Quart Nr. 30

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Quart Heft für Kultur Tirol Nr. 30 /17 E 16,–




Das Leben geht weiter Landvermessung No. 5, Sequenz 3

82–90 * Der Auftrag zur Gestaltung der linken Seiten ging für diese Ausgabe an Karl-Markus Gauß, der uns zu folgenden Beiträgen seine Anmerkungen zukommen ließ:

Eine Nacht im Paradies 10–16

Vertrauen, Achtsamkeit, Pragmatik 102–108

Marginaltexte (4): Wortkammer 32– 40

Nullsätze, Stummelsätze und Gesprächskiller 124–126

Armer Uhu, klösterliches Atrium, edles Geschmeide 50–56

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Inhalt

Bruno Walpoth Fotografie: Egon Dejori

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Halotech Lichtfabrik

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Karl-Markus Gauß* Inhaltsverzeichnis

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Fließtext von Simon Strauß

Wolfgang Wirth RUGS 11–17

Stumme Begegnung Lisa Trockner über Bruno Walpoth

19–23

Marginaltexte (4): Wortkammer Die kurze Kindheit des Paul Fröhlich Ich habe mit Einer zu Mittag gegessen Wer kann das schon von sich behaupten? Christian Seiler

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94–101

Vertrauen, Achtsamkeit, Pragmatik Friederike Gösweiner über das Librettoschreiben

103–109

Hans Kupelwieser Originalbeilage Nr. 30

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24–31

33–41

43–49

Armer Uhu, klösterliches Atrium, edles Geschmeide Carolina Schutti öffnet die Schatzkiste der Tiroler Landesmuseen 51–57 Vom Wesen der Verwandlung Alexandra Kontriner hält fest, was nicht fest zu halten ist. Mit einer Einleitung von Thomas-Roman Eder

= 1: 200.000 Jeannie Moser über Wolfgang Wirths Maßnahmen

80–91

7–9

Eine Nacht im Paradies Ilija Trojanow nachtwandelt durch die gute Bücherstube

Bruno Walpoth Fotografie: Egon Dejori

Das Leben geht weiter Landvermessung No. 5, Sequenz 3 Durch das Gsiesertal Richtung Welsberg Julie von Kessel fährt weit weg (nach Südtirol)

59–67

Brenner-Gespräch (18): „Alle Existenz ist unerreichbare Vollkommenheit“ Matthias Osterwold und Tatjana Frumkis trafen die Komponistin Sofia Gubaidulina und wissen nun mehr über Aktivitäten der Seele 69–79

Zwischen uns das brennende Meer Mirko Bonné sieht den Gemäldezyklus „Lepanto“ von Cy Twombly und geht weiter Polaroids: Sonia Bonné 113–123 Nullsätze, Stummelsätze und Gesprächskiller Polemik von Hans Magnus Enzensberger 125–127 Eigenwerbung

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Besetzung, Impressum

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Fließtext*

Von Simon Strauß

*

— Text, der in einem Stück und ohne Unterbrechungen durch Absätze, Überschriften, Abbildungen, Fußnoten u. Ä. gesetzt wird. — Aufforderung, seinen Gedanken freien Lauf zu lassen und dabei nicht zurückzuschauen; freihändig draufloszulegen, ohne zu korrigieren; die Buchstaben zu Papier zu bringen und bedenkenlos aus der Hand zu geben.

He, ihr da draußen, verteilt in Raum und Zeit, habt ihr noch Hoffnung auf eine Wende? Seid ihr noch hungrig auf mehr, oder ist euch jetzt schon alles genug? Seid ihr müde und gesättigt, habt fettige Finger und keinen Glauben mehr? Wozu gibt es den Himmel, wenn keiner mehr aufschaut zu ihm, warum Flaggen, Farben und Funkverkehr? Einhörner, die sich nachts die Hufe lackieren und Regenmänner mit juckenden Warzen im Gelbstromtal? Ich möchte nicht ohne Träume leben. Kein Android sein auf hilflos wackelndem Ponton. Tiere können nicht Ich sagen. Ich schon. Restitutio ad Integrum – ist das nur ein anderes Wort für „Revolution“? Der Umlauf als Wiederherstellung, die Rückkehr, „Homecoming“, als tiefster Moment. Aus dem Zug schon die grünen Felder sehen, die Herden auf den Hügeln, das düstere Eck am See. Am Bahnsteig dann das Winken. Von Ferne die Eltern sehen. Wohin jetzt mit dem Blick, nach unten, zur Seite, nach vorne weg? Das Leben wartet darauf, geschnitten zu werden. Man muss mitunter auch kaputt machen, was andere aufgebaut haben. Und doch: Es wohnt sich so schön in den Höhlen der Alten. Von den Wänden tropfen die Tränen, der Tiger hat Schlaf in den Augen. Wer hier nicht an einer Brust ruhen möchte, ist von innen verdorben. Dem ist das Herz zugewachsen, den küsst keine Prinzessin mehr wach. Bilder und Zeiten, Gedanken und Flüche fliegen so schnell wie nie. Aber an welche Adresse schicken wir unsere Flaschenpost? Gibt es noch Zufall und vor allem Geheimnis? Alles wird durchrationalisiert, ausformuliert, entmystifiziert. Zwischen dem Funktionalisieren und dem Zensieren liegt nur ein Katzensprung. Und mit Ausrufezeichen und Großbuchstaben räumt man die Zweifel auch nicht aus dem Weg. Uns fehlt ein Wort, ein einziges Wort, um aus dem Ödland zu entkommen. Wir brauchen bessere Rezepte, schönere Unterrichtsstunden. Es geht darum, das Licht zu sehen, wie es an späten Wintertagen aus den beschlagenen Fenstern scheint. Draußen stehen und denken, was drinnen möglich wäre. Welche Gespräche geführt, welche Gefühle geteilt werden könnten. Wie das Besteck geordnet, das Bier gekühlt wird. Um Gewohnheiten braucht man sich keine Sorgen machen, die werden bleiben, bis die letzte Biene gestorben ist. Aber Besteck allein führt noch nicht zur Befreiung. Es ist nur Mittel, kein Zweck. Freiheit verspricht allein der nackte Handschlag, alles andere ist kalte Lüge, totes Geäst. Auf samtenem Papier muss man schreiben: „und es fällt schon der erste Schnee / dass wir am Tage so achtlos sind, tut uns am Abend weh“. Im Ernst – kein Tag vergeht, ohne dass vergessen wird. Weltweit,


