich auf der bundesrepublikanischen Botschaft


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melden wollte. Da hab ich ihnen gesagt: „Wenn ich das vorgehabt hätte, hätt’ ich doch meinen DDR-Pass mitgenommen.“ „Ach“, erwiderten die, „das hätte sich aus der Gelegenheit ergeben“. Was ja auch stimmte. Wenn ich bis Peking gekommen wäre, wer weiß, vielleicht hätte ich’s so gemacht. R.: Wie war’s dann in der DDR? L.-M.: In der DDR haben sie mich einbestellt ins Ministerium. Dort meinten sie: „Na, Sie haben aber eine schöne Scheiße gebaut. Wir ermöglichen Ihnen diesen großartigen Aufenthalt in der Mongolei …“ Ich darauf: „Warum sind Sie denn nicht selbst hingefahren, wenn’s dort so großartig ist?“ Dass der Anschlag auf meine physische Unversehrtheit misslungen ist, das verdanke ich nur meinen Überlebensinstinkten. R.: Sie haben später Einsicht in Ihre Stasi-Akten genommen, haben Sie dazu etwas gefunden? L.-M.: Klar war das ein Stasi-Ding! Die wollten mich ein Stück weit weg haben – mit dem Hintergedanken: Vielleicht bleibt sie ja dort oder verguckt sich in einen mongolischen Schafzüchter. R.: Da stand doch noch mehr in Ihren Akten … L.-M.: Ja, natürlich! Meine Mutter war damals doch ein Mitglied der Regierung. Sie hatte die ganze Nummer womöglich eingefädelt. Wir haben, nachdem ich die Biermann-Petition unterschrieben hatte, kein Wort mehr miteinander geredet. Und irgendwie hatte sie wohl auch Angst, dass ich ihrer Karriere noch mehr schaden könnte. Ich vermute mal, dass sie’s eingefädelt hat, weiß es aber nicht definitiv. Wir haben bis zu ihrem Tod nie wieder miteinander gesprochen. R.: Sie hat es aber zumindest nicht verhindert, denn wissen musste sie es ja. L.-M.: Die hat das nicht nur nicht verhindert, die war sicherlich sehr dafür! (Pause)

R.: Noch mal zurück in die Mongolei. Fast wären Sie dort gestorben. L.-M.: O ja, das war mit den DDR-Spezialisten! Zwei von uns waren vom VEB Halbmond, einem Betrieb im sächsischen Wurzen, der Teppiche aus Textilfasern produzierte, und einer war ein Elektriker aus Berlin, zuständig für die Wartung der Maschinen. Und ich war halt die Praktikantin, die eine gewisse Ahnung von Linotyps hatte. War eine harte Zeit. Wir haben uns gegenseitig die faulen Backenzähne mit der Rohrzange gezogen. Du bekamst von dieser DDR-Botschaft nicht mal Tabletten oder eine alte Zeitung. R.: Die Zahnärzte sind wohl nach Angola und nach Kuba? L.-M.: In der Mongolei gab es jedenfalls keine Zahnärzte. Deshalb war Angina Pectoris auch die Volkskrankheit Nr. 1. R.: Aber an der sind Sie nicht beinahe gestorben. L.-M.: Nein. Das war auf dem Weg zur Arbeit. Weil wir ja nicht alle im selben Haus wohnten, wurden wir jeden Morgen eingesammelt und mit einem kleinen, werkseigenen Barkas zur Teppichfabrik gebracht. Eines Morgens brauchte der Wagen dringend Benzin, dabei ereignete sich die Episode an der Tankstelle: Wir standen an einer Zapfsäule, an der Nebenzapfstelle sah ich einen Mongolen, der eine Zigarette rauchte, während er Benzin in einen Eimer laufen ließ und mit dem Tankwart plauderte. Und dabei hing ihm ganz easy diese locker gestopfte mongolische Kippe im Mundwinkel. Ich sagte zu Kurt, einem vom VEB Halbmond, nur: Leg den Zapfhahn weg, setz dich ans Steuer und lass uns abhauen, sofort. Ich muss das so gesagt haben, dass er gemerkt hat, es ist ernst. Wir waren keine 150 Meter weg, da knallte es schon hinter uns, und die Tankstelle flog in die Luft.


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Christopher Grüner Originalbeilage Nr. 27

quadrillen auf spalier werkfotos einer bricolage mit edding, bindfaden, offset- und klebefolien, karton gelocht (2016)

Jeder Ausgabe von Quart liegt eine exklusive Kunstedition bei. Christopher Grüners Medienarbeit „quadrillen auf spalier“ ist nicht nur ein beigelegtes Original, sie hinterlässt auch Spuren im Heft: Im Umblättern, Lesen und wieder Zurückblättern eröffnet sich ein medialer Raum, in ihm erscheinen blaue Quadrate, die mit Diagonalen verbunden sind. Es handelt sich, so der Künstler, um „Kondensate praktizierter künstlerischer Arbeit zu Raum, Form, Grenze – ihre Bezeichnung wechselt.“ Und weiter: „Eine Art Kuvert, mit Klebefolien verschlossen. Wo die Folienbänder einander kreuzen, entstehen die Formen des Plans. Der Plan ist ein Ausschnitt; wir sehen immer nur Ausschnitte. Er hat Anschlussmöglichkeiten zur jeweils anderen Seite. Die Bildräume sind durch Löcher verbunden. Es scheint Gesetze zu geben. Man kann die Sache drehen und

wenden. Warten auf Licht, bis es dann endlich kommt und das Blau der quadrillen leuchten lässt. Sie sollen tanzen im Quart.“

„Die Konzeption der Form liegt im Verlangen zu unterscheiden. Dieses Verlangen vorausgesetzt, können wir der Form nicht entrinnen, obwohl wir sie auf jede Weise sehen können, die uns gefällt. Das Kalkül der Bezeichnung ist eine Weise, die Form zu betrachten. Wir können das Kalkül durch die Form sehen und die Form im Kalkül – ohne Anleitung und ungehindert durch das Dazwischentreten von Gesetzen, Initialen, Theoremen oder Konsequenzen.“ George Spencer-Brown: Laws of Form – Gesetze der Form, Lübeck 1997, S. 60








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„Alle Teile des Ganzen sind irgendwo da.“ Die Schriftstellerin Andrea Winkler im Gespräch mit Monika Willi über ihre Arbeit als Film-Editorin von Barbara Albert, Michael Glawogger, Michael Haneke u. a.

Andrea Winkler: Ich habe die letzten Tage unter anderem damit verbracht, einige der Filme, die Sie geschnitten haben, noch einmal auf DVD anzusehen. Das hat mich an meine Jugend erinnert, wo ich oft an den Wochenenden viel Zeit im Kino verbracht habe. Gibt es in Ihrer Kindheit oder Jugend ein Erlebnis mit dem Kino, wo Sie rückblickend sagen, das war es, das war der Film, das hat mir die Richtung gewiesen? Monika Willi: In meiner Familie hatte niemand etwas mit Film zu tun; wir hatten nicht einmal einen Fernseher, der kam erst Mitte der 80er ins Haus. Aber einmal haben mich meine Eltern ins Kino mitgenommen, und zwar in den Film Das Lied von Bernadette, die Verfilmung eines Romans von Franz Werfel. Das war für mich Magie, sicher auch aus religiösen Gründen, ein unglaublich starkes Kinoerlebnis. Später lernte ich in der Schule einen Buben aus der Parallelklasse kennen, der mich in die Welt des Kinos eingeführt hat; wir haben – und das war das prägendste Filmerlebnis meiner pubertären Jahre – Un chien andalou, der andalusische Hund von Buñuel gesehen. Wenn ich mich daran erinnere, denke ich, mein Freund hatte eine Kopie davon zuhause, aber eigentlich kann es das nicht geben. Wir haben all das zusammen gemacht, was man zwischen fünfzehn und siebzehn so tut: schwarz-weißfotografieren, selber entwickeln, zu Georg Trakls Grab wandern usw. Und dann gab es in Innsbruck das Cinematograph, ein phantastisches Programmkino, wo ich, sooft ich es mir leisten konnte, Filme anschaute.

und fliegen. Ich glaube, Film hat mir die Möglichkeit eröffnet, andere Universen und Planeten zu betreten. Ich wusste aber nicht, in welche Richtung ich dabei gehen würde wollen, und ich hatte auch kein Wissen darüber, was Schnitt ist, was Regie, was Kostüm und was Kamera. Nach der Schule wollte ich reisen, daraus ist aber nichts geworden; irgendwie war die Idee meinem Vater doch zu arg, und so hat er zwei ihm bekannte Dokumentarfilmer gefragt, was man mit einer narrischen Tochter tun kann, die unbedingt etwas mit Film machen will. Es handelte sich dabei um Regisseure, die für das Fernsehen Prime-Time-Dokumentationsfilme gemacht haben. Ich hab dann als Allround-Assistentin in einer Produktionsfirma mitgearbeitet – am Anfang viel in Richtung Kamera, allerdings um dann festzustellen: „Kamera“ bin ich nicht, das ist nicht mein Talent, nicht mein Charakter, das bin nicht ich. A. W.: Was ist denn das Talent bzw. der Charakter für die Kamera, was für den Schnitt? M. W.: Wer Kamera macht, muss Nerven aus Stahl haben. Vor allem bei der Dokumentarfilmkamera gibt es den einen Moment, wo man die Dinge richtig machen muss – und dann gibt man das Material aus der Hand. Der Schnitt erlaubt einem, über alles zu schlafen, alles zu reflektieren, und die Dinge wieder und wieder zu tun und zu verbessern. Man kann Verschiedenes ausprobieren, unterschiedliche Erzählformen und Stilistiken.

A. W.: Dann haben alle diese Erlebnisse mitentschieden, in welche Ausbildung oder welchen Beruf es in Ihrem Leben gehen soll?

