Quart Heft für Kultur Tirol Nr. 28 /16 E 16,–
Foto: www.guenterrichardwett.com
ausstellung „lars müller: bücher bauen“ / aut, innsbruck
0.0
LINKE SEITEN INHALT C2F ENTWICKELTE DIE LINKEN SEITEN DIESER AUSGABE.
PROZEDERE: —
TEXTFRAGMENTE EXTRAHIEREN
—
ZUORDNUNG WISSENSCHAFTS– FELDER NACH INHALTLICHEN ASPEKTEN
—
DATEN– VISUALISIERUNGEN MITTELS VEZA*–METHODE
*METHODE – VOM EXPERIMENT ZUR ANWENDUNG VON CYBU RICHLI PHASE 1: VISUELLE EXPERIMENTE MIT ANALOGEN UND DIGITALEN MITTELN PHASE 2: REFLEXION/PRÄZISIERUNG DER EXPERIMENTE UND ÜBERFÜHRUNG ZU EINEM INVENTAR PHASE 3: ANWENDUNG: ANBINDUNG AN WISSENSCHAFTSFELDER UND GENERIEREN DER VISUALISIERUNGEN MITTELS GENERIERTEM INVENTAR
DESIGN
C2F
INDEX NR.
WISSENSCHAFTSFELD NR.
DAT BEGINN 2016 − 09 −16
DAT ENDE 2016 −11−28
INPUT
1............ NEUROWISSENSCHAFT ................................................... 1.1. ..................................................................H2CO, PASSIFLORA ........................................................................EDULIS 1.2. ........................................................................................... 2............ VERKEHRSSOZIOLOGIE .................................................. 2.1. ..................................................................FARINA, LAC, ........................................................................OLEUM 2.2. ........................................................................................... 2.3. ........................................................................................... 2.4. ........................................................................................... 2.5. ........................................................................................... 2.6. ........................................................................................... 3............ GENETIK............................................................................... 3.1. ..................................................................VITULINA CONCISA 3.2. ........................................................................................... 3.3. ........................................................................................... 3.4. ........................................................................................... 3.5. ........................................................................................... 4............ FORENSIK ............................................................................ 4.1. ..................................................................AQUA, OLEUM 4.2. ..................................................................LAC, OLEUM 4.3. ..................................................................ZINGIBER 4.4. ..................................................................AQUA, FARINA 4.5. ..................................................................ZINGIBER 5............ MIKROBIOLOGIE ............................................................... 5.1. ..................................................................VITULINA CONCISA 6............ METEOROLOGIE ................................................................ 6.1. ..................................................................LAC, OLEUM 6.2. ..................................................................AQUA, OLEUM 6.3. ..................................................................AQUA, H2CO, SEPIA 6.4. ..................................................................LAC, OLEUM 6.5. ..................................................................FARINA 6.6. ..................................................................AQUA, H2CO 7............ PSYCHOAKUSTIK ............................................................... 7.1. ..................................................................LAC, OLEUM 7.2. ........................................................................................... 7.3. ........................................................................................... 7.4. ........................................................................................... 8............ BIOGEOGRAFIE .................................................................. 8.1. ..................................................................AQUA, FARINA 8.2. ........................................................................................... 8.3. ........................................................................................... 8.4. ........................................................................................... 9............ ASTROPHYSIK ..................................................................... 9.1. ..................................................................NIHILUM 10. ......... PROGNOSTIK....................................................................... 10.1. ................................................................LUX 10.2. ......................................................................................... 10.3. ......................................................................................... 11. ......... GEOPHYSIK ......................................................................... 11.1. ................................................................AQUA, FARINA
DESIGN
C2F SWITZERLAND LUZERN WWW.C2F.CH CYBU RICHLI / FABIENNE BURRI / DANI KLAUSER / SAMIRA SCHNEUWLY / PASCALE ZINDEL
12. ......... ASTRONOMIE ...................................................................... 12.1. ................................................................LAC, OLEUM 12.2. ................................................................FARINA 12.3. ................................................................PASSIFLORA ........................................................................EDULIS 12.4. ................................................................VITULINA CONCISA 12.5. ................................................................FARINA, LAC, ........................................................................OLEUM 13. ......... ÖKOLOGIE............................................................................ 13.1. ................................................................AQUA, H2CO, SEPIA
Inhalt
Esther Stocker „I forgot which way I have to go“ Halotech Lichtfabrik
1 / 132 2 / 3
C2F 4 Inhaltsverzeichnis 5 Fließtext von Thomas Jonigk Sowas gibt’s. Heinrich Steinfest verirrt sich instinktiv Marginaltexte (1) Noch einmal das Gebirge Christoph Zanons zentraler Text über die Peripherie Brenner-Gespräch (16): „Ich habe keine Dramaturgie im Leben.“ Michael Kerbler trifft Josef Hader Der Parasit Sophie Tiller lässt es in Büchern wuchern Tal der Möglichkeiten Landvermessung No. 5, Sequenz 1 Von Virgen über Hinterbichl zur Islitzer Alm Carolina Schutti am Talschluss
7–9
Esther Stocker „I forgot which way I have to go“
74–85
Hin und Her Ohne Papiere über die „Grenze“. Ein Bericht von Anna Rottensteiner
87–93
Roland Maurmair Originalbeilage Nr. 28
94 / 95
Marginaltexte (2) Farben, Formen, Zeiten Anita Pichler variiert das Sehen
97–101
„Der Knöchel der Berge / Talus / Laozi in the Tyrol“ Boden, Schotter, Schwerkraft. Erkundung von Harald Gsaller
103–111
11–21
23–31
33–41
„sei du bei mir in meiner Sprache Tollheit“ Zum Spätwerk von Friederike Mayröcker. Ein Symposiumsbericht von Eleonore de Felip 113–121
43–51
Satzspiegel von Verena Schoepf Eigenwerbung
52–65
Stilfragen und andere Antworten Briefwechsel mit der Künstlerin Esther Stocker Von Anna-Maria Bogner, Tomas Eller, Tamás Jovanovics, Dóra Maurer und Katrin Plavčak 67–73
123 124 / 125
col legno music 126 Gutmann 127 Haymon Verlag 128 Gutmann 129 Besetzung, Impressum
130 / 131
5
1.1
SOMATOSEN– SORIKMIE HISPEED CT/I SYS#CT09 EX: 12696 SE: 2 OM S20.0 IM: 10 DFOV 20.8CM SOFT/I
NEUROWISSENSCHAFT
AS
EXPERIMENT NR. 1
DATUM 2016−10−27
ZEIT 11.05 UHR
LAB C2F
L/R
CM
KV 120 MA 200 ADULT HEAD 10.0 MM TILT: 22.0 1.0 S 14:06:26 W: 100 L: 35
PI
Fließtext*
Von Thomas
*
Jonigk
— Text, der in einem Stück und ohne Unterbrechungen durch Absätze, Überschriften, Abbildungen, Fußnoten u. Ä. gesetzt wird. — Aufforderung, seinen Gedanken freien Lauf zu lassen und dabei nicht zurückzuschauen; freihändig draufloszulegen, ohne zu korrigieren; die Buchstaben zu Papier zu bringen und bedenkenlos aus der Hand zu geben.
/ Klingel Klopfen dreimal viermal instinktiv springe ich auf panisch bleibe ich sitzen was ist wenn die das sind was wenn die das nicht sind was mache ich wie verhalte ich mich wie schütze widersetze verteidige ich mich wie komme ich erhobenen Hauptes hier heraus wie kann ich erhobenen Hauptes hier bleiben hier an meinem Platz an diesem Tisch auf diesem Stuhl wie schaffe ich das wie überlebe ich das wie überstehe ich das IN FREIHEIT wie schaffe ich es die Panik abzustellen Panik die meinen Kopf MEIN ÜBERAKTIVES HIRN torpediert in meine Magengrube fährt ins Grab was sage ich was denke ich was haben die aus mir gemacht das ist nicht das Grab ein gesunder funktionsfähiger VOLLKOMMEN WILLKÜRLICH ANGEKLAGTER IN DIE ENGE GETRIEBENER Mensch wie ich der das Recht zumindest theoretisch auf seiner Seite hat das sind nicht Ende Abgrund Folter Isolationshaft und so weiter nein das sind höchstens die die die ich SPÄTESTENS SEIT DAMALS SEIT DEM BESAGTEN TAG erwartet habe seit zwei oder vier oder fünf Tagen erwartet habe messbare Zeit ist nie meine Expertise gewesen das Getaktete das Gehorchen das Folgsame Aufstehen am Morgen Hinlegen am Abend der Schlaf die Träume vom Nichts OHNE MICH ich kann das nicht ich will und werde das nicht auf ab auf ab wie ein Fremdgesteuerter ein Hergestellter ein Massenmensch ein Angepasster Mitläufer Deformierter Uniformierter Kämpfer im Namen des Vaterlandes im Namen von Hitler Stalin Putin Erdogan Le Pen Margaret Thatcher Angela Merkel Andrea Nahles Claudia Roth Renate Künast Sahra Wagenknecht Imelda Marcos Lucrezia Borgia und wie sie alle heißen ich nicht ohne mich mein Körper gehört mir ich lasse mich nicht anfassen erfassen mein Gehirn auch WAS HABT IHR EIGENTLICH ALLE WAS WOLLT IHR ALLE ICH HABE NICHTS GEDACHT NICHTS HABE ICH GEMACHT nur gedacht und auch das nur zum Zweck der Selbstverteidigung wir brauchen keine rückständigen gehirnwaschenden massenabfertigenden Schulen keine Bibliotheken mit eurozentrischen kriegsverherrlichenden letztlich noch immer kolonialistischen Geschichtsbüchern keine Museen mit Portraits von Königinnen Hoffräulein Prinzessinnen irgendwelchen Konkubinen und Amazonen und mit zeitgenössischer unbezahlbarer handwerklich schlechter und in keiner Weise mehr beurteilbarer moderner Kunst die man vor weniger als hundert Jahren entartet genannt hat und was sollen alle diese Polizeistationen diese Videokameras und Überwachungseinrichtungen dieser gesamte Überwachungsstaat der seine Augen HIER VOR MEINEM FENSTER HIER AN MEINER TÜR auf mich gerichtet hat was bitte schön soll das wozu dient das wenn nicht dem Zweck den Menschen kaputt zu machen kleinzuhalten und bis ins letzte Detail zu kontrollieren bis in mein Gehirn bis in meine geheimsten Gedanken hinein denn die halten mich für gefährlich für gemeingefährlich dabei habe ich das doch alles nur gedacht NUR GEDACHT nichts davon habe ich ausgeführt weder habe ich Sprengstoff im Haus noch weiß ich wie man ihn herstellt nicht einmal Waffen habe ich 7
1.2
ZYKLOTHYMIE
HISPEED CT/I SYS#CT09 EX: 12696 SE: 2 OM S20.0 IM: 10 DFOV 20.8CM SOFT/I
AS
NEUROWISSENSCHAFT
L/R
EXPERIMENT NR. 2
HISPEED CT/I SYS#CT09 EX: 12696 SE: 2 OM S20.0 IM: 10 DFOV 20.8CM SOFT/I
DATUM 2016−10−27
AS
CM
KV 120 MA 200 ADULT HEAD 10.0 MM TILT: 22.0 1.0 S 14:08:26 W: 100 L: 35 HISPEED CT/I SYS#CT09 EX: 12696 SE: 2 OM S20.0 IM: 10 DFOV 20.8CM SOFT/I
L/R
HISPEED CT/I SYS#CT09 EX: 12696 SE: 2 OM S20.0 IM: 10 DFOV 20.8CM SOFT/I
PI
L/R
PI AS
CM
KV 120 MA 200 ADULT HEAD 10.0 MM TILT: 22.0 1.0 S 14:08:32 W: 100 L: 35
LAB C2F
CM
KV 120 MA 200 ADULT HEAD 10.0 MM TILT: 22.0 1.0 S 14:08:29 W: 100 L: 35
PI AS
ZEIT 11.48 UHR
L/R
CM
KV 120 MA 200 ADULT HEAD 10.0 MM TILT: 22.0 1.0 S 14:08:35 W: 100 L: 35
PI
da Pistolen Macheten Springmesser all das wie also soll ich irgendetwas von dem was ich gedacht habe und die Gedanken sind frei nebenbei gesagt wie soll ich also irgendetwas von dem was ich gedacht habe in die Tat umsetzen das hätte ich doch gar nicht ich wüsste gar nicht wie man eine Frau vergewaltigt mal ehrlich zumal die führenden Politikerinnen alle abseits der Öffentlichkeit leben UND DANN NOCH MEINE NACHBARIN dieses pseudo-politische widerliche Weib das sich seiner eigenen gesellschaftlichen und individuellen Unterdrückung durch Staat und Patriarchat noch nicht einmal bewusst ist MEINE NACHBARIN mir so etwas vorzuwerfen ist übergriffig menschenunwürdig mitleiderregend WIE ICH ein gelähmtes und gleichzeitig panisches Wesen das auf seinem Stuhl festgeklebt ist und gleichzeitig an der Tür sein will die Tür aufreißen will und endlich einen Gedanken einen immer und immer wiederkehrenden alles zerstörenden Gedanken ENDLICH in die Tat umsetzen will aber was ist wenn die das sind was ist wenn die das nicht sind was ist wenn das was ich DAMALS AN DEM BESAGTEN TAG gedacht habe wahr ist geschehen ist und zwar nicht freiwillig wenn ich wenn ich weiß nicht was ich sagen was ich machen was ich nicht machen soll muss kann darf und so weiter und so weiter noch einmal noch zweimal schon wieder die Klingel das Klopfen das verweist doch auf eine bestimmte offizielle behördliche staatliche Dringlichkeit niemand der nichts von jemand will macht sich die Mühe ununterbrochen bzw. ständig an eines Anderen Tür zu hämmern was denken diese Weiber eigentlich diese Politikerinnen Diktatorinnen Hoffräulein und Konkubinen wissen die nicht dass sie noch immer von Männern wie mir kleingehalten werden geführt werden wie Marionetten WIE NUTTENMARIONETTEN was wollen die von mir ich rühre keine Frau mehr an ICH DENKE NICHT DARAN obwohl naja ehrlich gesagt aber der Gedanke allein richtet noch keinen Schaden an zum Glück nicht sonst wäre niemand von euch mehr übrig was glaubt ihr dass ich dumm bin naiv dass ich einfach in die Falle tappe dass ich wie ein Verrückter zur Tür renne um aufzumachen ich nicht ich habe es nicht nötig wie ein Verrückter zur Tür zu rennen ich nicht beileibe nicht ich bleibe wie ein Verrückter sitzen hier an diesem Tisch auf diesem Stuhl in diesem menschlichen Körper der mir gehört Klingeln Klopfen schon wieder Klopfen Klopfen das hört nicht auf Klingeln Stimmen jetzt auch Stimmen zwei männliche und eine weibliche die weibliche ist eindeutig nein ich irre mich nein ich irre mich nicht die weibliche ist eindeutig die Stimme meiner Nachbarin was macht meine Nachbarin an der Seite der Polizei Polizei Polizei die Worte sind eindeutig herauszuhören unter dem Klingeln dem Klopfen ICH BIN DAS OPFER ein Opfer der Staatsgewalt der Diktatur der gesetzlich verordneten Gehirnwäsche die jetzt Schlange steht vor meiner Tür sie will mich kriegen mich ich weiß nicht was ich Klingel Klopfen dreimal viermal instinktiv springe ich auf panisch bleibe ich sitzen was ist wenn die / 9
2.1
DEVIATION I
Z1
VERKEHRSSOZIOLOGIE
EXPERIMENT NR. 3
Z2
P(Z1) = P({Z1, Z2, Z3, Z4}) = 0.0089436542
DATUM 2016−10−31
ZEIT 13.21 UHR
Z3
Z = ZUSTAND
P = EINTRITTS-WAHRSCHEINLICHKEIT
LAB C2F
Z4
Sowas gibt’s. Eigentlich wollte Heinrich Steinfest erzählen, wie es dazu kam, dass das Schmirntal und das Valsertal zu Schauplätzen in seinem erfolgreichen Roman „Der Allesforscher“ wurden. Aber dann kam er wieder einmal vom Weg ab.
Das passierte mir ständig, daß ich auf dem Weg nach Wien oder Innsbruck – und nachdem ich, von Stuttgart kommend, in München umgestiegen war – einnickte und in einen tiefen Schlaf verfiel, aus dem ich erst kurz vor Innsbruck oder kurz nach Linz aufwachte. Ich muß also sagen, daß ich die Existenz von Salzburg und Rosenheim, obgleich ich in den letzten zwanzig Jahren sicher mehr als fünfzig Mal durch diese Städte hindurchgefahren bin, nicht aus eigener Anschauung bestätigen kann. Salzburg und Rosenheim sind auf eine gewisse Weise die „Städte meiner Träume“, wobei mir gerade die Träume, in die ich auf diesen „Schlaffahrten“ gerate, oft horribel oder zumindest aufreibend erscheinen (daß Salzburg und Rosenheim in einer ähnlichen Weise wie die Stadt Bielefeld eine Erfindung darstellen oder in charmanter Weise der Theorie von einem bloß erfundenen Mittelalter verwandt sind – und darum in Anlehnung an den Begriff „Dunkles Jahrhundert“ als „Dunkle Städte“ gelten können –, soll hier nicht behauptet werden, umso mehr, als ich zahlreiche Menschen persönlich kenne, die mir versichern, sowohl in Salzburg als auch in Rosenheim gewesen zu sein und zumindest teilweise eine Übereinstimmung mit den Bildern und Berichten über diese Städte festgestellt zu haben; allerdings kenne ich auch erstaunlich viele Personen, die mir erzählt haben, beim Durchfahren durch Salzburg oder Rosenheim stets von einer schlafbringenden, fast märchenhaft anmutenden Müdigkeit überfallen zu werden). Ich schreckte jetzt also hoch und erkannte durch das Fenster hindurch einen Bahnsteig, auf dem der Zug soeben zum Stehen gekommen war. Ich war überzeugt, es müsse sich um Innsbruck handeln, auch wenn ich kein Schild erkennen konnte. Rasch katapultierte ich mich in die Höhe und griff nach meiner Tasche, in die ich meinen Laptop mit jener Behändigkeit fügte, mit der man kleine Kinder in Schlafanzüge rutschen läßt. Ich zog meinen Koffer vom Gepäckfach herunter und lief los, um in aller Eile aus dem Zug und auf den Bahnsteig zu springen. Und war glücklich, es gerade noch geschafft zu haben. Allerdings nicht mehr
ganz so glücklich, als der Zug nun losfuhr und mir endlich der Blick auf ein Stationsschild verriet, mich nicht in Innsbruck, sondern in Kufstein zu befinden. Ein Ort, an dem ich in der Regel ebenfalls schlafend durchzufahren pflege. Dessen Existenz mir allerdings durch ein Erlebnis meiner Jugend als „hundertprozentig“ gesichert erscheint. Mit vierzehn Jahren nahm ich an den Schüler-Staatsmeisterschaften im Judo teil, die eben dort, in einer Kufsteiner Sporthalle stattfanden. Ich kann mich kaum an etwas erinnern, freilich daran, gewonnen zu haben, und zwar in der Gewichtsklasse bis 40 Kilogramm, was mir wiederum ins Gedächtnis ruft, was für ein „Hendl“ ich damals gewesen bin und warum ich von meiner Mutter überhaupt erst zu dieser Sportart gedrängt worden war. Sie wollte mich ein wenig kräftiger haben, weil sie glaubte, ich sei krankhaft dünn. Wobei sie in keiner Weise damit gerechnet hatte, ich könnte den Sport so ernst nehmen, im Zuge derartiger Kräftigung Turniere gewinnen und hernach mit gewonnenen Pokalen das Bord über dem Fernseher vollstellen. Jedenfalls hatte ich im Zuge dieser erfolgreichen Staatsmeisterschaftserringung das letzte Mal meine Füße auf Kufsteiner Boden gehabt, nackte Füße, wie beim Judo üblich. Jetzt hingegen, als der aktuell Fünfundfünfzigjährige, stand ich da mit leichten, dünnen Sommerschuhen, verärgert ob meines dummen Fehlers, Kufstein für Innsbruck gehalten zu haben. Ich begab mich in die Ankunftshalle und schaute hinauf zur Anzeigetafel, um nach dem nächsten Zug nach Innsbruck zu schauen, jene Stadt, die mir weniger durch die dramatisch schöne Nähe der Berge so lieb ist, sondern weil ich an keinem anderen Ort der Welt Flugzeuge so gut beobachten kann. Maschinen, die dort in rascher Folge knapp über die Stadt fliegen, um dann knapp hinter der Stadt zu landen, weshalb ich mich extra ganz oben im höchsten Hotel der Stadt, dem aDLERS, einzuquartieren pflege, um die ansteigenden und absteigenden fliegenden Kisten, die das Hoteldach körpernah queren, besser sehen zu können. Es ist eine Form von Birdwatching, die ich dort betreibe. 11
2.2
DEVIATION II
Z5
Z6
Z7
P(Z5) = P({Z5, Z6, Z7 ... Z14}) = 0.000000000000000000000000092852365678128095
VERKEHRSSOZIOLOGIE
EXPERIMENT NR. 4
Z8
Z11
Z9 Z10
Z = ZUSTAND
DATUM 2016−10−31
Z12
ZEIT 13.43 UHR
Z13
P = EINTRITTS-WAHRSCHEINLICHKEIT
LAB C2F
Z14
Jetzt aber … Während ich da vor der Anzeigetafel stand, ging mein Blick nach draußen, hinüber zu den Haltestellen, wo soeben ein Bus vorfuhr, auf dessen „Stirn“ Hinterthiersee Grub als Endstation aufschien. Hinterthiersee? Davon hatte ich als literarisch wie touristisch interessierter Mensch schon einmal gehört. Lag dort nicht dieses Hotel, wo sie die Teppiche auf den Gängen mit Texten von Raoul Schrott ausgestattet hatten und kein noch so potenter Staubsauger in der Lage gewesen wäre, diese Wörter und Sätze zu beseitigen? Und wo die Leidenschaft für Bücher so weit ging, den Gästen selbst noch im Spa-Bereich mit einer Bibliothek liebevoll zu Leibe zu rücken? Oder verwechselte ich schon wieder mal zwei Orte miteinander, wie mir das leider des öfteren passiert, etwa eine Straße in Meidling suchend, die allein in Mödling zu finden ist, oder nach einer Therme in Alterlaa schauend, die ich viel besser in Oberlaa entdeckt hätte? Ich weiß auch nicht, wieso ich so ein Händchen dafür habe, mich zu verirren. Und wieso ich dennoch so gerne auf Pläne und Karten und neutechnische Orientierungshilfen verzichte und auf meinen Instinkt vertraue. Er betrügt mich und ich nenne ihn untrüglich. Aber Instinkt ist möglicherweise eine seelenhafte Intervention, deren Sinn tiefer geht als das Erraten von zumindest drei richtigen Zahlen im Lotto. Jedenfalls sah ich mich verführt, nach draußen zu gehen, in den Bus zu steigen und ein Ticket nach Hinterthiersee zu lösen, um mich zu überzeugen, ob ich recht hatte oder nicht. Das würde ja keine Weltreise werden, sondern mich kurz in eine Gegend bringen, in der ich nie zuvor gewesen war. (Ich bin manchmal allen Ernstes zu träge und gehemmt, mein Handy herauszuholen und etwas nachzuschauen. Ganz abgesehen davon, daß meine Angst vor Spinnen so weit geht, jede Art von Netz zu fürchten.) Der Ausflug lohnte sich, wie ich bald feststellen durfte, als der Bus – chauffiert von einem für Tiroler Verhältnisse unglaublich freundlichen Fahrer, so daß ich fast meinte, in eine dieser Sendungen mit versteckter Kamera geraten zu sein – nun hochfuhr in ein Tal, das wie ein breiter, langer, feuchtgrüner Faltenwurf der ganzen Landschaft eine klassische Eleganz verlieh. Und als wir nun das am Thiersee gelegene Vorderthiersee erreichten … Nun, der Busfahrer war mitnichten schuld, er hatte Vorfahrt, im Gegensatz zu dem geradezu blind eine Ausfahrt rückwärts verlassenden Fahrer mit Münch-
ner Kennzeichen, der genau dieses Kennzeichen seitlich in den Bus schraubte. Bayern lag ja gleich um die Ecke, weshalb es kaum als eine Kollision zwischen einem einheimischen Bus und einem ausländischen PKW zu bezeichnen war, eher als ein Unfall unter Nachbarn. Ich war nicht gesessen, sondern neben meinem Koffer gestanden, hatte den Halt verloren und war ein Stück nach vorn geflogen, um aber von einer älteren Dame – nein, eigentlich war es eine wunderschön verwuzelte Greisin, die ihre Hand gleich einer Kelle ausgestreckt hatte – am Stürzen gehindert zu werden. Ich weiß, es hätte sich eigentlich umgekehrt gehört. Doch man kann sich das nicht immer aussuchen (es wird viel von Haiangriffen gesprochen, aber niemals davon, daß Haie Menschen retten, derartiges will man nur den Delphinen zugestehen; die Wahrheit würde uns verblüffen, schockieren und unsere Angst zunichte machen). Faktum ist, daß es im Moment nicht weiterging und alle Gäste den Bus verlassen mußten. Aus der Ferne tönten bereits Sirenen. Der Busfahrer vergewisserte sich, daß niemand verletzt war. Und als gleich darauf Polizei und Rettung vorfuhren, wurde ein weiteres Mal die Unversehrtheit aller Beteiligten festgestellt. Weiter ging es trotzdem nicht, der Verkehr an dieser Stelle wurde für eine Weile zur toten Zone. Weil der See in Sichtweite war, der Tag so heiß wie schön, eine Badehose in meinem Gepäck lagerte und ich unter allergrößten diätetischen Mühen im Frühjahr fünf Kilo ab- und eine halbwegs ansehnliche Badefigur angenommen hatte, begab ich mich mit Sack und Pack auf einem Weg hinunter zum See, wo ein kleines, gut besuchtes Strandbad lag. (Natürlich, es ist kein Verbrechen, auch mit etwas Übergewicht ins Wasser zu gehen, aber man sollte vielleicht bedenken, daß nicht nur gegenüber anderen Menschen so etwas wie eine Scham besteht, sondern auch gegenüber der Natur; wenn man sich manche Leute ansieht, wie sie in hautengen, in Giftfarben gehaltenen Radfahrertrikots die Berge hinauftreten, und wie da ihre Bäuche das Gewebe fast zum Zerreißen bringen und dabei im Takt wippen, und wie ihre breiten Schenkel feucht und fleischig glänzen, meint man, sie wollten genau diesen herrlichen Bergen ein ästhetisches Grauen entgegensetzen; die Erfindung des E-Bikes ist darum ein Verbrechen, weil es Leute auf ein Rad bringt, die auf diesem nichts verloren haben). Es war herrlich, dieses Thierseewasser, nicht kalt, dennoch erfrischend, und ich war dankbar, im Zuge zweier 13
2.3
DEVIATION III
VERKEHRSSOZIOLOGIE
EXPERIMENT NR. 5
DATUM 2016−10−31
ZEIT 14.02 UHR
LAB C2F
Z2
Z15
P(Z15) = P({Z15, Z16}) = 0.00000000000916247235745542178
Z16
Z = ZUSTAND
P = EINTRITTS-WAHRSCHEINLICHKEIT
„Unfälle“ an diesen Ort und in dieses Gewässer geraten zu sein. Das Geplärr der Kinder stand wie eine kleine Wolke über dem See und schattete die Geräusche der Natur ein. Ich bewegte mich zügig ins Wasser und durchschwamm fast den gesamten See, kehrte wieder an den Strand zurück und setzte mich auf eine der Bänke, um meinen so mühevoll gebauten Körper im warmen Mittagslicht trocknen zu lassen. Das Merkwürdige war, daß ich gleich im ersten Moment, als ich den See erblickt hatte, also noch vom Bus aus, mir dachte: „Den kenne ich doch.“ Den See, die sanft ihn umgebende Landschaft, das Schilf am Rande, den Blick hinauf zum Berg, welcher gegen das Inntal hin als ein hochgestreckter, sicherlich weit über tausend Meter hinausragender Daumen die Gegend mit dem Himmel verband. Und selbst noch das ausgelassene Kindergeschrei an genau diesem See weckte eine Erinnerung. – Klar, eine derartige Landschaftsbeschreibung war auf eine Vielzahl von Orten zu übertragen und das Geschnatter kleiner bis mittelgroßer Kinder im Bereich von Badeanstalten so wenig ein Alleinstellungsmerkmal wie hohe Berge in Gegenden ausgeprägter Faltenbildung. Und dennoch meinte ich, etwas wiederzuerkennen, auch wenn ich mit Sicherheit sagen konnte, niemals an diesem Ort gewesen zu sein, ihn auch nicht etwa schlafend durchfahren zu haben wie das gute Salzburg. Neben mir auf der Bank saß ein älterer Herr in einem Bademantel und rauchte eine Zigarette. Bademantel wie Zigarette sahen aus, als stammten sie aus dem vorletzten Jahrhundert. Ich fragte ihn, ob er mir sagen könne, wie der Berg heiße, auf den wir da sahen. Er erklärte mir, er wohne drüben im Hotel, auf der anderen Uferseite. – Stimmt, das langgestreckte, massive Gebäude war mir natürlich aufgefallen, ein Bau wie aus einem James-Bond-Film, aber bereits nach er-
folgter Explosion. Ja, dieses Luxushotel aus viel schickem Holz machte in der Entfernung auf mich einen postapokalyptischen Eindruck, allerdings war es nicht Teil meiner dubiosen Erinnerung. Es wirkte fremd auf mich. Ein Designer-Hotel mit orthopädischer Spezialklinik, wie mir der Bademantelträger jetzt erklärte. Dabei hatte ich ja nach dem Namen des Bergs gefragt. Den erfuhr ich erst, als ich mir ein Mountainbike mietete, um eben genau jenen Berg hochzufahren: den Pendling, wie er heißt, in der Tat über 1500 Meter hoch und von dem jemand einmal gemeint hatte, er wirke wie ein „unbefahrbarer steiler Zahn“. Aha! – Wäre ich bloß um den See herumgefahren, ich hätte dank der Installationen entlang des sogenannten Themenwegs das Thema eben dieses Wegs erfahren und dabei rasch begriffen, warum mir dieser See auf eine verschwommene Weise vertraut war. Aber nein, ich mußte ja auf den Berg! Ich mußte unbedingt „körperlich“ werden und die mühsam steile Strecke bewältigen.