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überall, bei jedem von uns: grenzenloses Vergessen. Kunst ist die letzte Archivarin unserer gefährdeten Wirklichkeit. Eine alte große kranke Frau, kniet im Staub, bricht sich die Fingernägel, hüllt sich in harte Bandagen. Oben spielen die Gaukler fangen und drehen Runden auf den glitzernden Eisbahnen der Politik. Aber sie sitzt im Keller, tief unter der Erde und versucht, die Belege anders zu ordnen. Ausdenken kann man sich alles – ja. Aber wenn es nur noch ums Denken geht und es mit dem „aus“ ganz vorbei ist, dann fangen die Wände irgendwann wieder an zu zittern. Dann erscheint bald wieder ein Menetekel auf der weißen Fläche – gewogen und für zu leicht befunden, gibt es ein härteres Urteil? Die Sache von der Gegenseite her denken. Und ja nicht zu schnell verstehen. Wärmende Unterhosen benutzen, während der Zeiger weiterläuft. Man kann sie alle zerschlagen, zertrümmern, vernichten, die Uhren unserer Welt, aber die Zeit wird trotzdem kommen. Mit leichtem, federndem Schritt. Sie wird uns die schützende Decke vom Kopf reißen und ins Kalte hinausziehen. Taumeln, Halt suchen und dann stürzen lassen, hinein in den eisigen Morast abgelaufener Tage. An den Rändern werden traurige Findlinge stehen. Und buntbestickte Kniestrümpfe tragen. Was tun bis dahin? Woran denken, wie reden, wen zusammenrufen? Auf manchen Zahlenzauber wird man sowieso nicht kommen. Gewisse Seelenzonen nie erreichen. Aber der Geschichte nur noch die Taschen hinterhertragen – das geht doch auch nicht. Also auf jetzt, hoch aufs Ross, den Wagen anspannen. Europa, wir kommen. Wir treffen uns, um Dich zu besprechen und Dir das Blut aus dem Mund zu wischen. Von innen her, nicht von außen. Das Ferne muss uns wieder näher werden. Nicht alle Unterschiede einebnen, nicht alles gleich gültig werden lassen. Berührung gibt es nur durch fremde Hand. Die Strähne selbst wegstreichen heißt traurig zu sich selbst sein. Lass es bleiben. Geh in die Täler. Trink aus den Bächen. Lies auf dabei, finde Spuren, folge den Zeichen, denk an die Stimmen, die Töne, das Rauschen, den Teer. Und einmal wird der Wind dann doch drehen, die Wende doch kommen. Dann dürfen nur die, die schon segeln, kurz den Kopf einziehen. Alle anderen müssen sich stoßen lassen, bis sie verstehen, worum es geht: Egal gibt es nicht. Im Versteck bleiben ist keine Option. Raus aufs Feld, wo sie sich schlagen und die Engel der Geschichte mit Karten aus blauem Samt den Schiedsrichter spielen. He, ihr da draußen, verteilt in Raum und Zeit, kommt zusammen, lasst euch rufen. Unser Tag braucht neue Schwüre. Legt sie ab, kleidet euch ein und denkt immer daran: Gedächtnis ist alles.