A. W.: Interessant, den Unterschied auf diese Weise zu fassen. Und wie darf ich mir Ihre Schnittarbeit konkret vorstellen? Schritt für Schritt …

M. W.: In der Oberstufe war mir klar, dass ich etwas mit Film zu tun haben möchte, aber nicht, was das sein soll und wie es gehen kann. Ich wollte immer hinaus aus dem Tal und hatte einen Tagtraum, den wohl viele Tiroler haben: schaukeln – und schaukeln über das ganze Inntal, und von da an über die Berge schauen

M. W.: Die Arbeitsprozesse sind sehr verschieden, je nachdem, ob es sich um einen Spielfilm oder einen Dokumentarfilm handelt, und je nachdem, mit wem ich arbeite. Zum Spielfilm kam ich durch einen glücklichen Umstand: Florian Flicker hat Suzie Washington gedreht und wollte, dass ihn Michael Hudecek schnei-


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det. Der hatte keine Zeit, aber die großartige Idee und den Mut, mich Florian vorzuschlagen. Das heißt, ich konnte einen Sprung machen von No-Name-Fernsehen zu Spielfilm-Schnitt ganz direkt, was sehr außergewöhnlich ist, da man üblicherweise die Phasen des „Schnittassistententums“ durchlaufen muss. Die konkrete Herangehensweise hängt sehr viel vom Projekt an sich ab; immer aber bekomme ich die Drehbücher vorher; das heißt, ich entscheide auch aufgrund von Drehbüchern. Aber das trifft freilich nicht auf Regisseure wie Michael Haneke oder Michael Glawogger oder Barbara Albert zu, wo die Zusammenarbeit für mich vorab ganz klar ist. Es ist ja zudem so, dass sich nur wenige Filme pro Jahr ausgehen, und ich will die Zeit mit gutem Material verbringen. Ganz allgemein kann ich aber sagen, dass der Austausch über den Arbeitsprozess mit den Regisseuren umso intensiver ist, je freundschaftlicher und enger das Zusammenspiel. So ungefähr schaut das Ganze aus: Ich schaue mir während des Drehs die Muster dessen, was gedreht wird, an. Häufig ist dann ein Parallelschnitt zum Dreh gewünscht; das Team will sehen, ob die getane Arbeit funktioniert. Das geht sich aber nicht immer aus. In der Regel bekomme ich das Material einen oder zwei Tage nach dem Drehtag. (Bei großen Produktionen sitzt der Editor / die Editorin mittlerweile am Set und schneidet ein paar Stunden versetzt. Das eröffnet die Möglichkeit, Vorschläge einzubringen, z. B. wo eine Großaufnahme schön wäre oder Ähnliches.) Bei uns ist es so, dass der sogenannte „Assemble“-Schnitt das ersetzt, was früher das „Musterschauen“ war. Dabei konnte das Team am Abend ausgesuchte Szenen in der Positivkopie mit angelegtem Ton im Kino sehen, zur Qualitätskontrolle, in jeglicher Hinsicht. Jetzt aber lädt man sogenannte „Quick-time-files“ hoch, und wer immer aus dem Team Zeit, Nerven und Energie hat, schaut sich nachts das Material online an. Die wirkliche Arbeit beginnt für mich nach dem Spielfilmdrehende. Ich gehe chronologisch den Film durch, wobei es dann darauf ankommt, die Takes auszumustern und zu schauen, welche Stelle von welchem Take ich verwende. So gewinne ich allmählich den Blick und das Gefühl für die Übergänge. Die Arbeit an den Dokumentarfilmen funktioniert anders, weil da der Film in viel höherem Ausmaß am Schnittplatz entsteht.

A. W.: Das heißt, der Dokumentarfilm bedeutet eine noch intensivere Art der Zusammenarbeit mit den Regisseuren? M. W.: Ja, insofern, als die Filme dramaturgisch und in den Abläufen sehr viel mehr Spielraum für den Schnitt zulassen – aber es geht mir ja ohnehin nicht darum, meine Vision des Films zu erzählen oder ihm meinen Stempel aufzudrücken. Meine Aufgabe ist es vielmehr, das Optimum dessen, was möglich ist, herauszuholen, in der Stilistik, im Spiel, in der Erzählweise. A. W.: Sitzen Sie dann gemeinsam mit den Regisseuren am Schnittplatz? M. W.: Es gibt Regisseure, die immer da sind, manche, die manchmal da sind, manche, die selten da sind. A. W.: Was davon ist Ihnen das liebste? M. W.: Die Abwechslung! Das Schöne an meinem Beruf ist, dass man die Universen, in denen man lebt, wechseln kann. Manchmal macht es Sinn, dass der Regisseur oder die Regisseurin immer da ist. Manchmal muss ich ihn oder sie aber auch einen oder zwei Tage hinausschmeißen. Wenn man so wie mit Haneke oder Albert konstruktiv nebeneinandersitzen kann und das zusammen aushält, ist es sehr gut. Ich denk mir manchmal, ich würde nur ungern den anderen Platz einnehmen. Es ist so ein Wechselspiel von Geduldig-Sein und aktivem Sich-Einbringen. Beim Dokumentarfilm gibt es viele Regisseure, die der Ansicht sind, dass es ohne Regie oder ohne Wissen darüber, was am Set passiert, am Schnittplatz nicht geht. Die große Ausnahme war Michael Glawogger, der enormes Vertrauen hatte – das war das Wunderbare an der gemeinsamen Arbeit. Er gab sich selbst die Möglichkeit abzuwarten, wie jemand anders das Material sieht. Ich habe vorab außer der Geografie eines Ortes wenig gewusst. Das Material musste und muss zur Gänze untertitelt werden, nur so kann ich sinnvoll schneiden. Den ersten Rohschnitt habe ich alleine gemacht, damit er, der ja auch sehr genau gewusst hat, was er will, sieht, was einem anderen, mir, die Bilder sagen, ohne Vorab-Wissen und Information. Es war jeweils sehr spannend, wie sich von da an die weitere Arbeit entwickelte.


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A. W.: Man spürt die Begeisterung, wenn Sie darüber sprechen. Aber bevor Sie noch weiter von Michael Glawoggers Filmen erzählen, möchte ich noch etwas anderes fragen. Ich habe die letzten Tage auch damit verbracht, die Filme, die ich vor Jahren von Haneke gesehen habe, an meinem inneren Auge vorbeiziehen zu lassen, und mich dabei daran erinnert, dass die Heftigkeit, mit der die Gewalt gezeigt oder hörbar gemacht wird, manchmal so stark ist, dass ich mich fast blockiert fühle, dem Geschehen noch mit ganzer Aufmerksamkeit zu folgen. Wie ist es, das zu schneiden; ich meine, wie empfinden Sie dabei?

M. W.: Mit Michael hat mich eine sehr intensive Freundschaft verbunden; er hatte eine sehr eigene Herangehensweise. Seit Workingman’s Death hat er beschlossen, eine einzelne Episode zu drehen, diese Episode zu schneiden, und zwar so lange, bis sie als eigener Teil funktioniert. Dann ging es darum, daraus Schlüsse zu ziehen und die nächste Episode zu drehen. Bei Workingman’s Death erzählte diese von Kohlearbeitern in der Ukraine und bei Whores’ Glory war es der Bangladesch-Teil, von dem es eine eigene 100Minuten-Fassung gibt. Das sind so eindrückliche Bilder!

M. W.: Als Editorin bin ich die erste Zuseherin, und natürlich empfinde ich, und das ist wichtig, denn ohne Empfindung könnte ich nichts beurteilen und meine Arbeit nicht gut machen. Das härteste Ausmustern war der Schamlippenschnitt von Isabelle Huppert in Die Klavierspielerin. Wenn ich tatsächlich sieben Mal mit jemandem mitgehe, der das tut, macht das eine ganze Menge mit mir. Wir Cutter schützen uns aber auch, indem wir uns auf technische Details konzentrieren, z. B. wie fließt das Blut usw. Viel schlimmer aber, als mich mit Gewalt auseinanderzusetzen, ist es, schlechte Schauspieler und uninteressante Szenen auszuhalten. Es ist auch wichtig zu sehen, dass Regisseure, wenn sie mit ihrem Material in den Schneideraum kommen, oft wahrnehmen müssen, was nicht geglückt ist. Dafür braucht es viel wechselseitige Offenheit und Ehrlichkeit. Haneke gehört zu jenen Regisseuren, die sehr genau wissen, was sie wollen, und viel Vorarbeit vor dem gemeinsamen Schneiden leisten; und doch fallen manche Entscheidungen dann in der Zusammenarbeit am Schneidetisch, wo ja deutlich wird, welche Szenen redundant sind und was alles wegfallen muss.

A. W.: Ja, mir sind sie sehr nahe gekommen beim Ansehen; ich bin da mit einem Leben konfrontiert, zu dem es kaum eine Alternative gibt – was so schwer zu akzeptieren ist: das Leiden anderer einfach mit auszuhalten.

A. W.: Mich schaudert es immer noch, wenn ich daran denke, in welcher Art und welchem Ton die Tochter des Pastors in Das Weiße Band zum Dorflehrer „Ich verstehe nicht“ sagt, als er sie im Wohnzimmer nach den Ereignissen fragt. Von solch einem „Ich verstehe nicht“ kann man ja in den verschiedensten Lebenszusammenhängen immer wieder Zeugin werden. – Aber springen wir wieder zu Glawogger: Erzählen Sie noch etwas über die Zusammenarbeit?

M. W.: Ich hab auch beim Sichten und Schneiden des Materials viel Merkwürdiges an mir beobachten können. Zum Beispiel der Schlachthof in Nigeria in Workingman’s Death: So müde konnte ich gar nicht sein, um hier von Energie nicht angesprungen zu werden; ja, ich bekam die Empfindung, dass dieser Ort unglaublich viel Energie hat, eine Energie, die einfach nicht aufhört. Hingegen habe ich mir bei den pakistanischen Schiffswrackern die Zähne ausgebissen. Ich

M. W.: Eine Frau aus einer anderen Episode hat Michael geschrieben, dass er der erste Mann war, der ihr zugehört und sie mit Respekt behandelt hat. Es gab auch Briefe von Amerikanerinnen, die die Frauen freigekauft hätten – aber was geschieht dann mit ihrem Leben wirklich? Das Ganze ist sehr komplex, und einfache Antworten gibt es nicht. Was die Arbeitsweise betrifft, hat Michael die Idee geboren, sie gemäß eines Triptychons zu entwerfen. Er war ja ein großer Hieronymus Bosch-Fan und hat sich an der Erde-Himmel-HölleEinteilung orientiert. Es bedurfte sehr viel Zeit und Gefühl, mit den Leuten so in Kontakt zu kommen, dass sie bereit waren, die Kamera so nahe am Leben teilhaben zu lassen. Das betrifft alle diese Dokumentationen. A. W.: Dafür vergisst man die Menschen dann auch nicht, wenn man ihnen zugehört hat.