* „Ein tieferes Wort als Affen, wie oft vermutet, ist nie gefallen“, erklärt Sigi Lützow in seinem Artikel in der Zeitung Der Standard mit dem Titel Als der König die Contenance verlor (April 2012). Doch darüber kann man streiten, immerhin spricht Mitteregger am Ende seiner Wutrede auch von „Trotteln“, was man durchaus als tieferstehend empfinden kann als die Existenz von Affen. Vor allem jedoch wird allgemein darauf verzichtet, Mittereggers Kruzifix-noamal!-Ausspruch zu zitieren, bei dem der Rudi wie ein Kind aufstampft. Auch die betreffende Wikipedia-Seite läßt dies unerwähnt. Dort ist allein von „Aff’n“ und „deppat“ die Rede. – Übrigens kann man sich diese Szene als historisches Dokument auf youtube ansehen, und weil die Kombination „steirisch“ und
„verzweifelt“ eine schwer verständliche Kombination ist und es mir unmöglich war, herauszuhören, was genau Mitteregger sagt, als er von den „Trotteln“ spricht (und auch die Macher der Dokumentation bleiben ausgerechnet diese Stelle bei den eingeblendeten Untertiteln schuldig), habe ich unter Auslobung einer Flasche Zirbenschnaps mehrere Personen, die des steirischen Idioms mächtig sind, um Vorschläge gebeten. Und möchte auch die Leser dieses Textes darum ersuchen, Interpretationen zu liefern (siehe Österreichrundfahrt 1974 – Rudolf Mitteregger, auf youtube, ab 0:32). Die bisher überzeugendste „Übersetzung“, die mir angeboten wurde, lautet: „De Trottln kennt ma beagln, heast!“, wobei unsicher bleibt, ob hier von „bügeln“ oder „prügeln“ die Rede ist.
Es ist immer das gleiche, sobald ich einen Berg nach oben radle, fällt mir eine Fernseh-Episode meiner Kindheit ein, eine Episode der Wirklichkeit, als 1974 bei der Österreich-Radrundfahrt der Nationalheld und „Glocknerkönig“ Rudi Mitteregger bei der Abfahrt vom Gaberl-Paß, und zwar in Führung liegend, einen Defekt am hinteren Rad erlitt. Obwohl glücklicherweise ein Kamerateam in diesem Moment vor Ort war, um das Geschehen festzuhalten, fehlte jeglicher Service-Wagen, keiner nirgends, drei Minuten lang. Drei Minuten Ewigkeit. So mußten wir also erleben, wie unser Rudi mit heiserer, wütender, kindhaft verzweifelter und von Tränen gleichsam punzierter Stimme rief und schrie und heulte: „Wo san denn de, sagst amal?! Jo des gibt’s jo net, heast! Jo san de deppert oder was, heast?! Jo wo san denn die Aff’n, heast?! Kruzifix noamal, heast!“*
15
2.4
DEVIATION IV
Z17
Z18
Z19
P(Z17) = P({Z17, Z18, Z19 ... Z25}) = 0.00000000543275391624
VERKEHRSSOZIOLOGIE
EXPERIMENT NR. 6
Z20
Z22
Z21
Z = ZUSTAND
DATUM 2016−10−31
Z23
ZEIT 14.18 UHR
Z24
P = EINTRITTS-WAHRSCHEINLICHKEIT
LAB C2F
Z25
Mitteregger war gezwungen – das luftleere Rad in der Hand –, zuzusehen, wie ein Konkurrent nach dem anderem an ihm vorbeifuhr. So verlor er die Etappe, gewann aber trotzdem die Rundfahrt. Doch es war dieser Moment tiefster Verzweiflung, der sich bei allen eingeprägt hat: ein ungemein sympathischer Zorn als unmittelbarer Ausdruck österreichischer Sportlichkeit. Eine zutiefst katholische Ausformung so gänzlicher wie leidenschaftlicher Hoffnungslosigkeit. Jedenfalls mußte ich an diese Geschichte denken, als nach vielen Höhenmetern zwar mein Rad keinerlei Defekt aufwies, sich jedoch meine Beine so schlapp anfühlten, wie Mittereggers damaliger Radschlauch gewesen sein mußte. Nachdem ich die Kreuzung Kaltwasser erreicht hatte, ging es endlich ein wenig bergab, dann aber gleich wieder steil bergauf zur Kala-Alm. Das war wirklich der Punkt, wo ich eine kleine Pause einlegen wollte. Der Punkt war eine Wirtschaft. Während ich inmitten der Menschenmassen eine kräftigende Kaspreßknödelsuppe zu mir nahm, blickte ich hinüber nach Hinterthiersee, dort, wo immerhin jenes Literaturhotel lag, dessentwegen ich überhaupt erst in Kufstein in den Bus gestiegen war (es erscheint mir mitunter als ein Muster in meinem Leben, auf der Suche nach bestimmten Orten an völlig andere zu geraten – und das ist sicher ein Aspekt, der mich zur Gläubigkeit verführt hat, denn wenn sich Gott im Leben der Menschen manifestiert, dann in den Fehlern, die sie begehen, darin besteht seine paradoxe Gnade). Nach der Kala-Alm ging es vergleichsweise moderat hinauf zum Pendlinghaus, auch Kufsteiner Haus genannt, wohl, weil man von dort gar so einen guten Blick hinunter aufs Inntal und Kufstein hat – Kufstein, die Stadt, von der es in einem Lied heißt, sie sei die Perle Tirols, die aber aus dieser Höhe die Wirkung eines riesigen Geschirrtuchs besaß, über das jemand einen graugrünen Strich gezogen hatte. Ich ließ mein Rad stehen und stellte mich eine Weile in den für eine solche Höhe ausgesprochen warmen Wind. Mir kam vor, meine Schweißperlen knistern zu hören. Wie bei so einer Luftpolsterfolie, wo nicht nur Kinder immer die Noppen eindrücken. Etwas abgekühlt ging ich zu Fuß Richtung des nahen Gipfelkreuzes. Wege sind natürlich dafür gedacht, auf ihnen zu verbleiben. Aber was mich antrieb, war es nicht, eins der beiden Kreuze zu erreichen, sondern einen guten Blick hinunter auf den See zu finden, den Thiersee. Ich sagte
es schon, ich besitze ein Händchen fürs Verirren. Und auch wenn ich im ersten Moment meinte, mich weiterhin auf einem Weg zu befinden, zumindest einem kleinen, einem Pfad, war dieser angebliche Pfad nach einiger Zeit vom Erdreich wie aufgesogen. Es war mir also gelungen, auf einem von Wanderern und Radfahrern geradezu gespickten Berg – als hätte der Berg Masern, Menschenmasern – quasi ins Leere, ins Menschenleere zu laufen. Keine Frage, ich hätte umkehren müssen. Es wurde jetzt wirklich steil und rutschig und zwischen meinen Lippen brach ein Mittereggersches „Kruzifix noamal!“ hervor. Aber ich bewegte mich weiter, gezwungenermaßen auf allen Vieren, verbissen wie alle, die nach vorne marschieren, weil sie hinter sich keinen Trost zu finden meinen. Und in der Tat … Ich glitt ab, ein paar Meter nur, mich an einem Stamm festhaltend, gerade so, daß ich links von mir zwischen den Bäumen einen kleinen Felsvorsprung erkennen konnte. Darüber das Blau des Himmels gleich einem gedrückten Spitzbogen. Einem Bogen, der deutlich anwuchs, als ich jetzt auf gerader Linie näherrobbte und schließlich die winzige Kanzel erreichte, ein paar Quadratmeter, die aus der dichten Bewaldung herausragten und einen weiten Blick hinunter ins Tal und auf den See boten. Wunderbar! Der See wirkte von hier oben sehr viel mächtiger, viel mehr die Landschaft bestimmend, als wenn man sich an seinem Ufer befand und eher den Berg als das dominante Element wahrnahm. Der Thiersee lag so glatt da, als könnte man darauf Schlittschuhfahren. Dahinter die Ortschaft, eine Anfügung von Häusern, die im Vergleich zur Geschirrtuchanmutung Kufsteins improvisiert anmutete. Eine Verklumpung hingewehter Blüten. Ich hatte die Beine ausgestreckt, sodaß meine sonnenbeschienenen Füße ein Stück in der Luft hingen. Oberkörper und Kopf befanden sich im Schatten. Ich legte mich zurück, die gesamte Länge der ebenen Fläche ausfüllend, und schloß die Augen. Natürlich, ich war erschöpft und außerdem am Ziel, beziehungsweise hinter dem Ziel, dort, wo auch Olympiasieger mitunter zusammenbrechen. Ich spürte die Wärme von meinen Zehen aufwärts ziehen. Die Heizdecke des Schlafes machte ein Angebot. Ich nahm es an. Und zwar in einer Weise, als würde ich tief in den Berg rutschen, in sein Inneres hinein, nahe an Lunge oder Leber. Und verblieb dort eine ganze Weile, mich an die Innereien schmiegend. 17
2.5
DEVIATION V
Z26
P(Z26) = P({Z26 ... Z27, Z28, Z29}) = 0.0000000000000000000327143753742521
VERKEHRSSOZIOLOGIE
EXPERIMENT NR. 7
Z27
Z28
Z = ZUSTAND
DATUM 2016−10−31
ZEIT 14.29 UHR
LAB C2F
Z29
P = EINTRITTS-WAHRSCHEINLICHKEIT
Viel zu lange. Denn als ich erwachte, war die Dämmerung bereits in ihre letzte Phase eingetreten, von rechts strahlte noch ein rötlicher Schimmer, aber ich selbst befand mich in Schichten von Schwarz eingehüllt, konnte nur mehr schwer zwischen Baumstämmen und den Lücken zwischen ihnen unterscheiden. Ich hätte mich jetzt, wie man so sagt, in den Arsch beißen können, auf diese Weise verschlafen zu haben, an solcher Stelle. Gut, es war nicht Winter, es ging kein Sturm, es begann nicht zu regnen, der Himmel war klar. Freilich wurde es jetzt deutlich kühler. Immerhin, ich besaß die Jacke, auf der ich gelegen hatte und in die ich nun hineinschlüpfte. Trotz meines Bedürfnisses nach Arschbeißerei spürte ich auch eine gewisse Zufriedenheit, im Zuge meines Bergschlafes in diese Situation geraten zu sein. Im Grunde war es ein Kindheitstraum. Eine Mischung aus Indianerromantik und einer biedermeierlichen Naturbetrachtung. Nämlich an solch exponierter Stelle, mit einem solchen Blick auf die Welt und den Himmel und die aufkeimenden Sterne in der Dunkelheit wie in einem Fernrohr zu sitzen. Und überlegte dabei gar nicht, irgend jemandem abzugehen, etwa dem Fahrradverleih. Oder dem aDLERS Hotel in Innsbruck, wo ich nicht wie angekündigt erschienen war. Oder den Leuten, die mich auf elektronischem Wege zu erreichen versuchten. Keine Frage, ich besaß ein Smartphone, es steckte gut und sicher und warm gepolstert in der Laptoptasche, die ich zusammen mit meinem Koffer bei dem freundlichen Herrn vom Fahrradverleih gelassen hatte. Ohnehin hätte ich von hier kaum einen Empfang gehabt, jedoch immerhin über eine Taschenlampe verfügt, dank derer ich hätte versuchen können, einen Rückweg zu beschreiten. So war es allein das Licht des Mondes, welches nach und nach dem Dunkel um mich einige Konturen verlieh. Die Schatten des Tages erschienen nun wie Gespenster ihrerselbst, als spielten sie Fasching und schwärmten für Gothic. Und weil da oben die zu Dreiviertel volle Scheibe des Monds stand, spiegelte sie sich im See. Aus der Eisfläche war glatter Beton geworden. Mehr Rollschuh als Schlittschuh. Es war in der Folge der Eindruck, die ganze Landschaft wie auf einem Schwarzweißfoto zu betrachten, der mir endlich bewußt machte, wo ich diesen See schon einmal gesehen hatte. Diesen See, auf den ich von meiner Kanzel schaute (ich glaube, der alte Spitzweg hätte eine Freude gehabt, mich in solcher Stellung zu malen).
Es war im Film gewesen. Einem frühen, schwarzweißen. Im Film heißt dieser See nicht Thiersee, sondern Bühlsee, ein – wie der Sprecher einleitend berichtet – „kühler, freundlicher See“ (der im übrigen zu den wärmsten Tirols zählt). Der Erzähler ist niemand geringerer als Erich Kästner und der Film heißt Das doppelte Lottchen. Ich hatte den Film immer gerne gehabt, sogar schon als Kind, auch wenn darin einzig und allein Mädchen eine Rolle spielen. Aber als Scheidungskind, das ich war – und das den Sinn der Scheidung als eine Bösartigkeit der menschlichen Natur empfand, und wie alle Natur eben auch überwindbar – war mir die humorige und gefinkelte Weise einer Elternwiedervereinigung durch das Zwillingspaar Lotte und Luise in höchstem Maße sympathisch gewesen. Wenngleich mir der Vater in dieser Geschichte zuwider war, ein eitler Komponist und Dirigent von größenwahnsinnig-karajanschem Duktus, der eigentlich viel besser zu seiner von Senta Wengraf mit grandios aufreizender Präpotenz gespielten Geliebten paßt. So unsympathisch wie mein eigener Vater. Aber als Kind wünscht man Versöhnung und Einheit, und eben die Überwindung der menschlichen Natur. Nicht, daß ich irgendwann auf die Idee gekommen wäre, mich darum zu kümmern, welcher reale Ort hinter dem fiktiven Ort Seebühl und welcher reale See hinter dem fiktiven Bühlsee steht, obgleich ich gerade den Anfang von Geschichte und Film stets als besonders faszinierend empfand, wenn Kästner von seinem eigenen Manuskript hochsieht und den Zuseher anblickt und fragt: „Kennen Sie eigentlich Seebühl, das Gebirgsdorf Seebühl? Nein? Seebühl am Bühlsee, wirklich nicht? Sonderbar, höchst sonderbar, wen man auch fragt, keiner kennt Seebühl. Womöglich gehört Seebühl am Bühlsee zu den merkwürdigen Ortschaften, die ausgerechnet nur jene Leute kennen, die man nicht fragt. Wundern würde es mich nicht. So etwas gibt’s.“ Ja, sowas gibt’s. Und das gibt’s eben auch, nämlich an einen Ort zu geraten, der einem sogleich vertraut scheint, man dann aber einen verdammten Berg hochradeln muß, um zu begreifen, daß die Erinnerung aus einem Film stammt – vergleichbar jenen Replikanten aus Blade Runner, die Fotos aus ihrer Kindheit mit sich tragen, einer Kindheit, die sie nie erlebt haben und die dennoch Teil ihres Bewusstseins ist, vor allem aber Ausdruck einer wehmütigen Stimmung, die zu emp19
2.6
DEVIATION VI
Z30
P(Z30) = P({Z31, Z32, Z33}) = 0.0089436542
VERKEHRSSOZIOLOGIE
EXPERIMENT NR. 8
Z31
Z32
Z = ZUSTAND
DATUM 2016−10−31
ZEIT 14.41 UHR
LAB C2F
Z33
P = EINTRITTS-WAHRSCHEINLICHKEIT
finden es nicht der Fähigkeit bedarf, echte Tränen zu vergießen. Manchmal sind theoretische Tränen echter als echte. Ich konnte das jetzt noch nicht wissen, würde aber später erfahren, daß die Gemeinde Thiersee in der Nachkriegszeit Ort zahlreicher Verfilmungen geworden war, eben nicht nur von Kästners doppeltem Lottchen, sondern etwa auch von der 1949 gedrehten Beethovenverfilmung Eroica mit Ewald Balser und Oskar Werner, oder von Blaubart mit Hans Albers und Nacht am Mont Blanc (auch Fegefeuer der Liebe genannt) mit Dietmar Schönherr – ja, genau der Mann, der uns mit einer Familienshow Ende der Sechzigerjahre die Möglichkeit gab, durch das Einschalten von Elektrogeräten (später dann durch das Ausschalten derselben) oder mittels Betätigung der Klospülung den Sieger zu ermitteln und uns auf diese Weise das Gefühl zu vermitteln, direkte Demokratie zu leben (man mag sich aber nicht vorstellen, wofür und für wen und wogegen sich die Österreicher heutzutage entscheiden würden, könnten sie die Abstimmung über ihre Toilettenanlagen bewerkstelligen). Doch wie gesagt, es war mir im Moment nicht bewußt, daß die Gemeinde Thiersee einstmals der wichtigste Ort des österreichischen Films gewesen war und man zu dieser Zeit das nahe dem Ufer stehende Passionsspielhaus in ein Filmstudio verwandelt hatte. Ein Haus, das noch immer stand – ich konnte es ja sehen, den schwarzen Brocken – und das zwischenzeitlich wieder dazu diente, alle sechs Jahre die Passion Christi auf die Bühne zu bringen (es bedeutet eine unheimliche Stimmigkeit, daß dieses Gebäude während des Kriegs als Gefangenenlager diente, bevor die SS in Vorbereitung auf die geplante sogenannte Alpenfestung hier ein Materiallager anlegte). Ich aber dachte, unbehelligt von diesem Wissen, an Kästners doppeltes Lottchen, an die beiden Mädchen, die ihre Rollen vertauschen, wie die Münchnerin nach Wien geht, die Wienerin nach München, wie das brave, sorgsame, ordentliche Kind die Postion des wilden, ungestümen einnimmt und umgekehrt. Und wie sich hier aus der Komödie des Vertauschens wie auch aus der Dramatik der Krankheit (das hohe Fieber eines der Mädchen, ein Fieber als Ausdruck der Verzweiflung, welches die Eltern gemeinsam ans Krankenbett zwingt) eine Utopie der Versöhnung entwickelt. Kästners Geschichte ist ein Märchen, in dem die Wahrheit eines Wunsches feste Form erlangt.
Ich hätte – an diese Geschichte, diese Utopie denkend, vor mir das Land in silbrigem Schein, die Sterne von geradezu zählbarer Klarheit –, die ganze Nacht zubringen können. Aber es gibt auch Leute, die mitdenken. Vor allem der Mann, der mir das Mountainbike vermietet hatte und der sich nicht mit dem Gedanken zufrieden gab, ich könnte es erst einen Tag später als vereinbart zurückbringen. Die Bergrettung war alarmiert worden. Gut möglich, daß man das verwaiste Rad entdeckt hatte. Bald vernahm ich die Rufe der Helfer. Ich schwieg eine Weile, derart war nun die Scham in mir. Was sollte ich denen erzählen? Einen besonders schönen Blick auf den See gesucht zu haben? Mondsüchtig zu sein? Schlafsüchtig dazu? Aber es ging natürlich nicht an, daß diese Leute mitten in der Nacht ihr eigenes Leben für ein fremdes aufs Spiel setzten, und ich mich dann taub und stumm stellte. Ich mich vor den Rettern versteckte, um mich nicht genieren zu müssen. „Hier!“ rief ich. Sie fanden mich, bargen mich, brachten mich zurück. Zack, zack. Ungemein professionell. Man war froh, daß ich ohne einen Kratzer war. Bei der Fahrt hinunter konnte ich nicht an mich halten und fragte einen der Helfer, ob es sich bei diesem See tatsächlich um jenen bekannten Bühlsee handeln würde. „Bühlsee?“ Stimmt, es war ein junger Mann, der wahrscheinlich den Film gar nicht kannte, ich hätte anders fragen müssen. Doch ich sagte ausweichend: „Ach wissen Sie, ein See aus meiner Kindheit, der diesem sehr ähnlich sieht.“ „Ach ja“, meinte er und sah mich so an, wie man Leute aus der Stadt ansieht, die dort, in der Stadt, ein wenig komisch geworden sind. * Ich weiß, es hat mit dieser Geschichte nichts zu tun, aber ich möchte doch noch erwähnt haben, daß Rudolf Mitteregger, der Held von 1974, heute als Pensionist in seiner Heimatgemeinde lebt, und zwar an einem Ort, der den Namen „Rudolf-Mitteregger-Siedlung“ trägt. Das ist etwas, was ich wirklich jedem Menschen vergönnen würde, letztlich an einem Platz zur Ruhe zu kommen, der wie man selbst heißt.
21
3.1
PHASE I
GENETIK
EXPERIMENT NR. 9
DATUM 2016−11−03
ZEIT 16.14 UHR
PT = PHÄNOTYP
M = MUTATION
C
A
B
D
HYBRIDISIERUNG 1790 N. CHR. GT 1 A: 40 / 163 B: 62 / 175 L: 25 GT 1 C: 156 / 118 D: 150 / 194 L: 76 PT FAKTOR: 2 WERT: 50 M = 0% MUTATIONSVERLAUF
GT = GENOTYP
LAB C2F
Marginaltexte (1) Noch einmal das Gebirge
Mit dem Wort Marginalie wird gewöhnlich Nebensächliches bezeichnet, etwas am Rande oder an der Grenze einer Sache Liegendes. In Quart werden unter diesem Titel zentrale Texte über das Leben an der Peripherie neu veröffentlicht, die längst vergriffen oder nur schwer zugänglich sind, an entlegenen Orten aufbewahrt oder gar in Archiven verschwunden. Folge 1: Ausschnitte aus einer Identitätssuche, die der früh verstorbene Osttiroler Schriftsteller Christoph Zanon Anfang der 1990er Jahre unternommen hat.
Wenn wir in die alte Bauernwelt schauen, erscheint sie von einer steinernen Beharrlichkeit, und wir wundern uns, wie sie sich innerhalb von wenigen Jahrzehnten radikal gewandelt hat. Die modernen Straßen, die wie kranke Schatten dem Weg der Flüsse folgen, und die Medien, die eine sogenannte „Welt“ bis in den letzten Winkel tragen, also den letzten Winkel mit jedem beliebigen Ort in der Nähe oder Ferne verbinden, haben die allgemeine Modernität über das Wesen auch dieses Landes gezogen, seine eigenen Regungen verdrängt und seine Kultur, die wegen ihrer Stetigkeit so gewichtig schien, fast ausgerottet. Zum Heute In allen Lebensbereichen richtet sich der Mensch nach der Maschine. Sie spart ihm das Rätseln und das Handwerk. Die Maschine verlangt neue Fertigkeiten, die sich aber nicht mehr mit dem Problem selbst, sondern nur mehr mit dem technischen Apparat befassen: man müßte dem Automechaniker ein Denkmal setzen. Die Maschinen, oder sagen wir, „die Technik“ ist hauptsächlich erfordert worden von der Aufgabe, Großes zu bewältigen, zum Beispiel große Entfernungen in kurzer Zeit zu durchmessen, große Mengen an Nahrungsmitteln, Kleidung usw. herzustellen und zu verteilen, große Wirkungen im Krieg zu erreichen. Parallel dazu hat sich in der Gesellschaft die Industrie eingerichtet, das ist die massenhafte, mechanisierte Produktion. Und der Mensch mußte überall von draußen, also von seinem Kampf mit der Natur, hineingehen in die Hallen zu
den mechanisierten Handgriffen und Dienstleistungen. Er hat geglaubt, die Maschine nimmt ihm die Last vom Buckel, aber hat mit neuen, furchtbaren Abhängigkeiten zahlen müssen: die stupide Arbeit an Produkten, die für den Müll bestimmt sind, oder die Sklavenhaltung in der Dienstleistung, der Massenkonsum, worin das Individuum nicht mehr vorkommen kann, so wie es aus der Politik hat verschwinden müssen, weil die Einrichtungen der sogenannten Demokratie nur mehr die Existenz der Industrie verwalten. Die Last scheint vom Kreuz des Arbeitenden abgenommen, in Wirklichkeit muß er sie in neuer, tückischer Mühe wieder aufnehmen, wie wir tausendmal hören: daß der Massenverzehr von Rohstoffen und Energie das Leben verpestet und die Müllberge baut. Manche nennen unser Land gelegentlich in blöder Nostalgie „Herrgottswinkel“. Aber es trägt alle Male der Industrie, leidet an ihrer Verseuchung und zeigt überall ihre Verletzungen. Früher haben die Bergbauern praktisch nur vom Mangel und vom Reichtum ihres Landes gelebt. Es muß ein Kampf gewesen sein, genau organisiert gemäß den Zyklen des Tages, Jahres, Lebens. List und Mühe haben der gleichgültigen Natur ihre Güter abgerungen. Dann gab es Ruhe, dann gab es Arbeit, und dann gab es wieder Katastrophen, und der Mensch sah, daß er eigentlich ohnmächtig war. Das war der tiefe Grund seiner Religiosität: Der seltsame und heute schon ganz fremdartig erscheinende Alpinkatholizismus war ganz eingewirkt vom Bauerndasein. 23
3.2
PHASE II
GENETIK
EXPERIMENT NR. 10
DATUM 2016−11−03
ZEIT 16.32 UHR
C
A
B
D
HYBRIDISIERUNG 1840 N. CHR. GT 1 A: 35 / 16 B: 64 / 183 L: 32 GT 1 C: 166 / 114 D: 152 / 194 L: 80 PT FAKTOR: 2 WERT: 56 M = 12% MUTATIONSVERLAUF
GT = GENOTYP
PT = PHÄNOTYP
M = MUTATION
LAB C2F
Dann bekam der Bauer mit den Maschinen scheinbar die Macht. Endlich war er befreit: Vorbei war es mit der ewigen Notwehr. Da begann er sich zu rächen für die jahrhundertelange Unterdrückung durch die Natur. Er fuhr mit den neuen Maschinen und quasi-industriellen Methoden über den Acker, das Vieh, das Land hinweg und freute sich gedankenlos am scheinbar viel bequemeren, größeren Ertrag. Das Überlieferte – alles Überlieferte, nicht nur die alten Religionen – wurde gering geachtet und vergessen. Nichts, weder Siedlungen, noch kultivierte Flur, nicht Bach, Fluß, Wald, nicht die Almen, nicht einmal die Fels- und Gletscherwüsten wurden von den neuen, brutalen Bau- und Nutzungsmethoden verschont. Und genutzt wurde, was es zu nutzen gab, industriell: der Wald, das Wasser, die „Landschaft“ und der Mensch. Aber man redete noch die längste Zeit von Tradition und Erhaltung der alten Werte. Heute verstummen diese Stimmen nach und nach; die Stimme der Jüngsten ist allzu scharf. In ihrem Brennpunkt steht das Hakenkreuz: das Symbol für den radikalen Bruch mit der Überlieferung. Zweck: Fremdenverkehr Wir sollen für unser Land, also für uns selbst, eine Identität suchen, damit wir dem Touristen eine bieten können. Der Tourist fordert das Erlebnis, ähnlich dem Kinogeher, dem es auch egal ist, was er sieht, solange man ihm ein treffliches Theater vortäuscht. Aber die Identität des Einheimischen richtet sich nicht nach außen und fragt nicht das Außen um Bestätigung, sondern ist im eigenen Bereich erworben und selbstbewußt. Sie sagt: Hier lebe ich. Das ist mein Land. Obwohl mir vieles nicht gefällt und ich immer wieder meinen Platz in diesem Land bezweifeln muß, und manchmal hinausfliehen muß, damit ich nicht kurzsichtig werde – dieses Land ist mein Trotz und mein Stolz. Ich liebe es als Heimat. So beschaffen waren die Menschen, die als Forscher in fremde Länder gingen. Sie sahen: Das fremde Land ist die Heimat fremder Menschen. Sie betrachteten das
Exotische, dann schauten sie zurück auf das Vertraute, sie entdeckten neue Ansichten hier in der Fremde und dort in der Heimat, sie entdeckten Zusammenhänge. Sie staunten über die Wunder der Verschiedenheit. Und manchmal, von einem besonderen Ereignis oder einem besonderen Anblick wurden sie ganz allen Beschwernissen entführt in einen wirklichen Traum. Und der Traum war die Nahrung der Ehrfurcht. Sie waren zurückhaltende Menschen, sie nahmen die Gastfreundschaft an und beugten sich dem Herrschaftsanspruch des Gastfreunds. Der Tourist – als Typus betrachtet – flieht seine Heimat, besser gesagt, seine Wohnung. Dann sucht er das Gewohnte, weil er die Fremde (sich selbst) fürchtet. Er täuscht sich vor, daß er eine Eroberung gemacht habe, und will über das verfügen, wofür er bezahlt hat. Auf der Gegenseite, in der Dienstleistung, ist Freundlichkeit gefordert. Dahinter verbirgt sich schlecht die Ablehnung gegenüber dem Anschaffer. Bewußt oder unbewußt empfindet der Dienstleistende, daß das Spiel vor dem Herrn Touristen ein Theater ist, banal zweckmäßig, lustlos. Das Ergebnis ist krankhaft und betrüblich; der simple Erwerb sein, die halb offene Taschendieberei, das Geschäft nach internationalen Regeln. Es ist vielleicht unmöglich, ein Land zu öffnen, ohne daß es sich selbst und seine Einwohner dem Touristen prostituiert. Der Begriff „Liebe“ begreift nur mehr Kitsch. Der gewöhnliche Tourist fährt in der Kolonne und geht im Rudel, er wird bedient und zahlt, die Zuneigung beiderseits ist hauptsächlich geheuchelt. Heimat weder hier noch dort, nur Trampelpfade, Attraktionen für Massen, Abspeisung der Massen. Und der Einheimische, nach getaner Arbeit, zieht sein Dienergewand aus, legt die eingeborene Mundart an und wird Tourist im eigenen oder im Ausland. Das ist die neue Gestalt der Erdkruste: Ödnis. Weggehen Viele gehen weg aus der Provinz, viele der Guten, fast alle der Besten. In der Großstadt finden sie die ent25
3.3
PHASE III
GENETIK
EXPERIMENT NR. 11
DATUM 2016−11−03
ZEIT 16.56 UHR
C
A
B
D
HYBRIDISIERUNG 1890 N. CHR. GT 1 A: 41 / 183 B: 74 / 192 L: 28 GT 1 C: 16 / 102 D: 156 / 217 L: 116 PT FAKTOR: 2 WERT: 72 M = 44% MUTATIONSVERLAUF
GT = GENOTYP
PT = PHÄNOTYP
M = MUTATION
LAB C2F
sprechende Herausforderung und alle Einrichtungen, in denen sich die Spitzen von Wirtschaft, Wissenschaft, Gesellschaft treffen. Die schärferen, umfassender gebildeten Geister finden sich hier, das kritische Publikum. Der Name einer Großstadt ist ein Gewicht in der Biographie des Einzelnen, sein Werk findet größere Verbreitung, die Medien machen eine Person gewichtig. Materialien für jede Art von Beschäftigung sind angeboten und leicht zugänglich. Leute von Interesse und Einfluß leben in nächster Nähe, und selbst wer in zurückgezogener Arbeit leben will, kann sich ziemlich bequem an jene wenden, die ihm Arbeit und Material vermitteln. Die Großstadt wirkt magnetisch wegen ihrer Massenhaftigkeit. In unserem engen Land sind die Wenigen, die aus dem Desinteresse des Alltags hinausstreben, ganz vereinzelt. Viel Anerkennung haben sie natürlicherweise nicht zu erwarten, erst recht, wenn der Neid umso kleinlicher um die kleinen Gewinne kämpft. Es gibt kaum öffentliche Podien, und wenn ein Mensch öffentlich wird, dann mehr durch das Gerücht als durch intellektuelle Auseinandersetzung. Das Leben in unserem Provinzland spielt sich also – scheint es – in karger Gewohnheit ab. Gleiche Gesichter mit ihren immer gleichen Meldungen stumpfen nach und nach den Wachsamen ab. Er muß weggehen ins Exotische. In der Großstadt kann er der Fremde sein und sozusagen an jeder Straßenecke Kontakt zu Fremden finden, einen mehr oder weniger losen Kontakt: Wie kurz und unerhört kann hier die Begegnung zweier Menschen sein! Ja, hier läßt sich aus geringer Distanz – und doch immer aus der Distanz – das Lebenstheater in all seinen Exzessen ergehen! Die Großstadt hat den Schein von Freiheit und einen wirklichen Reiz, und beides zieht noch mehr an als die Karrierechancen, entfernt von den kleinen Verhältnissen. Natürlich finden sich die kleinen Verhältnisse überall, aber von den großen Möglichkeiten scheint der Provinzbewohner ausgeschlossen. Alles spricht für die Großstadt, sobald nur ein größerer
Ehrgeiz da ist. Und doch bleiben manche solcher Ehrgeizigen in jenem Land, das sie Heimat nennen. Und doch sind sie auch Abenteurer und brechen wieder auf zu neuen Forschungsreisen. Ihre Wege kann man nicht mehr auf der Landkarte nachzeichnen, denn sie sind unterwegs in die fremden Länder des Geistes. Sowie sie sich ihrem eigenen Land zugewendet haben, als einem geistigen Gebilde, sehen sie: Es ist ein weites Land. Sie sagen: Wir wissen nur ganz wenig über unser eigenes Land, wie sollen wir etwas wissen über die ganze Welt? Sie sind Abenteurer und möchten 100 Jahre alt werden. Sie möchten die Architektur und die Dramatik des eigenen Lebens im Bild des Landes erforschen. Kleinstadt Ich könnte Romane schreiben, aber jetzt ist nicht die Zeit für Romane. Ich bin auch versucht, in einem Furioso herzufahren über die Kleinstadt und ihre Kleinbürger, aber das hätte ich nur von außen tun dürfen und nicht als Selbstbeteiligter. Und was hätte meine Polemik erreicht? Das Leben in einer Kleinstadt ist schwierig, aber ganz deprimierend ist das Leben in einer Kleinstadt im Gebirge. Hier kann ich nicht Straßenmensch sein, es sei denn, ich neige den Kopf und suche Zigarettenkippen auf dem Gehsteig oder zertretene Erdnüsse. Aber die Gehsteige sind schmal, die Straßen sind eng, die Gebäude sind niedrig, und die Perspektive endet immer im Gebirge. Der Konfrontation von Kleinstadt und Gebirge ist man hier immer ausgesetzt, sie zermürbt einen. Weil nämlich das Gebirge über jedes Menschenmaß erhaben ist, verweigert unsere Architektur eine Antwort auf diese Erhabenheit. Eigentlich müßte das Wesen des Gebirges als Gesteinsbau und die strenge Freiheit seines Aussehens jederzeit in der ganzen Organisation städtischen Bauens berücksichtigt werden, die Ansicht der Plätze und Straßen im Verhältnis der Gebäude zueinander müßte immer den Ausblick auf das Gebirge erträglich machen. Aber ich glaube, wir haben nicht den Mut dazu. Die Maxime unseres Bauens heißt billig und heimelig. Das 27
3.4
PHASE IV
GENETIK
EXPERIMENT NR. 12
DATUM 2016−11−03
ZEIT 17.11 UHR
C
A
B
D
HYBRIDISIERUNG 1940 N. CHR. GT 1 A: 32 / 182 B: 65 / 203 L: 39 GT 1 C: 169 / 75 D: 152 / 222 L: 148 PT FAKTOR: 2 WERT: 93 M = 86% MUTATIONSVERLAUF
GT = GENOTYP
PT = PHÄNOTYP
M = MUTATION
LAB C2F
Geschäft hebt nicht den Kopf zum Himmel. Die Gesellschaft ist überschaubar, aber sie muß als unüberschaubar gelten, international: daher die Supermärkte, die normierten Produkte überall, die Kunststoffmaterialien, die allen Atem ersticken, der schrankenlos geduldete und geförderte Verkehr, die sterilen Abspeisungslokale usw.; die Verleugnung der typischen Landschaft, des typischen Klimas, des typischen Menschencharakters, die Verleugnung des Gebirges. Deshalb sind bei uns wie überall die Taxifahrer frech und die Bankbeamten würdig. Die Politiker wissen, worum es geht, und haben nie darüber nachgedacht. Die jungen Arbeiter werden schick, ihre Hände beschäftigen sich nur mehr mit Schreibstift und Tastatur. Das Lachen ist ein Bellen, wie einstudiert, die Unterhaltung turnt durch die neuesten, unflätigen Witze, es ist wie in einer klitzekleinen Wallstreet. Hinten aber sitzen Herren in der Runde beim Kartenspiel, die Mundwinkel sind nach unten gezogen und die Blicke streng; es gibt keinen Schmäh, nicht einmal ein Grinsen, nur rote Köpfe und halblautes Geschrei, wenn es um strategische Auseinandersetzungen geht. Was ist geschehen? frage ich mich wieder, wenn ich die Kleinstadt von draußen betrachte. Geschehen ist doch nur, was überall geschehen ist in der modernen Zeit, der allgemeine Überlebenstrieb betreibt sein Überleben. Was das Land hat Es kommt immer seltsam an, wenn ich höre, daß das Land schön ist und noch so viele Schätze aus seiner Geschichte hat, die man unbedingt erhalten sollte. Denn all dieses Schöne scheint überhaupt nicht auf uns Zeitgenossen zu wirken, daß wir es nachahmen oder genießen. Höchstens, daß wir es zu vermarkten versuchen, und für Leute, die sich irgendwie dreckig fühlen, mag das attraktiv sein. Ich sehe ein Bücherregal, eine Serie von Fotobänden, schlage einen der Bände auf, blättere ein bißchen hin und her in den Bildern und sage mir: Da fahre ich hin, ich muß einfach einmal weg. Dann
mache ich Fotos, dann habe ich das schöne Land im Kasten, dann kehre ich heim in den Frust. In der Nähe des sogenannten Rindermarktes, in der Stadt, gab es ein kleines Bauernhaus, ein Blockhaus. Als Kinder kamen wir gelegentlich hinein: Es ging drei oder vier Stufen von der Straße herab ins Dunkel des breiten Flures und weiter in die Stube, die große niedrige, die nach der Straße schaute. Die Fenster waren klein, es war immer dämmrig im Raum, immer schwebte ein Geruch im Dämmer, eine ungewisse Mischung aus Stall und Rauch und was die Saison gerade brachte, und immer maß das träge Tack-Tack einer Standuhr das Schweigen oder das träge Gespräch. Der Verkehr war damals noch gering, und auch war es nicht üblich, den Raum durch ein endloses Radioprogramm zu tapezieren, deshalb standen die Stimmen der Erwachsenen so verloren und zugleich körperlich da, daß sie mir heute noch gegenwärtig sind. Einmal schien eine tiefe Sonne in die Stube und brachte Streifen des Getäfels und des Tisches zu einem kalten, rötlichen Glühen, während die übrigen Ecken in einer Dunkelheit verschwanden. Ich empfand Beklemmung, es trieb mich hinaus und zugleich war ich wie betrunken von einer fremden, märchenhaften Welt. Später sah ich: Die Zeit, als unser Land sozusagen ein Gesamtkunstwerk war, ist vorbei. Jede äußerliche Restauration ist falsche Nostalgie. Wir rätseln zwar, wie aus der Arbeit der Alten die Kunst geworden ist und das Schöne; und wir sehen, daß es gemacht ist aus der Weisheit der Menschenhand, also der Sinnlichkeit und dem Intellekt, der sich das Werkzeug notdürftig selbst gemacht hat, bevor er es ans Material setzt, und der die Weisheit des Materials lange erforscht hat, und also die Weisheit, die die Natur in den Dingen äußert. Aber wollen wir dorthin aufbrechen? Denn die Not, von der die Bauernstube gleichsam geatmet hat, ist nur von einer neuen Not ersetzt worden: Die Wohnräume sind hell geworden und voller Bequemlichkeit, aber der Blick kann sich nicht mehr freuen, das Draußen und Drinnen sind miteinander zerworfen, die Eigenmacht 29
3.5
PHASE V
GENETIK
EXPERIMENT NR. 13
DATUM 2016−11−03
ZEIT 17.48 UHR
C
A
B
HYBRIDISIERUNG 1990 N. CHR. GT 1 A: 26 / 174 B: 61 / 219 L: 56
D
GT 1 C: 169 / 43 D: 152 / 250 L: 207 PT FAKTOR: 2 WERT: 160 M = 220% MUTATIONSVERLAUF
GT = GENOTYP
PT = PHÄNOTYP
M = MUTATION
LAB C2F
hat sich der bequemeren Versorgung preisgegeben. Das Alte ist verloren und das Neue hat kein eigenes Gesicht: Die Dinge stammen nicht von uns, es sind fremde Kinder, die wir nicht lieben. Noch einmal das Gebirge Alles bei uns bestimmt das Gebirge. Die helle Heiterkeit sieht man in anderen Ländern, die näher dem Meer sind. Im Gebirge herrscht der Ernst des Gewaltigen. Die einigermaßen bequem zu bewirtschaftenden Flächen im Tal sind beschattet von den überall steil aufragenden Flanken; die Gürtel der Wälder sind meist dunkel und öde; die Almen öffnen sich in einem kühlen Liebreiz; die letzten Höhen sind wüstenhaft: Ihr Zauber verführt einen hinauf in die Tücken extremer Lebensbedingungen, wo trocken glühende Sonne plötzlich mit einem Sturm wechselt, der einem das Blut aus den Fingern treibt. Das Land urbar zu machen war Mühsal auf Leben und Tod. Die Menschen rodeten ihre Flecken bis über die halben Höhen hinauf und zahlten für den eroberten Raum und den größeren, helleren Himmel mit Kargheit und Abgeschiedenheit. Das Land, großartig, und die Not, alltäglich, mögen den Grundcharakter der Eingeborenen gebildet haben. Der Kampf fördert List und Rohheit, die Dürftigkeit verlangt Ausdauer und Bewirtschaftung auch des Geringsten, aus der Abgeschiedenheit bildete sich die scharf gezeichnete Mundart und ihr Witz, andererseits der Argwohn gegen das Fremde und wechselweise die Gastfreundschaft. Die Arbeit, wie sie dem Jahreskreis folgte und jede Notwendigkeit des Lebens angehen mußte, verlangte Geschicklichkeit von Kopf und Händen, förderte das Ebenmaß im Körperbau, eine Klarheit der Augen, aber auch die typische Bauernschläue, die sich begnügt, wenn sie ihren Vorteil erreicht hat; auch die Grobheit, Schwerfälligkeit, deren Symbol die Hände sind, die in die Länge gezogen scheinen und in die Breite gepreßt vom Gewicht der Erde. Das ist nur ein Umriß, aus dem die tausenderlei Gestal-
ten des heutigen Lebens treten und ihren Weg gehen; die ihre Hände, zum Beispiel, ans Lenkrad eines Betonmischwagens legen oder an die Tasten eines Computers. Die Hände nehmen vielleicht Speck und Käse, folienverschweißt, aus einer Truhe im Supermarkt, oder manchmal ein Stück von daheim, aus einem Haus, in das eine Normküche niemals passen wird. Das Gebirge ist der schnellen, glatten Bewegung entgegen, aber es kann sie nicht verhindern. Die bunten Lichter der Großstadt schimmern in die Träume des Dorfes, wenn die Stille der Nacht vom Schlagwerk der Kirchturmuhr ins Bodenlose geöffnet wird. Die Sitten der Väter und Mütter sind nur mehr von ihrem Alter schwer und kranken noch dahin unter der Gewohnheit und der modernen Moral von Angebot und Nachfrage, die jedes Verhältnis mit Paragraph und Konto regelt. Als Ausgewanderte bleiben wir, die Söhne und Enkel von Bauern, in der alten Heimat, ertragen in beharrlichem Leugnen das Fragwürdige. Einmal erwache ich. Das Gebirge erscheint mir dunkel mitten am Tag. Nicht nur diese endlosen Fichtenhänge oder die späten, bläulichgrünen Wiesen und die vereinzelten Eschenbäume darin. Die Schattenbäuche der Wolken sind dunkel, ein feuchtes Dunkel, das wiederkehrt herunten an der Rinde der Holunderstämme wie ein Beharren der Nacht. Das Dunkel steigt auf in die Zweige und in die violettschwarzen Beeren auf den weinroten Stengeln. Ja, hier sehe ich die Farbe dieses Spätsommertages in diesem Land. Es ist eine ganz typische Farbe, eine Grundstimmung im Gefüge unserer Jahreszeiten. Das Dunkel beschwert mein Gemüt nicht. Es ist ein schöner Fleck hier, ich sitze gern hier und schaue aus, und sehe, wie sich das Immergleiche immer verwandelt. Der Fleck gehört mir aber nicht, ich habe ihn geliehen bekommen, damit ich ein Lied singen kann. (dem Andenken an Johannes E. Trojer)
31
4.1
BALLISTIK COLT M1861 NAVY
HK PSG1
HK SFP9
P6
P7[A 1]
P8/P30V1 (CDA)
P99 DAO
REMINGTON MODEL 51
STEYR IWS 2000
SG 550-1 SNIPER
FORENSIK
EXPERIMENT NR. 14
DATUM 2016−11−04
ZEIT 9.01 UHR
LAB C2F
Brenner-Gespräch (16): „Ich habe keine Dramaturgie im Leben.“
So viele Leute fahren über die Alpen nach Italien. Quart bittet herausragende Persönlichkeiten an den Straßenrand zu einer Jause und einem Gespräch. Folge 16: Kommissar Simon Brenner ermittelt autochthon wie nie – der Kabarettist und Schauspieler Josef Hader im Gespräch mit dem Journalisten Michael Kerbler über Achterbahnfahrten, Heimatgefühl ohne Nationalismus und die edle Form der Rache.
Michael Kerbler: Herr Hader, wir sind keine Stunde vom Brenner entfernt. Glauben Sie, dass wir bald wieder ständige Kontrollen an unseren Grenzen haben werden? Josef Hader: Hoffentlich nicht. Ich glaube, die derzeitige Regierung versucht das zu vermeiden – alle spüren natürlich die große Symbolkraft dieser Grenze. M. K.: Haben Sie den Eindruck, dass in Europa immer mehr Grenzen innerhalb der Länder entstehen? Immer mehr Regionen betonen ihre Eigenheiten und Dialekte. J. H.: Wenn das ein Bewusstsein ist für eine Art von Heimatgefühl, das nichts mit Nation zu tun hat, dann bin ich sofort dabei, das zu unterstützen. Ich glaube, dass die Grenzen in Europa vor allem nicht zwischen den Regionen verlaufen, sondern zwischen Arm und Reich und es den Mittelstand zerbröselt. Und zwar in allen Gesellschaften, wo dem schrankenlosen Kapitalismus keine Grenzen gesetzt werden. Wenn man Europa weltweit und im Licht der Flüchtlingskrise betrachtet, ist das Auseinanderklaffen der Schere zwischen Arm und Reich für alle Probleme verantwortlich. Wir können dem Kapitalismus leider die Kosten nicht verrechnen, die er weltweit durch Konflikte verursacht, und für das Unglück, das daraus entsteht. M. K.: Befinden wir uns in der fatalen Situation, dass die Demokratie den Kapitalismus braucht, aber der
Kapitalismus nicht die Demokratie? Kooperiert der Kapitalismus lieber mit Herrn Putin oder mit Peking oder anderen Autokratien? J. H.: Das ist so ein guter Glaube aus dem Kalten Krieg, dass Kapitalismus und Demokratie eine unumstößliche Einheit bilden. Das war die Zeit, in der der Gegner einfach grundsätzlich immer mit Planwirtschaft identifiziert worden ist. Ein schöner Gedanke: Der Kapitalismus impliziert Freiheit, aber das stimmt eben nicht. M. K.: Haben wir – ich meine Journalisten, Filmemacher und auch Kabarettisten – diese Entwicklung, die Orbán begonnen hat, einfach verschlafen? Dass zwar innerhalb Europas die Grenzen weg waren, nicht aber die Sehnsucht danach und dass sie daher schnell durch Stacheldraht und Mauern ersetzt wurden? J. H.: Ich denke, dass Diktaturen, die schön brav nur in ihrem Land geblieben sind und nicht zu viel Einfluss auf die Nachbarstaaten ausgeübt haben, auch während des ganzen Kalten Krieges willkommene Partner waren. Das heißt, Sensibilität für autokratische Systeme war nie vorhanden. Man hat ja auch in gewisser Weise gewusst, dass man davon profitiert, wenn in bestimmten Ländern „stabile“ Verhältnisse herrschen. Und plötzlich ist aus den autokratischen Systemen in Russland und der Türkei ein Machtblock entstanden. Wenn der sich einig ist, dann kann er in der ersten Liga der Machtpolitik mitspielen. 33
4.2
VIDEO
T+1
T+2
T+3
FORENSIK
EXPERIMENT NR. 15
DATUM 2016−11−04
ZEIT 9.19 UHR
LAB C2F
Ein weiteres Problem ist, dass einige Staaten Osteuropas Gefahr laufen, auch in diese Richtung zu driften. Die Ungleichheit zwischen Arm und Reich und die unmöglichen Lebensumstände, die im Nahen Osten und in Teilen Afrikas herrschen, sind ja keine Erfindung der letzten fünf Jahre. Die gab es ja eigentlich immer, es waren nur nicht so viele gleichzeitig und es gab noch nicht die Möglichkeiten, dass Menschen diesen unzumutbaren Lebensumständen entkommen konnten und bis an unsere Grenzen gelangen. M. K.: Sprechen wir über Ihre Filme, etwa über Ihre Rolle des Stefan Zweig in „Vor der Morgenröte“. Wie legt man so eine Rolle an? J. H.: Das ist ganz schwer. Darüber hätte ich bei meinen ersten Rollen im Film so gern eine Auskunft gehabt. Aber jeder erzählt einem andere Dinge, und das ist auch – glaube ich – die Wahrheit. Das Wichtige ist der Wille, irgendwie an allen möglichen Ecken und Enden in eine Figur hineinzukommen. Ob man dann Biografien liest oder irgendwelche Vorbilder studiert, alte Filme anschaut oder ob man einen Menschen in seinem eigenen Leben versucht zu entdecken, der die Züge einer bestimmten Figur hat – ich glaube, es gibt hundert verschiedene Methoden und jeder hat irgendeine Mischvariante. M. K.: Bertolt Brecht sagt, der Schauspieler zeigt jemanden – er versucht nicht, sich in die Person zu verwandeln. Und der russische Dramaturg und Schauspiellehrer Konstantin Stanislawski sagt, der Schauspieler muss die Figur sein – er soll nicht eine Rolle spielen, er muss zu dem, den er darstellt – in Ihrem Fall Stefan Zweig – werden. In Wahrheit ist das die Frage: Hand oder Handschuh? J. H.: Für mich sind das zwei Seiten einer Medaille. Ich denke mir, dass man immer eine Art Analyse braucht
und ein Denken von außen, ein sehr rationelles Denken von außen, auch die eine oder andere berechnende Idee. Und gleichzeitig braucht man so etwas wie Intuition, die Fähigkeit, sich einzufühlen in bestimmte Situationen. M. K.: Wann waren Sie sich sicher, eine Rolle spielen zu können, Schauspieler zu sein? J. H.: Ich habe in jungen Jahren einige Male wirklich nicht sehr gut Theater gespielt. Und beim Film ist es mir aus irgendeinem Grund leichter gefallen. Das heißt, ich habe viel stärker das Gefühl gehabt, dass ich eine Figur erwische. Komischerweise habe ich mich im Probenprozess im Theater oft entfernt von dem, was ich will. Weil da so viele Menschen auf einer Probe sind, die alle etwas wollen und die meistens ein bisschen mehr Durchsetzungsvermögen haben als ich. Da habe ich mich dabei ertappt, dass ich in den letzten Wochen vor Theaterpremieren mir noch einmal – allein – die Rolle herholen musste, die ich während der Proben verloren hatte. Dagegen der Prozess, so wie er beim Film ist, damit konnte ich besser umgehen. Bevor die Dreharbeiten beginnen, bin ich fast ganz allein auf mich gestellt. Ich suche die Figur selber und setze sie im Lauf des Films wie ein Puzzle zusammen. Das liegt mir. M. K.: „Dazu fällt mir ein: Wenn Sie als freundlicher Mensch herumgehen, –“ J. H.: Das stammt von Bernhard! Ich bin Kabarettist, ich kenne das Zitat auswendig. M. K.: Bernhard sagte: „Wenn Sie in Österreich als freundlicher Mensch herumgehen, dann sind Sie erledigt, da gelten Sie als Kabarettist. In Österreich macht man alles Ernsthafte zum Kabarett und entschärft es damit und alles Ernsthafte wandert auf die Witzseite. Und so ertragen die Österreicher den Ernst nur als 35
4.3
AUDIO
02:34:30
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FORENSIK
EXPERIMENT NR. 16
DATUM 2016−11−04
ZEIT 9.52 UHR
LAB C2F
Witz.“ Hilft Ihnen Thomas Bernhard mit solchen Erkenntnissen in Zeiten wie diesen über die Untiefen der österreichischen Innenpolitik hinweg? J. H.: Für mich ist das ja eine sehr kabarettistische Aussage, weil sie natürlich mit Zuspitzungen arbeitet. Da muss ich an einen Satz von Robert Musil denken. Musil, der eine Zeit lang Literaturkritiker war, hat über seine Tätigkeit später gesagt: „Ich hätte ebenso gut immer das Gegenteil schreiben können, das hätte auch irgendwie gestimmt.“ Bernhard hat in den Romanen am Anfang wirklich noch versucht, eine ganze Welt mit Sprache zu umfassen, und er hat da mit allem Möglichen gearbeitet, eigentlich mit einem Stilmix. Man hört noch den Lyriker. Am besten sollte man es laut lesen. Bernhards Theaterstücke waren für mich immer Lustspiele, vom ersten Moment an. Ich erinnere mich an „Über allen Gipfeln ist Ruh, ein deutscher Dichtertag um 1980“. Damals hatte ich frisch maturiert, bin vor dem Fernseher gesessen und habe einer völligen Vernichtung der abendländischen Kultur beigewohnt. Es war großartig, wunderbar, aber letztendlich natürlich eine hochsatirische Angelegenheit. M. K.: Ist der Satiriker Hader manchmal ein bisschen neidisch, wie es Thomas Bernhard gelungen ist, durch seine unglaubliche Übertreibungskunst, etwa durch den Satz „Alle Österreicher sind Nazis“, Ablehnung und Widerstand zu provozieren? J. H.: Nein. Ich denke mir, dass Bernhard jetzt zu Recht das Unglück passiert, dass er so heiliggesprochen wurde, dass jeder Satz von ihm nun ernst genommen wird. Ich glaube, langfristig würde ihm das ziemlich auf die Nerven gehen, wenn er noch am Leben wäre. Dazu ein Zitat von Thomas Bernhard: „Eigentlich ist man nackert und man schreibt und schreibt, um sich anzuziehen, aber man bleibt immer gleich nackert.“ – Also wenn jemand einen Panzer aus Ironie strickt, schmie-
det, häkelt, und dann lösen die Literaturkritiker einzelne Sätzchen aus dem Panzer heraus, das ist schon absurd. Denn eigentlich darf kein vernünftig denkender Mensch – sage ich einmal ganz provokant – einen einzelnen Satz von Thomas Bernhard hernehmen und den ernst nehmen. Thomas Bernhard kann man nur ernst nehmen in der Gesamtheit von vielen Sätzen. M. K.: In einem Ihrer Interviews habe ich folgende Aussage gelesen: „Mein Leben ist wie eine Achterbahnfahrt. Es ist abwechslungsreich, aber es hat auch Brüche und neue Anfänge.“ Ich habe sofort an die Achterbahn in Ihrem neuen Film „Wilde Maus“ gedacht, dem ersten Film, bei dem Sie auch Regie führen. Ist die Achterbahn eine Metapher auf Ihr Leben? J. H.: Bei einer Achterbahn ist man ja froh, dass es aus ist – meistens. Insofern wäre das als Metapher für’s Leben ganz schlecht. Ich werde nicht wirklich froh sein, glaube ich. M. K.: Ganz kurz zum Inhalt: Da gibt’s einen Menschen, der Musikkritiker ist und entlassen wird … J. H.: … und das ist für ihn so ein schwerer Egoverlust, dass er es erstens zu Hause nicht sagen kann, dann in der Nacht kleine Sachbeschädigungen beim Chefredakteur begeht und sich damit in die Bredouille reitet. Und zweitens muss er die Tage, an denen er angeblich in der Arbeit ist, irgendwo verbringen. Infolgedessen geht er in den Prater und lernt dort einen ehemaligen Schulkollegen neu kennen, mit dem er dann herumhängt. Das Ganze mündet in einer gnadenlosen Abwärtsspirale. Es ist ein Film, wo ich versucht habe, Komödie und Tragödie ganz gleichberechtigt sein zu lassen. Mir war wichtig, dass wie bei „Indien“ – und das ist jetzt der Unterschied zu den Filmen, die ich dazwischen gemacht habe – das wirklich Spannende im Film ist, was zwischen den Menschen passiert. 37
4.4
ATROPHIE
EXPERIMENT NR. 17
FORENSIK
+1H
+ 1 + 23 H
+1+1T
+1+2T
+ 1 + 3T
+ 1+4 T
DATUM 2016−11−04
ZEIT 10.27 UHR
LAB C2F
M. K.: Weil wir über Grenzen geredet haben: in „Wilde Maus“ passiert eine Grenzüberschreitung, soweit ich den Film verstanden habe.
M. K.: Jean-Luc Godard hat einmal über Filmregisseure gesagt: „Ein guter Regisseur ist eine Person, die die Kamera dazu benutzt, um etwas zu sehen, was man ohne Kamera nicht sieht.“
J. H.: In welcher Form? J. H.: Er hat recht – ein gescheiter Satz. M. K.: Rache. Es wird Rache geübt. J. H.: Ach so, Rache. Ja, ja, natürlich. M. K.: Aber Rache kann auch, sagt der deutsche Sozialpsychologe Mario Gollwitzer, der seit Jahren über Rache forscht, Erleichterung bringen. Weil durch kleine Revanchen die Psyche wieder in Balance kommt und es eben nicht blutig enden muss. Haben Sie je daran gedacht – etwa in einem Kabarettprogramm –, es jemandem, der Ihnen Unrecht zugefügt hat, heimzuzahlen? J. H.: Nein. Ich habe da meine eigene Taktik. Bei mir ist es so: Wenn jemand gewisse Grenzen sehr stark verletzt und mir bewusst schadet, dann kann ich den so richtig streichen. Ob das gesünder ist als Rache, weiß ich nicht. Jedenfalls gibt’s so ein paar Leute, mit denen ich mich dann nicht mehr beschäftige. Als würde man eine Zimmertür zumachen und den Schlüssel wegwerfen. In privaten Beziehungen ist mir so etwas noch nie passiert. Rache ist natürlich ein grandioses Filmmotiv, weil es eine ganze Tradition gibt, wie Rache im Film zu passieren hat. In dem Moment, wo man im Kino sitzt und einer Rache beiwohnt, ist es doch meistens so, dass Rache etwas sehr Großartiges ist. Also: Django kommt zurück und schießt alle nieder und das Blut spritzt herum. Oder in den asiatischen Rachefilmen sind das so ganz stilisierte blutige Dinge, die wahnsinnig elegant passieren. Das ist dann die asiatische Rache – passiert genauso blutig, aber eben elegant. Wir sind es gewohnt, dass Rache nichts Komisches ist. Und das Interessante für mich war, Rache in die Komödie zu integrieren.