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habe Michael angerufen und gesagt: Ich kann es nicht, ich schaffe es nicht, ich lass den Beruf. Ich weiß nicht, wo anfangen, wie weitertun, such dir jemand anders. In der Reflexion dessen fällt mir auf, dass man, um arbeiten zu können, an einem Bild das Große sehen muss, den Zusammenhang, und dann auch das Kleine, das Detail; das gelang lange nicht, weil ich nicht fassen konnte, was und wie die pakistanischen Arbeiter tun, wo das Große, wo das Kleine ihrer Arbeit liegt. Sie leiden und schweißen und leiden und schweißen und beten und sagen, die Welt ist ungerecht. A. W.: Dann hat sich in Ihre Arbeit hinein etwas von der ganzen Schwierigkeit der pakistanischen Arbeiter übertragen … M. W.: Ja. Schneiden ist auch eine ungeheuer physische Tätigkeit, eine wirklich intensive körperliche Arbeit. Während ich baue, habe ich das Gefühl, alle Teile des Ganzen sind da, sind irgendwie da, und ich muss sie fügen und zueinander bringen. Und eben das kann ich nicht auf eine theoretische Weise lösen oder aufschlüsseln, was mich lange Zeit ein wenig gegrämt hat. Im Gegenteil: Ich muss mir zugestehen, etwas zu tun, von dem ich zunächst nicht weiß, wie es wird, um mir dann anzuschauen, was ich getan habe. Es ist ein wichtiger Schritt, sich in dem Vertrauen zu üben, dass da schon etwas kommt, etwas entsteht. Aber es gibt auch andere Möglichkeiten, schon während des Schnitts die Realität in den Schneideraum zu holen, z. B. bei den ersten Screenings, wo mir die Zuseher alles um die Ohren hauen, was manchmal hilft, in eine nächste Arbeitsphase zu gehen. Eine Schweizer Autorin hat einmal gesagt, dass man, wenn man arbeitet, daran glauben muss, dass das eben entstehende Werk das allergrößte wäre, sonst funktioniert der Prozess nicht, und das Werk wird durch diesen Glauben besser. Bei mir ist das auch so, zumal ja die Arbeit immer da ist, immer um mich ist. Als ich Whores’ Glory geschnitten habe, hat mich mein Mann gebeten, ein paar Runden um den Häuserblock zu gehen, bevor ich zu unseren Kindern und ihm nach Hause komme, damit ich nicht diese ganze Schneideenergie mitnehme. A. W.: Ja, diese Übergänge zu gestalten, hat sich in meinem Leben auch als sinnvoll erwiesen. Ich möchte

abschließend noch eine Frage stellen, die gar nichts mit der technischen Seite Ihrer Arbeit zu tun hat: Gibt es Figuren, denen Sie sich im Prozess des Schneidens besonders nahe fühlen oder die Sie besonders begleiten, oder Szenen, oder einzelne Bilder? M. W.: Wenn ich so nachdenke: Ja. Es gibt immer jemanden, mit dem ich mich auf irgendeine Weise identifiziere bzw. mit dem oder der ich etwas stärker als mit anderen durch den Film gehe. Das kann auch fatal sein. Ich liebe zum Beispiel Brenda und Trini, die beiden Mexikanerinnen aus Whores’ Glory, und wollte die beiden unbedingt kennenlernen. Es war mit Michael ausgemacht, die beiden 2014 in Reynosa zu treffen. Bei Das weiße Band, währenddessen ich gerade mein zweites Kind abgestillt hatte, ist mir zum Beispiel die Hebamme, gespielt von Susanne Lothar, die sich da so weit aus dem Fenster hängt, sehr nahe gekommen. Eigentlich sehr schwierig, denn sie bekommt ja immer nur zu hören, wie fertig sie ist, wie ausgezehrt. Und doch geben mir alle diese Menschen Energie. Das sind sehr intensive Vorgänge, die einfach dazugehören und die ich mag.

Aktuell arbeitet Monika Willi an Untitled. Michael Glawogger brach am 3. Dezember 2013 auf, um seinen neuen Film Untitled, Der Film ohne Namen zu drehen. Er wollte „ein Bild der Welt entstehen lassen, wie es nur gemacht werden kann, wenn man keinem Thema nachgeht, keine Wertung sucht und kein Ziel verfolgt. Wenn man sich von nichts treiben lässt außer der eigenen Neugier und Intuition“. Die Reise sollte ein Jahr dauern. In 4 Monaten und 19 Tagen entstanden 4.206 Minuten Film und 38.513 Wörter Text. Am 22. April 2014 starb Michael in Monrovia / Liberia an Malaria. Die Filmeditorin Monika Willi unternimmt viele Monate nach Michaels Tod im Schneideraum eine Reise durch die Bilder, Töne und Worte, um aus diesen Fragmenten einen anderen, neuen Film entstehen zu lassen. Die Musik zu dem Film komponiert Wolfgang Mitterer.



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© Freytag-Berndt und Artaria KG, 1231 Wien, Austria

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Tornanti Landvermessung No. 4, Sequenz 8 Von Cavalese nach Borgo Valsugana Geschichten kann man auch durch geometrische Operationen auf der Landkarte generieren: In Quart folgen unterschiedliche Autoren mit unterschiedlicher Kondition unterschiedlichen Linien (s. Übersichtskarte auf den Seiten 96–97). Wir befinden uns derzeit auf einer Geraden, die von Garmisch-Partenkirchen ins Trentino führt. Hans Platzgumer fährt viele Kurven, blickt in Abgründe und fürchtet sich vor einem Wolfsrudel.

In etlichen Teilen der Welt war ich unterwegs, ich lebte, arbeitete in Ländern auf unterschiedlichen Kontinenten, so manch nah gelegene Region aber ist mir bislang verschlossen geblieben. Osttirol beispielsweise, dorthin hat es mich nie verschlagen. Alles zu seiner Zeit, denke ich. Auch das Trentino habe ich bislang nur auf Wegen in die Ferne gestreift. Nun aber beauftragt mich Quart, diesen Landstrich zu vermessen. Alles kommt eben zu seiner Zeit. Bereitwillig nehme ich das Angebot an. Ein paar Wochen später packe ich und befürchte, vielleicht den dümmsten Zeitpunkt für eine solche Reise gewählt zu haben. Ende März, nach einem milden, nahezu inexistenten Winter wurde in den letzten Wochen nun doch meterweise Schnee ins Hochgebirge geworfen, der sich dort festsetzt und mir die geplante Route erschwert – auch wenn im Tal urplötzlich der Föhnfrühling mit den Launen aller Lebewesen zu jonglieren begonnen hat. Noch mehr als der Tiefschnee bekümmert mich der Urlauberverkehr. In Deutschland sind Osterferien, das verkompliziert bekanntermaßen das Reisen und das Suchen nach stillen Wanderwegen. Doch ich habe keine Wahl, es ist jetzt oder nie, die LagoraiKette ruft, sie will, sie muss vermessen werden! Also setze ich mich ins Auto, bei 20 Grad Celsius und böigem Südwind. Zügig mache ich die Höhenmeter den Reschenpass hoch. Kühler ist es dort, und überraschend wenige PKW und LKW verstellen mir den Weg. Dem mehrfach ausgezeichneten Pizzaweltmeister in Mals jubiliere ich im Vorüberfahren zu und die allerschrecklichsten Lieder im Radio singe ich lauthals mit, so erhebt sich die Lebenslust in mir, als ich an erblühenden Obstbäumen vorbei gen Süden rausche, und nichts und niemand mich aufzuhalten scheint. Selbst die so tückische S40 durch den Vinschgau kann mir nichts anhaben. Kurz überlege ich, in der Pension Platzgummer in Dorf Tirol einen ersten Halt einzulegen. Dort könnte ich entfernte Verwandte begrüßen

und ihnen sagen, dass ich einer von ihnen bin. Lange schon habe ich mir das vorgenommen. Doch nie lasse ich es so weit kommen, auch heute nicht. Ich will ohne Verzug mein Etappenziel erreichen: Cavalese. Bis Cavalese und keinen Meter weiter ist mein Vorgänger gekommen, sein Endpunkt soll mir Anfang sein. Aufmerksam habe ich den Bericht gelesen, die Landvermessung No. 4, Sequenz 7 im letzten Quart. Ich kenne den Autor gut, Bernd Schuchter, er war mein früherer Verleger, ich weiß seine Worte zu deuten. Unüberhörbar darin die Angst, die auch mich in diesen Breitengraden überkommt, die berechtigte Panik vor Touristenhorden, denen die Bergwelt – das große Kino Tirol – komfortabel auf dem Präsentierteller serviert wird. Unaufhörlich werden sie in die Täler und auf die Gipfel und in jeden Winkel, der dazwischen noch bleibt, gekarrt. Bleibt der Schnee aus, lockt man sie mit Kunstschnee an, bis der Grundwasserpegel sinkt, alles ist recht, um an ihre Geldbeutel zu kommen. Es ist der Hauptgrund, warum ich Tirol weniger oft bereise als andere Regionen dieser Welt, weil ich hinter jeder Kurve Busparkplätze erwarte und auf jedem Hang Liftanlagen. In einem Berggasthof, wo ich seit meiner Kindheit regelmäßig einkehrte, wurde ich letztlich in die dunkle, stickige Raucherkammer geschickt, weil die Aussichtsterrasse den deutschen Gästen vorbehalten sei. Unter allen Umständen will ich versuchen, mich im Trentino derartigen Auswüchsen fernzuhalten, ich will die Kerben umgehen, die der Massentourismus allerorts ins Land schlägt. Die weißen Flecken auf der Landkarte interessieren mich – sofern es so etwas noch gibt, nicht die grün markierten Panoramastraßen, und ich weiß, dass ich hierfür auf den Zufall setzen muss, auf die Gunst der Stunde und die Intuition. Nicht umsonst reise ich stets ohne Navigationsgerät. Schließlich will ich mich nicht durchs Leben leiten lassen, sondern mir erlauben, es selbst und eigenmächtig zu


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durchschreiten. Umwege sollen mir willkommen sein, Sackgassen ohnehin, denn sie gibt es nicht. Aus keiner Sackgasse kommt man gleich heraus, wie man hineingeraten ist, und wer nie von seinem Weg abkommt, bleibt bekanntlich früher oder später auf der Strecke. Unschärfe fordere ich ein, gerade heute, wo ein jeder Fokus scharf gestellt und optimiert ist. Ich blicke zu den Bergwiesen und Abhängen hoch, die sich links und rechts von meinem Auto in die Höhe ziehen. Die Wälder, die sie beschatten, tragen keine Klarheit in sich, keine benennbare Zahl von Bäumen, keine bestimmbare Größe haben sie, ihr Ausdünnen nach oben ist bloß eine vage Baumgrenze, von grünen Feldern ausgehend reichen sie hinauf, bis die kahlen Felsklippen über ihnen immer weißer werden und das Weiß der Rücken und Gipfel des Gebirges irgendwann ins Weiß des inzwischen diesigen Tages übergeht. Ich Glückspilz, denke ich mir, ich habe tatsächlich den hintersten, den abgelegensten Zipfel des Vermessungsquadrats in Auftrag bekommen! Nicht das Inntal, Zillertal, das Karertal, nein, die Bergketten des Lagorai soll ich begutachten. Vielleicht entdecke ich dort ja doch so etwas wie eine vergessene Welt! Schon liegt Meran, liegt Bozen hinter mir. Schon habe ich Auer hinter mir gelassen, das ich wie alle kommenden Ortschaften beim italienischen Namen nennen will, Ora. Schließlich will ich ja nicht nach Gablöss, wie Cavalese aus mir unerfindlichen Gründen auf Deutsch genannt wird. Nein, ich habe das Etschtal bereits verlassen und die Maut beglichen, nun kämpfe ich mich die S48 hoch, alto, alto, Adige bleib’ unten zurück, dutzende Kurven lang schleiche ich einem Lastwagen hinterher. Dann erreiche ich das Welschtirol und kann mich nicht weiter auf meine Muttersprache verlassen. Nun bin ich – des Italienischen nicht mächtig – fremd. Fremd und allein, genau wie ich es beizeiten liebe zu sein, fast nackt, aller Schutzhüllen beraubt, hineingeworfen in das Andere. Nur in einem solch puren Zustand kann man die Welt erkennen, der man sich ausliefert. Unschuldig genug bin ich in diesem Moment, unbedarft, klein, naiv genug, um mich der Welt gegenüber zu öffnen und somit ihr zu gestatten, sich mir zu öffnen. Ich kann keinen Mitstreiter brauchen, der mir zur Seite steht. Dem Dualismus verhaftet bin ich jetzt ganz Subjekt, und von meiner Selbst ausgehend kann ich die Umgebung als Objekt begreifen. Ich sehe sie