M. K.: Was sieht Josef Hader durch die Kamera, was man in der Realität nicht sieht? J. H.: Es ist ein ganz eigenartiger Prozess. Die Kamera kann in gewisser Hinsicht tatsächlich genauer beobachten als der Mensch. Wenn ich als Schauspieler etwas mache, was im Theater mit einer gewissen Technik relativ glaubhaft wirkt, schaut die Kamera viel genauer hin und zwingt mich dazu, meine Absichten besser zu verstecken oder manchmal auch gar keine zu haben. Gleichzeitig hat der Film die Eigenschaft, dass man plötzlich jede Distanz verlieren kann zu dem, was man sieht. Es ensteht eine Art Identifikation oder auch Betroffenheit, ausgelöst durch das Ereignis auf der Leinwand, obwohl es ein total technisches Medium ist. M. K.: Sie haben ziemlich viel Zeit im Schneideraum verbracht. War der Filmschnitt mindestens so aufwendig oder bedeutend wie die Arbeit am Set? J. H.: Aufwendig nicht. Aber ganz wichtig ist die Arbeit im Schneideraum, weil der Film eben keine lineare Geschichte erzählt, sondern sich ständig im Schauplatzwechsel bewegt. Es geht um die Gewichtung der Erzählstränge, die Frage lautet: Wie ergibt das alles miteinander eine Geschichte? M. K.: Und das haben Sie letztlich erst im Schneideraum entschieden? J. H.: Die Gewichtung weiß man erst im Schneideraum! Ein Drehbuch ist letztendlich eine Partitur mit be39
4.5
STILETT
+ 11 CM
+ 11 + 11 CM
+ 22 – 11 CM
+ 22 CM
+ 22 +11 CM
+ 22 + 21 CM
+ 23 – 11 CM
+ 23 CM
+ 32 CM
+ 32 + 11 CM
FORENSIK
EXPERIMENT NR. 18
DATUM 2016−11−04
ZEIT 11.16 UHR
LAB C2F
stimmten Vorstellungen und dann kommen die Schauspieler dazu. Und wenn das große Glück passiert, dass die Schauspieler etwas dazugeben, dann entsteht eine neue Gewichtung. Um alles wieder ins richtige Lot zu bringen, bin ich beim Schnitt schon vom Drehbuch abgewichen. Ich habe gekürzt, habe manche Dinge mehr betont, manche weniger. M. K.: Erheben Sie für diesen Film „Wilde Maus“ im Sinne von Jean-Luc Godard – es gehe darum, keine politischen Filme, sondern Filme politisch zu machen – den Anspruch, dass der Film eine politische Aussage in sich trägt? J. H.: Das ist auch ein sehr kluger Satz. Große Filme, egal ob das ein Thriller ist, eine Komödie oder sonst was, zeigen eigentlich immer die Haltung desjenigen, der das Drehbuch schreibt und den Film dreht. Ich möchte mich wirklich nicht mit großen Regisseuren vergleichen. Was ich versucht habe ist, die Gesellschaft so zu zeigen, wie sie sich jetzt präsentiert, auch die Probleme der Gesellschaft, die am Horizont sichtbar sind, und die Reaktionen der Hauptfiguren sind dementsprechend. Es ist ein Stück weit auch eine Satire; ich weiß nicht, ob man das so sagen kann, aber es ist ansatzweise auch eine Satire über ein neues Bürgertum, das hip und ökologisch ist und nie von sich sagen würde, dass es zum Bürgertum gehört. Alle Hauptfiguren sind so ein bisschen neue Bürger – nicht die im Prater, aber die anderen, die in der Stadt, in Wien. M. K.: Haben der Filmregisseur und der Schauspieler Hader den Kabarettisten zur Nebenfigur erklärt?
J. H.: Die Absicht war einfach, das Kabarett für einige Jahre ein bisschen hintanzustellen, weil ich gewusst habe, wenn ich ein neues Kabarettprogramm erarbeite, dann mache ich den Film nicht. Da war der Gedanke sehr hilfreich, dass ich ein neues Kabarettprogramm auch noch machen kann, wenn ich älter bin. Wenn man hingegen zum ersten Mal Filmregie macht, gibt es eine gewisse Altersgrenze, weil man die Herausforderungen einfach körperlich nicht mehr bewältigt. Und wenn man das zum ersten Mal macht, dann sollte man nicht unbedingt ein Greis sein. Als Greis kann man aber noch immer Kabarettprogramme schreiben. Manchmal ist das fortgeschrittene Alter eine gewisse Hilfe, weil man dann Dinge tut, für die man vorher zu unentschlossen war. M. K.: Koketterie ist ein Fremdwort für Sie? J. H.: Nein, nein – aber – das ist auch ein Zitat von Thomas Bernhard: „Die meisten dummen Menschen tun so, als hätten sie noch das halbe Leben vor sich, sind schon ganz alt und glauben immer noch, sie haben das Leben vor sich.“ Und da bin ich ganz bei Thomas Bernhard, man soll seine Arbeit immer so verrichten, aber auch so leben, als hätte man nicht mehr allzu lange Zeit. In den letzten eineinhalb Jahren habe ich so viele verschiedene Dinge gemacht und es war so spannend und so intensiv, dass ich jetzt das Gefühl habe, ich sei zehn Jahre auf Tournee gewesen. Insofern wirkt es meiner Erfahrung nach lebensverlängernd, wenn man beginnt, neue Dinge zu machen je älter man wird, immer neue Dinge. Das ist eine gute Sache.
J. H.: Ich habe ja keine Dramaturgie in meinem Leben. M. K.: Aber Sie werden doch gewisse Absichten haben, nicht?
41
5.1
MIKROBIOLOGIE
ELEKTROMIKROSKOPISCHE AUFNAHME VERGRÖSSERUNG 1 : 5’000’000
PARASITOZÖNOSE
EXPERIMENT NR. 19
DATUM 2016−11−07
ZEIT 8.22 UHR
LAB C2F
Der Parasit
Sophie Tiller lässt es in einem künstlerischen Langzeitprojekt aus Naturkundebüchern sprießen – und zeigt Bilder davon erstmals in Quart (auf den folgenden Doppelseiten). Hier ein paar Zeilen zur Arbeit:
„Verwendet wurden Naturkundebücher, in diese wurden Löcher gebohrt, mit Erde befüllt und Kapuzinerkresse gepflanzt. In jedem Bild wird ein Durchgangsstadium gezeigt. Wir sehen keinen Anfangs- und keinen Endpunkt, sondern verschiedene prozesshafte Versuchsanordnungen, die keine chronologische Abfolge zeigen. Es handelt sich nicht um eine wissenschaftliche Dokumentation, sondern um eine freie Interpretation der verschiedenen Stadien und Zustände. Es geht um das Hinterfragen von Ordnungssystemen und um den Wunsch des Menschen, alles aufzulisten und dadurch dauerhafte Ordnungskriterien aufstellen zu können. Die Pflanzen ihrerseits erwachen zum Leben, verselbständigen sich, geraten außer Kontrolle – der nicht vorhersehbare Prozess nimmt seinen Lauf. Dies steht für das Chaotische und Irrationale des Lebens mit seiner Alogik und Zufälligkeit.
Gepflanzt wurde Kapuzinerkresse, eine mehrjährige, widerstandsfähige und genügsame Pflanze, die in ihrem Lebenszyklus Blüten und später Früchte bekommt. Die erste Ansiedlung einer Lebensform ist hier nicht dem Zufall überlassen, sondern planmäßig initiiert. Später sind andere Pflanzen-‚Parasiten‘ durch Flugsamen hinzugekommen und verdrängen die Kapuzinerkresse in immer größerem Ausmaß. Die pflanzliche Besiedelung bereitet den Lebensraum für die tierische Besiedelung vor (Würmer, Bakterien, Schnecken …) Das Buch steht in dieser Arbeit symbolhaft für die kulturelle Leistung des Menschen, die über seinen Tod hinaus existiert und zur Grundlage neuer Transformationsprozesse wird. Auch der Körper bleibt noch eine Zeit lang bestehen, bis er irgendwann zur Grundlage von Pflanzen wird.“
43
Q 07 Q 08 Q 09 Q 10
Q 19 Q 20
Q 18 Q 17 Q 16
Q 21
Q 15 Q 22
Q 11
Q 14 Q 05
Q 23
Q 04
Q 03
Q 12
Q 02 Q 24
Q 13 Q 01
Q 25 Q 26
Q 27
Q 28 © Freytag-Berndt und Artaria KG, 1231 Wien, Austria
Q 06
6.1
SONNENAZIMUTE
EXPERIMENT NR. 20
METEOROLOGIE
DATUM 2016−11−09
13:00:55
14:00:43
15:00:18
16:00:02
17:00:47
18:00:23
19:00:55
20:00:55
21:01:01
22:00:54
23:00:12
24:00:17
01:03:07
02:00:56
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04:00:02
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06:00:03
07:00:39
08:01:01
09:00:32
10:00:05
11:00:14
12:00:09
13:00:34
14:00:09
15:00:45
16:00:18
17:00:35
18:00:17
19:00:56
ZEIT 13.46 UHR
LAB C2F
20:00:32
STATION VEZA 3 / 47˚00'10.2''N 0
50 000
100 000
150000 LX SÜD
+30˚
+60˚
WEST
+120˚
Tal der Möglichkeiten Landvermessung No. 5, Sequenz 1 Von Virgen über Hinterbichl zur Islitzer Alm
Geschichten kann man auch durch geometrische Operationen auf der Landkarte generieren: In Quart folgen unterschiedliche Autoren mit unterschiedlicher Kondition unterschiedlichen Linien (s. Übersichtskarte). Wir befinden uns derzeit auf der Geraden, die von Obermauern im Virgental Richtung Südtirol und weiter ins Trentino führt. Carolina Schutti muss wohl oder übel die Tallage genießen. Das heißt: Café Sinne, Walking Arena, Romantikrunde. Meisterwerke der Natur. Da – die Erkenntnis: „Schmale Täler lassen sich nur ertragen, wenn man sich über ihre Grenzen erhebt.“
Ganz anders hätte es kommen sollen, ganz anders. Die Linie hätte ich austricksen wollen, hätte sie von oben besehen: die Geradlinigkeit dieses gerechten Tales. Gerecht, weil kein Schattseitiger neidig auf die Sunnseitn blicken muss, weil sich die Schatten willkürlich und kleinräumig verteilen, den Bergspitzen nach: hier ein Haus und da ein Haus, aber nicht gleich ein ganzer Hang, der monatelang keine Sonne abbekommt. Den Sommer in der Muskulatur hätte ich den Anfang der neuen Linie gut fixiert, wäre spaziert von Virgen nach Obermauern (hätte Obermauern genau besehen, fotografiert und mir eingeprägt) und mangels Unterkunft wieder retour, hätte – die vorgezeichnete Linie immer im Blick – das Tal verlassen, wäre aus dem schwarzen Dreieck hinausgestiegen und 1300 Höhenmeter über dem Talgrund hätte ich in der Bonn-MatreierHütte Heinz begrüßt, von dem ich nun, nach vereiteltem Plan, immer noch nicht mehr als nur den Namen kenne. Ich hätte den ohnehin leichten Rucksack noch leichter gemacht, wäre noch etwas weiter nach oben gestiegen, auf den Säulkopf (3209 m) oder zumindest auf den Rauhkopf (3070 m) (immer die vorgezeichnete Linie im Blick, selbstverständlich), hätte den Blick schweifen lassen in alle Richtungen, hätte nach unten fotografiert, nach links und nach rechts, um später etwas zu haben, woran ich meine Sätze aufhängen kann
(20.000 Zeichen, in meiner Sprache!, das ist viel!), um mehr Sätze erfinden zu können, hier noch einen, da noch zwei. Ich wäre abgestiegen zur Hütte, müde, glücklich, hätte mit jemandem geredet, hätte jemanden belauscht, jemanden beobachtet, jemanden gefunden, der die Quelle weiterer Sätze gewesen wäre. Hätte auf die Nacht gewartet, hätte mir die Nacht eingeprägt. Am nächsten Tag dann hätte ich die richtige Richtung eingeschlagen, die vereinbarte, von Ost nach West, die Nase immer schön in der Höhenluft, ich hätte keinen Talblick ausgelassen, und siehe da, bald schon wäre ich in den spitzen Winkel eingetreten, hätte mich im vorgegebenen Kartenausschnitt wiedergefunden, auf dem Adlerweg, der seinen Namen verdient, ich wäre hinuntergestiegen nach Hinterbichl und hätte mir überlegt: Was nun? Noch einen Tag anhängen oder zwei oder drei, der spitze Winkel öffnet sich verführerisch nach Westen, es gibt Wege, es gibt Hütten, der Rucksack ist leicht und das Wetter – Das war’s: Das Wetter. Der Schnee. Der Sturm. Die Anreise: blauer Himmel. Ferraris in Kitzbühel, ein beinahe leerer Postbus auf der Felbertauernstraße. ZAMG und Wetter Tirol und Erhard Berger und eine unverlässliche WetterApp, sie alle sagen voraus, was ich nicht glauben will, ich werde einen schönen Tag 55
6.2
ADHÄSION
01:00:49
TEMP +7.6˚C
02:00:24
TEMP +9.3˚C
METEOROLOGIE
EXPERIMENT NR. 21
DATUM 2016−11−09
ZEIT 14.13 UHR
STATION VEZA 3 / 47˚00'10.2''N 5 MM
LAB C2F
mit Anreise und erstem Spaziergang verschwenden und über Nacht soll Schnee fallen und ein Sturm soll aufziehen, der Bäume umwerfen wird. Noch habe ich Pläne A und B im Gepäck. In Obermauern ist keine Unterkunft zu haben, also steige ich bereits in Virgen aus. Virgen ist herausgeputzt wie alle Ortschaften im Tal, gelbe Alpenvereinsschilder stehen direkt an der Straße. „Das Abenteuerland für echte Alpinisten“, wie es auf der Homepage heißt, beginne hier. Nach über vier Stunden Fahrt kann ich immer noch „griaß di“ sagen, die Diskrepanz zwischen Luftlinien und Fahrtlinien ist groß, und doch nehme ich mir jetzt schon vor, bald wiederzukommen, in diesen Teil Tirols, in dem ich jetzt zum ersten Mal bin. Die Schule hat noch nicht begonnen, die Tochter des Gastwirt-Ehepaars sitzt am Computer an der Rezeption, drückt rasch die Leertaste, als ich hereinkomme, begrüßt mich höflich und auf Standarddeutsch, zeigt mir das Zimmer, huscht raschestmöglich die Stiegen wieder hinunter, ich glaube, das Klicken der Leertaste bis hinauf zu hören. Ich blicke mich kurz um, alles ist schön hergerichtet, die Aussicht endet zwar am nahen Hang, ist aber prächtig und grün. Mittag ist vorbei, im Haus riecht es nach Brathähnchen, das gab es aber nur für die Familie, das hier ist eine Frühstückspension. Bald entfliehe ich dem Essensgeruch, ausgerüstet mit Wasserflasche, Notizbuch, Fotoapparat und Geld. Es gibt eine Bäckerei, ich muss wählen zwischen Kuchen, Topfengolatsche oder Laugenbreze ohne Salz. Ich nehme die Topfengolatsche, dazu einen Kaffee, dann breche ich auf, plangemäß (Plan A und Plan B haben hier noch dieselbe Gestalt) und gehe über den Kreuzweg nach Obermauern. Unterwegs überhole ich zwei Ordensschwestern und eine Katze, auf dem Feldweg kommt mir eine Mutter mit Sohn entgegen, sie unterhalten sich, ich höre im Vorbeigehen kein Murren, kein Knurren, sehe kein missmutiges Gesicht und wundere mich, sieht es doch ganz nach Pflichtspaziergang am
Ende eines Sommerferientages aus. Ich grüße ein auf einer Bank sitzendes Urlauber(ehe)paar. Griaß eich / Halloo. Ohne Zweifel, der Virgener Ortsteil Obermauern ist an sich schon so schön, dass Du meinst, Du befändest Dich mitten in einem Bilderbuch. Die Wallfahrtskirche Maria Schnee macht Obermauern allerdings noch mehr zu einem sehenswerten Ort. Die um 1456 erbaute Kirche beeindruckt mit faszinierenden spätgotischen Fresken, geschaffen von Simon von Taisten, dem Hofmaler des Görzer Grafen. Um die Kirche herum kannst Du das uralte Hofensemble sowie einen malerisch angelegten Kreuzweg bestaunen. (http://www. virgental.at/?id=265) Zur Kirche also. Ich bestaune das uralte Hofensemble, ich bestaune die Alpacas, die diesem Bilderbuch Witz verleihen, ich kann mich kaum losreißen vom Anblick der tierischen Einwanderer vor Urtiroler Kulisse. Mir fällt auf: Kapuzinerkresse (Ursprung: Zentralanden) vor den Fenstern. Man sieht auch Geranien (ich recherchiere: Ursprung Südafrika, um das 17. Jahrhundert von europäischen Kaufleuten nach Europa importiert, richtiger Name Pelargonium), selbstverständlich, aber ich finde die Kapuzinerkresse netter, ich überschlage, wie viele Gläser sich mit falschen Kapern (aus den Blütenknospen der Kapuzinerkresse) füllen ließen. Dieses Jahr habe ich selbst genug, ich widerstehe der Versuchung, die kugeligen Samen aus der fremden Fensterverschönerung zu zupfen. Über den Friedhof gelange ich zur Kirche, zum Kirchlein eigentlich, und werde überrascht von der Farbintensität der Fresken, vom kunstvollen Altar und dem Deckengewölbe. Diese Kirche hat so gar nichts Bäuerliches, nichts Einfaches. Ich lese, dass sie „im Nahbereich eines vorchristlichen Kultplatzes“ errichtet, dass das ursprünglich romanische Bauwerk „mit viel Fingerspitzengefühl“ im spätgotischen Stil umgebaut wurde. Bevor ich gehe, bleibe ich vor den riesigen Sta57
6.3
WINDGRADIENTE
METEOROLOGIE
EXPERIMENT NR. 22
DATUM 2016−11−09
13:00:55
14:00:43
15:00:18
16:00:02
17:00:47
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19:00:56
20:00:32
STATION VEZA 3 / 47˚00'10.2''N
ZEIT 14.47 UHR
5 μM
LAB C2F
tuen im Eingangsbereich stehen. Streng bewachen die Hl. Margaretha und die Hl. Katharina den Eingang. Ich gehe ein wenig zwischen den dunklen Häusern herum. Wolken ziehen auf, es wird kühl. Zeit, die Linie zu „verriegeln“ wie den Anfang einer Naht, also gehe ich den Weg zurück, den ich gekommen bin, wissend, dass ich ihn morgen noch einmal gehen muss (Plan A und Plan B sind immer noch identisch, ich versuche, die Wolken mit bösen Blicken zu vertreiben, dann denke ich an schlechtes Karma und strahle sie an: Herzlich willkommen seid ihr, aber wartet bitte noch ein wenig!, und siehe da, die Sonne kommt für einen Moment wieder zum Vorschein). Ich will nicht an Plan B denken, zu sehr graut mir vor einer Talwanderung auf gutem Weg. Es ist schon so, schmale Täler lassen sich nur ertragen, indem man sich regelmäßig über ihre Grenzen erhebt, wenn die mauerngleichen Flanken in der Höhe zu schmalen Linien werden, zu einer Knitterfalte in einem Meer aus Gipfeln, das sich irgendwo in der Ferne im Dunst verliert. Es ist kurz nach sechs, die Topfengolatsche ist verdaut, der Hunger meldet sich. Das Mädchen an der Rezeption hat mir ein Lokal empfohlen (das einzige), doch ich stehe vor verschlossener Tür, Montag ist Ruhetag. Die wenigen anderen Gäste haben sich mit Autos beholfen und sind nach Prägraten gefahren, erfahre ich später, doch ich, umweltgerecht angereist, sitze hier fest. Die junge Dame des Hauses hat verschwiegen: Es gibt noch ein Lokal. Es steht nicht auf der Empfehlungsliste, aber es hat geöffnet. So gehe ich also zu El Sayed Hussein ins Café Sinne, erwarte mangels Empfehlung und angesichts des ersten Eindrucks Tiefkühlpizza, aber nein: Es kommt eine der besten Pizzen meines Lebens, ein knuspriges, knoblauchiges Geschmackserlebnis. Nicht empfehlenswert ist einzig der Gastraum, der riecht trotz Rauchverbots nach kaltem Rauch und altem Kunstleder, außerdem läuft der Fernseher. Ich bleibe trotz zunehmender Kälte auf der Terrasse sitzen.
Plan B: Als ich am nächsten Morgen aus dem Fenster schaue: Regen. Und ist das Schnee auf den Gipfeln, die für den Bruchteil einer Sekunde zwischen den Wolken herausschauen? Ich frühstücke, zögere den Aufbruch hinaus, doch es nützt nichts, wenn wetterberichtsgetreu der Regen schon da ist (und der Schnee), ist auch die Wahrscheinlichkeit für tatsächlich aufkommenden Sturm gegeben, sinnlos, sich da aufzumachen in die 3000er-Region. Ich steige in meine unpassenden, zu festen, zu harten, zu steifen Schuhe, ziehe einen Regenschutz über meinen Rucksack und gehe einige Schritte Richtung Osten, stehe vor einer großen Tafel, vor den bunten Linien, die Lust machen sollen, sich am Talboden sportlich zu betätigen. Ich lese: Adlerweg! Aber nicht „der“ Adlerweg hoch oben, sondern ein Namensvetter, Teil des „Bewegten Tals“ in der „Walking Arena Virgental“. Mein Standort hat die Nummer fünf, der Begleittext am Rand der Tafel sagt: „Das imposante Virgental am Südhang der Hohen Tauern saugt die Sonne buchstäblich auf – damit Sie sie einatmen können“ (ich lache gequält, niemand hört mich, ich stehe hier mit meinem wasserdicht verpackten Rucksack ganz allein), „denn die herrlich angelegten Wege und Steige führen Sie in alle Tallagen und gewähren Ihnen einzigartige Ausblicke auf die beeindruckende Bergwelt und die gepflegte Kulturlandschaft im Tal“. Ich beschließe, ab nun nicht daran zu denken, dass ICH in der beeindruckenden Bergwelt stehen wollte und lediglich MEIN BLICK die gepflegte Kulturlandschaft im Tal hätte streifen sollen. Schluss, aus, wer weiß, wozu es gut ist, es gibt schließlich massenhaft Leute, die gerne die Tallagen genießen, und ich lasse mich in meinen falschen Schuhen jetzt einfach darauf ein. Punkt. Heute überhole ich niemanden. Keine Ordensfrauen, keine Katzen. Die Kinder gehen noch nicht spazieren, vielleicht kreisen sie bereits möglichst unauffällig um die Computer und warten, bis die Eltern aus dem Haus oder sonstwie beschäftigt sind. Mein „Adlerweg“ (nicht einmal den Bauch eines Adlers wird man 59
6.4
CUMULOIDE
METEOROLOGIE
EXPERIMENT NR. 23
DATUM 2016−11−09
13:00:55
14:00:43
15:00:18
16:00:02
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18:00:23
19:00:55
20:00:55
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23:00:12
24:00:17
01:03:07
02:00:56
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10:00:05
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12:00:09
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14:00:09
15:00:45
16:00:18
17:00:35
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ZEIT 15.18 UHR
20:00:32
STATION VEZA 3 / 47˚00'10.2''N 0
25
50
75
100 %
500 M
LAB C2F
von hier unten erkennen können, aber bitte), mein Adlerweg also soll mich in einer ersten Etappe über die Hohe Bank nach Bobojach führen. Ich durchquere Obermauern und komme bald in eine tatsächlich ansprechende Umgebung: abgegraste Wiesenflächen, Baumgruppen, Felsblöcke. Es riecht nach Berg und Regen. Der Weg wird schmal und zunehmend etwas steiler, auf einmal steht ein Schild am Wegrand, nicht gelb, sondern weiß, ich befinde mich auf der Romantikrunde, lese ich. Ach ja, die Walking Arena Virgental. Romantisch ist es, schöner Mischwald, alles voller erfrischender Regentropfen und Nebelschwaden, ab und an ein umgestürzter, halb morscher Baum. Und dann, bald nach dem Schild, ist sie da, die Schlüsselstelle! Ein Drahtseil, Felsen, ein Abgrund. Ich bleibe stehen, habe doch tatsächlich einiges an Höhe gewonnen. Die schmale Straße im Tal blitzt zwischen dichtem Wald hervor, man hört die Isel rauschen. Immer noch bin ich allein auf meiner Romantikrunde, sehe nicht einmal ein Tier. (Allein werde ich bleiben bis zum vermuteten, aber in diesem Ausmaß doch nicht erwarteten Schrecken, aber dazu später.) Es böte sich die Gelegenheit, hier doch noch zur Bonn-Matreier-Hütte abzuzweigen, in meinen Plan A einzufädeln, aber das Wetter wird nicht besser, im Gegenteil, in den Wipfeln höre ich den Sturm. Eine gefährliche Stelle, jetzt tatsächlich, ich packe die Stöcke aus. Der Weg verliert sich auf einmal unsichtbar in einer nicht gemähten, steilen, nassen Wiese. Eine Erinnerung an eine (lustlose) Wanderung in irgendwelchen Hügelbergen in Vorarlberg stellt sich ein. Auch damals: steile Wiesenhänge, Matsch, keine Aussicht, kein Vergnügen, wiederholtes Ausrutschen und wenige Tage später eine Meldung in der Zeitung von einem, der nicht so viel Glück hatte wie ich. Vorsichtig bewege ich mich auf ein fernes Gatter zu, wo ich den Weg vermute. Die Romantikrunde hat mich wieder, der Pfad wird zu einem Karrenweg und führt zur Straße hinunter. Ich bin in Wallhorn, bald darauf in Prägraten. Hier
öffnet sich das „Tor zu einer hochalpinen Traumwelt“: Das Bergsteigerdorf bettet sich wie gemalt zwischen die vergletscherte Venediger- und die Larsörlinggruppe am Ende des Virgentals. Ein Großteil des Gemeindegebietes liegt im Nationalpark Hohe Tauern, was Dir unberührte Landschaften, intakte Gletscher mit glasklaren Seen und Flüssen sowie eine einzigartige Tierwelt garantiert. Einfach ein Meisterwerk der Natur! Atemberaubend thront die „Weltalte Majestät“ – der 3674 m hohe Großvenediger – erhaben über dem Ort, flankiert von seinem Hofstaat: Dem Rainerhorn, der Schwarzen Wand, dem Hohen Zaun, dem Hohen Aderl sowie von 60 weiteren Dreitausendern, die alle darauf warten, von Dir erobert zu werden. Denn in Prägraten kannst Du Deine Bergausrüstung bis ans Limit testen! Zum Beispiel mit anspruchsvollsten Hoch- und Skitouren, bei denen Du tagelang keinen Fuß ins Tal setzen musst. Oder bei wilden Übergängen, wie auf der Alpenkönigroute, der vielleicht schönsten alpinen Tour überhaupt. Oder bei spektakulären Kletterpartien in Fels und Eis. (http://www.virgental.at/erlebnisregion/ praegraten-a-g.html). Ist gut, ist gut, sie werden noch länger warten, der XX und der XY und der XZ und auch Heinz, der Hüttenwirt. Dann vermesse ich Prägraten eben von unten, begegne dem Bergsteigerdorf auf Augenhöhe. Der Regen hat aufgehört, ich schiebe die Kapuze zurück, putze die Brille. Wie begegnet mir der Ort? Mit grasenden Haflingern, mit einem riesigen Plakat, das Kinder in einen „Kletterpark“ lockt (= Hochseilgarten, finde ich wenig später heraus, und frage mich, warum es hier einen Hochseilgarten braucht, wo doch überall Felsblöcke herumliegen). Prägraten beginnt mit einem kleinen Spar-Markt (jahraus, jahrein) und leuchtenden Vogelbeerbäumen (jetzt, im Spätsommer). Gleich hinter dem Spar ist man „Von Kopf bis Fuß auf’s Wandern eingestellt“, der Schriftzug verteilt sich über das gesamte Schaufenster, davor hängen Jacken und Sonnenbril61
6.5
DENDRITE
01:00:49
TEMP −2.5˚C
02:00:24
TEMP −0.5˚C
METEOROLOGIE
EXPERIMENT NR. 24
DATUM 2016−11−09
ZEIT 15.51 UHR
STATION VEZA 3 / 47˚00'10.2''N 5 MM
LAB C2F
len auf Metallständern. Ein paar Schritte weiter eine Krippe – um diese Jahreszeit? – statt Josef, Maria und dem Jesuskind hängt da ein Foto vom Großvenediger. Strohschafe grasen, Hirten sehe ich keine, dafür Werbung für Bergführer. Immer noch bin ich im „Virgental in Bewegung“, mein Standort ist jetzt: C_SparMarkt. Eine türkise Linie (mit der Romantik scheint es ab nun vorbei zu sein) führt ein wenig in die Höhe (Aussicht!!! Die nehme ich!) und dann geradewegs zu meinem Tagesziel Hinterbichl, der letzten Ortschaft am Talschluss. Ich besichtige vorher noch Friedhof und Kirche, fotografiere eine Lawinensperre aus Beton, einen himmelblauen Hydranten und ein blaues Loch in den Wolken. Dann Asphalt. Die türkise Linie will es so. Ich drehe meinen Rücken in den Wind, krame vorsichtig meinen Müsliriegel aus dem Rucksack, beinahe weht es mir den Rucksackregenschutz aus der Hand. Ich werde eine Stunde länger (!) brauchen als das AVSchild prophezeit hat, das liegt am beständigen JackeAN und Jacke-AUS, am Stehenbleiben, am Einprägen, am Fotografieren. Ich merke: Ich bin doch beruflich hier, es muss etwas entstehen nach dieser Wanderung und das unterscheidet sie von allen anderen Wanderungen, die unter anderem dazu dienen, den Kopf zu befreien. Nun soll ich also den Kopf füllen mit Ideen, die sich später in Sprache gießen lassen werden. Ich schultere meinen Rucksack, seufze beim Anblick der Straße. Ein Postauto rast abwärts. Kehre um Kehre gehe ich hinauf nach Bichl (Aussicht!!!), ich fotografiere Felsen zwischen den Häusern, Unterstände für Schafe, Sonnenkollektoren mitten in der steilen Wiese. Ich stelle mich auf den ausgewiesenen Aussichtsplatz und blicke zum Talschluss, Hinterbichl liegt zum Greifen nah. Ich folge einem gelben Schild und stehe bald darauf vor einem weißen: Ich befinde mich auf dem Hinterbichl-Track. Kurze Zeit später ein gelbes Schild: Der Hinterbichl-Track ist zugleich der Höhenweg. Und der Höhenweg hat einen roten Punkt! Kein Asphalt! Kein Forstweg! Ein Steig!