mit den meinen, ihr fremden Augen, berühre sie mit den ihr fremden Händen, niemand lenkt mich dabei ab, niemand weist mich an, dies oder jenes zu sehen, bewahrt mich davor, dies oder jenes zu übersehen. Nur der Augenblick lehrt mich, was zu tun ist. Von einem Moment auf den anderen tauchen schräg unterhalb meiner Bergstraße die Steindächer der Ortschaft Cavalese auf. Wie ein altertümlicher Schindelhaufen sind sie in den abfallenden Hang geworfen. Ich bin beeindruckt, wie dicht aneinandergebaut sie sind. Ein paar Kurven hinein ins Städtchen stelle ich mein Auto bei der Piazza Dante ab. Die Luft ist mild und die Straßen sind nahezu ausgestorben zur Mittagszeit. Nur vier Frauen unterschiedlichen Alters stehen vor einem winzigen Gemischtwarenladen und unterhalten sich angeregt. Sie werden es auch, wenn ich Stunden später zu meinem Auto zurückkehre, noch in selber Formation und mit ungebrochener Leidenschaft tun. Bernds letzte Aufzeichnungen beschrieben einen Park in der Innenstadt, an dem er seine Vermessung beendete. Ein Park inmitten eines 4000-Seelen-Nests, das von prächtiger Natur umgeben ist! So etwas erscheint mir absonderlich. Ich zweifle an der Sinnhaftigkeit einer solchen Anlage, bald aber stoße ich auf ihn, den Parco della Pieve, und werde eines Besseren belehrt. Nicht weil die namensgebende Kirche in seiner Mitte beeindruckend wäre, sondern weil die saftigen Wiesen, die italienischen Steinkiefern und die wohl vor Jahrhunderten dazwischen angelegten Wege einen plötzlichen und unerwartet südlichen Zauber verströmen. Ich bin angekommen, bereits jetzt hat sich die Fahrt gelohnt, denke ich und setze mich auf dieselbe Bank, auf der womöglich auch mein „Vorgänger“ und vor ihm Unzählige gesessen sind. Vielleicht ist es hier wie in Berlin, sinniere ich: Das Schönste sind die Parks. Doch ein paar romantische Wegbiegungen weiter werde ich jäh aus meinen mediterranen oder urbanen Luftschlössern gerissen. Der Park stürzt steil hinab ins Fleimstal, durch das der Avisio fließt, und direkt neben einer Aussichtsplattform entdecke ich den Eingang zur eigentlichen Attraktion dieses Ortes, der Cermisbahn. Die schaukelnden Gondeln der Seilbahn führen von hier hinunter zur Talstation und auf der gegenüberliegenden Seite hinauf zur Cermis-Alpe. Unversehens befinde ich mich inmitten des alpinen Skizirkus’, wenngleich es um diese Jahreszeit nur vereinzelte Nimmersatte sind,


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die sich mit deplatziert wirkenden Skiausrüstungen zur Bergstation mühen, um die Kunstschneepiste hinunterzuwedeln, die wie hineingeklebt in die grünbraunen Ausläufer des Lagorai-Gebirges wirkt. Das wirklich Aufregende an diesem Skigebiet ist freilich nicht die Absurdität eines ebensolchen Unternehmens, wie wir es hundertfach in allen, dem Massensport unterworfenen Bergregionen beobachten müssen, sondern die Tatsache, dass diese Seilbahn schon zweimal während ihres Bestehens auf unsagbar tragische Weise vom Himmel gefallen ist. Vor genau 40 Jahren, am neunten März 1976, ereignete sich hier das bislang folgenschwerste Seilbahnunglück der Geschichte. Aufgrund starken Windes riss eines der Tragseile und versagte in Folge der Sicherungsmechanismus. Eine Gondel mit 43 Insassen stürzte 50 Meter in die Tiefe und zerschellte in ihre Einzelteile. Einzig und allein ein 14-jähriges Mailänder Mädchen überlebte den Unfall. Sie tat dies, weil ihr Aufprall von allen Seiten von den Sterbenden, die dicht um sie gedrängt gestanden hatten, abgefangen wurde. Inmitten eines Leichenbergs wurde die Jugendliche zur einzig Überlebenden – ob sich unter diesen Voraussetzungen ein Weiterleben als Fluch oder Segen erweist, das sei dahingestellt. 54 Jahre alt ist diese bemitleidenswerte Frau heute, sofern sie noch lebt. Keinen Augenblick wird sie während der vergangenen vier Jahrzehnte verbracht haben, ohne in ihrem Bewusstsein die Tragödie der Cermisbahn zu tragen. Ich stelle mir vor, mit ihr darüber zu sprechen und ein Buch über ihr Leben zu schreiben. Ihr Schicksal beweist eindrücklich, dass die Realität des Menschseins atemberaubender ist als jede Fiktion. 22 Jahre später stürzte die Cermisbahn ein zweites Mal vom Himmel, am helllichten Nachmittag des dritten Februar 1998. Diesmal kamen ausnahmslos sämtliche 20 Menschen ums Leben, die sich in ihr befanden. Als Strage del Cermis ging dieses furchtbare Ereignis in die Geschichte ein, als Blutbad von Cermis. Ein schräg fliegendes Kampfflugzeug der amerikanischen Luftwaffe hatte bei unerlaubtem Tiefflug und einer Geschwindigkeit von 800 km/h mit einem Flügel das Stahlseil durchtrennt. Das Flugzeug mit vierköpfiger Besatzung konnte unbeschadet weiterfliegen, die Gondel aber stürzte mit dem gekappten Seil zu Boden. Der Pilot wurde nach jahrelangen Verhandlungen zwar vom Dienst suspendiert, er kam jedoch mit einer nur mehr-

monatigen Haftstrafe davon, weil in den Luftkarten des US-Militärs die Drahtseile der Bahn nicht vermerkt gewesen waren. Erst Jahre später kam es zu Entschädigungszahlungen in Millionenhöhe. Das Leid der Hinterbliebenen konnten sie wohl kaum lindern. Diese Bilder im Kopf marschiere ich zurück zu meinem Auto und durchquere die für den Straßenverkehr gesperrte Innenstadt. Sogleich entführt mich die in sich ruhende Schönheit dieses Stadtkerns fort von den düsteren Ereignissen zu einer mediterranen Ausgeglichenheit. Der allmähliche Zerfall der alten Gemäuer, der den Charme solcher Orte ausmacht, er wird nicht im Erneuerungsrausch hinweggeputzt, im Gegenteil, die Vergänglichkeit wird zelebriert, sie, die allem innewohnt und von der Zeit sich nährt. Die Südeuropäer verstehen es besser als andere, sich mit der uns gegebenen Endlichkeit zurechtzufinden. Je weiter ich hinunter nach Italien gereist bin, desto deutlicher hat mich diese Gelassenheit immer fasziniert. Und auch Cavalese ist unleugbar Italien. Dennoch lasse ich, gehetztes Kind von der Alpennordseite, mich von einer Unrast ergreifen. Weiter will ich, muss ich, heute noch habe ich den über 2000 Meter hohen Manghen-Pass zu überqueren, die einzige Route, die durch das Lagorai-Gebirge hindurch gen Süden zieht. Je näher ich der engen Passstraße komme, desto spärlicher wird der Verkehr. Schließlich bin ich ganz allein. Nur mein Auto versucht, sich auf diesem steilen, kurvenreichen Weg durch die Bergketten zu schlagen. Eine Weile juble ich hinter dem Steuer, weil ich mich so am Ende der Welt und inmitten eines Abenteuers wähne. Die dunklen Forste am Fuß des Berges wirken wie im permanenten Herbst gefangen. Unendlich viele abgestorbene, abgefallene Blätter, die trotz des überstandenen Winters noch in ihren Brauntönen schimmern, säumen die Strecke. Und dann, nach mehreren Serpentinen, das rote Schild, das mich aus meinen Träumen reißt: chiuso. Ich will seiner zermürbenden Botschaft keinen Glauben schenken und fahre weiter, fahre weiter, bis schlussendlich ein herabgelassener Schranken mich der letzten Hoffnung beraubt. Natürlich ist die Passstraße geschlossen, ich hätte es mir denken können, dachte es auch, aber wollte es mir nicht eingestehen. Mir bleibt nichts übrig, als mein Vorhaben aufzugeben und umzudrehen. Hinaus aus dem Lagorai, um


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es über das lückenlos touristisch erschlossene Fleimstal zu umrunden. Hundert Kilometer misst dieser Umweg, über zwei andere, nicht minder hohe Pässe führt er mich, über den Passo Rolle, mitten durch ein Skigebiet, und den im Ersten Weltkrieg schwer umkämpften Passo Brocon. Statt zu jammern will ich keine Zeit verlieren. Schon fege ich jenseits der Geschwindigkeitsbegrenzung ostwärts dem Avisio entlang dem Rollepass entgegen. Die vom Skitourismus entseelten Städte wie Predazzo will ich so schnell wie möglich hinter mich bringen. Eine halbe Stunde später, kurz vor der letzten Ansteigung zum Rollepass, meinem neuen Etappenziel, aber nehme ich doch den Fuß vom Gaspedal. Nachdem sich die Straße an steilen Felsabhängen entlanggeschlängelt hat, bietet sich mir plötzlich ein unwirklicher Anblick. Im Frostdampf der ausgestorbenen grauen, kargen Bergwelt neben mir ist ein lang gestreckter Stausee zu Eis erstarrt, als wäre er verwunschen. Reglos liegen riesige milchig weiße Eisplatten aneinandergestapelt in einem Becken, das endlos in die Tiefe zu ragen scheint und an seinen Ufern von zerklüftetem Gestein umgeben ist, auf dem der Eisbruch allmählich in pulvrigen Schnee und nackten Fels übergeht. Eine absolute Stille liegt in alldem. Alles Leben, alle Bewegung ist verschwunden. Ich muss lange schauen und die Augen zusammenkneifen, bis ich sicher bin, dass dies die Wirklichkeit und nicht bloß eine naturgetreue Abbildung davon ist, die mir zu Füßen liegt. Am hunderte Meter entfernten schmalen Ufer des Eissees zieht sich als brutale Abgrenzung dieser Märchenwelt ein gewaltiger Staudamm von einer Talseite zur anderen. Der Beton, der hier verarbeitet ist, muss schwerer wiegen als der gesamte Berg, mutmaße ich. Im Val di Stava, unweit auf der gegenüberliegenden Talseite gelegen, kam es im Sommer 1985 bei einem vergleichbaren Staubecken zu einem verheerenden Dammbruch. Eine Flutwelle aus hunderttausenden Kubikmetern Wasser, Schlamm und Sand schoss das kleine Seitental hinab und vernichtete, was sich ihr in den Weg stellte. Mit voller Wucht traf sie den Touristenort Tesero im Fleimstal. Häuser, Hotels, Fabriken, Brücken und 268 Menschen riss sie in den Tod. Es scheint ein von Katastrophen heimgesuchter Landstrich zu sein, durch den ich mich bewege. Von Neuem nehme ich Fahrt auf.

Auf der Passhöhe des Rolle schieben sich Skifahrer auf schmutzigem Schnee an mir vorbei. Verloren wirken sie und keineswegs beglückt in ihren Aktivitäten. Kurz blicke ich ihnen nach und bin froh, sie und die Souvenirstände und Après-Ski-Lokale, die für sie errichtet sind, hinter mir zu lassen. Nach unzähligen Kurven, die mich das Primörtal hinabführen, durchfahre ich den Ort, aus dem die Wintersportler ausschwärmen, San Martino di Castrozza, eine Ansammlung von rustikalen Wellness-, Romantik- und sonst welchen Hotelbauten, die sich auf ein einziges Wort zusammenfassen lassen: widerlich. Es ist genau einer jener snobistischen Unorte, wie ich sie seit meiner Kindheit zu hassen gelernt habe. Die 180-Grad-Kurven mehren sich und auch das Tempo, mit dem ich sie meistere. Allmählich wird mir von meiner eigenen Fahrweise schlecht. Selten habe ich eine so wenig befahrene Bergstraße erlebt, die ich, ohne mit Hindernissen rechnen zu müssen, durchschneiden kann. Ich rase hinunter, als sei der Motorsport meine neue Leidenschaft, als sei mir der Teufel auf den Fersen, er, den ich doch eigentlich in San Martino zurückgelassen haben müsste. Die Schneewände links und rechts der makellos geräumten Fahrbahn werden niedriger. Bald bin ich unten in einem grünen Tal und verschnaufe kurz in der kleinsten Gemeinde Italiens, Fiera di Primiero, die mir heute nahezu weltstädtisch erscheint. Von nun an windet sich eine noch steilere, noch engere Straße hinauf zum nächsten Pass, dem Passo Brocon auf 1615 Metern Seehöhe. War ich bislang schon praktisch der einzige Fahrer, der an diesem toten Tag die hiesigen Passstraßen benutzt, so bin ich es ab nun tatsächlich. Ein gewissermaßen unheimliches Gefühl der Freiheit überkommt mich. Immer tiefer in den Berg hinein gerate ich, zur Dunkelheit kommt bald auch ein unheilvoller Nebel hinzu. Das Sträßchen ist so schmal, dass ich mich in meiner neuen Berufung als Rennfahrer zügeln muss. Ein Warnschild nach dem anderen lehrt mich das italienische Wort für Spitzkehre: Tornante. Tornanti, Tornanti, viele tausende Mal werde ich nach meiner Reise am Lenkrad gekurbelt haben. Irgendwann bin ich oben, am Ende der Welt angekommen, wo mich eine seltene Einsamkeit überfällt. Die einzigen beiden Häuser auf der Passhöhe, das Albergo Passo Brocon und Hotel Pizzo degli Uccelli, sind geschlossen und verriegelt, nur ein einziges Fahrzeug ist


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auf dem verschneiten Parkplatz abgestellt, ein rostiger Traktor, auf dessen Motorhaube in kursiven, goldenen Lettern der Schriftzug Ciao Elvis zu sehen ist. Ich vermute, dass dieses Gefährt lange Jahre schon hier steht und wohl nie mehr fortkommt aus seiner ewigen Ruhe. Schal und Winterjacke werfe ich mir über und wandere auf dem alten brüchigen Schnee, der hier, soweit das Auge reicht, aufgeworfen ist, hinein in den klammen Nebel, bis ich mich nach wenigen mühsamen Schritten zur Gänze im Weiß verliere. Knietief, ja bis zu den Oberschenkeln sinke ich ein, und als ich meine Blase erleichtere, kann ich schon einen Schritt weiter das gelbe dampfende Fleckchen, den einzigen Farbtupfer, den ich in diese weiße Welt gezaubert habe, nicht mehr erkennen, so miserabel ist die Sicht. Am Kriegerdenkmal für die im Gebirgskrieg hier gefallenen Soldaten versuche ich mich zu orientieren. Doch auch dieses ist kaum auszumachen, weil es hinter veritablen Bergen von schmutzigem Schnee zugeschüttet ist, die Räumfahrzeuge hier aufgetürmt haben. Eine verschlissene italienische Flagge hängt leblos und in sich gewunden von seiner Spitze. Halte dich bloß hier nicht zu lange auf, scheint sie mir zu verstehen zu geben. Sonst ergeht es dir wie mir. Zieh weiter nach Borgo Valsugana, dem Ziel deiner Reise, hinunter, hinüber, zwei Täler hast du noch zu durchschreiten. Lohnen möge es sich! Der Lohn meiner Umkurverei des Lagorai ist nicht auf den ersten Blick ersichtlich. Borgo Valsugana ist ein verschlafenes, wenn auch pittoreskes Nest. Der BrentaFluss schlängelt sich zwischen den eng aneinandergedrängten, alten Häusern hindurch und zieht quirlig Richtung Osten. Nur er allein scheint es hier eilig zu haben. Von seiner autonomen Umtriebigkeit erfasst, ziehe ich die nächste kleine, Tornanti-gespickte Bergstraße hinauf ins Val di Sella, wo mich der Höhepunkt meiner Reise erwartet: der kilometerlange Waldpfad Arte Natura, ein Freiluftmuseum knapp unterhalb der Waldgrenze, das mich bald in demütiges Staunen versetzen wird. Seit 1996 entstehen und vergehen hier in die Natur hinein konzipierte Kunstwerke von internationalen Künstlerinnen und Künstlern. Fast ausschließlich aus in den Dolomiten beheimateten Naturmaterialien sind sie angefertigt, aus alpinem Holz, Gräsern, aus Steinen und Blättern. Alle zwei Jahre kommt eine neue Arbeit hinzu, mittlerweile sind es 24 Objekte, die der

Witterung preisgegeben sind. Manches jahrzehntealte Werk ist bereits so in sich zerfallen, dass ich es kaum noch erkenne, andere sind von vornherein so subtil angelegt, bloß Einkerbungen auf Findlingen etwa, dass man genau hinsehen muss, um sie zu entdecken. Am beeindruckendsten sind fünf im Wald lauernde Wölfe, dürr und hungrig wirken sie, so lebensecht, dass ich kaum wage, mich ihnen zu nähern. Als ich allein und verlassen mitten in ihrem Rudel stehe, blicke ich jedem Einzelnen immer wieder in die Augen, um mich zu vergewissern, dass sie nicht doch am Leben sind. Sally Matthews hat die Lupi 2002 dort angesiedelt. Auf äußerst angenehme Weise wirkt es, als ob menschliche Eitelkeiten hier grundsätzlich zurückgesetzt werden. So meisterhaft die Kunstwerke sind, in erster Linie bezeugen sie eines: dass die Natur selbst die größte Künstlerin ist. Ihre unglaubliche Stilvielfalt, ihr bis ins kleinste Detail perfektionierter Ästhetizismus bleibt unerreicht. Die zwei Dutzend in ihr versteckten Kunstwerke schärfen bloß den Blick auf das erstaunliche natürliche Schaffen in deren Umfeld. Somit vollbringt die hier ausgestellte Kunst die größte Leistung, die von ihr zu erwarten ist: Sie lässt den Betrachter die Welt fortan mit anderen Augen sehen. Mutterseelenallein wandere ich stundenlang durch den Bergwald und komme aus dem Staunen nicht heraus. Die Blätterdecke des Mischwaldes ist zu Frühlingsbeginn noch dünn und gibt dadurch den Blick immer wieder frei auf die glitzernden Schneehänge und Steilkanten der Vizentiner Alpen. Nichts als Vogelgezwitscher, Surren von Insekten und Rauschen des Windes in den Baumkronen ist zu hören, von den Sumpfwiesen unterhalb dringt manchmal das Gequake abertausender paarungswilliger Frösche herauf, und von den Abhängen der Cima Dodici her ist hin und wieder das entfernte, dumpfe Knacken von Lawinenabgängen zu vernehmen, jetzt, da mit dem einsetzenden Tauwetter die Schneemassen an Halt verlieren. Die Arte Natura scheint an diesem Tag ausschließlich für mich geöffnet. Eine private kostenlose Führung gestattet mir der Wald. Was ich zu sehen bekomme, ich werde es in mir tragen für den Rest meiner Zeit. Ein Gedicht meines liebsten Lyrikers Werner Lutz kommt mir in den Sinn: Gerollt geschoben / geschunden gerundet / ich nehme den Kiesel / und wärme ihn in der Hand


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Fluid Existence

Nora Schöpfer stellt Linien, Krümmungen, Fraktale, kreisende und organische Formen in unterschiedlicher Materialität einander gegenüber. Sie bewegen sich scheinbar in demselben Zeitfluss und Raum.

Die Künstlerin schreibt dazu: „Mich interessieren die Leerräume zwischen gedanklichen Formationen; ich setze visuelle Elemente – fotografische, gezeichnete oder gemalte Bildfragmente – variabel zusammen. Sie sind Zeugen meiner Blicke und zugleich des Angeblicktwerdens von Wirklichkeiten, die meine Aufmerksamkeit treffen. In der Serie Fluid Existence zeige ich Arbeiten, die aus

der Beschäftigung mit Fragen über Wahrnehmung, Zeit- und Raumbegriffe sowie Vorstellungen von Wirklichkeit und Materialität hervorgehen. Mein Interesse gilt dabei besonders der Unmittelbarkeit von Erfahrung. Mittels experimenteller Verknüpfung von Fragmenten aus Erinnerung und Vorstellung arbeite ich an fiktiven Wahrnehmungsabläufen und simulierten Bewegungen.“










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Fliehe, Flieder, fliehe!