Ich werde schneller, der Weg wird schöner, sehr schön sogar. Die Wolken geben den Blick frei auf den ersten Schnee. Bis 2900, 2800 Meter liegt er, schätze ich. Weit kann es nun nicht mehr sein und weit ist es auch nicht. Hinterbichl begegne ich aus der Vogelperspektive vom Endpunkt meines Höhenweges aus: Ich sehe einen Campingplatz mit einer Handvoll Wohnmobilen, eine giftgrüne Umzäunung von etwas, das wie eine Schotterhalde aussieht, verhältnismäßig große Häuser. Ein gelber Schilderwald leuchtet mir entgegen, weist unter anderem zum Defreggerhaus, das aber nicht in „meinem“ Landvermessungsdreieck liegt, keine Reue also diesmal, als ich schnurstracks absteige, um meine Unterkunft zu suchen. Ich komme direkt am Talschluss heraus, das Haus Edelweiß liegt allerdings am Ortsanfang, so sagt man mir in einem (dem einzigen) Gasthaus, in dem ich nachfrage: Ich kann es kaum fassen. Auf dem ganzen kilometerlangen Weg bin ich keinem einzigen Menschen begegnet, und nun schlagen mir Lärm entgegen und schlechte Luft, die drei Gasträume sind voll mit Menschen, wo kommen die alle her? Ich solle, wenn ich etwas essen wolle, am Abend wiederkommen, erklärt man mir, sie hätten jetzt mit den Bussen alle Hände voll zu tun. Ich flüchte. Ums Eck sehe ich sie: zwei Reisebusse, in einem sitzt ein Fahrer und schaut mich an, der andere ist leer. Ich atme rasch die „würzige Virgentaler Bergluft“ ein und vermesse das Dorf mit langen Schritten von hinten: Ökostrom Kraftwerk Dorferbach. Holzbrücke über die Isel. Steinerne Kapelle am Straßenrand. Sonnenuhr an der Außenmauer der steinernen Kapelle. In der Kapelle viel Gold und Rot und wunderbare Kapellenstille. Herausgeputzte, wirklich große Häuser rechts und links der Straße. Das letzte ist meine Unterkunft. Ich klopfe, diesmal zeigt mir eine erwachsene Frau mein Zimmer, Möbel, Boden, Decke, alles aus Holz, ein riesiges Bad, ein kleiner Balkon, ein hölzerner Schreibtisch im Eck, ein Wunderzimmer, ein Traumzimmer. Ich sage das der Vermieterin und sie freut sich. Es ist erst ein Uhr. Ich 63
6.6
AEROSOLE
METEOROLOGIE
EXPERIMENT NR. 25
DATUM 2016−11−09
13:00:55
14:00:43
15:00:18
16:00:02
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23:00:12
24:00:17
01:03:07
02:00:56
03:00:24
04:00:02
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11:00:14
12:00:09
13:00:34
14:00:09
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16:00:18
17:00:35
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ZEIT 16.23 UHR
20:00:32
STATION VEZA 3 / 47˚00'10.2''N 0
25
50
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100 %
5 μM
LAB C2F
habe nur ein Buch mit, in dem ich nun doch nicht lesen möchte, ich habe den Laptop zuhause gelassen, ich könnte in mein Notizbuch kritzeln, aber dann würde ich bald ungeduldig bei der Vorstellung, wie schnell das doch mit Tastatur ginge, und dann würde ich mich ärgern und deshalb packe ich das Notizbuch gar nicht erst aus, sondern zwei Müsliriegel. Versuche, nicht auf das Bett zu krümeln, entfalte meine Wanderkarte. Plan C. Dieses Landvermessungsdreieck öffnet sich großzügig nach Westen hin. Ich verfolge mit meinen Augen die Linien, gestrichelte, gepunktete, bleibe hängen an Clarahütte, Philipp-Reuter-Hütte, Lenkjöchlhütte, an den weglosen Gipfeln, am Grenzverlauf, der sich hier genau von Gipfel zu Gipfel zieht. Mein Magen knurrt, die Müsliriegel sind zu wenig, ich falte die Karte zusammen, gehe nach unten und frage die Wirtin, ob es ein anderes Gasthaus gebe, aber es gibt nur das überfüllte. So gerecht, wie ich meine, sei das Tal nicht, erfahre ich außerdem, denn hier in Hinterbichl sähen sie drei Monate lang kein Sonnenlicht, mit einer einzigen Ausnahme, das Wirtshaus nämlich stehe so, dass die Sonne links hinter einem Gipfel verschwinde, bevor sie rechts wieder hervorkomme und das Gebäude exakt drei Minuten lang in Sonnenlicht tauche. Das Gasthaus gibt es seit 1606, werde ich später lesen, der frühe Vogel fängt eben den Wurm. Ich versuche, das Gespräch noch einmal aufs Essen zu lenken, die Vermieterin verweist auf die Islitzer Alm am Eingang zu Umbaltal. Und ich beschließe, Plan C einzufädeln. Die Beine sind zwar etwas müde, aber der Nachmittag ist noch allzu lang, die Entscheidung ist rasch getroffen. Eine Stunde würde ich brauchen, sagt sie, und ich lasse diesmal meine Jacke an, der Wind ist stark und kalt genug, um auch den Reißverschluss geschlossen zu halten.
genieße den wilden Märchenwald, komme an riesigen Felsblöcken vorbei, die wie übergroßer Kandiszucker zwischen den Stämmen liegen. Das Rauschen des Wassers wird lauter, eine kleine Aussichtskanzel gibt die Sicht auf einen Wasserfall frei, die Gischt spüre ich im Gesicht, ich fühle mich wohl, habe mich mit dem Tag versöhnt, nach Asphalt und Fitnessweg bin ich nun wirklich in der Natur angekommen, so scheint es mir. Auf den letzten Metern muss ich auf den breiten Almweg einbiegen, und dann der Schock: Bustouristen auch hier, massenweise! Und dabei war ich auf meinem kleinen Wanderweg ganz allein! Keine Menschenseele! Nur ein paar Kühe! Die Bustouristen schlagen bereits den Rückweg ein, steigen in eine Kutsche, in einen Traktorzug (nichts davon habe ich gehört vorhin, nichts gesehen), Augen zu und durch, ich muss etwas essen, dringend, ich bestelle Strudel und Kaffee, bei Strudel kann nicht viel schiefgehen, denke ich. Teig und Fülle sind in Ordnung, beim ersten Schluck Kaffee würge ich, Instantpulver (kein Löskaffee, sondern ein Pulver-Milchpulver-Sonstwas-Mix). Kapuzinerkresse vor den Fenstern. Ich zahle und gehe. Ich atme würzige Virgentaler Luft. Gehe westwärts, nehme mir zwanzig Minuten vor, um Plan C kennenzulernen, vielleicht gibt es gelbe Schilder mit Wegzeiten. Dieser Weg führt in die Einsamkeit, das hat mir meine Karte verraten, er verbindet als einziger die Hütten, unmöglich, mit Kutschen und Traktorbussen in diese Bergwildnis zu gelangen. Plan C wird zu Plan D. Gleich hinter den Schildern steht ein weiteres Schild. Der Sturm hat so große Schäden verursacht, dass der Weg gesperrt werden musste. Talschluss. Talschluss, und dabei hätte doch …
Ein schöner Weg führt direkt am Wasser entlang im schmalen, teilweise zur Klamm verengten Tal. Den Fahrweg auf der anderen Seite sehe ich nicht einmal, 65
7.1
TOPIKS
PSYCHOAKUSTIK
EXPERIMENT NR. 26
DATUM 2016−11−10
ZEIT 16.07 UHR
TOPIK 1 TURNS T1.1 T1.2 T1.3 T1.4 T1.5 T1.6 T1.7 T1.8
TOPIK 2 TURNS T2.1 T2.2 T2.3 T2.4 T2.5 T2.6 T2.7
TOPIK 3 TURNS T3.1 T3.2 T3.3 T3.4 T3.5 T3.6 T3.7
TOPIK 4 TURNS T4.1 T4.2 T4.3 T4.4 T4.5 T4.6 T4.7
TOPIK 5
TOPIK 6
TOPIK 7
TOPIK 8 TURNS T8.1 T8.2 T8.3 T8.4 T8.5 T8.6 T8.7 T8.8 T8.9
TURNS T7.1 T7.2 T7.3 T7.4 T7.5 T7.6 T7.6 T7.7 T7,8
TURNS T6.1 T6.2 T6.3 T6.4 T6.5 T6.6 T6.7
TURNS T5.1 T5.2 T5.3 T5.4 T5.5
LAB C2F
Stilfragen und andere Antworten
Esther Stocker hat das Cover dieser Ausgabe von Quart und sechs Doppelseiten im Heftinneren (S. 74 – 85) gestaltet. Hier eine Annäherung an ihr künstlerisches Denken in Form eines Gedankenaustausches mit Freunden und Kollegen – den bildenden Künstlern Anna-Maria Bogner, Tomas Eller, Tamás Jovanovics, Dóra Maurer und Katrin Plavčak.
Ist konsequenter Stil eine Art Strafe? Anna-Maria Bogner (A.-M. B.): Nein – Stil ist Sprache! Die Konsequenz, der Sprache treu zu bleiben, verstärkt die Lesbarkeit in der Betrachtung. Dóra Maurer (D. M.): Ein von Außen aufoktroyierter Stil ist eine Strafe. Wenn sich ein Künstler jedoch einen Modus für die Gestaltung erarbeitet hat, ist es seine Pflicht, diesen immer zu bereichern, zu erweitern, von Grund auf zu erneuern. Eine Strafe wäre es, ihn immer wiederholen zu müssen. Tomas Eller (T. E.): Struktur = Essenz von allen Dingen. Esther Stocker (E. S.): Ich habe das – konsequenter Stil als eine Art Strafe – so ähnlich einmal gelesen, in einem Buch von W. G. Sebald. Und ich habe mich dabei ertappt, das genauso zu empfinden. Da befinde ich mich im Widerspruch! Ich habe ja eine Sehnsucht nach Stil, nach Formen, die mir gefallen. Aber in der absoluten Konsequenz hat Stil etwas Gnadenloses, etwas, das mich als Individuum einengt. Katrin Plavčak (K. P.): Kommt auf den Stil an … wenn alles aus Fiberglas wäre oder alle Häuser in einer Farbe gestrichen, wäre es ein wenig uniform. Städte leben aus ihrer Diversität heraus. In jeder Straße alle zehn Meter ein Baum – damit könnte ich leben! Tamás Jovanovics (T. J.): Naja, wenn der Stil den Künstler in zu enge Wege drängt, dann kann es schon eine Art Strafe sein. Dein Stil sollte dir ermöglichen, heterogen zu arbeiten – in der Wahl der Formen, Materialien, Strategien. Und man sollte trotzdem noch „deinen“ Stil erkennen können.
Wie sollen eigentlich Männer oder Frauen zeitgemäß aussehen? Hast du da Vorschläge zur Gestaltung? D. M.: Eigentlich keine, für mich ist das typisch weibliche Aussehen schon lange nicht mehr wichtig. Als ich mich noch in dieser Richtung bemühte, empfand ich das Tragen von Röcken und Kleidern nur selten als angenehm. T. E.: Ja! Die Hosen sollten nicht so 80er-Jahre-mäßig über dem Bauchnabel getragen werden, wie das – zu meinem Bedauern – schon wieder Mode geworden ist … mir persönlich gefällt’s leger an der Hüfte sitzend besser! K. P.: Ich fände es schön, wenn sich die Leute wieder öfter selbst ihre Kleidung entwerfen und nähen würden. Vielleicht auch Kombinationen, Collagen aus Second Hand-Klamotten und eigenen Kleidern. Das möchte ich auch selber gern machen. Ich finde es auch immer besonders schön, wenn Leute bunt oder stark gemustert gekleidet sind, das macht einfach gute Laune! E. S.: Ich dachte neulich daran, dass es spannend wäre, Kleidung mit Buchstaben zu machen. Und so eine Art Kopfschmuck, bei dem die Buchstaben abstehen. Eigentlich stelle ich mir diese Frage aber hauptsächlich, weil ich selbst irgendwie unzufrieden mit den beiden Polen des Frauenbildes bin – also einerseits die Diskussion um die Verhülllung / Burka usw., andererseits die Tendenz zu Schönheitsoperationen und Ähnlichem. Wo ist da mein Platz? Dazu fällt mir aber ein, dass es doch auch um das Männerbild geht. Das steht zwar nicht so offensiv in der öffentlichen Debatte, ist aber genauso bestimmend. Und dann denke ich, es liegt doch in unserer Verantwortung – eine neue Idee dazu 67
7.2
A-PROSODIE
0.0
0.1
1.3
0.2
1.4
2.6
0.3
1.5
2.7
0.4
1.6
2.8
EXPERIMENT NR. 27
PSYCHOAKUSTIK
0.5
1.7
2.9
0.6
1.8
3.0
0.7
1.9
3.1
0.8
2.0
3.2
0.9
2.1
3.3
DATUM 2016−11−10
1.0
2.2
3.4
1.1
2.3
3.5
ZEIT 16.16 UHR
1.2
2.4
3.6
LAB C2F
2.5
3.7
3.8
muss her! Mir gefallen immer noch die zwanziger Jahre. Auch die Zeit der ersten Raumfahrt hat aus meiner Sicht gute Kleidung hervorgebracht. T. J.: Nicht wirklich. Was man anzieht, womit man seinen eigenen Körper bedeckt und versteckt, ist sehr persönlich. Ich könnte nie ein Modedesigner sein. E. S.: Zurück zum Thema der geschlechterspezifischen Kleidung … dazu möchte ich noch etwas sagen: Vielleicht müsste eine Art Aussöhnung der Formen her? Ich stelle mir eine Frauenkleidung vor, die aus einer Schnittmenge zwischen der Verhüllung des Körpers und dem Spiel mit den sexuellen Formen entsteht. Also die Mischung aus Schutz und Bloßstellung, Spiel und Freiheit. Die Aussöhnung der Geschlechter wurde ja auch teilweise über die Kleidung verhandelt. Funktioniert das eigentlich? Für eine neue Vision von Männerkleidung braucht es sicher auch auffälligere Formen. Derzeit ist das alles eindeutig zu langweilig. Nach der Information meines fast vierjährigen Sohnes wollen Männer gefährlich aussehen. Vielleicht sollte man diese Kleidung direkt vom Design schneller Autos ableiten? Ich denke wirklich, dass wir gute Visionen für diesen Bereich entwerfen sollten. Eine neue Zukunft für beide Geschlechter. Auch das Thema Arbeitskleidung ist sehr spannend, klassische Baustellenkleidung sieht für mich oft besser aus als vieles andere …
Straßen falsch bemalt werden, landen mit Sicherheit Außerirdische darauf. Aber das ist ja wirklich super, ich fühle mich gleich inspiriert, mir etwas auszudenken. Schon lange stört es mich, dass die Straße – eigentlich das längste und sowieso das öffentlichste Bild – nur von Autos gestaltet wird. T. J.: Die Straße wird ja sowieso immer gestaltet, nur eben nicht unbedingt von Künstlern. Ob Künstler die Straßen gestalten sollen? Riskant. Ein schwaches Kunstwerk ist störender als kein Kunstwerk. Und in diesem Fall ist es ja immer vor den Augen, anders als im Museum. Aber auch gute Künstler sollten nicht jede Straße gestalten. Das zu gestaltende Objekt sollte sehr sorgfältig ausgewählt werden. T. E.: Straßen und Wege definieren sich durch die Notwendigkeit ihres Zwecks selbst; die Linien, die sie reißbrettmäßig durch die Landschaft zeichnen, suchen die kürzeste praktikabelste Verbindung. Schlussendlich sind es immer Linien, die einem den Weg zu einem scheinbaren Ziel, zum Horizont weisen, und selbst diesen glauben wir als Linie zu erkennen – mir persönlich sind die strichlierten Linien am liebsten … Nun zur Architektur. Wie soll sie aussehen? A.-M. B..: Den Lebenden das zu Erlebende im Leben vorschreiben? – Wo wäre da noch das Erleben?
Sollen Straßen gestaltet werden? A.-M. B.: Warum nicht? Der öffentliche Raum schließt auch Straßen mit ein. D. M.: Ich lebe in einer Großstadt, da werden die Straßen durch Gebäude und Verkehr gestaltet. Ich kann mir Bäume vorstellen; und die Gebäude können durchaus interessant und auffällig gestaltet sein.
T. E.: Am besten glücklich und gemütlich … die Fenstergröße sollte sich im Idealfall jeder selbst aufzeichnen dürfen. D. M.: Ach, da habe ich nur wechselhafte Träume, bin aber eigentlich mit meinem Mikrokosmos zufrieden.
K. P.: Der Belag der Straßen sollte hell sein. Ich habe gehört, das würde massiv der Erderwärmung entgegenwirken.
K. P.: Ich fände eine Architektur gut, die alle Menschen in den Häusern mehr verbindet. Ich bekomme gar nicht richtig mit, mit wem ich im Haus wohne. Ich würde gern aufs Dach gehen können und im Sommer im Freien schlafen können und die Sterne anschauen.
E. S.: Diese Antwort habe ich zuerst als Witz verstanden! Ich dachte, du schreibst so etwas wie: Wenn die
T. J.: Wie ich es vor ein Paar Tagen von meinem Vater gehört habe, ist die erste Architektur ja der Körper. Die 69
7.3
TURNS TOPIKS
PSYCHOAKUSTIK
TURNS
A. M. B.
T1.1
16
T1.2
43
T1.3
6
T1.4
63
T1.5
40
T1.6
42
T1.7
18
T1.8
23
T2.1
33
T2.2
31
T2.3
53
T2.4
127
T2.5
21
T2.6
146
T2.7
42
T3.1
9
T3.2
28
T3.3
15
T3.4
60
T3.5
62
T3.6
58
T3.7
56
T4.1
14
T4.2
16
T4.3
14
T4.4
43
T4.5
97
T4.6
121
T4.7
64
T5.1
69
T5.2
23
T5.3
5
T5.4
19
T5.5
61
T6.1
9
T6.2
6
T6.3
101
T6.4
41
T6.5
25
T6.6
45
T6.7
64
T7.1
16
T7.2
43
T7.3
6
T7.4
63
T7.5
40
T7.6
42
T7.7
42
T7.8
42
T8.1
13
T8.2
12
T8.3
1
T8.4
26
T8.5
131
T8.6
70
T8.7
65
T8.8
12
T5.9
54
D. M.
E. S.
EXPERIMENT NR. 28
K. P.
DATUM 2016−11−10
ZEIT 16.39 UHR
T. E.
T. J.
LAB C2F
zweite ist die Kleidung und die dritte – das sind die Gebäude. Die vierte Architektur muss dann die Gesellschaft sein. Es ist sehr schwer, einen globalen, validen Tipp zu geben, wie das alles aussehen sollte. Interessanterweise sieht Architektur am besten in Italien aus – da, wo alles etwas chaotisch ist, auch gesellschaftlich. Auf der anderen Seite sieht die Gesellschaft am besten, für meinen liberalen Geschmack, in Schweden und Deutschland aus, wo die Architektur im allgemeinen nicht so interessant ist. Sollten wir eine Küche gestalten? D. M.: Die Küche ist ein schlichter Arbeitsplatz, sie soll praktisch und sauber sein, mit viel Weiß, ohne besondere künstlerische Gestaltung. Die schönsten Küchen, an die ich mit Sehnsucht denke, sind alte, geräumige, ländliche Wohnküchen, die nicht gestaltet, sondern gewachsen sind. Ein großer Holztisch in der Mitte für die Arbeit und gemeinsames Essen, alles aus Naturholz, nichts in Schränken versteckt, Gewürze, die auf der Fensterbank wachsen oder zum Trocknen aufgehängt sind. A.-M. B.: Küche = Werkstatt // Lebensmittel = Werkstoff // Essen = Ritual // ritus = Gemeinschaft // Gemeinschaft = Erleben. Wer erlebt nicht gerne(?) T. E.: Strümpfe bevorzuge ich für Gestaltungsfragen. E. S.: Weil wir beide das schon länger geplant haben … was machen wir da eigentlich? Krasse Muster oder subtile Zeichen? K. P.: Für mich ist eine Küche: ein Herd, ein Kühlschrank und ein Regal für die Teller und Töpfe. Und ein Tisch und Sessel, denn am liebsten sitze ich in der Küche. Was ich sehr gern hätte, wäre so eine Lotterbank, wie meine Oma eine hatte – dann könnte ich in der Küche auch noch ein bisschen schlummern nach dem Essen, das wär’ schön! T. J.: Absolut ja. Meinst du: Du und ich, oder: Künstler allgemein? Spätestens seit Malewitsch’s Teekannen muss man ein Fan dieser Idee sein. Es sollte aber geo-
metrisch und konstruktivistisch bleiben. So wird es zu einem Gesamtkunstwerk – mit dem abstrakten, expressionistischen Aspekt des Kochens. E. S.: Ja, ich dachte wirklich du und ich! Lass es uns angehen. Weil ich diese Frage auch an andere befreundete Künstler gestellt habe, hat es schon auch eine allgemeine Dimension. Ich denke auch an die Frankfurter Küche – welch große Vision dahinter steht! Für mich ist aber weniger die Funktion wichtig, sondern die Kraft, die von der Ästhetik ausgeht. Und wie dieses Thema – Küche – jetzt betrachtet werden kann, das Thema des Gesamtkunstwerks finde ich hier sehr passend. Ja, das sollte es für mich sein: eine Vision für die Zukunft, von der Küche ausgehend! T. J.: Ich hoffe du wirst einmal unsere Küche in Rijeka sehen. Habe ich mit einem Stosa-System geplant. Es hat etwas Suprematistisches. Was sind deiner Meinung nach gerade wichtige Belange in der Kunst? D. M.: Konzentriertheit, Konsequenz, auch das Streben nach logischen, ehrlichen Wandlungen. A.-M. B.: Fragen zu stellen – jetzt und immer. K. P.: Zwei Dinge: einerseits Weltentwurf und Weltbetrachtung. Ich glaube, die Kunst sollte sich wieder mehr mit Utopien und sozialen Realitäten auseinandersetzen. Andererseits: contra Marktkonformismus. Die Kunst, von der man in den verschiedenen Medien hört, wurde fast aufgefressen vom Kunstmarkt, der nur mehr dem Kapital hinterherläuft. Es geht oft um Trends und die richtige Platzierung der Marken, das finde ich schrecklich. Namedropping und große Langeweile. Ich finde es immer interessant, wenn man auf phantasievolle Klabautermänner und -frauen trifft, die in ihren Kajüten hocken und ihren Ideenfang aus dem Netz holen. Marketing sollte die Aufgabe der Galerien sein. Let’s keep it complicated! T. J.: Es sollte in jedem Fall etwas Metaphysisches an sich haben, oder sollte in diesem Sinn seine Umgebung, 71
7.4
B-PROSODIE
0.0
EXPERIMENT NR. 29
PSYCHOAKUSTIK
DATUM 2016−11−10
ZEIT 17.10 UHR
0.5
1.0
1.5
2.0
2.5
3.0
3.5
4.0
4.5
5.0
5.5
6.0
0.5
1.0
1.5
2.0
2.5
3.0
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4.0
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0.5
1.0
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0.5
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1.5
2.0
2.5
3.0
3.5
4.0
4.5
5.0
5.5
6.0
A.M.B.
0.0
D.M.
0.0
E.S.
0.0
K.P.
0.0
T.E.
0.0
T.J.
0.0
LAB C2F
den Raum, beeinflussen. Metaphysisches sollte nicht mit Mystischem vertauscht werden – auch wenn das letztlich nicht unbedingt ein Problem sein muss, es aber sein kann.
T. J.: Wie meinst du das? Gesellschaftlich sind es ja eher die reicheren Sphären, die es bevorzugen. Armut versucht meistens barock zu sein. Aber das sind keine Gesetze.
T. E.: Kein Reverenzkarneval, sondern die realistischen Phänomene, die uns umgeben, reflektieren und daraus durch Beobachtung resultierende Behauptungen aufstellen, die für neue Denkansätze gut genug formuliert sind.
E. S.: Ich dachte wohl eher an mich selber (das nur als Ausgangspunkt). Zu meinen Studienzeiten hat es schon eine Rolle gespielt, wie viele Farben ich kaufe, also z. B. nur schwarz und weiß … Es kann ein Vorteil sein, wenn man wenig Geld hat, denn Minimalismus schafft ja auch Freiheit. Jetzt denke ich öfters daran, dass Reduktion nicht immer freiwillig passiert – und doch zwangsweise neue Formen entwickelt. (Übrigens auch in der Mode, da entstehen neue Formen offensichtlich durch Reduktion, also eine Art „falscher“ Kleidung. Der zu kurze Rock, die unpassende Hose … Da werden offensichtlich „falsche“ Formen plötzlich richtig. Weil sie die bekannten Formen neu beschreiben, nehme ich an. Und weil die Behauptung lautet: Diese Freiheit nehme ich mir. Das produziert wohl Schönheit. In der Kunst verhält es sich da nicht anders.)
Hat die Gleichwertigkeit von Elementen Bedeutung für dich – in der Kunst oder in der Gestaltung? A.-M. B.: Gleichwertigkeit // das Nicht-Werten und die Wertschätzung. D. M.: Für mich ja. K. P.: Darüber muss ich erst nachdenken … T. J.: Ich glaube, das ist einer der sympathischsten theoretischen Ansätze des Minimalismus. Die Gleichwertigkeit der Elemente sollte heißen, dass auch das Papier, die Leinwand und auch die Wand als Gestaltungspartner (und nicht nur als Träger) betrachtet werden sollten. T. E.: Darüber habe ich mir bereits des Öfteren Gedanken gemacht. Eine Gleichwertigkeit gibt es nur in einem humanistisch-ethischen Weltbild. Sollte es jedenfalls geben. Die Gleichwertigkeit von Elementen ist physikalisch, sozusagen von Natur aus nicht praktikabel, geschweige denn sinnvoll, wird aber als Gestaltungsmodul des Menschen gerne eingesetzt. Hat Minimalismus etwas mit Armut zu tun? D. M.: Keineswegs. Minimalismus ist eine Art Philosophie, ausgerichtet auf das verstärkte Erleben des „Konkreten“.
T. J.: Oft habe ich den Eindruck, dass eine Menge Leute, die reduktive Kunstwerke machen, eigentlich Feiglinge sind. Die verstecken sich hinter dem Stichwort „Less is more“. Man sollte keine Angst vor dem „Fast-Nichts“ haben, aber auch keine Angst davor, sich auszutoben. Ich glaube, Malewitsch ist da einfach unübertrefflich. Sowohl das Schwarze Quadrat als auch die Bauern oder die letzten Selbstporträts – das alles ist legitim, weil er einfach ein großer Maler war. T. E.: Nein, wenngleich Existenzialismus, der in Logik gründet, formal oft dort ankommt. Dazu fällt mir ein, wie ich als 13-Jähriger auf der Alm von einem Brett zwei Stücke absägte und sie jeweils an der Außenkante im 90-Grad-Winkel draufnagelte, um mir eine Bank zu machen und als ich dann dasselbe ein paar Jahre später in der Kunst von Donald Judd sah, schien mir das formal nüchtern logisch.
A.-M. B.: Ein Minimum an zu Betrachtendem wird zu einem Maximum an zu Erfahrendem. K. P.: Nein. 73
8.1
BIOZÖNOSE
KOLONISATION EINER BIOZÖNOSE
BIOGEOGRAFIE
EXPERIMENT NR. 30
DATUM 2016−11−15
ZEIT 8.14 UHR
LAB C2F
Hin und Her
Von Bolzanobozen über Brennerobrenner nach Innsbruck. Ohne „Titolo di viaggio“. I am sorry, they took me out of the train, schreibt Peter per SMS. Ein Bericht. Und mögliche zukünftige Erinnerungen. Von Anna Rottensteiner
Es hat sich herumgesprochen, dass man die Abnahme der Fingerabdrücke vermeiden sollte. In dem Land, an dessen Küste man an Land gebracht wird. Wenn man also wieder festen Boden unter den Füßen hat. Und am eigenen Leib erfahren hat, dass es gut wäre, schwimmen zu können. Und weiß, dass man nie im Leben schwimmen lernen wird. Weil Wassermassen Angst machen werden, immer wieder. Nur dann, wenn man sich nicht registrieren ließe, im so genannten Erstaufnahmeland, könne man, so hört man, die Grenzen, die aus Europa ein Vielländerland machen, überwinden, im nächsten Land, wo man eigentlich hinmöchte, zu bleiben versuchen. Und man will ja so schnell als möglich Richtung Norden weiterreisen. Man darf also keine Papiere haben und man hat sehr oft auch kein Geld mehr. Und keine angemessene Kleidung. Es wird nämlich kalt, je weiter man nach Norden fährt. Das Land, in dem man ankommt, ist ein langgestrecktes Land. 1500 Kilometer in etwa. Das sind eigentlich keine Entfernungen, wenn man denkt, dass man schon 5000 Kilometer oder mehr hinter sich hat. Und es ist fast nicht zu glauben, dass man für diese 1500 Kilometer nur einen Tag und eine Nacht in etwa braucht. Wenn man denkt, dass man für die 5000 Kilometer einige Monate brauchte oder mehr. Die Wartezeiten in den libyschen Lagern miteinberechnet, und das Warten auf gutes Wetter für die Überfahrt. Und teuer ist die Reise, die einen von einem Ende des Landes zum anderen bringt, damit man dann ins nächste Land zu gelangen versuchen kann, auch nicht. So an die 200 Euro. Wenn man denkt, dass die Familie für die Fahrt nach Europa mehr als 5000 Euro hinlegen musste. Doch das Geld würde man bald wieder heimschicken können, damit die Familie die Schulden, die sie aufgenommen hat, wieder zurückzahlen kann. Und mehr als das würde man schicken können. Man ist ja zum
Arbeiten gekommen. Wenn man sich erst einmal auf den Weg gemacht haben wird in Richtung Norden. Die Zeichen vor dem Aufbruch sprachen nur Gutes, denkt man zurück. Der Marabu, der weise Mann, hatte freundliche Menschen in der Zukunft gesehen, als man ihm Zucker und Mehl gebracht und ihn, den Blinden, um Voraussicht gebeten hatte. Die Freunde, die bereits in Europa sind, zeigen auf Messenger Fotos von goldenen Uhren an ihren Armen und von schönen großen Autos, an denen sie lehnen. Man denkt, es sind die ihren. Doch dann geht es nicht so, wie man gedacht hat. Man weiß genau, wo der Einstieg in den Zug ist. Nämlich jeweils dort, wo ein Polizist steht. Ein Waggon ist in etwa zehn Polizistenschritte lang. Danach steht der nächste am gelben Streifen, den man nicht übertreten sollte. Und den man auch nicht übertreten kann, weil einen der Polizist daran hindert. Tu no, sagt er. Die anderen schon. Man nicht. Das weiß man, weil man schon seit einigen Tagen versucht, von der nördlichen Stadt, in der man aus dem Zug geholt wurde, in einen jener Züge zu steigen, die in Richtung Grenze fahren. Man weiß nun, dass in Europa zwischen zwei Staaten eine Linie ist, die man nicht übertreten darf. Wenn man kein Europäer ist. Diese steigen in die Züge in der nördlichen Stadt, in Bolzanobozen, und fahren über jene Linie, die Brennerobrenner heißt. Dahinter beginnt ein anderes Land. Dorthin will man, um auch durch dieses hindurchzufahren. Man will nach Norden. Germany. Norway. Belgium. Sweden. Man wusste manchmal gar nicht, wie viele Länder dazwischen liegen. Zwischen jenem, in dem man ankam, und jenen, wo man hinwill. Man wartet also, in Bolzanobozen. Hier kann man die Unterhose wechseln, eine Binde bekommen, das 87
8.2
AREALDIAGNOSE
BIOGEOGRAFIE
EXPERIMENT NR. 31
DATUM 2016−11−15
Z = MERIDIONAL O = TEMPERAT
Z = ALPIN O = MONTAN
Z = VORALPIN O = BOREAL
ZONALITÄT UND OZEANITÄT DER EXKLAVEN
Z = ZONALITÄT
O = OZEANITÄT
ZEIT 8.56 UHR
LAB C2F
Baby wickeln, Crackers und Thunfisch bekommt man, Schuhe, Socken, eine warme Jacke. Eine Decke für die Nacht in der zugigen Unterführung oder im Bahnhofspark. Man ist viele. Viele, die kein Anrecht auf eine Unterkunft haben, weil man sich nicht registrieren lassen wollte. Also scheint man auch nicht auf und hat keinen Anspruch auf gar nichts. Das wusste man nicht, als man sich nicht registrieren ließ. Und man schämt sich, wenn man dann zu betteln beginnt, hai un euro io fame. Man ist viele, die das tun. Und man trifft auf viele vom eigenen Kontinent, die es geschafft haben, irgendwie. Die Unterkunft und Essen haben, Sprachkurse, Arbeit vielleicht sogar. Man wundert sich, warum einem das niemand gesagt hat. Und man will noch schneller weiter. Wie, das weiß man noch nicht. Es bahnen sich neue Wege und Möglichkeiten an, über Brennerobrenner zu kommen. Doch davon erzählt man sich nur unter Vertrauten. Dorthin, wo Menschen auf einen warten. Wo die Sonne oft monatelang nicht scheint. Wo die Häfen und Tunnels gesperrt sind. Wo man am defekten Ofen in einem zugigen Zimmer stirbt. Wo es auch Dschungel gibt, in die sich kein Polizist traut. Wo gejubelt wird, wenn man geschlagen wird. Und doch will man nach Norden. Weil man glaubt: Ich schaffe es. Und weil man sich schämt. Wenn die Sehnsucht die Gestalt eines betrügerischen Djinn annimmt Peter sagt mir am Telefon, dass er es nicht mehr aushalte. Sieben Monate seien es mittlerweile, dass er auf die Verlängerung seiner italienischen Aufenthaltsgenehmigung im kalabresischen Crotone warte. Jeden Montag nimmt er den Bus und fährt am wunderbar tiefblauen Ionischen Meer entlang zur Questura, um nachzufragen. Am Dienstag, um den Pass aus seinem Heimatland vorbeizubringen, Ghana, denn nur am Dienstag nehme man an der Questura Pässe entgegen. Und nur am Mittwoch könne man Bestätigungen holen. Er sehne sich nach Innsbruck. I miss you all. Peter erkundigt sich beim Reisebüro, das von den Afrikanern
und deren Odysseen quer durch Europa lebt: Ja, er könne mit dem vorläufigen Dokument, das ihm die Questura ausgestellt habe, und mit seinem Reisepass die Grenze überqueren, sagt er mir am Telefon. Ich glaube ihm, vor allem deshalb, weil auch ich ihn gerne wiedersehen möchte. Seit ich ihn kenne, reist er über Brennerobrenner hin und her, hinunter und wieder herauf und hin und zurück. Dort, wo er leben möchte, darf er nicht; dort, wo er leben muss, kann er nicht, weil es keine Zukunft für ihn dort gibt, und keine Gegenwart, die es verdienen würde, gelebt zu werden. I am fine, and you? I hope you and your family are well. Das schreibt er mir jeden Morgen, und ich bin beschämt, wenn ich mich wieder einmal ärgere, wenn der Bus zu voll ist oder zu spät kommt. Dass es seiner Mutter gut gehe. Er rufe sie jeden zweiten Tag an, sie, die, über achtzig Jahre alt, mit ihrem Sohn am Telefon scherzt und sagt, sie wisse schon, dass sie jetzt nicht sterben könne, er habe ja nicht einmal das Geld für ihre Leichentruhe. Daraufhin lache auch er, erzählt er mir. Und dass sie ihn wiedersehen möchte, bevor sie stirbt. Dass viele Afrikaner nicht das Glück hätten, das er hätte. Er könne bei einem Landsmann wohnen, der in der Landwirtschaft arbeite. Zwiebeln, Tomaten, Oliven. I clean and cook for my brother. Die meisten schliefen im Bahnhofspark, am Strand, sommers wie winters. Und warteten und gingen zur Questura, jeden Montag, jeden Dienstag, jede Woche. Torna la settimana prossima. Das hören sie Monate lang. We are too many, sagt er. Ich sage das nie. Heute wird er um 16.32 Uhr mit dem Eurocity aus Verona ankommen. Ich ärgere mich, dass der Bus wieder zu spät kommt. Da erhalte ich eine SMS von Peter. Anna, I am sorry, they took me out of the train. Where are you. In Innsbruck. I’m there in 5 minutes. Ok. Am Bahnhof sehe ich auf der Anschlagtafel, dass der Eurocity bereits weitergefahren ist. Ich frage einen der 89
8.3
KONVERGENZZONE
WECHSELSTROM NORD-/SÜDACHSE
BIOGEOGRAFIE
EXPERIMENT NR. 32
DATUM 2016−11−15
ZEIT 9.23 UHR
LAB C2F
zahlreichen Polizisten in der Halle, ob er mir sagen könne, wo man die Menschen, die aus den italienischen Zügen herausgeholt werden, am Bahnhof finden könne. Er schaut mich skeptisch an. Warum ich das wissen wolle. Ein Freund von mir. Ich solle durch die Unterführung nach hinten zum Verladebahnhof durchgehen. Dort stehe ein Container. In ihm würden sie die Befragungen durchführen. Ich laufe.
bozen fährt, noch erreichen könne. Das läge nicht nur an ihnen, hat mir der Gendarm daraufhin erklärt. Die Italiener müssten bereit sein, Peter wieder zurückzunehmen. Sie müssten in ihrer Datenbank nachprüfen, ob er dort aufscheine und welches sein Status sei. Und das könne, auch das müsse er mir leider sagen, manchmal einige Stunden in Anspruch nehmen. Bevor sie die Personen am Brennerobrenner den italienischen Behörden übergeben könnten, die diese dann zum Bahnhof brächten.
Anna, I am already in the police car. They bring me back to Brennerobrenner. Let me speak with a policeman. Ok, wait. … They say they don’t speak with anybody on the phone. Ok Peter. Don’t worry. We’ll stay in contact. Is the battery full? Yes, I loaded the phone in the train.
Ich telefoniere mit meiner Schwester. Die Übernachtung in Bolzanobozen ist gesichert. Ich gehe ziellos durch die Stadt, der Regen ist stärker geworden, läuft über mein Gesicht, dringt durch die Jacke auf meine Haut. Ich will mich ausgesetzt fühlen jetzt. Nicht im Sicheren. Nicht im sicheren Hafen sein. Nicht daheim sein. Können.
Ich stehe vor dem Container, es hat angefangen zu regnen. Ich kann nichts tun. Nur warten, dass Peter mir wieder schreibt oder mich anruft. Zwei junge Afrikaner sitzen auf einem Verladebalken und schauen zu mir herüber. Ich zünde mir eine Zigarette an und gehe Richtung Stadt. Nach etwa einer Stunde ruft mich der diensthabende Gendarm des Gendarmeriepostens Steinach am Brenner über Peters Handy an. Man habe dessen Daten aufgenommen und festgestellt, dass er ohne gültige Aufenthaltserlaubnis und ohne einen „Titolo di viaggio“ kein Recht habe, nach Österreich einzureisen. Ich solle ihm glauben, sie seien froh, mit jemandem zu reden, dem sie alles erklären könnten. Sie täten, was in ihrer Macht stünde. Es werde keine strafrechtlichen Konsequenzen für meinen Freund haben. Es sei nur eine Verwaltungsübertretung. Ja, so ist es, antworte ich. Sie tun alles, was in Ihrer Macht steht.
Zehn Minuten vor Abfahrt des Zuges ruft mich Peter an, er sei am Zugbahnhof, die italienischen Behörden hätten ebenfalls seine Daten aufgenommen und ihn dann dort abgesetzt. Ich sage ihm, er solle jemanden um Hilfe fragen, um ein Ticket zu lösen. Ok, I’ll do. Eine Viertelstunde später seine SMS, er sitze im Zug. Man werde ihn das nächste Mal ganz genau kontrollieren. Bei der Ausreise, hätten ihm die italienischen Behörden gesagt. Bei der Einreise. Die österreichischen Behörden. Um 23.53 nimmt ihn meine Schwester am Bolzanobozen in Empfang. Tags darauf tritt er die Rückreise nach Crotone an. Und ich mache mir Vorwürfe, dass ich ihn nicht bat, mir vor Reiseantritt das vorläufige Dokument als Foto auf Whatsapp zu schicken. Dann hätte ich ihm sagen müssen, dass dort steht: „valido solo per il territorio nazionale“. Peter spricht kein Italienisch und glaubt an das Gute im Menschen. Und ich, vielleicht wollte ich ihm diesen Glauben nicht nehmen. Oder nicht in die Fratze der Gesetzeshärte schauen.
Ich sage Peter, ich hätte den Gendarm gebeten, die Formalitäten zügig zu erledigen, damit er den letzten Zug, der um 21.43 von Brennerobrenner nach Bolzano91
8.4
PHYLOGEOGRAFIE
BIOGEOGRAFIE
EXPERIMENT NR. 33
5Y
20Y AUSBREITUNG TAXON 3
15Y
10Y Y = ANZAHL JAHRE
DATUM 2016−11−15
ZEIT 9.42 UHR
LAB C2F
Versuch einer zukünftigen Möglichkeit des Erinnerns (Beginn) Als wir hierherkamen und blieben, weil es uns verwehrt war weiterzuziehen, suchten wir nicht nach der Schönheit. Wir waren aufgebrochen, weil es uns unmöglich geworden war, an den Orten, an denen wir geboren waren, einträglich zu leben, in Würde zu leben. Was lag näher als zu gehen. Die Welt war einst zu uns gekommen, jetzt gingen wir zu ihr. Sie war klein geworden. Die Berge machten uns Angst, und wir fragten uns, wie die Häuser auf den Bergen wohl waren, wie man in ihnen leben konnte, auf abschüssigem Grund. Ob die Menschen des Nachts nicht aus ihren Betten fielen und den Hang hinabkullerten. Ob Wasser und Milch sich nicht langsam aber stetig über die Hügel und Kuppen ergoss, ob die Tiere und die Menschen nicht ständig bedroht wären von Steinen und Felsen, die sich von weiter oben lösen und auf sie herabdonnern würden. Wir sahen, wie sehr die Menschen ihr Land liebten. Sie wurden nicht müde, uns von seiner Schönheit zu erzählen, seiner Üppigkeit, seinem Reichtum. Wie sehr sie hätten kämpfen müssen, um hier bleiben zu können. Wie sehr sie es verteidigen würden, immer und immer wieder. Gegen wen, das fragten wir uns. Wir sahen uns um und dachten an unser Land. Und begannen, ihnen von dessen Schönheit erzählen. Doch das wollten die Menschen nicht hören. Dass es irgendwo anders, weit weg von ihrem Land, auch schön war. Das ist alles lange her. Es gab Menschen, die sich gegen die Mauer wehrten. Anliefen gegen die Anfänge der Wand, als es noch hieß, es würde sie nicht geben. Und doch spürten alle, dass es so weit kommen würde. Es gab Unruhen und Auseinandersetzungen zwischen den Vertretern der Macht und jenen, die ohnmächtig und wütend gegen diese aufbegehrten. Die meisten Menschen hatten sich in ihrer scheinbar gewaltlosen Welt eingerichtet und wandten sich voll Unbehagen, Abscheu fast von jenen ab, die es gewagt hatten, den Parolen von Frieden und Freiheit Taten folgen zu lassen. Elain, meine Frau, hat
es mir erzählt. Sie war eine von jenen, die im Gefängnis gelandet war, weil sie gegen den Bau der Mauer aufbegehrt hatte. Wir, die wir hierherkamen von weit her, bekamen von alldem nicht viel mit. Wir waren mit anderem beschäftigt, nachdem wir schmerzvoll einsehen hatten müssen, dass es für uns kein Weiterziehen geben würde. Manche von uns versuchten es dennoch, immer wieder, klammerten sich an die Unterseite der Züge, kauerten sich unter die Sitze in den Waggons, ließen sich auf Schlepper ein. Das war möglich zu der Zeit, in der das Land im Norden noch zauderte und zögerte. Einige kamen durch und erzählten uns enttäuscht in ihren Telefonaten, dass Europa überall gleich sei. Everywhere the same. Wir unterhielten uns auf Englisch und in Bruchstücken der unterschiedlichen Sprachen unserer Völker. Die Sprachen des Landes hier wurden für mich die Sprachen der Liebe zu Elain und später zu Digoun, meinem Sohn. Später dann, als die Mauer das enge Tal abschloss wie ein gewaltiger Staudamm, versuchten es manche von uns über die waldigen Hänge, die sich auf beiden Seiten erstreckten. Überwanden ihre Todesangst vor den Höhen und geboten dem Schwindel Einhalt, wenn sie einen Blick über die abschüssigen Felsen hinunter ins Tal wagten. Wieviele von ihnen auf der anderen Seite angekommen sind, weiß ich nicht. Ich kannte wenige von diesen Mutigen und Entschlossenen. Mein Weg war ein anderer. Elain und Digoun fahren regelmäßig zur Mauer und nehmen manchmal Meta und Marco mit. Obwohl sie schon alt sind und gebrechlich, meine beiden Freunde, zieht es sie immer wieder zur Mauer, die, überwuchert von Rank- und Kletterpflanzen, zu einer natürlichen geworden zu sein scheint. Sie haben gerade noch den Absprung hierher geschafft, bevor das Land im Norden seine Bewohner endgültig abschottete. Sie stehen dann vor der Mauer und hören nichts. Es müsse unsäglich still sein im Land, erzählen sie mir, wenn sie am Abend müde und traurig nach Hause kommen. 93
9.1
COLLAPSAR
ASTROPHYSIK
EXPERIMENT NR. 34
DATUM 2016−11−16
ZEIT 11.00 UHR
LAB C2F
Roland Maurmair Originalbeilage Nr. 28 „After the flood“
Die Arbeit zeigt zwei Abdrücke einer Taube, die scheinbar quer über die Grafik spaziert ist. Dabei dienten dem Künstler die Trittsiegel von Stadttauben als Vorlage. Diese Spuren wurden in Kupfer übertragen und als Prägedruck per Handabzug produziert, jedes Blatt wurde handgerissen und von Hand gedruckt. Man denkt an die ersten Spuren auf einem frischen, unberührten Planeten nach der biblischen Flut. Oder an den ökologischen Fußabdruck? „After the Flood“ verbindet die künstlerische Drucktechnik der Prägung mit Roland Maurmairs Leidenschaft des Spurenlesens. Zudem steht die Arbeit in direktem Zusammenhang mit den letzten beiden Publikationen des Künstlers: dem 2015 bei Birkhäuser erschienenen Künstlerbuch „Urban Wilderness“ sowie dem aktuellen Kinderbuchprojekt „Mein erstes Spurenbuch“.
Blattmaß: 150 × 135 mm Plattenmaß: 85 × 85 mm Prägedruck (Atelier Georg Egger) auf 300 g Büttenkarton Edition: 1500 Stück 95
10.1
MEGATREND I
PROGNOSTIK
EXPERIMENT NR. 35
DATUM 2016−11−18
ZEIT 13.18 UHR
LAB C2F
Marginaltexte (2) Farben, Formen, Zeiten
Mit dem Wort Marginalie wird gewöhnlich Nebensächliches bezeichnet, etwas am Rande oder an der Grenze einer Sache Liegendes. In Quart werden unter diesem Titel zentrale Texte über das Leben an der Peripherie neu veröffentlicht, die längst vergriffen oder nur schwer zugänglich sind, an entlegenen Orten aufbewahrt oder gar in Archiven verschwunden. Folge 2: drei von insgesamt neun „Variationen über das Sehen“, welche die 1997 verstorbene Südtiroler Schriftstellerin Anita Pichler zwei Jahre vor ihrem Tod unter dem Titel „Beider Augen Blick“ veröffentlichte.
DIE LANDSCHAFT Der Anfang ist nicht der Anfang vom Bild. Der Anfang hat sich in den Bildern aufgelöst. Hinter jedem Anfang steht das Prinzip, das schon lange wirkt, und über den Anfang hinaus andauernd zu wirken beginnt. Die Bilder entstehen aus der Landschaft. Die Landschaft ist Fels, ist Sonne darauf. Riffkalke und Licht, ist Nebel darüber. Ist Nebel und Auflösung. Ist Auflösung und Versteinerung. Risse und Ritzen, von Wurzeln aufgetan, aufgeblüht und versunken, eingebrochen. Von Wassern genährt, von Wassern gespült. Von Wassern angeschwemmt, die Erde, und wieder von ihnen verlassen. Der Ort der Bilder ist die steil ansteigende Felswand, ist der Abgrund. Im Auge, das sich daraus löst, entsteht das Bild: Linien, wie Schlangentanz, wie Vogelflug, wie der Sprung der Raubkatze oder die Flucht vom Murmeltier: Kommt ein Wesen aus der Nacht, kommt wie ein Falke, ein Rabe, eine Schwalbe, kommt mit allen Formen von Falken, Raben und Schwalben, mit allen Eigenschaften, wie das dunkle Abbild in die Sonne; setzt mit Katzenpfoten auf, wird Tiger, wird Wolf, wird Schlange, mit ihrem Hunger, mit ihren Krallen, Zähnen und mit ihrem Gift, mit ihrer Schönheit und Kraft. Dringt in die Augen der Menschen, streut Furcht und Entsetzen. Trägt als Stier alles Grauen der Welt, alle Furchtbarkeit und alle Orakel. Das ist das Bild vom Berg; er selbst schafft es aus seinen Abhängen: Tanna ist der Name, weiblich das Geschlecht, überliefert als älteste Gottheit, Schöpferin alles Lebendigen: Sie wirft die Pflanzen, die Tiere,
die Menschen, wirft Wasser, Luft und Feuer, eins nach dem anderen, eines neben das andere, so die Parabel. Und das Symbol ist die Zeit: Sie wirft alles durcheinander und ordnet den Lauf der Dinge. Sie trennt das Leben vom Tod und macht alles sichtbar. Sie lehrt die Menschen, mit dem Tod zu rechnen und mit der Furcht. Sie ist ihr Haus im Wind und im Regen, in Tagen und Nächten. Sie ist das Schiff, in das alles sich flüchtet, Gut und Böse, Licht und Dunkel, Wachen und Schlaf. Sie hält den Raum offen, und alles geschieht: Freude geschieht, Angst und Macht geschehen, Kälte und Durst. Sehnsucht und Leidenschaft, Schweres und Leichtes; und der Haß geschieht und die Liebe geschieht. Siegen geschieht und Verlieren. Untergang ist der Anfang vom Bild. Am anderen Ende der Zeit wandelt die Sonne durch die Nacht. Wien-Obereltes-Hütte, 1993 DER RAUM Seit einem Jahr lebe ich nun in dieser Stadt am See, in dieser Landschaft, unter diesen Bäumen, in diesen Häusern, Straßen, auf diesen Plätzen und Terrassen, auf diesen Wegen in diesem Ort am See. Mit diesem Bahnhof, mit diesen Menschen, die hier leben, nicht vorüberziehen wie ich: Ohne sie gäbe es hier keine Stadt, keine Häuser, keine Straßen, auch der See wäre anders; es gäbe keine Fabriken, keine Büros, keine Schule, kein Kino, kein Theater, keine Beitz. Und die Sprache: Es hat alles hier, bloß keine U-Bahn und kein Meer. Mehr aber brauche ich nicht. 97
10.2
MEGATREND II
PROGNOSTIK
EXPERIMENT NR. 36
DATUM 2016−11−18
ZEIT 13.55 UHR
LAB C2F
Ich ließ mich in den großen weißen Raum führen, er wird ein Jahr dauern. Unter mir ist China, beinahe ein Kontinent, der nach Zwiebeln riecht, nach süßen und scharfen Gewürzen. Über mir das Schlafzimmer des Ehepaares, links eine Tür, der Name daran führt zurück nach Italien. In der Ecke ist die Mauer krumm, eine Linie, die sich bodenwärts nach innen neigt, in den Raum: Der Wand sieht man es nicht mehr an, dem Staub sieht man es nicht mehr an: Einmal muß das hier die Mauer der ganzen Stadt gewesen sein, die Grenze zwischen Wildnis und Gesetz, zwischen Quellen und Häusern, zwischen Kälte und Öfen und so weiter. Heute halten sich nur die Schatten dunkler in den Winkeln und in der Nische. Draußen ist Straße, ist Kreuzung, ist Schule, draußen ist mittendrin. Die Nische drückt sich wie ein aufgebrochenes Versteck in die Wand. Plötzlich steht der Wächter drin, er ist mit dem Nebel sichtbar geworden und geht in den Morgenstunden. Er führt seine Gespräche allein: kein Visier im Gesicht, keine Lanze in der Hand, er friert nicht, er ist nicht müde, er ist nicht wach. Ich kitzle ihn, und mir kribbelt die Nacht an den Fingern, ich streichle ihn und kriege einen Brief: Stell dir vor, steht darin. Mit diesen Vorstellungen gehe ich dann hinaus in die Stadt, sie sind mein Panzer, mein Spiegel, alles prallt an ihnen ab und wischt vorüber. Der Kunstledersessel ist mein Fernsehgaul; ich stelle ihn ans Fenster. Wenn er lostrabt, in den Raum, bleibt nicht einmal ein Steckenpferd, ein Rappe, der mich nicht braucht: Er trug mich zu oft in diesem Jahr der Kriege. Der Divan ist das grüne Gästebett, eine Kuhhaut spannt sich darüber. Im Norden, so erzählt Birgir, der aus Island hierher kam, erhielt ein Mann, wenn er sich auf der Insel niederließ, Land, so weit der Pfeil flog. Die Frau mußte das Land mit einem Kalb abschreiten, solange der Tag ging. Im Süden wurde geschnippelt: Dido erhielt, was in die in Streifen geschnittene Kuhhaut paßte. Hier bin ich etwa auf halbem Weg zwischen Karthago und Reykjavík. Purcell habe ich mitgebracht, Didos Lied: Remember me, but ah, forget my fate. Bücher habe ich mitgebracht, Schuhe habe ich mitgebracht, als wäre ich ein Steinläufer, der zu den Hundertfüßlern gehört, und Kleider für ein anderes Klima.
Vor mir hat eine alte Frau hier gewohnt. Sie hörte nicht mehr so gut, sah nicht mehr so gut. Sie ist hier gesessen und hat hier geschlafen, sie ist in meinem Winter gestorben. Sie hat hier geträumt, hat hier gelesen, brach die Lampe aus der Fassung. Sie hat von ihrer Zeit die letzten Tage an einem anderen Ort gefordert. Ob es ihr leicht fiel, ob sie in meinen Traum fällt, wenn der Nachtvogel sich im Turm verfliegt? Der Turm steht in der Küche, ein blinder Wehrturm mit Gittern an den Scharten gegen Tauben und Fledermäuse. Türme sind seltsam. Selbst als Ruinen ragen sie weiter in die Erinnerung der Menschen und in ihre Vorstellung: Einer muß im Turm stehen wie ein Heiliger in der Ikone. Im Rücken das Land und vor ihm das Wasser. So muß es hier gewesen sein. Einer muß dastehen für alle anderen, die hinter seinem Rücken weiterbauen, eine ganze Stadt; die hinter seinem Rücken reden und lachen, lieben und leiden. Manchmal kribbelt es ihm die Wirbelsäule entlang, ein winziger Schauer. Was er im Rücken weiß, stärkt ihn: Brunngasse, Obergasse, Ring, der Brunnen von Engel und Teufel, der Brunnen der doppelschwänzigen Nixe, der Brunnen der zwei Schalen der Gerechtigkeit, dann Untergasse, Kirchgäßli, Burggasse, Römergasse und die Kastanien auf dem Kirchplatz. Er hat die Bilder der Stadt hinter sich. Er kennt die Geräusche der Bewohner. Alles machen sie für ihn. Sie backen das Brot und keltern den Wein. Sie füttern die Tiere für ihn und scheren sie, spinnen Garne und weben ihm das Tuch, nähen ihm die Kleider auf die Haut; sie schlachten die Tiere, zerteilen sie und braten sie ihm überm offenen Feuer. Er hört das Knistern, erwischt von den aufsteigenden Düften gerade noch einen Zipfel und spürt den Speichel flüssiger im Mund. Er hört noch Hämmern und Sägen, aber die neuen Geräusche erkennt er nicht, sein Blick schweift zu hoch über Straßen und Wasser. Und als die Sirene losheult, schaut er noch weiter hinaus, schaut der Sonne nach, die im Westen hinter die Petersinsel, die er vorn weiß, ins Wasser gesunken ist, schaut in die Dunkelheit und wundert sich in der Stille der Nacht, daß ihm niemand eine Mahlzeit gebracht hat, nicht einmal Wasser. Biel, 1992
99
10.3
MEGATREND III
PROGNOSTIK
EXPERIMENT NR. 37
DATUM 2016−11−18
ZEIT 14.13 UHR
LAB C2F
DER ORT Wo bleiben die Orte? Wo bleiben die Orte der Kindheit, zum Beispiel, der Jugend, die Orte der Geschichten, die strategischen Orte der großen Geschichte, die taktischen Orte der Anekdoten? Wo bleibt der Ort, wenn die Erzählung zu Ende geht, wenn die Fensterläden geschlossen sind, wenn das Licht gelöscht ist und sich der Traum der Menschen bemächtigt? Hat der Tod einen Ort und der Nicht-Tod? Ist es die Zeit vor der Geburt, und wo bleibt sie? Wo sind die Orte meiner vergangenen Jahre? Ist der Ort eine Frage der Zeit? Ist der Ort eine Frage? Der Ort, an den die Lachse zum Laichen zurückkehren. Der Ort, an dem sich die Wale paaren. Der Ort, an dem die Delphine spielen. Der Ort der Korallen. Der Ort der Sardinen. Der Ort des Wassers ist die Quelle, ist der Fluß. Es ist die schwierige Mündung im Meer. Wasser gegen Wasser, Brandung gegen Fluß. Es ist der Ort der Welle, der Ort der Schiffe. Der Ort der Kielwasser, der Strömungen und der Regentropfen. Das Wasser ist sich selber der Ort. Und die Winde? Wenn sie die Wasser zausen, an Bergen aufsteigen und sich in die Täler stürzen, wenn sie Kälte zeugen und Hitze, wenn sie Feuchtigkeit bringen oder das Land austrocknen, bis zum letzten Körnchen Staub? Wo ist der Ort der Winde, wenn sie sich in Höhlen und Tälern verfangen, in Felsenstuben, an den Rändern der Kontinente, am Nordkap, am Südkap, am Kap der Guten Hoffnung? Oder wenn sie landeinwärts fegen, über das Land hinweg, Flüsse entlang, Ebenen? Wenn sie Wüsten umwälzen, Bäume versetzen, in den Städten die Dächer von den Häusern zerren? Wenn sie unsere Bauwerke zerstören, unsere Anlagen, unsere Behausungen, unser ganzes, an der Erde haftendes Dasein?