Esther Strauß, aus dem Tiroler Dada-Dorf Tarrenz stammende Autorin und Bildende Künstlerin, sprach im Auftrag von Quart mit Menschen, die in sogenannten roten Zonen wohnen, in Gebieten also, in denen auf Grund erhöhter Katastrophengefahr nicht gebaut werden dürfte. Auf diese Weise entstand ein ungewöhnliches Porträt:

Jakob wohnt in einem Dorf, das jenseits aller Namen liegt. Dort neigt sich sein Haus frei abfallenden Wiesen zu. Früher hat Jakob als Maurer gearbeitet. Heute lebt er in der Stille, die ihm seine verstorbene Frau hinterlassen hat. Weil Jakob jeden seiner Schritte hören kann, hat er begonnen, sie zu zählen. Wenn Jakob vom Erwachen spricht, stellt er jedem Satz eine Pause voran, legt den Kopf schief und schaut nach oben. „Wenn ich wach werde, dann liege ich unter Steinen“, sagt er schließlich. Jakob ist ein Verschütteter. Er erzählt von einer Last, die er jeden Morgen spürt, die ihn aufweckt, die auf seine Brust drückt, deren Gewicht seinen Mut über Nacht erstarren lässt. Um gegen diese Last aufzustehen, um aus seinem Bett herauszukommen, stellt Jakob sich seine Last als Steine vor, die er vielleicht mit den Händen fassen und von seinem Körper schieben kann. Zählt Jakob seine Steine? Der größte seiner Steine muss etwa 40 Zentimeter lang sein, vom Bach geschliffen, kalt. Es ist der Stein, gegen den Jakob jeden Morgen Atem holt, der die Brust über seinem alten Herz zusammendrückt. Es muss aber auch grobe Kiesel geben, die ihm in der Wärme des Schlafs die Zehen krümmen, die seine Arme und Beine in eigenartige Winkel spreizen, die als Geschiebe seine Glieder verdrehen. Manchmal untersucht Jakob seinen Körper nach dem Aufwachen auf Druckstellen, sucht nach Blut, das unter der Haut als Überschwemmung aus geplatzten Adern tritt. In Jakobs Dorf sind es gleich mehrere Häuser, die in der roten Zone stehen. Keines von ihnen ist bisher von einer Mure ergriffen worden, keines wurde geflutet, zerrissen, vom Geschiebe gepackt. Aber es gibt sie im Tal, die Beweise einer anderen Zeit, die die Geologie die stummen Zeugen nennt. Sie sind die Narben einer einst verwüsteten Landschaft, sie sind das letzte Zeichen, das eine Naturkatastrophe im Gelände hinterlässt. Anschlagmarken etwa, mit denen ein Hochwasser Bäume versieht, oder auch Schuttwülste, die am Rande eines Murganges hochsteigen, Levées genannt.

Wer in der Chronik sucht, wird auch die Verletzungen des alten Dorfes aufgezeichnet finden; Fotos von gespaltenen Fassaden in Schwarzweiß, von längst verschwundenen Häusern, denen Fels und Schwemmholz bis unter die Giebel gefahren sind. Was fehlt sind Bilder der Menschen, die die Mure damals fortgerissen hat. Als wäre es zu erschreckend, an ihren Körpern die Spuren jener Kraft zu zeigen, die bei jedem echten Überfall gewaltsam in eine Ordnung tritt. „Die, von denen der Körper verschüttet wird, sterben als Menschen“, sagt Jakob, „die, von denen die Seele verschüttet wird, leben als Geister.“ Er schaut sich Fotos von zermalmten Häusern an, legt die Finger auf Löcher, Risse und Lücken, die zurückbleiben, wenn ganze Teile eines Gebäudes abgerissen sind. Beneidet Jakob die Häuser um ihre offenen Wunden? Es habe nie jemand bemerkt, dass er verschüttet worden sei; so habe sich nie jemand aufmachen können, um ihn zu finden. Und ja! Er fühle sich wie ein Geist, sagt Jakob, und habe sich auch damit abgefunden, einer zu sein. Wenn der Geist Jakob einem Menschen die Hand gibt, dann hält er sie einen Moment länger als üblich fest, dann versucht er dem Menschen in die Augen und auf ihren Grund zu schauen, will erkennen, ob seine Hand die Hand eines anderen Verschütteten hält. Während Jakob die Verschütteten der Gegenwart aufspürt, kümmert sich das BMLFUW (Bundesministerium für Land- und Forstwirtschaft, Umwelt und Wasserwirtschaft) um die Verschütteten der Zukunft. Das Ministerium versucht vorherzusehen, wann und wie eine Landschaft in Aufruhr gerät, um ihre Kräfte umzuleiten oder zu zähmen. Seine Mitarbeiter berechnen und schätzen die Wahrscheinlichkeit und Form eines zukünftigen Unglücks; sie bewerten das Ausmaß von Katastrophen, die noch nicht geschehen sind, um sie vielleicht zu verhindern. Auch wenn ihre Analyse nur eine Annäherung an eine mögliche Zukunft ist, muss sie doch in einen Plan ge-


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fasst werden, der den Grad der Gefährdung eines Gebiets parzellenscharf darstellt. Da wird Tirol in neue Landesfarben gelegt, da werden über alle Grundstücksgrenzen hinweg rote und gelbe Zonen erdacht und von blauen, braunen und violetten Arealen flankiert. Rote und gelbe Flächen sieht das Ministerium im Falle einer Katastrophe akut bedroht. In der roten Zone gilt Neubauverbot, während das Bauen in der gelben Zone eingeschränkt und bei Erfüllung aller Auflagen genehmigt ist. Die braun markierten Bereiche weisen auf Gefahr durch andere Naturereignisse hin; das können Rutschungen oder Steinschläge sein, für die es in vielen Gemeinden keinen eigenen Gefahrenzonenplan gibt. Die blauen und violetten Bereiche sind nicht der Katastrophe, sondern ihrer Prävention gewidmet. Blaue Flächen sind für etwaige Schutzbauten gedacht, violette Flächen stellen einen natürlichen Schutz bereit, der vor Veränderung bewahrt werden soll. Gibt es einen solchen Plan auch für Jakob? Wurde Jakob kartographiert? Wenn der Gefahrenzonenplan die Summe aller möglichen Ereignisse und damit die Summe aller möglichen Gefährdungen darstellt, dann muss es im BMLFUW, das sich auch Ministerium für ein lebenswertes Österreich nennt, in der Stabsstelle für unberechenbare Gefahr eine geheime Kammer geben, in der die Abteilung XVII / 4 für Zukunft und Melancholie tätig ist. Dort liegt auf einem hinterleuchteten Zeichentisch der lebendige Jakob bereit, über den sich Fachkundige aller Art beugen, um sein Unglück zu studieren. Sie werten Jakobs Sorgenfalten auf vergangene Verletzungen hin aus, vermessen und wiegen die Trümmer auf Jakobs Brust. Wird es dem Ministerium gelingen, das Extrapolieren auf die Tiroler Seele hin? Nach eingehender Prüfung der Ergebnisse durch eine vierköpfige Kommission, bestehend aus Experten und Vertretern von Bund und Land, tritt schließlich eine Beamtin auf, die in Gutachten spricht: „Meine Empfehlung, Herr Jakob, lautet: sich in Ihrer Heimat so und so und so und speziell in dieser Art und Weise hier und da und dort nicht länger aufzuhalten.“ Denn wie hätte es auch aussehen sollen, das Bollwerk, das Jakobs Leib und Leben vor unsichtbaren Steinen schützt? An manchen Tagen hat Jakobs Panik einen punktförmigen Anriss und läuft als Delta der Talsohle zu.

„I kånn / I kånn / I kånn nimma aa aaa aaaaaaa aaaaaaaaaa aaaaaaaaaaaaaa aaaaaaaaaaaaaaaaaa aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa Später, wenn sich kein heimlicher Schrei mehr im Inneren von Jakob bricht, kriecht eine Lähmung in ihm voran, die alles, was sich regt, zum Stillstand bringt. „Ich bin mir manchmal sicher, schon fast vollständig verschwunden zu sein“, sagt Jakob; so als wäre das, was Jakob ist, auf einer kleinen Lichtung zusammengedrängt, als wäre er aus dem Alltag, den sein Körper aus Gewohnheit aufrechterhält, vertrieben. Dann sehnt Jakob den raschen Absturz herbei, wünscht sich den Steinschlag, den Bergsturz, den Alpenkollaps. Dieser Mann im Steilhang – kann das tatsächlich Jakob sein? Ein Mann, der bebt, der schreit, der etwas mit sich reißen muss. Der sich wie ein Gewitter in die Steine drängt, sie über die Kante schlägt, ihnen Geschwindigkeit gibt, sie ins Tal springen lässt. Ein Mann, der jetzt auf Schaden hofft, der nicht nur schwer, sondern vernichtend ist, den erst kurz vorm Einschlag sei-


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ne letzte Zuversicht triff, der zuckt, der flüstert und der Mure nachrennt: „Fliehe, Flieder, fliehe!“ Gelegentlich aber gelingt es Jakob, schneller als seine Lähmung zu sein. Dann springt er noch halb im Schlaf wie ein Wahnsinniger aus seinem Bett heraus, läuft in den Wald und seiner Last davon. Dort flieht er weiter, der Steigung entlang, bis ihm das Ende des Berges die Rast aufzwingt. Dann sitzt Jakob da, wo der Grat den Himmel trifft, will ein Lebenszeichen senden, ohne zu wissen, an wen. Gibt es denn im Ministerium einen, der für Verschüttete zuständig ist? Für die Stille, die sich einstellt, in einer Blase aus Luft, die ihre Zeit bemisst? Ist da ein Mensch, der diese letzten Züge aufnimmt, archiviert und schließlich vergisst? Im Ministerium modelliert man die Wirklichkeit, übersetzt in Zahlen, was nicht in Zahlen zu übersetzen ist. Man skizziert die Berge, fängt den Niederschlag in Datenreihen ein, reist in der Zeit voran und zurück. Die roten Zonen blühen dem jeweiligen Modell hinterher, breiten sich aus oder schrumpfen sich klein. In Österreich zieht man zu ihrer Errechnung eine Katastrophe von einem Ausmaß heran, wie sie im Schnitt nur alle 150 Jahre in die roten Zonen einfällt. Die Wahrscheinlichkeit für dieses Unglück nach Maß liegt jedes Jahr aufs Neue bei 0,67 %, wobei die 6 als periodische Lawine gegen unendlich rennt. Was tut man also angesichts einer Katastrophe, die nicht wahrscheinlich, aber möglich ist? Was tun, mit diesem unseligen Unglück, das jeder fürchtet, aber keiner garantieren kann?

Manchmal geht Jakob am Hangrutsch spazieren, bleibt stehen und sieht sich die Abbruchkanten an. Was führt diesen einen Moment herbei, in dem eine Bewegung in ihren Anfang springt, eine Landschaft in ihre Teile zerbricht? Jakob stellt sich den Regen vor; den Schauer, den Sturzbach, die Flut. Wasser, das aus dem Himmel schießt und die mageren Wiesen tränkt, das anschwillt, lockert und zieht, bis das Gefüge aufgibt und das Rutschen beginnt. Ja, ein Stoß noch! Dann nimmt er Reißaus, der Berg! Dann stürzt er hinab bis ins Tal.

Eine Katastrophe, die auf Jakobs Heim hereinbricht, vernichtet nichts, was für den Geist Jakob wichtig ist. So stellt er seinen Besitz der Mure als Opfer bereit. Jakob, bist du dem Unglück geweiht? Jakobs Leben, als Rechnung erkannt: 1 einsame Katze 2 Obstbäume ohne Frucht 1 Tagebuch (Mama) die Kleider von Hannah plus minus 1 nie geborenes Kind

Regnet es, Jakob, in deinem Geistergesicht?