Ort der Adler und Geier. Ort der Brise am Abend. Ort der Stechmücken. Und die Erde war Sumpf, war Wald, war Wiese, war Straßengrund. Ist all das und die dünne Schicht Humus am Felsen. Die Erde hat den Namen des ganzen Planeten, der durch die Zeit wirbelt. Wäre ich außerhalb, im Raumschiff, könnte ich sie sehen, den Ort, den ich eine Zeitlang bewohne. Ort der Wanzen und Läuse. Ort der Läuse im Katzenfell. Ort der Schlangen und Würmer. Ich schäle mich aus dieser Erde, strecke den Kopf aus dem Sand und öffne Augen und Ohren, die Nase und die ganze Haut dem Wind. Ich löse mich und spüre das Herz schlagen, den Atem. Ich spüre Kälte und Wärme, Regen und Wind und lerne zu unterscheiden. Farben sind da, Formen und Zeiten. Sind an dem Ort, wo ich die Augen öffne: ein Zimmer vielleicht, über einem anderen, ähnlichen Zimmer, unter anderen. Aber der Ort ist der Ort der warmen Hände, der Nahrung, der Zärtlichkeit oder der mangelnden Zärtlichkeit. Farben, Formen und Zeiten nehme ich erst allmählich wahr. Und ich höre allmählich Stimmen und Laute. Höre Nähe und Ferne, rechts und links, oben und unten. Mich an den Tönen bewegend, stelle ich in diesem Zimmer Entfernungen her, und es entsteht der Raum. Der Raum mit all seinen Orten: der Ort für den Blick, für das Wort, für die Zärtlichkeit und so weiter. Wenn ich mich sehr weit vorwage, gewahre ich den extremen Ort der Mitte in mir selber. Aber ach, er hält nicht still. Er rutscht vom Herz in die Hose, steigt in den Kopf, rutscht in den Bauch, ins Handgelenk, und manchmal, wenn ich ihn schon verloren glaube, pulsiert er in der großen Zehe am linken Fuß.
101
GRAVIMETRIE
GEOPHYSIK
EXPERIMENT NR. 38
DATUM 2016−11−21
ZEIT 14.04 UHR
G7
G5 F2
GRAVISPHÄRE
GP 6
G2 F3
F3
G3
G4
KRYOSPHÄRE
11.1
GK 1
G1 = 186 NM G2 = 126 NM G3 = 150 NM G4 = 158 NM G5 = 201 NM G6 = 167 NM G7 = 188 NM
G = GRAVITATIONSKONSTANTE
F = GRAVITATIONSKRAFT
P = POTENTIAL GRATIENTENFELD
LAB C2F
„Der Knöchel der Berge / Talus / Laozi in the Tyrol“
Auf den folgenden Doppelseiten sind Ausschnitte einer Arbeit von Harald Gsaller zu sehen: Fotografien einer von Bergen geprägten Landschaft um die kleine Ortschaft Boden (Gemeinde Pfafflar, Bschlabertal, Nordtirol), die den Schutt in vorläufig ruhender Lage an den Knöcheln der Berge, in den wilden Bachstürzen zeigen. Die Fotografien werden mit grafischen Elementen und Sätzen aus dem Daodejing des Laozi zu Bild-Text-Einheiten verwoben. Der Künstler zu seiner Arbeit:
„Am Fuße der Berge findet man ihre Knöchel. Schutt bildet sie. Kalk zum Beispiel trifft auf Verwitterung und Schwerkraft. Das lateinische Wort für Knöchel lautet Talus. Auch die Dremelspitze am Beginn des Angerletales, einem Seitenseitental des Tiroler Lechtales, hat einen solchen Knöchel. Einen stattlichen, da die Alm am Fuße der Dremelspitze nur sanft ansteigt. Seinem Naturell nach will der Schutt, ob grob oder fein, immer weiter den Falllinien nach Isaac Newton folgen. Der Schutt will ins Tal, heimwärts. Im [chinesischen] Daoismus ist vom Geist des Tales die Rede. Mit Laozi sagen wir, das Tal herrsche eben dadurch, dass es unten liege (Yin), es regiere so die Flüsse, wie die Flüsse wiederum durchs Meer regiert würden, weil dieses noch tiefer liegt: Also regiert das Schwarze Meer die Donau; die Donau den Lech; der Lech den Streimbach; der Streimbach den Gstreinbach; der Gstreinbach den Angerlebach und der Angerlebach die Dremelspitze.“ Hans-Georg Möller, Das Tao des Talus: „Himmel und Erde sind unmenschlich. Die zehntausend Berge sind ihnen Opferhunde aus Stroh, und sie lassen sie zerbröseln und fallen. So fließen die Berge in großen und kleinen Stücken hinab. Beständig, jahreund jahrhundertelang, mäandern sie durch die Wälder bis in die Flüsse. Auf ihrem Weg zur Erde und ins Wasser mussten die Berge uns begegnen. Und weil es,
wenn das Schnitzwerk begonnen wird, Namen gibt, sahen wir die Berge und gaben ihnen die dämlichsten Bezeichnungen: Dremelspitze und Potschallkopf und Hornbachgruppe. Als ob wir wüssten, dass sie, Namen habend, nicht stetig sein können. Nicht nur, dass wir ihnen Namen gaben, wir vermaßen sie und transformierten sie, und wir bestiegen sie und machten ein Foto von uns auf ihren Gipfeln. Und wir hingen es an die Wand, die aus den Steinen gemacht ist, die einst zu uns von den Bergen hinabflossen. Und dann wurden wir Bergsteiger und begehrten die Berge, und wir liebten sie. Und wir strebten nach ihren Höhen und ihren Bildern. Aber das, was begehrt sich zu regen, wird niedergehalten mit dem namenlosen unbehauenen Holz, und so verloren ihre Höhen und Bilder ihren Reiz. Und dann fingen wir an, die Berge wie Menschen zu betrachten. Wir dachten, die Berge weinten, als sie hinabflossen ins Wasser, und dass sie wegen uns weinten und wegen dem, was wir ihnen angetan hatten. Und so sahen wir die Berge in unserem eigenen Bilde. Aber Himmel und Erde sind unmenschlich, genau wie die zehntausend Berge, trotz der dämlichen Namen, die wir ihnen gaben, und der Höhen, die wir maßen, und der Fotos, die wir von uns auf ihren Gipfeln machten. Wenn Himmel und Erde ihnen keine Dauer geben können, wie soll es da der Mensch vermögen? Derweil üben sich die Berge und ihre glatten Schwestern, die Gletscher, in der Kunst der Verringerung; sie werden geringer und wieder geringer, nicht handelnd.“ 103
EIN RÄTSEL.
DAS ALLERWEICHSTE DER WELT EILT FLINK HINWEG ÜBER DAS ALLERHÄRTESTE DER WELT. WAS KEINE FÜLLE HAT, DURCHDRINGT, WAS OHNE ZWISCHENRAUM IST.
DER
SCHOTTER
MÄANDERT
DURCH
DEN
WALD.
DER MÄSSIGUNG ENTSPRINGT DIE BEGIERDENLOSIGKEIT. NIEMAND WILL FORT, NIEMAND STÖRT DIE RUHE, ALLES BEHÄLT SEINEN PLATZ IM GESCHEHEN.
12.1
METEOR
ASTRONOMIE
LAB C2F
EXPERIMENT DATUM NR. 39 2016−11−21
ZEIT 8.04 UHR
RA = RADIANTEN POSITION
GG = GEOZENTRISCHE GESCHWINDIGKEIT
RA RA: 15h 20m DE: +49° ZHR 120 GG 41 KM/S
ZHR = ZENITALE STÜNDLICHE RATE
„sei du bei mir in meiner Sprache Tollheit“
Friederike Mayröckers „ekstatischem“ Spätwerk war am Brenner-Archiv der Universität Innsbruck ein Symposium gewidmet. Ein Bericht von Eleonore de Felip
Im Fokus der internationalen Tagung* stand das jüngere und jüngste Schaffen der großen österreichischen Autorin. Der letzte Band ihrer „Gesammelten Prosa“ (hrsg. v. Klaus Reichert) erschien bereits 2001, ihre „Gesammelten Gedichte“ (2004, hrsg. v. Marcel Beyer) 2004, doch mit beeindruckender poetischer Kraft schreibt Mayröcker täglich weiter. Für die germanistische Forschung ist es eine kaum zu bewältigende Herausforderung, mit der Produktivität der Autorin Schritt zu halten. Die in den letzten 20 Jahren erschienenen Werke zeigen stets neue Facetten ihrer ‚grenzüberschreitenden‘ Poetik. Sie inszenieren einen poetischen Balanceakt zwischen Lyrik und Prosa, zwischen (auto-) biographischer Narration und poetologischer Reflexion, zwischen emotioneller Intensität und formalem Experiment. Seit der Mitte der 1990er Jahre entstanden Lyrikbände, Prosawerke und Hörspiele, deren formale und thematische Komplexität erstaunen. Mehr denn je sperren sich Mayröckers Schriften gegen die Zuordnung zu gängigen Kategorien. Die poetische Intensität, mit der die Autorin über ‚ihre‘ Themen schreibt (über das Schreiben, das Glück des Lebens, das Skandalon der Sterblichkeit und die Liebe), nimmt mit den Jahren nicht ab, sondern zu. Ihre Sprache bleibt radikal und unbeirrt ‚bei sich‘. Die Tagung bot ein Forum, auf welchem Aspekte dieses ungewöhnlichen Spätwerks vorgestellt und diskutiert werden sollten. Während in zeitlicher Hinsicht der Schwerpunkt auf Mayröckers späteren Schriften
lag, umfasste die Tagung in thematischer Hinsicht ein breites Spektrum. Präsentiert und diskutiert wurden formale Aspekte ebenso wie poetologische und thematische Fragestellungen. Der Titel der Tagung, „sei du bei mir in meiner Sprache Tollheit“, ist einem Gedicht von Friederike Mayröcker entnommen, das mit 5.8.2008 datiert ist. Gleich zu Beginn des Gedichts wendet sich die lyrische Instanz in der Art eines antiken Musenanrufs an die ‚Tollheit‘, auf dass sie ihr in ihrem Sprechen beistehe so wie sie es schon seit je getan habe:
* Im Rahmen der internationalen Tagung „»sei du bei mir in meiner Sprache Tollheit« – Friederike Mayröckers ‚ekstatisches‘ Spätwerk“, die von Ulrike Tanzer und Eleonore De Felip organisiert wurde und am 9. Juni und 10. Juni 2016 am Forschungsinstitut Brenner-Archiv der Universität Innsbruck stattfand, gaben 13 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler Einblicke in das jüngere
und jüngste Werk der großen österreichischen Autorin sowie in ihre langjährige Beziehung zur Stadt Innsbruck und zum Land Tirol. Den feierlichen Rahmen bildete am ersten Abend (9. Juni) eine Lesung mit Peter Waterhouse, zum Abschluss (10. Juni) ein Konzert mit dem Organisten Peter Planyavsky, der zu Gedichten von Mayröcker improvisierte (Lesung: Veronika Schmidinger).
„sei du bei mir in meiner Sprache Tollheit du hast die Blumenkränzchen mir ins Haar gedrückt da ich 1 Kind.“
Etwas später, ab Vers 10, heißt es dann: „ich liebe deine Seele Geist und hl. Leib oh sei bei mir in meiner letzten Stunde da auffliegt der Sperling über der Hecke da Mond und Regen Wald und Frühling Hauch 1 letztes Mal mich küssen werden und weinend Abschied werde nehmen müssen vom Glanz der Erde Blättchen Pappelherzen, es war mir nie 1 Jammertal.“
Im Sprachgestus christlicher Mystikerinnen bekennt die lyrische Person ihre Liebe zur Sprach-Tollheit wie zu ihrer persönlichen göttlichen Instanz. Sie sehnt sich nach den „Verzückungen“, die sie ihr schon oft gewährt habe. Es ist ein Stoßgebet, ein Flehen um Beistand in der Stunde des Abschieds. Es folgt eine beschwörende Aufzählung ‚verzückender‘ Momente – der Sperling, der Mond, der Regen, der Wald und
113
12.2
ASTROSPHÄRE
ASTRONOMIE
EXPERIMENT DATUM NR. 40 2016−11−21
ZEIT 9.32 UHR
M
P
O
M = 3’350 K MINTAKA NGC 7635 NAOS O = 30’520 K R RIGEL 23h 20m 45,6s SPICA B = 10’330 K D ARCTURUS ALDEBARAN +61° 12' 44" ERIDANI
K = KELVIN M = TITANOXID
R = REKTASO = IONISIERTES ZENSION HELIUM
D = DEKLINATION B = NEUTRALES HELIUM
LAB C2F
der Frühling. Solange sie besungen werden, haben sie eine apotropäische Wirkung. In der Einladung zur Tagung waren die Referentinnen und Referenten ersucht worden, über diese Sprache nachzudenken, der nicht nur eine Seele und ein Geist zugeschrieben werden, sondern eine physische Dimension, die für das lyrische Ich heilig ist. Die Organisatorinnen erhofften sich Beiträge, die die komplexen Manifestationen dieser poetischen Sprache beschreiben würden, in denen ihre lebenserhaltende Funktion, ihre ekstatische Qualität sowie ihre erotische Dimension deutlich würden. Von zentraler Bedeutung war für sie die Frage, ob und wie sich diese Sprache definieren lasse, oder besser: warum sie sich immer schon und im Laufe der Jahre immer radikaler jenseits definitorischer Grenzen bewege. Die Frage nach der ‚Tollheit‘ der Mayröckers’chen Sprache sei, so die Organisatorinnen, in erster Linie eine Frage nach ihrer Offenheit, ihrer Intensität, zugleich nach der ihr innewohnenden Leichtigkeit, nach ihrer Machart, kurz: nach den Merkmalen ihrer Poetizität. Die Themen der Vorträge waren breit gefächert, dementsprechend differenziert waren auch die Antworten. Bei mehreren Vorträgen deutete sich bereits im Titel eine gemeinsame Fragestellung an, nämlich die nach der dialogischen Qualität dieser Dichtung. Immer wieder standen im Fokus der Betrachtung Mayröckers intensive Lektüren, durch welche Prozesse der Absorption und Transformation in Gang gesetzt werden. Mayröckers Dialoge mit Hölderlin, mit Hofmannsthal, mit den französischen Poststrukturalisten, mit ihrer Kollegin und Freundin Elke Erb, aber auch ihre Beziehung zur Natur seien, so der Grundtenor der Referentinnen und Referenten, immer ‚Liebesdialoge‘, in denen sich ihr berühmter „erotischer Blick“ auf die Welt offenbare. Vielleicht könne man gar sagen, dass es der erotische Blick sei, der in ihren Texten scheinbar Disparates zusammenführt und Kohärenz schafft. Er bilde in ihren traumähnlichen ‚Texturen‘ das, was Sigmund Freud den „Nabel“ der Träume nennt, ihren Kern, das Nicht-mehr-Aufzulösende, Nicht-zu-Analy-
sierende, das, was das Traumgewebe zusammenhält. Neben der ‚dialogischen‘ Qualität der Mayröcker’schen Texte (Intertextualität, Intermedialität) wurde auch ihre Positionierung im ‚literarischen Feld‘ der deutschsprachigen literarischen Avantgarde analysiert sowie ihre anhaltende freundschaftliche Beziehung zur Stadt Innsbruck und zum Land Tirol gewürdigt. Die Tagung eröffnete Rüdiger Görner (Universität London) mit dem Vortrag „Scardanelli in Wien: Zu Friederike Mayröckers ‚poetischer Verfahrungsweise‘“. Was bedeute es, wenn das Ich in Mayröckers Texten mit Scardanelli „Hand in Hand“ gehe? Wie seien Mayröckers „kommentarlose“ Zitate aus Hölderlin (wie „sichergebaute Alpen“) zu verstehen? Wie integriert die Autorin ein poetisches Versatzstück in den Kontext des Eigenen? Mayröcker behandle ihre Sprache, so Görner, indem sie ihr „Traditionssubstanzen“ injiziere, damit sie in der Sprache des jeweiligen poetischen Textes fermentieren. Was Hölderlin die „Verfahrungsweise“ nennt, übernehme Mayröcker wörtlich als ein wiederholtes Sich-Verfahren im Labyrinth der eigenen Texte, deren Materialität sie nicht zu transzendieren versuche, sondern im umfassenden Sinne ‚aussetze‘: dem sprechenden / schreibenden Ich sowie dem Leser / Hörer. In ihrem Vortrag „Verlesen. Zur Lektüre Friederike Mayröckers“ spürte Konstanze Fliedl (Universität Wien) den Bedeutungsnuancen des Wortes (sich) VERLESEN nach (auf- und auslesen, sich völlig ins Lesen verlieren, sich lesend ‚irren‘). Wenn sich Mayröcker beim Lesen (von Autorennamen und Textstellen) ‚verlese‘, so entzünde sich ihre Phantasie dabei am kreativen Funken, der bei solcherart „Verfremdung“ und „Verschiebung“ entstünde. Dabei sei, so Fliedl, weniger an Freuds Analyse der „Fehlleistung“ zu denken, als vielmehr an Šklovskijs Theorie der „Entautomatisierung“. (Sich) VERLESEN erweise sich nicht nur als Schlüsselbegriff in Mayröckers Poetik, sondern als Lektüreanweisung für ihre eigenen Texte. 115
12.3
SATELLIT
ASTRONOMIE
EXPERIMENT DATUM NR. 41 2016−11−21
ZEIT 11.05 UHR
ORBIT NDB 1,769° KGE 28,783 – 31,333 AE SI + SY 164,79 A 367,49 D
NDB = NEIGUNG DER BAHNEBENE
KGE = KLEINSTER BIS GRÖSSTER ERDABSTAND
SI + SY = SIDERISCHE UND SYNODISCHE UMLAUFZEIT
LAB C2F
Johann Holzner (Universität Innsbruck) würdigte in seinem Vortrag „Das hermetische Licht. Friederike Mayröcker und Elke Erb“ die Freundschaft und den künstlerischen Dialog, die die beiden Dichterinnen nun schon seit 25 Jahren verbinden. Von ihrem poetischen ‚Gespräch‘ zeuge der Band „Friederike Mayröcker, Veritas. Lyrik und Prosa 1950–1992“, den Elke Erb zusammengestellt und mit einem Nachwort (samt lyrischen Antwortreden) 1993 im Leipziger Reclam-Verlag herausgebracht hat. Ihrerseits sprach Mayröcker in ihrer Laudatio auf die Berliner Kollegin anlässlich der Verleihung des Erich-Fried-Preises an Elke Erb 1995 in Wien von einer „Affinität“ zwischen ihrer beider Schreiben. Damit habe sie allerdings, so Holzner, keineswegs das hermetische Dunkel gemeint, das manche Leser/innen beklagen, sondern vielmehr „das hermetische Licht“, das sich in einer Sprache zeige, die das Denken nicht beendet, sondern eröffnet. Am Abend des ersten Tages las Peter Waterhouse aus seinen Neuerscheinungen und aktuellen Schreibprojekten. Den Autor und Friederike Mayröcker verbindet seit Jahren eine von wechselseitiger Wertschätzung und literarischer Würdigung geprägte künstlerische Freundschaft. Er sei „ein Himmelskind der Poesie“, sagte Mayröcker in einem Interview; in ihren Prosawerken taucht sein Name wiederholt auf. Im März dieses Jahres ist nun bei Matthes & Seitz Waterhouse’ jüngster Band „Der Fink. Einführung in das Federlesen“ erschienen, der Essays zu Texten von Mayröcker und Jelinek enthält. In ihnen führt der Autor vor, was es heißt, mit weit offenen Augen und Ohren zu lesen. Er betrachtet die Wörter aus großer Nähe, einzelne Wörter wie „Fink“ zum Beispiel oder wortähnliche Gebilde wie „paschen pinx.“ (es stammt aus Mayröckers études 27). Er beugt sich über sie, er legt sein Ohr an sie. Er schaut die Buchstaben genau an, auch die Satzzeichen, die Punkte, die Doppelpunkte, die Leerräume nach und vor den Doppelpunkten. Er fragt nach dem Warum der Verkleinerungsform -chen in Wörtern wie Ästchen, Flüszchen, Blättchen. Er fragt überhaupt
sehr viel, er liest gewissermaßen im Fragemodus, im Möglichkeitsmodus, sein Lesen ist ein Lesen im Konjunktiv, im Optativ. Er träumt sich in die Wortgestalten und Wortklänge hinein und erkennt die in ihnen angelegten möglichen Welten. Waterhouse nimmt die Freiheit, die sich Mayröckers Wörter nehmen, beim Wort. Er löst sie aus allen fixen Zuschreibungen, er befreit sie von der Schwere der Bedeutungen. Hinten, auf der Rückseite des Buches, steht im Klappentext (es handelt sich um ein Waterhouse-Zitat): „Die Worte haben auch Unbedeutungen, sind wie Bewegungen und Flüge: Wer die Unbedeutung oder die Nichtbedeutung eines Wortes verstehen möchte, wird sich das Wort anhören. Kann das Wort fliegen? Kann es etwas Leichtes sein? Kann man das Leichte verstehen oder braucht das Verstehen immer einen Schwierigkeitsgrad? Wenn es die Schwerkraft schon gibt, gibt es dann auch die Leichtkraft?“ Den zweiten Tag eröffnete Klaus Kastberger (Universität Graz) mit dem Vortrag „»1 häufchen blume 1 häufchen schuh«. Kohärenz bei Friederike Mayröcker.“ Ausgehend von seiner langjährigen Beobachtung ihres Schreibverfahrens – insbesondere ihrer Angewohnheit, Träume, Exzerpte und momentane Einfälle auf Zetteln zu notieren, diese in Körben zu sammeln oder sie zu Haufen zu stapeln – schlug er „Haufen“ wenn schon nicht als neuen Gattungsbegriff, so doch als Terminus technicus vor, um Mayröckers assoziatives Schreibverfahren begrifflich zu fassen. Textkohärenz, so Kastberger, entstehe bei Mayröcker nicht aufgrund konventioneller textsemantischer Strategien, sondern ergebe sich aufgrund des inneren Zusammenhangs der Einfälle. Sie sei das Ergebnis der inneren Logik ihrer poetischen Rede. In ihrem Vortrag „Die Ekstase des Realen. Das Hörstück Landschaft mit Verstoßung (F. Mayröcker / B. Hell / M. Leitner 2014) als Antwort auf den Chandos-Brief“ würdigte Inge Arteel (Universität Brüssel) das Klangbuch als bemerkenswertes Kunstwerk, das sich in die 117
12.4
STERNENSTAUB
ASTRONOMIE
LAB C2F
EXPERIMENT DATUM NR. 42 2016−11−21
ZEIT 14.01 UHR
PI = POSITION INTERGALAKTISCH
PD = PHYSIKALISCHE DATEN
(NGC 3372) PI 10 H 43,8 M – 59° 52' SP + 3,00 MAG 120 × 120 ARCMIN PD 6'500–10'000 LJ Ø 120 ARCMIN
SP = STELLARE PRÄSENZ
literarische Tradition der Suche nach der Rückgewinnung eines sprachlichen Paradieses einschreibe. Die experimentelle Technik werde dabei nicht negativ eingesetzt (im Sinne einer Desillusionierung jener Suche), sondern affirmativ: Gerade die akustische Collage biete eine neue Auslegung der existenziell dringlichen Frage nach einer möglichen Ursprache, in der Wort und Sache zusammenfallen. Erst die Technik des akustischen Mediums ermögliche, so Arteel, dass die melancholische Sehnsucht nach dem Verlorenen zugunsten einer Ekstase des Realen verabschiedet werde. Die geistige Verwandtschaft der Autorin mit Friedrich Hölderlin stand im Fokus des Vortrags von Luigi Reitani (Universität Udine, Berlin): „»Ich möchte / leben Hand in Hand mit Scardanelli«. Zu Friederike Mayröckers Dialog mit Friedrich Hölderlin“. Tatsächlich lassen sich, so Reitani, in Mayröckers Spätwerk zahlreiche Anspielungen auf Hölderlin finden (insbesondere in ihrem Gedichtband Scardanelli, 2008), die Aufschluss geben über ihre intensive, teils auch ironische Auseinandersetzung mit dem schwäbischen Dichter. Dabei sei der Bezug zu Hölderlin nur eines der vielen Beispiele für die Intertextualität, die im Werk Mayröckers eine zentrale Rolle spielt. An ausgewählten Beispielen erläuterte Reitani die schwierige methodologische und hermeneutische Frage, inwieweit diese Zitate beliebig seien, in welcher Weise sie die Texte der Autorin prägen und welche Relevanz sie für deren Verständnis und Interpretation haben. Der „immensen Dialoghaftigkeit“ der Mayröcker-Texte widmete auch Barbara Thums (Universität Mainz) ihren Vortrag „Natur schreiben: Friederike Mayröckers Ich sitze nur GRAUSAM da“. In den jüngeren Texten trete das schreibende, weibliche Ich nicht nur in den Dialog mit einem fiktiven, meist männlichen Du, sondern auch mit der Natur. Dabei erhalte die Natur immer wieder einen kreativen und agenziellen Status, so dass das weibliche Ich, um dessen Wahrnehmungen und Befindlichkeiten das außerordentlich ich-bezogene Schreiben kreist, kein isoliertes Selbst sei,
sondern vielmehr Teilnehmer in einem Austauschprozess und Beziehungsverhältnis mit anderen Lebewesen und Dingen. Es sei dies die Vorstellung einer ‚NaturKultur‘, in der die Wechselwirkungen zwischen Natur und Menschen von Interesse sind, mit der Ansätze des Material Ecocriticism, der Environmental Humanities oder des Ökofeminismus die ‚materielle Wende‘ in den Literatur- und Kulturwissenschaften markieren. Ausgehend von Ich sitze nur GRAUSAM da lotete Thums’ Beitrag die Gemeinsamkeiten und Unterschiede von Mayröckers Projekt des Natur-Schreibens mit solchen Konzepten aus und zeigte die verblüffende Aktualität einer Literatur, deren Sprachmagie doch eigentlich Zeit und Raum außer Kraft zu setzen scheint. Mit der sogenannten „französischen“ Prägung ihrer jüngsten Trilogie (études, cahiers, fleurs), mit Mayröckers Liebe zur französischen Sprache und zur französischen intellektuellen Welt (Derrida), setzte sich Françoise Lartillot (Universität Metz) in ihrem Vortrag „Friederike Mayröckers tropologischer Widerstand in études – cahiers – fleurs, ein französisches Erbe?“ auseinander. Sie zeigte, dass die Autorin (in der Manier bestimmter französischer Poststrukturalisten) einerseits mit der Sprache spiele und dadurch bestimmte klassische Prinzipien der Philologie ad absurdum führe, dass sie andererseits aber auch an eine der textuellen Quellen der Poststrukturalisten anschließe, nämlich an den Postsymbolismus (Valéry, Mallarmé) (und vor ihnen an die lyrische Haltung der Jenaer Romantik und an die Hölderlins) und an dessen Erben (Genet, Michaux, Ponge). Sie setze deren Tradition fort, indem sie deren lyrischem Spiel eine sinnliche und empfindliche Tiefendimension verleihe. Im darauf folgenden Panel beleuchteten Erika Wimmer (Universität Innsbruck), Siegfried Höllrigl (Meran) und Christine Riccabona (Universität Innsbruck) Mayröckers enge Bindung zum Land Tirol / Südtirol und zur Stadt Innsbruck. Um den inspirierenden künstlerischen Dialog zwischen der Autorin und dem Südtiroler Maler Markus Vallazza 119
12.5
INTERKOSMOS
ASTRONOMIE
EXPERIMENT DATUM NR. 43 2016−11−21
ZEIT 16.21 UHR
LAB C2F
HW = HI-WOLKEN HW2 = HII-WOLKEN
WIM = WARMES IONISIERTES MEDIUM
M 20–50 K 103–105 ATOME/CM3 HW 50–100 K 1–103 ATOME/CM3 WIM 103–104 K 0,01 ATOME/CM3 HW2 104 K 102–104 ATOME/CM3 KG 105–106 K 10−4–10−3 ATOME/CM3
M = MOLEKÜLWOLKEN
KG = KORONALES GAS
ging es in Erika Wimmers (Universität Innsbruck) Vortrag „Vom Herzzerreiszenden der Dinge. Markus Vallazzas Radierzyklus zu Sätzen von Friederike Mayröcker. Mit einem Rundblick auf weitere Rezeptionsspuren in Südtirol“. Angeregt durch die Lektüre von Das Herzzerreiszende der Dinge von Friederike Mayröcker sind in Markus Vallazzas Werkstatt im Frühjahr 1991 Zeichnungen und Radierungen entstanden, wobei der Künstler einzelne Sätze aus Mayröckers Prosa assoziativ in seine Bildsprache umsetzte. Vallazza gehe es in seiner Arbeit nie um die Illustration literarischer Werke, so Wimmer, sondern um den Niederschlag seiner persönlichen Lesart eines Textes. Anhand von Bild und Text ging die Referentin der Frage nach, inwieweit Vallazza auch hier den Text auf der Ebene des Bildes ‚weiterschrieb‘. Der Verleger, Buchdrucker und Autor Siegfried Höllrigl (Meran) berichtete in seinem Vortrag „Kassandra im Fenster. Friederike Mayröcker und der Druck“ über seine nun langjährige Freundschaft mit der Autorin, die immer wieder zu künstlerischer Zusammenarbeit geführt habe. So gab er u. a. 2008 in seiner bibliophilen Reihe „Lyrik aus der Offizin S.“ den Gedichtband Kassandra im Fenster mit Gedichten von Mayröcker heraus. Höllrigl gestaltet im Handsatzverfahren jede Gedichtseite mit eigener Hand. Christine Riccabona (Universität Innsbruck) rekonstruierte in ihrem Vortrag „Friederike Mayröckers Beziehungen zu Innsbruck. Eine biografische und poetische Spurenlese“ anhand von Fotografien und Korrespondenzstücken aus dem Bestand des Brenner-Archivs Mayröckers freundschaftliche Beziehung zur Tiroler Landeshauptstadt. In der Tat reicht diese in die frühen 1950er Jahre zurück, als die junge Autorin wiederholt eingeladen wurde, an den Österreichischen Jugendkulturwochen mit Lesungen teilzunehmen. Die von 1950 bis 1969 jährlich von der Stadt Innsbruck organisierten Jugendkulturwochen boten ein Forum für die damalige Avantgarde in Kunst, Musik und Literatur. Hier war es auch, wo sich Mayröcker und Ernst Jandl
zum ersten Mal begegneten. Hier hielt sie schließlich auch – auf Einladung des damaligen Institutsleiters des Brenner-Archivs, Prof. Johann Holzner – im Studienjahr 1996/97 die Poetik-Vorlesung der Universität Innsbruck. Im November 2015 wurde sie von der Universität Innsbruck als erster österreichischer Universität für ihr herausragendes künstlerisches Lebenswerk mit dem Ehrendoktorat ausgezeichnet. In ihrem Beitrag „»Es ist schön, daß jemand weint, Hauptsache, ich bin es nicht.« Zur Konstellation Mayröcker – Jelinek“ analysierte Uta Degner (Universität Salzburg) die Nähe und Ferne beider Autorinnen zueinander mithilfe der von Pierre Bourdieu entwickelten Feldanalyse. Dabei erweise sich, so Degner, dass beide trotz ihrer sehr ähnlichen Position am autonomen Pol des literarischen Feldes gänzlich konträre Ästhetiken vertreten, die sich gegenseitig negieren. Im letzten Vortrag sprach Eleonore De Felip (Universität Innsbruck) über Mayröckers poetischen Dialog mit Jacques Derrida: „»Lieblingssprache in meinem Leib meiner Seele«. Friederike Mayröckers ‚Liebesdialog‘ mit Jacques Derrida“. Die Spuren des französischen Philosophen in ihrem Werk sind omnipräsent: sei es, dass er namentlich genannt wird, sei es, dass er als Sigle JD auftaucht, als Zitat, als versteckte Hommage. Sie liebe seine Sprache, so die Autorin in einem Interview, seine Bücher liegen nachts auf ihrem Kopfkissen. Die geistige Verwandtschaft mit Derrida, der (wie sie) eine „erotische“ Beziehung zur Sprache pflegte, bedeute für sie Trost und Inspiration. Wie Mayröcker für diese Zwiesprache auf der breiten Klaviatur der intertextuellen Relationen zu spielen versteht, zeigte die Referentin anhand ausgewählter Textbeispiele aus den jüngsten Werken der Autorin (insbes. aus „Ich bin in der Anstalt. Fusznoten zu einem nichtgeschriebenen Werk“, 2010, und aus „Von den Umarmungen“, 2012).