Und Jakob? Jakob stellt seinem Leben eine Regel voran und zählt, was man als Mensch zählen kann. So führt ihn + 1 auf einer Geraden entlang und durch sein Haus; so zählt sich Jakob aus sich selbst heraus. Jakob. Jaaaaaaaaaakob!

Aber er kommt nicht, der Regen, er weigert sich. Und Jakobs Steine bleiben, bestehen ohne Mitleid auf ihrem Gewicht, sind ihm die Last, die er weder tragen noch erschüttern kann. Also sitzt er am Waldrand und übt das Weinen, damit es seinen dumpfen, schweren Missmut küsst. An einen Baum gelehnt sehnt er sich eine Knospe herbei, die im Hals aufquillt, die in den Augen brennt, die sich dick und satt ins Leben drängt, bis sie so voll ist, dass sie sich lösen muss, , , , , , , , , , , , , , , , , , , ,

Nein, Jakob, Geister weinen nicht! Das sagt der ministeriale Gespensterbericht.

Also rührt sich Jakob den Mörtel an, um zu sehen, was er aus seinem Unglück mauern kann. Er gräbt Steine aus den Wiesen aus, setzt einen Grundriss und für die Fenster ein Licht. Jakob, du alter, verschütteter Mann, bist du einer, der trotz allem leben kann?           Jakob.           Jakob!           Jakob, du bist mehr,      als die Summe deiner Steine.


Satzspie

von Milo *

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Satzspiegel *

von Milo Rau *

— Nutzfläche auf der Seite eines Buches, einer Zeitschrift oder anderen Druckwerken; ein bedruckten Flächen zugrundeliegendes schematisches Ordnungssystem, das den Grundriss von Schrift, Bild und Fläche definiert. — Aufforderung, Sätze zu formulieren, die für die eigene Arbeit stehen und deren Grundgerüst bilden; das eigene Schaffen zu spiegeln und dabei die tagtäglich gebrauchten professionellen Ausdrucksmittel möglichst außer Acht zu lassen.

Rolf Bossart: Eine Eigenheit deiner Projekte ist es, dass vom Endprodukt aus gesehen nicht auf den Anfang geschlossen werden kann. Aber es scheint, dass trotzdem ein großer Teil der Wirkung deiner Kunst im rätselhaften „ES“ dieses Anfangs steckt. Wie verläuft deine Suche nach Ordnung? Milo Rau: Ich verfolge meine Ziele mit einer bizarren Beharrlichkeit, die aber grundiert ist von einer totalen Offenheit. Dabei schwanke ich zwischen diktatorischer Pedanterie und einer substanziellen Infragestellung dessen, was ich gerade tue. Das gerade Anstehende, das Aktuelle ist mir immer das Fragwürdigste. Wenn ich Euripides inszenieren soll, dann scheint mir auf einmal Shakespeare interessanter. Wenn ich auf Recherche nach Kurdistan reise, denke ich innerlich an Nordkorea. Das ist der Grund, warum ich für Theater und Film arbeite: Auszuhalten ist das nur, wenn mir die Ursprungserzählung, die Motivation einer Sache rückgespiegelt wird von den Menschen um mich herum. R. B.: Könnte man sagen, Disziplin ist in deinen Stücken letztlich weniger als Spur der angewandten Disziplinierungs-Methoden erkennbar, sondern viel eher als ein Effekt von anderen Praktiken? M. R.: Die Frage eines Regisseurs lautet immer: Wie kann man Disziplin, Motivation, Kreativität auslagern? Es gibt ja diesen romantischen Mythos vom kollektiven Arbeiten. Genauer betrachtet, zeigt sich meistens doch nur – metaphorisch gesprochen –, dass Otto Muehl alle anderen terrorisiert hat. Gleichzeitig gilt die alte Mao-Weisheit: Das Kollektiv überprüft uns, nicht wir das Kollektiv. Ich würde ja wahnsinnig werden, wenn ich allein wäre mit meinen Gedanken. Deshalb arbeite ich am liebsten mit Schauspielern, die eigentlich Intellektuelle sind, Künstler, Spezialisten von irgendwas, Leute, die im Rahmen des Projekts mehr Bescheid wissen als ich. R. B.: Du arbeitest mit professionellen Schauspielern und mit Laien. Wo siehst du die Unterschiede und welche Schlüsse für die Arbeitsweise ergeben sich daraus? M. R.: Es gibt, wie Ingmar Bergman in seiner Autobiographie schreibt, zwei Arten zu inszenieren: Du fixierst gleich zu Beginn der Proben alles – und dann beginnst du zu improvisieren. Oder du machst es umgekehrt, also du improvisierst und kurz vor der Premiere zurrst du alles fest. Aber Bergman spricht von Schauspielern, die gelernt haben zu improvisieren, die mit Raum und

Licht umgehen können und kein Problem damit haben, wenn du erst am Tag vor der Premiere mit der finalen Textfassung ankommst. Ich habe mit einigen der besten Schauspieler gearbeitet, aber zugleich eben auch mit Kindern oder Laien. Das hat bei mir über die Jahre eine Arbeitsweise entwickelt, die eine ständige Überforderung ist: Ich verlange von meinen Spielern, dass sie als sie selbst aber auch als Profi auf der Bühne sind, also ihr gesamtes Wissen zum Einsatz bringen – auch das, was sie nicht können (oder wollen). Schauspieler, die gern mit Gestik und Bewegung arbeiten, setze ich auf einen Stuhl – und plötzlich entdecken sie die innere, zermürbende Wildheit der kreisenden Gedanken, der wir Laien ja hilflos ausgeliefert sind. Von Kindern, die das erste Mal auf der Bühne stehen, fordere ich komplexe Monologe, Emotionen, Küsse, also alles Dinge, die Kindern erstmal unmöglich und unangenehm sind. Von linken Intellektuellen verlange ich, sich ihre politischen Feinde auf offener Bühne vorzunehmen. Und dann geht es los mit der Inszenierung – also damit, diesen Vorgang der Verweigerung und des Durchziehens, diesen strahlenden Untergang gleichzeitig zu verdecken und zu thematisieren. R. B.: Vor allem bei deinen Erzählstücken wie „The Civil Wars“, „The Dark Ages“ oder „Mitleid. Die Geschichte des Maschinengewehrs“ macht man immer wieder diese Beobachtung, dass eine Wunde gewissermaßen ständig versteckt und zugleich gezeigt wird – als wäre dies das eigentliche Thema. Woher kommt diese intensive Spannung von Zurückhaltung und Enthusiasmus, von Disziplin und Pathos? M. R.: Ich hatte im Rahmen der Pariser Gastspiele von „The Dark Ages“ ein langes Gespräch mit französischen Intellektuellen zum Thema der allegorischen Dichtung. Ich bin ein Fan von Baudelaire, diesem großen Allegoriker und ersten Dichter der Moderne, der das kleinbürgerliche romantische Gefühlsdurcheinander in Rhetorik, Stil, Haltung ertränkte – in einer Art existenziellen Contenance, einer Überwindung der Welt der Wehleidigkeit und des Schweißes, wie man sie auch aus der Performance-Kunst der letzten 50 Jahre kennt. Der Künstler beschreibt eine Straße, eine Leiche, ein Konzept und spricht dabei, ohne es mit einem Wort zu erwähnen, von sich selbst. Das ist für mich Theater: Der Mensch findet sich in einem artifiziellen Zusammenhang, der ihm so fremd wie nur irgendwie möglich ist.


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Besetzung

Marc Beckmann, Abancay Berlin: Fotograf. Arbeitet an Langzeitprojekten mit dem Fokus Geschichte und Identität. Das Projekt „Die Jahrestage“ (2004–2015) ist eine Auseinandersetzung mit der Erinnerung an historische Ereignisse. Ausstellungen im In- und Ausland: CO / Berlin, Stadtmuseum München, Rencontres d’Arles u. a. Mitglied bei der Fotoagentur Ostkreuz. Mirko Bonné, Tegernsee Hamburg: Schriftsteller und Übersetzer. Zuletzt erschienen: „Nie mehr Nacht“ (Roman, 2013), „Feuerland“ (Erzählungen, 2015), Neuübersetzung von Robert Louis Stevenson: „Der merkwürdige Fall von Dr. Jekyll und Mr. Hyde“ (Novelle, 2015). Marie Luise Kaschnitz-Preis 2010, RainerMalkowski-Preis 2014. Zürich: Publizist und Dozent. Studium Rolf Bossart, St. Gallen der Theologie und Geschichtswissenschaft, anschließend Promotion über die theologische Lesbarkeit der Literatur im 20. Jahrhundert. Als Redakteur bei der Webplattform theoriekritik.ch und als Autor bei zahlreichen Zeitungen und Zeitschriften sowie als Dozent für Psychologie, Philosophie und Religionswissenschaft an der Zürcher Hochschule der Künste tätig. Mark Dion, New Bedford / Massachusetts New York: Bildender Künstler. Seine Arbeiten sind in zahlreichen Sammlungen vertreten wie im Metropolitan Museum of Art / New York, in der Tate Gallery / London, im Museum of Contemporary Art / Los Angeles, im Museum of Modern Art / New York, im Centre Georges Pompidou / Paris, im Museum van Hedendaagse Kunst / Antwerpen und im Israel Museum of Art / Jerusalem. Mark Dion nahm an der documenta 13 (2012) und an der Biennale in Sydney (2008) teil. Zuletzt wurden seine Arbeiten in Einzelausstellungen im Marta Herford (2015/2016), in der Hochschule für Bildende Künste, Dresden (2014), im Museum Het Domein, Sittard (2013) und im Oceanographic Museum of Monaco (2011) gezeigt. Christopher Grüner, Innsbruck Innsbruck: Bildender Künstler. Ab 1979 Stahlbautechniker (Schweiz, Irak, Iran, Algerien, UDSSR), Beginn der Auseinandersetzung mit radikalem Konstruktivismus und Systemtheorie. Ab 1984 Studium der Publizistik und Kommunikationswissenschaften an der Universität Wien und Gasthörer an der Universität für Angewandte Kunst (Oswald Oberhuber, Hermann Czech). 1989 Rückkehr nach Innsbruck. Mitglied der Tiroler Künstlerschaft, der IG Bildende Kunst, Gründungsmitglied der Plattform Kunst-Öffentlichkeit. 2000 kunstpreis der stadt innsbruck. 2012 Auszeichnung des Landes Tirol für Neues Bauen mit LAAC Architekten und Stiefel Kramer Architecture für die Neugestaltung des Eduard-Wallnöfer-Platzes in Innsbruck – www.christopher-gruener.eu Monika Helfer, Au / Bregenzerwald Hohenems: Schriftstellerin. Sie hat zahlreiche Romane, Erzählungen und Kinderbücher veröffentlicht, zuletzt: „Bevor ich schlafen kann“ (2010), „Oskar und Lilli“ (2011) und „Die Bar im Freien“ (2012). 2010 veröffentlichte sie gemeinsam mit Michael Köhlmeier das Kinderbuch „Rosie und der Urgroßvater“. Für ihre Arbeiten wurde sie unter anderem 2011 mit dem Österreichischen Kinder- und Jugendbuchpreis, 2012 mit dem Johann-Beer-Literatur-Preis und 2016 mit dem Österreichischen Ehrenkreuz für Wissenschaft und Kunst 1. Klasse ausgezeichnet. München: War Michael Krüger, Wittgendorf / Sachsen-Anhalt 27 Jahre lang Chef des Hanser Verlags und hat dort internationale Bestsellerautoren und Nobelpreisträger verlegt, darunter Umberto 130 / 131