121
13.1
LEGIONELLA
ÖKOLOGIE
EXPERIMENT NR. 44
DATUM 2016−11−23
ZEIT 15.24 UHR
LAB C2F
AT
AL
GT
KS FM
SYSTEMATIK AL = PROTEOBACTERIA KS = GAMMAPROTEOBAC. ON = LEGIONELLALES FM = LEGIONELLACEAE GT = LEGIONELLA AT = LEG. PNEUMOPHILA ZS1 ALF KS2 ONC
μM
2
ZS2 ALA KS7 ONB
μM
2
ZS3 ALS KS4 ONA
μM
2
ZS AL KS ON
= ZUSTAND = ABTEILUNG = KLASSE = ORDNUNG
Satzspiegel *
von Verena Schoepf *
— Nutzfläche auf der Seite eines Buches, einer Zeitschrift oder anderen Druckwerken; ein bedruckten Flächen zugrundeliegendes schematisches Ordnungssystem, das den Grundriss von Schrift, Bild und Fläche definiert. — Aufforderung, Sätze zu formulieren, die für die eigene Arbeit stehen und deren Grundgerüst bilden; das eigene Schaffen zu spiegeln und dabei die tagtäglich gebrauchten professionellen Ausdrucksmittel möglichst außer Acht zu lassen.
Farbenpracht und Unsichtbarkeit. Diese zwei Themen haben meine Laufbahn schon bestimmt, lange bevor ich überhaupt eine Karriere als Meeresbiologin verfolgte. Und während mir der Einfluss des einen Themas bewusst war, zumindest im Ansatz, ist mir die Tragweite des anderen erst viel später klar geworden. Schon als Kind hat mich das Meer fasziniert, obwohl ich in Innsbruck aufgewachsen bin und viel Zeit in den Bergen verbracht habe. Während der Sommerurlaube am Meer bin ich dann stundenlang im Wasser gewesen und habe schnorchelnderweise eine neue Welt entdeckt, die in ihrer Farbenpracht so verlockend war, dass ich heute, mehr als zwei Jahrzehnte später, noch immer ihre Geheimnisse verstehen will. Schritt für Schritt, Experiment für Experiment, ringe ich der Natur Antworten auf meine Fragen ab, die winzig kleine Teilchen eines unendlich großen Puzzle darstellen und zusammengefügt werden müssen. Egal wie winzig und unbedeutend einzelne Teilchen erscheinen mögen, wäre doch das gesamte Puzzle unvollständig ohne sie, und jedes fehlende Steinchen weist auf neue Rätsel hin, die gelöst werden wollen. Nicht selten passiert es dabei, dass man anfangs glaubt, ein bestimmtes Bild zusammenzusetzen, und irgendwann bemerkt, dass diese Szene nur der Ausschnitt eines viel größeren Bildes ist. Tropische Riffkorallen, zum Beispiel, sind Tiere – aber gleichzeitig auch Pflanzen und Steine und sogar Wirte für eine Unzahl an Mikroorganismen, die alle zueinander in einer Fülle an Beziehungen stehen und völlig unterschiedlich auf Veränderungen in ihrer Umwelt reagieren. So sind Korallen zwar einerseits recht primitive Tiere, die gemeinsam mit ihren Verwandten, den Quallen und Anemonen, auf den unteren Entwicklungsstufen des Tierreiches stehen, aber andrerseits zugleich auch hochkomplexe Entitäten, die mehr als die Summe ihrer Einzelteile sind und nur in ihrer Gesamtheit verstanden werden können. Unsichtbarkeit bedroht Farbenpracht. Ich habe mich schon oft gefragt, wie anders die Welt heute wäre, wenn zufälligerweise Kohlendioxid eine Farbe hätte – wenn dieses Gas nicht einfach farblos und unsichtbar wäre. Oder wenn wir es zumindest riechen, spüren oder sonst irgendwie wahrnehmen könnten. Man stelle sich nur vor, wieviel schwieriger es den Menschen dann fallen würde, den Klimawandel zu leugnen und zu ignorieren – wenn sich der Himmel zunehmend verfärben würde,
erst langsam und dann immer schneller. Dass so ein willkürlicher Zufall wohl mitverantwortlich für eine der größten Herausforderungen unserer Generation ist, oder zumindest unsere Unfähigkeit, sich dieser Herausforderung zu stellen, ist ein Gedanke, der schwer auszuhalten ist. Und so befinden wir uns in einer Situation, wo unsere Fähigkeit zu begreifen plötzlich von Platzhaltern abhängt, da unsere fünf Sinne uns beim Erfahren dieser Realität im Stich lassen. Im Meer ist es so, dass Korallenriffe diese Platzhalterfunktion übernommen haben. Ihre atemberaubende Farbenpracht und Vielfalt an Lebewesen fasziniert so viele Menschen, dass es Tausenden ein Anliegen ist, genau wie mir, diese „Regenwälder des Meeres“ zu erhalten und schützen. Mindestens ebenso wichtig ist für diese Funktion natürlich tragischerweise auch ihre enorme Empfindlichkeit, mit der sie auf Meere reagieren, die zunehmend wärmer werden und versauern. Dass sich diese Empfindlichkeit dann auch noch in bestürzend visuellen Bildern von bleichen Korallenskeletten ausdrückt, die oft zugleich eine verstörend ansprechende Ästhetik besitzen, ist dabei essentiell für ihre mediale Verwertbarkeit. Je schöner und dramatischer ihr Untergang, desto erfahrbarer und deutlicher ist die Botschaft, die sich sonst so leicht unserer Wahrnehmung entzieht. Haben mich anfangs in erster Linie die Farbenpracht von Korallenriffen und ihre Geheimnisse ganz allgemein fasziniert, so ist heute meine Neugier und mein Drang zu verstehen viel zielgerichteter. Ob es Korallenriffe (und viele andere Ökosysteme und Lebewesen, für die Korallenriffe ja nur marktfähigere Stellvertreter sind) am Ende dieses Jahrhunderts noch geben wird, ist offen. So wie wir sie heute, oder noch vor 20, 30 Jahren erleben konnten, höchstwahrscheinlich nicht. Und so reißerisch es auch klingt, die Zeit läuft uns wirklich davon. In Wahrheit ist dieses unendlich große Puzzle, das ich mithelfe zusammenzubauen, drei- oder sogar multidimensional. Momentan steht die zeitliche Dimension stark im Vordergrund, und so suche ich vor allem nach den fehlenden Teilchen, die uns helfen zu verstehen, wie Korallenriffe diese rasanten Veränderungen überstehen können. Unsere Rolle als Wissenschaftler hat sich gewandelt, da wir nicht mehr nur „Wissen schaffen“, sondern auch eine Botschaft zu vermitteln haben. Es bleibt zu hoffen, dass sie rechtzeitig ankommen wird. 123
<!DOCTYPE html> <html> <head> <title>Quart Heft für Kultur Tirol</title> <meta charset=“iso-8859-1“> <link rel=“stylesheet“ type=“text/css“ href=“inc/css/style.css“> <script src=“inc/js/main.js“ type=“text/javascript“></script> </head> <body> <header> <div class=“header“> <h1>www.quart.at</h1> <img class=“newsletterIcon“ src=“pics/icon_newsletter.png“> </div> </header> <div class=“content“> <p>Endlich im Netz: alle Hefte, alle Autoren, alle Beiträge.</p> <p>Lesen, schauen, bestellen, herunterladen.</p> </div> <div class=“gridHolder“> <div id=“gridContainer“ class=“gridContainer“> <div class=“gridElement“> <div class=“gridImage“><img src=“pics/titel_quart_1.jpg“ alt=“Quart Heft für Kultur Tirol Nr. 1/03“></div> </div> <div class=“gridElement“> <div class=“gridImage“><img src=“pics/titel_quart_2.jpg“ alt=“Quart Heft für Kultur Tirol Nr. 2/03“></div> </div> <div class=“gridElement“> <div class=“gridImage“><img src=“pics/titel_quart_3.jpg“ alt=“Quart Heft für Kultur Tirol Nr. 3/04“></div> </div> <div class=“gridElement“> <div class=“gridImage“><img src=“pics/titel_quart_4.jpg“ alt=“Quart Heft für Kultur Tirol Nr. 4/04“></div> </div> <div class=“gridElement“> <div class=“gridImage“><img src=“pics/titel_quart_5.jpg“ alt=“Quart Heft für Kultur Tirol Nr. 5/05“></div> </div> <div class=“gridElement“> <div class=“gridImage“><img src=“pics/titel_quart_6.jpg“ alt=“Quart Heft für Kultur Tirol Nr. 6/05“></div> </div> <div class=“gridElement“> <div class=“gridImage“><img src=“pics/titel_quart_7.jpg“ alt=“Quart Heft für Kultur Tirol Nr. 7/06“></div> </div> <div class=“gridElement“> <div class=“gridImage“><img src=“pics/titel_quart_8.jpg“ alt=“Quart Heft für Kultur Tirol Nr. 8/06“></div> </div> <div class=“gridElement“> <div class=“gridImage“><img src=“pics/titel_quart_9.jpg“ alt=“Quart Heft für Kultur Tirol Nr. 9/07“></div> </div> <div class=“gridElement“> <div class=“gridImage“><img src=“pics/titel_quart_10.jpg“ alt=“Quart Heft für Kultur Tirol Nr. 10/07“></div> </div> <div class=“gridElement“> <div class=“gridImage“><img src=“pics/titel_quart_11.jpg“ alt=“Quart Heft für Kultur Tirol Nr. 11/08“></div> </div> <div class=“gridElement“> <div class=“gridImage“><img src=“pics/titel_quart_12.jpg“ alt=“Quart Heft für Kultur Tirol Nr. 12/08“></div> </div> <div class=“gridElement“> <div class=“gridImage“><img src=“pics/titel_quart_13.jpg“ alt=“Quart Heft für Kultur Tirol Nr. 13/09“></div> </div> <div class=“gridElement“> <div class=“gridImage“><img src=“pics/titel_quart_14.jpg“ alt=“Quart Heft für Kultur Tirol Nr. 14/09“></div> </div> <div class=“gridElement“> <div class=“gridImage“><img src=“pics/titel_quart_15.jpg“ alt=“Quart Heft für Kultur Tirol Nr. 15/10“></div> </div> <div class=“gridElement“> <div class=“gridImage“><img src=“pics/titel_quart_16.jpg“ alt=“Quart Heft für Kultur Tirol Nr. 16/10“></div> </div> <div class=“gridElement“> <div class=“gridImage“><img src=“pics/titel_quart_17.jpg“ alt=“Quart Heft für Kultur Tirol Nr. 17/11“></div> </div> <div class=“gridElement“> <div class=“gridImage“><img src=“pics/titel_quart_18.jpg“ alt=“Quart Heft für Kultur Tirol Nr. 18/11“></div> </div> <div class=“gridElement“> <div class=“gridImage“><img src=“pics/titel_quart_19.jpg“ alt=“Quart Heft für Kultur Tirol Nr. 19/12“></div> </div> <div class=“gridElement“> <div class=“gridImage“><img src=“pics/titel_quart_20.jpg“ alt=“Quart Heft für Kultur Tirol Nr. 20/12“></div> </div> <div class=“gridElement“> <div class=“gridImage“><img src=“pics/titel_quart_21.jpg“ alt=“Quart Heft für Kultur Tirol Nr. 21/13“></div> </div> <div class=“gridElement“> <div class=“gridImage“><img src=“pics/titel_quart_22.jpg“ alt=“Quart Heft für Kultur Tirol Nr. 22/13“></div> </div> <div class=“gridElement“> <div class=“gridImage“><img src=“pics/titel_quart_23.jpg“ alt=“Quart Heft für Kultur Tirol Nr. 23/14“></div> </div> <div class=“gridElement“> <div class=“gridImage“><img src=“pics/titel_quart_24.jpg“ alt=“Quart Heft für Kultur Tirol Nr. 24/14“></div> </div> <div class=“gridElement“> <div class=“gridImage“><img src=“pics/titel_quart_25.jpg“ alt=“Quart Heft für Kultur Tirol Nr. 25/15“></div> </div> <div class=“gridElement“> <div class=“gridImage“><img src=“pics/titel_quart_26.jpg“ alt=“Quart Heft für Kultur Tirol Nr. 26/15“></div> </div> <div class=“gridElement“> <div class=“gridImage“><img src=“pics/titel_quart_27.jpg“ alt=“Quart Heft für Kultur Tirol Nr. 27/16“></div> </div> <div class=“gridElement“> <div class=“gridImage“><img src=“pics/quartessenz.jpg“ alt=“Quartessenz-Anthologie“></div> </div> <div class=“gridElement“> <div class=“gridImage“><img src=“pics/quartessenz_lesebuch.jpg“ alt=“Quartessenz-Lesebuch“></div> </div> </div> </div> </body> </html>
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Besetzung
Anna-Maria Bogner, Tirol Wien: Bildende Künstlerin. Studium an der Akademie der bildenden Künste Wien (2003–2007). Zahlreiche Ausstellungen, Preise und Stipendien. In Quart Nr. 25 erschien von ihr eine zehnteilige Zeichnung. www.ambogner.com C2F, Luzern: Communication Design Studio. 2006 von Cybu Richli und Fabienne Burri gegründet, 2013 ergänzt durch Dani Klauser. Seither arbeiten sie in einem Team von 5–8 Designern in den Bereichen Informationsdesign, Editorialdesign und Corporate Design für kulturelle und kommerzielle Auftraggeber. Zu ihrem Portfolio gehören u. a. The New York Times, W. I. R. E. D., Museum für Gestaltung Zürich, Bundesamt für Kultur, Historisches Museum Basel. Ihre Arbeiten wurden weltweit ausgezeichnet. Tomas Eller, Meran Langtaufers und Wien: Bildender Künstler. Studium der Bildhauerei, Malerei, Grafik und Neuen Medien an der Universität für angewandte Kunst und an der Akademie der bildenden Künste Wien. Einzelausstellungen (Auswahl): Zeithaus Autostadt VW Wolfsburg; Eastlink Gallery, Shanghai; Galerie Meyer Kainer, Wien; Kunstraum Bernsteiner, Wien; Kunstverein Medienturm, Graz; Museion, Bozen. Eleonore de Felip, Bozen Innsbruck: Germanistin, Altphilologin. Senior Scientist am Forschungsinstitut Brenner-Archiv der Universität Innsbruck. Zur Zeit Elise-Richter-Stipendiatin (FWF), schreibt an einem Buch zur „Lyrischen Intensität“ von Friederike Mayröckers Lyrik. Führt Zwiesprache mit ihrer Hündin. Harald Gsaller, Lienz Wien: Bildender Künstler und Autor. Seit geraumer Zeit Gestaltung von Artist’s Lectures / Lecture Performances, in welchen bevorzugt Elemente der (chinesisch) taoistischen Bilderwelt mit Textfragmenten aus dem Daozang (taoistischer Kanon) verwoben werden. Zuletzt: „Taiji ist diese Dinge / Laozi in Vienna“ (Kunsthalle Wien 2015, e-book), „flugschrift N°8, wu wei – do nothing (with nothing left undone)“ (Literaturhaus Wien 2014). www.haraldgsaller.at München / Bormes-les-Mimosas Thomas Jonigk, Eckernförde (Côte d’Azur): Autor von Theaterstücken, Libretti und Romanen. Vor kurzem erschien „Liebesgeschichte“ (Literaturverlag Droschl). Jonigk arbeitet auch als Regisseur, zuletzt am Staatsschauspiel Dresden, dem Schauspiel Köln und dem Staatstheater Wiesbaden. Budapest, Mailand, Rijeka, LonTamás Jovanovics, Budapest don. Kunststudien in Budapest, Aix-en-Provence und London. Arbeitet mit Linien und Farben. Macht vor allem Malerei; teilweise auch monumentale Installationen und Kunst am Bau. Wird repräsentiert von Artmark Gallerie (Wien); Varfok Gallery (Budapest) und Maab Gallery (Mailand). Michael Kerbler, Wien Wien / Salzburg: Journalist. Zählt zu den prominentesten Rundfunkjournalisten Österreichs. Ab 1998 ORF-Chefredakteur Hörfunk, danach Chefredakteur des ORFAuslandsradios ROI. Ab 2003 Leiter der Ö1-Sendereihe „Im Gespräch“. Seit Jahresbeginn 2014 arbeitet Kerbler als freier Journalist für www.kombinat3.eu. Seit September 2015 wird die Gesprächsreihe „Zeit.Gespräch“ mit Michael Kerbler in ORF III gesendet. Dóra Maurer, Budapest Budapest: Bildende Künstlerin. Studierte von 1955 bis 1961 an der Ungarischen Akademie der bildenden Kunst. Verwendet in ihrer Kunst mehrere Medien und Materialien: Druckgrafik, Malerei, Fotografie, Experimentalfilm. Zentrale Begriffe ihrer Arbeit lauten: Bewegung, Veränderung und Doku-
mentation derselben, Zusammenhänge von Raum und Zeit, Systematisierung, Regel und die Abweichung davon. Ab 1990 Dozentin an der Akademie der bildenden Kunst Budapest, 2003–2007 ordentliche Professur ebendort. Seit 1993 Mitglied der Széchenyi Akademie der Literatur und Kunst Budapest. Einzelausstellungen (Auswahl): City Museum Győr; Museum Ludwig, Budapest; Espace Topographie de l’Art, Paris; 12th Biennial of Istanbul; Museum Ritter, Waldenbuch, White Cube Masons Yard, London. Wien: Freischaffender Künstler, Roland Maurmair, Innsbruck Medien- und Primitivtechnologe. Studium der Visuellen Mediengestaltung an der Universität für angewandte Kunst. Zahlreiche Ausstellungen und Präsentationen (Auswahl): „Einfach mal die Kresse halten“, Forum Alpbach; „Artist statement“, Parallel Vienna; „vor lauter Wald“, kunstraum Bernsteiner; Wien; „Herde – Rudel – Schwarm“, Ortner2, Wien; „Rabbitism“, Eikon schAUfenster, Quartier 21, Museumsquartier Wien; „Dandelion“, Swingr, Wien; „Landcruiser“, Kunstraum Innsbruck; „Sculpturepark“, UNO Fine Arts Gallery, New Orleans, USA; „Un space“, MAK Gegenwartskunstdepot Gefechtsturm Arenbergpark, Wien. www.maurmair.com Macau / China: PhiloHans-Georg Möller, Wissen an der Sieg soph und Sinologe, University of Macau, Philosophy and Religious Studies Program. Publikationen (Auswahl): „The Radical Luhmann“, „The Moral Fool. A Case for Amorality“ (beide Columbia University Press), „Daodejing (Laozi). A Complete Translation and Commentary“ (Open Court 2007). Anita Pichler: Schriftstellerin und Übersetzerin. Geb. 1948, aufgewachsen in Südtirol und in Triest, lebte ein Jahr in Biel (CH) als Trägerin des „Bernjahres“ und längere Zeit als Literaturstipendiatin in Wien sowie bis zu ihrem Tod 1997 in Südtirol und Venedig. Bücher: „Die Zaunreiterin“, „Wie die Monate das Jahr“ (beide Suhrkamp Verlag). Bei Haymon: „Die Frauen aus Fanis. Fragmente zur ladinischen Überlieferung“ (1991, HAYMONtb 2014), „Beider Augen Blick. Neun Variationen über das Sehen“ (1995) sowie „Haga Zussa. Die Zaunreiterin“ (HAYMONtb 2009). Berlin: Bildende Künstlerin. AufgeKatrin Plavčak, Gütersloh wachsen in Zeltweg, 1999 Diplom an der Akademie der bildenden Künste Wien. Zahlreiche Einzel- und Gruppenausstellungen, u. a. Skulpturenpark Daniel Spoerri, Seggiano; Blackbridge Offspace, Beijing; Galerie Funke Berlin; Deutsche Bank KunstHalle Berlin; Secession Wien; Sammlung Essl; Galerie der Stadt Schwaz. Lehraufträge für Malerei an der Kunsthochschule Weißensee Berlin und der Universität für angewandte Kunst Wien, Gastprofessur für Malerei und Grafik, Klasse Ursula Hübner, Kunstuniversität Linz. Innsbruck: Nach dem Studium der Anna Rottensteiner, Bozen Germanistik und Slawistik als Buchhändlerin und Lektorin tätig; seit 2003 Leiterin des Literaturhauses am Inn. Ab 2010 eigene literarische Produktion. Zuletzt erschienen: „Lithops. Lebende Steine“, Roman (edition laurin 2013); „Nur ein Wimpernschlag“, Roman (edition laurin 2016); „Sassi vivi. Romanzo“ (Keller editore 2016). Publikationen in Anthologien und Literaturzeitschriften. Blog: grenzwandlerin.wordpress.com Verena Schoepf, Innsbruck Perth (Australien): Meeresbiologin. Studium der Biologie in Innsbruck und Wien, Doktoratsstudium in Geologie in Columbus, Ohio, USA. Lebt seit 2013 in Australien und arbeitet als Meeresbiologin an der University of Western Australia in Perth. 2016 enstand die ARTE-Doku „Verena Schoepf – Super-Korallen“ als Teil der Dokureihe „Frauen und Ozeane“.
Carolina Schutti, Innsbruck Innsbruck: Schriftstellerin, Musikerin. Unterrichtstätigkeit in verschiedenen Bereichen, ehem. Mitarbeiterin im Literaturhaus am Inn. Promotion über Elias Canetti. Studium Germanistik und Anglistik / Amerikanistik sowie Konzertgitarre und Gesang. Schreibt Romane, Erzählungen, Hörspiele. Stuttgart: Schriftsteller. Arbeitet im Heinrich Steinfest, Albury Schwabenland an seinen Romanen und Essays, mitunter auch in der Wiener Heimat und an Tiroler Urlaubsstätten. Wurde mehrfach mit dem Deutschen Krimipreis ausgezeichnet und erhielt 2010 den Heimito-von-Doderer-Preis. Sein Roman „Der Allesforscher“ stand auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis. Zuletzt erschien „Das Leben und Sterben der Flugzeuge“, nominiert für den Bayerischen Buchpreis. Im Frühjahr 2018 erscheint eine Neufassung seiner „Gebrauchsanweisung für Österreich“. Esther Stocker, Südtirol Wien: Bildende Künstlerin. Ausstellungen im Jahr 2016: „From the Future“, Kunsthalle Bratislava; „Der fremde Raum“, Marta Herford; „Setouchi Triennale 2016“, Awashima, Japan; „Abstrakt / Spatial“, Kunsthalle Krems, Krems; „Tensioni Strutturali #1“, Galleria Eduardo Secci, Firenze; „DYSTOTAL“, Ludwig Forum für Internationale Kunst, Aachen;
Výstavní síň Sokolská 26, Ostrava. Esther Stocker wird vertreten durch die Galerie Krobath, Wien. Sophie Tiller, Wien Wien: Studium an der Akademie der bildenden Künste Wien, Auslandssemester in Prag, Schule für künstlerische Photographie bei Friedl Kubelka, 2011 Startstipendium für künstlerische Fotografie, BMUKK. Einzelausstellungen: basement, Wien (2014 / 2016), Nordic House, Reykjavik (2015), Galerie Benedict, Wien (2014), Galerie aquabitArt, Berlin (2013). Gruppenausstellungen (Auswahl): periscope, Salzburg (2016), das weisse haus, Wien (2015 / 2016), MAG3 Projektraum Wien (2014). www.sophietiller.com Christoph Zanon: Schriftsteller. Geb. 1951, Studium der Bautechnik in Innsbruck, dann Wechsel zu den Fächern Deutsch und Latein, lebte bis zu seinem Tod 1997 mit seiner Familie in Leisach / Osttirol. Literarische Arbeiten in Literaturzeitschriften, mehrere Buchveröffentlichungen. Heute gilt er als einer der wichtigsten und bekanntesten Autoren der Osttiroler Literaturszene, der Christoph-Zanon-Literaturpreis ist nach ihm benannt. Bei Haymon u. a.: „Die blaue Leiter“ (1988) und „Schattenkampf. Texte von der Heimat“ (1992).
Quart Heft für Kultur Tirol
Kulturzeitschrift des Landes Tirol Herausgeber: Markus Hatzer, Andreas Schett Chefredaktion: Heidi Hackl, Andreas Schett Anschrift der Redaktion: Circus, Kochstraße 10, 6020 Innsbruck (A), office@circus.at Anschrift des Verlags: Haymon Verlag, Erlerstraße 10, 6020 Innsbruck (A) T 0043 (0)512 576300, order@haymonverlag.at, www.haymonverlag.at Geschäftsführer / Verleger: Markus Hatzer Aboservice: T 0043 (0)512 576300, aboservice@haymonverlag.at Bezugsbedingungen: Quart Heft für Kultur Tirol erscheint zweimal jährlich. Jahresabonnement: € 22,– (SFr 26,15) · Einzelheft: € 16,– (SFr 19,05) · Preise inkl. MwSt., zzgl. Versand Die Bezugspreise unterliegen der Preisbindung. Abonnement-Abbestellungen müssen spätestens 3 Monate vor Ende des Kalenderjahres schriftlich erfolgen. Mitarbeiter dieser Ausgabe: Anna-Maria Bogner, C2F, Tomas Eller, Eleonore de Felip, Harald Gsaller, Thomas Jonigk, Tamás Jovanovics, Michael Kerbler, Dóra Maurer, Roland Maurmair, Hans-Georg Möller, Anita Pichler, Katrin Plavčak, Anna Rottensteiner, Verena Schoepf, Carolina Schutti, Heinrich Steinfest, Esther Stocker, Sophie Tiller, Christoph Zanon Kuratoren: Ruedi Baur, Othmar Costa, Karin Dalla Torre, Eduard Demetz, Georg Diez, William Engelen, Martin Gostner, Helmut Groschup, Franz Hackl, Hans Heiss, Stefanie Holzer, Sebastian Huber, Gabriele Kaiser, Otto Kapfinger, Walter Klier, Martin Kofler, Gustav Kuhn, Christoph Mayr-Fingerle, Milena Meller, Walter Methlagl, Wolfgang Mitterer, Walter Niedermayr, Thomas Nußbaumer, Dominique Perrault, Wolfgang Pöschl, Helmut Reinalter, Robert Renk, Arno Ritter, Benedikt Sauer, Benno Simma, Gerhard Steixner, Vitus H. Weh, Lois Weinberger, Maria Welzig u. a. Linke Seiten: C2F Visuell-editorisches Basiskonzept: Walter Pamminger Farbkonzept: Peter Sandbichler Grafische Realisation: Circus, Büro für Kommunikation und Gestaltung, Innsbruck / Wien, www.circus.at Druck: Lanarepro, Lana, Italien Papier: Luxo Samt 135 g/m2 Schriften: Sabon LT Std, Gill Sans Std, Neutral BP Verwendung der Karte „Tirol-Vorarlberg 1 : 200.000“ auf den Seiten 52 / 53 mit freundlicher Genehmigung von Freytag-Berndt und Artaria KG, Kartographische Anstalt, Brunner Straße 69, 1231 Wien (A). Sämtliche inhaltlichen Beiträge dieses Heftes sind Ersterscheinungen, Auftragswerke, Uraufführungen (außer S. 23, 25, 27, 29, 31, 97, 99, 101). ISBN 978-3-7099-7273-1 · © Haymon Verlag, Innsbruck-Wien 2016 · Alle Rechte vorbehalten. 131