Eco, T. C. Boyle, Orhan Pamuk, Susan Sontag oder Milan Kundera. Weiters war er als Herausgeber u. a. der „Akzente“ sowie der „Edition Akzente“ tätig. Er ist Mitglied verschiedener Akademien, seit drei Jahren Präsident der Bayerischen Akademie der Schönen Künste und Autor mehrerer Gedichtbände, Geschichten, Novellen, Romane und Übersetzungen. Für sein schriftstellerisches Werk erhielt er zahlreiche Auszeichnungen, u. a. den Mörike-Preis (2006) und den Joseph-Breitbach-Preis (2010). Zuletzt erschienen bei Haymon sein Erzählband „Der Gott hinter dem Fenster“ (2015) sowie der Roman „Himmelfarb“ in einer Neuausgabe, versehen mit einem aktuellen Nachwort des Autors. Demnächst erscheint ebendort sein neuer Roman „Das Irrenhaus“. Wien: Kunsthistorikerin, Kuratorin und Fiona Liewehr, Wien Autorin. Studierte Kunstgeschichte an den Universitäten Wien, Salzburg und Hamburg und Wirtschaft an der WU Wien. Leitung der Abteilung Kunstvermittlung und wissenschaftliche Programme sowie Assistenzkuratorin an der Österreichischen Galerie Belvedere (1996–2000), Marketingleitung am MUMOK, Museum Moderner Kunst Stiftung Ludwig Wien (2000–2005). Derzeit Direktorin Georg Kargl Fine Arts und BOX. Zahlreiche Ausstellungen und Publikationen zu moderner und zeitgenössischer Kunst, wie beispielsweise This is happening I & II, Cinematic Scope, [scene missing], FEEDBACKSTAGE, Fine Line, Richard Artschwager, Andreas Fogarasi, Carol Bove, Jan Mancuska, Bernhard Leitner, David Maljkovic. Mitbegründerin von dreizehnterjanuar (freie Theaterproduktionen) und CINERAMA (Verein zur Förderung der Wiener Kinokulturgeschichte). Hans Platzgumer, Innsbruck Lochau bei Bregenz: Schriftsteller, Musiker. Hat in vielen Teilen der Welt gelebt und eine Vielfalt an Veröffentlichungen produziert, darunter sieben Bücher, 70 Theatermusiken, Alben, Opern. Jüngst erschien sein Bergroman „Am Rand“ bei Zsolnay – www.platzgumer.net Johannes Porsch, Innsbruck Wien: Bildender Künstler, Kurator und Autor. Texte, Ausstellungen und Publikationen zu Repräsentationspolitiken und daraus folgenden Subjektivierungsprozessen (Performativität), u. a.: For Pammy, Jack Tilton Gallery Los Angeles (2000), Interiority/it’s on, Jan van Eyck Academie Maastricht (2003), A/Blick B, Salzburger Kunstverein (2005), Moments, ZKM Karlsruhe (2011); Mobile Springerin Library, Kunsthaus Bregenz Arena (2012); Project Proposal (The Work Is How to Become an Artist), Counterproduction, Generali Foundation (2012); Parmi les Noirs / Unter den Schwarzen, Galerie der Stadt Schwaz (2012); Unruhe der Form, Secession Wien (2013); Project Proposal #7, Capital of Desires, 14. Biennale di Venezia, Architettura, Venedig (2014); Project Proposal #13, Destination Wien, Kunsthalle Wien (2015); Project Proposal #15, The School of Kyiv, Kiew, Badischer Kunstverein, Karlsruhe, GfzK, Leipzig, Sandleitenhof, Wien (2015/2016); Construction molusculaire mit Tanja Widmann, Nous Moules, Wien (2015); What acts upon us when we are acting, Olafur Eliasson The Green Light, TBA 21, Wien (2016). Milo Rau, Bern Zürich: Regisseur und Autor. Studierte Soziologie, Germanistik und Romanistik in Paris, Zürich und Berlin (u. a. bei Tzvetan Todorov und Pierre Bourdieu). 1997 unternahm er erste Reportagereisen (Chiapas, Kuba) und war ab 2000 als Autor für die Neue Zürcher Zeitung tätig. Seit 2003 arbeitet Milo Rau als Regisseur und Autor im In- und Ausland. 2007 gründete er für die Produktion und Auswertung seiner künstlerischen Arbeiten die Theater- und Filmproduktionsgesellschaft IIPM – International Institute of Political Murder. Seine Theaterinszenierungen und


Filme (u. a. „Die letzten Tage der Ceausescus“, „Breiviks Erklärung“, „Die Moskauer Prozesse“, „The Civil Wars“, „Das Kongo Tribunal“) tourten durch bisher über 30 Länder, wurden zu den wichtigsten nationalen und internationalen Festivals eingeladen und mit vielen Preisen ausgezeichnet. Neben seiner Arbeit für Bühne und Film ist Milo Rau als Dozent für Regie, Kulturtheorie und soziale Plastik an Universitäten und Kunsthochschulen tätig. Robert Renk, Innsbruck vermittler.

Innsbruck: Buchhändler & Kultur-

Nora Schöpfer, Innsbruck Innsbruck: Bildende Künstlerin. Studium an der Universität für Angewandte Kunst, Wien. Zahlreiche Ausstellungen im In- und Ausland, Preise und Stipendien. Jüngste Einzelausstellungen (Auswahl): art depot Innsbruck (2015); Neue Galerie, Innsbruck (2015); Giardino di Daniel Spoerri, Seggiano / Italien (2014); Meca, Almeria / Spanien (2014) – www.noraschoepfer.com

Esther Strauß, Tarrenz Wien, Innsbruck: Bildende Künstlerin, Autorin. Performt, schreibt, kuratiert, ist dem leichtherzigen Experiment auf der Spur. Als Künstlerin verbindet sie Text und Performance, verlegt ihr Atelier in den Wald, nutzt die Galerie als Möglichkeitsraum, erzählt mit Mut zur Lücke. 2005–2011 Studium der Malerei und Kulturwissenschaften bei Ursula Hübner an der Kunstuniversität Linz. Viele Preise, Ausstellungen und Lesungen u. a. WEYA – World Event Young Artists (Nottingham), DISORDER (Milano), Hans im Glück (Kunstraum NOE). Seit 2015 Lehre an der Kunstuni Linz. www.estherstrauss.info Wien: SchriftstelleAndrea Winkler, Freistadt / Oberösterreich rin. Studium der Germanistik und Theaterwissenschaft. Bisher sind von ihr erschienen: „Arme Närrchen“. Selbstgespräche (Droschl 2006), „Hanna und ich“ (Droschl 2008), „Drei, vier Töne, nicht mehr.“ Elf Rufe (Zsolnay 2010), „König, Hofnarr und Volk“. Einbildungsroman (Zsolnay 2013), „Ich weiß, wo ich bin“. Betrachtungen zur Literatur (Klever 2013).

Quart Heft für Kultur Tirol

Kulturzeitschrift des Landes Tirol Herausgeber: Markus Hatzer, Andreas Schett Chefredaktion: Heidi Hackl, Andreas Schett Anschrift der Redaktion: Circus, Kochstraße 10, 6020 Innsbruck (A), office@circus.at Anschrift des Verlags: Haymon Verlag, Erlerstraße 10, 6020 Innsbruck (A) T 0043 (0)512 576300, order@haymonverlag.at, www.haymonverlag.at Geschäftsführer / Verleger: Markus Hatzer Aboservice: T 0043 (0)512 576300, aboservice@haymonverlag.at Bezugsbedingungen: Quart Heft für Kultur Tirol erscheint zweimal jährlich. Jahresabonnement: € 22,– (SFr 26,15) · Einzelheft: € 16,– (SFr 19,05) · Preise inkl. MwSt., zzgl. Versand Die Bezugspreise unterliegen der Preisbindung. Abonnement-Abbestellungen müssen spätestens 3 Monate vor Ende des Kalenderjahres schriftlich erfolgen. Mitarbeiter dieser Ausgabe: Marc Beckmann, Matthias Bildstein, Mirko Bonné, Rolf Bossart, Mark Dion, Christopher Grüner, Susanne Grüner, Monika Helfer, Michael Krüger, Fiona Liewehr, Reinhard Mayr, Hans Platzgumer, Johannes Porsch, Milo Rau, Robert Renk, Nora Schöpfer, Esther Strauß, Andrea Winkler Kuratoren: Ruedi Baur, Othmar Costa, Karin Dalla Torre, Eduard Demetz, Georg Diez, William Engelen, Martin Gostner, Helmut Groschup, Franz Hackl, Hans Heiss, Stefanie Holzer, Sebastian Huber, Gabriele Kaiser, Otto Kapfinger, Walter Klier, Martin Kofler, Gustav Kuhn, Christoph Mayr-Fingerle, Milena Meller, Walter Methlagl, Wolfgang Mitterer, Walter Niedermayr, Thomas Nußbaumer, Dominique Perrault, Wolfgang Pöschl, Helmut Reinalter, Robert Renk, Arno Ritter, Benedikt Sauer, Benno Simma, Gerhard Steixner, Vitus H. Weh, Lois Weinberger, Maria Welzig u. a. Linke Seiten: Johannes Porsch Visuell-editorisches Basiskonzept: Walter Pamminger Farbkonzept: Peter Sandbichler Grafische Realisation: Circus, Büro für Kommunikation und Gestaltung, Innsbruck / Wien, www.circus.at Druck: Lanarepro, Lana, Italien Papier: Luxo Samt 135 g/m2 Schriften: Sabon LT Std, Gill Sans Std, Neutral BP Mark Dion, „The Phantasmal Cabinet (2016)“ courtesy Georg Kargl Fine Arts, Wien Verwendung der Karte „Tirol-Vorarlberg 1 : 200.000“ auf den Seiten 96 /97 mit freundlicher Genehmigung von Freytag-Berndt und Artaria KG, Kartographische Anstalt, Brunner Straße 69, A-1231 Wien. Sämtliche inhaltlichen Beiträge dieses Heftes sind Ersterscheinungen, Auftragswerke, Uraufführungen. ISBN 978-3-7099-7241-0 · © Haymon Verlag, Innsbruck-Wien 2016 · Alle Rechte vorbehalten.



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