Am Anfang war die städtische Leihbücherei, Abteilung für Kinderbücher. In der durfte man schon damals, vor über fünfzig Jahren, stöbern und blättern und probeweise lesen, ehe man sich für zwei oder drei Bücher entschied und sie für zu Hause ausborgte. Glückliche Griffe: Ohne Kurt Helds Roman „Die rote Zora und ihre Bande“ wäre mein Leben anders verlaufen. Dann kamen die Buchhandlungen, in denen ich mich stundenlang aufhielt, mir dieses Buch aus dem Regal griff, es lange prüfte, wieder zurückstellte, ein anderes herausnahm und so fort und fort, bis mich eine rätselhafte Fügung dazu brachte, das richtige zu erstehen. Dann kamen die beiden Bibliotheken meiner Stadt, die Universitätsbibliothek und die Bibliothek des Germanistischen Instituts, in denen ich Monate verbrachte und vieles entdeckte, das ich gar nicht gesucht hatte. Und darauf kehrte ich in die eine Buchhandlung zurück, in der sich, wie mir mein Freund, der Buchhändler, kürzlich verriet, die Kunden nur mehr kurz aufhalten, weil die meisten mit einer Liste erscheinen und nur rasch erstehen oder bestellen möchten, was sie auf ihr notiert haben. In meinem 64. Jahr frage ich mich manchmal, ob es nicht sinnvoll wäre, um Bibliotheken wie Buchhandlungen einen großen Bogen zu machen und nur meine eigene Büchersammlung noch einmal Buch um Buch durchzugehen, um mich auf die Spur früherer Lektüren zu setzen. Aber diese Rechnung habe ich ohne mich gemacht. Der Hunger nach Büchern wird umso größer, je mehr man davon schon zu sich genommen hat.

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Eine Nacht im Paradies

Ein Jugendtraum: Eingesperrt zu sein unter lauter Büchern, eine ganze Nacht lang. Alleingelassen mit all der Pracht, ungestörte Zweisamkeit mit Literatur in jeglicher Form, die Ruhe, die Zeit. Paradiesisch. Im Sommer des Jahres 2017 erfüllte ich mir diesen Traum. Von Ilija Trojanow

Nicht in einer Bibliothek, wo die Bücher schon zugerichtet sind, mit Nummern versehen wie Häftlinge, sondern in einer Buchhandlung, einer mittelgroßen, um aus dem Vollen schöpfen zu können, ohne sich zu verlaufen. Mit anderen Worten: In der Wagner’schen Buchhandlung in Innsbruck. Nach einer Nacht in dieser Wunderkammer wird einem bewusst, dass solche Buchhandlungen viel mehr als bloße Geschäfte sind. Es sind vielfältig fiebrige Kulturräume, unerlässliche Quellen für das, was wir Geist nennen und dessen Entwicklung. Solange der Mensch noch selbst denkt (manche haben diese Tätigkeit ja schon ausgelagert), wird er Buchhandlungen brauchen. Folglich benötigt jede Stadt gut sortierte intellektuelle Tankstellen. Wer Stunden in einer Buchhandlung verbringt, gestärkt durch Wein, Aufstrich und einen disziplinlos verzehrten leckeren Kuchen, der wird getragen von einer Energie, zu finden, was dem eigenen Befinden guttun könnte. Wer oft Buchhandlungen aufsucht, wird zu einem Trüffelschwein, in der Lage, unter Tausenden von Drucksachen jene Geschichte und jene Sprache zu erschnüffeln, die das eigene Leben bereichern werden. 22:00 Uhr Für weniger geübte, nicht traumwandlerisch zwischen den Regalen schwebende Leser und Leserinnen stehen am Eingang, neben der Kasse, zwei Stellwände mit „Blind Dates“, anonym eingepackten Büchern, die einen zu Hause überraschen sollen. Die graue Verpackung ziert eine handschriftlich verfasste Beschreibung.Die Bände seien sehr begehrt, berichtet der leitende Buchhändler, ein bärtiger Mann namens Robert Renk, ein Patriot des Buches, mit dem ich die erste Stunde verbringe, bevor er mich allein lässt. Er führt mich durch das Haus und beantwortet alle meine Fra-

gen, eine davon etwa damit, „dass ein liegendes Buch sich besser verkauft als ein im Regal stehendes.“ 23:00 Uhr Ich beginne bei der „Erotik“. Trotz der gesellschaftlichen Liberalisierung des Sexuellen immer noch ein wenig versteckt in einer Ausbuchtung hinten links im Erdgeschoss. Zu meinem Erstaunen erwartet mich trotz der Schwemme an kostenfreien lustverstärkenden Bildern und Filmen im Internet ein ganzer Meter Erotik. Aber wie soll ein potentieller Kunde nun das richtige Buch für sich finden? Schließlich kann er schlecht zu der netten Ute gehen und verkünden: „Ich bin 51 und stehe auf dicke Fesseln und flotte Dreier.“ Die angebotene Produktion stammt fast ausschließlich von Autorinnen, die Titel bzw. Untertitel beinhalten stets „Versuchung“, „Verlangen“, „Verführung“, „verbotene Liebe“ oder „leidenschaftliches Versprechen“. Zur Erotik gehören folglich Bücher, die ohne ein „ver-“ im Titel nicht auskommen können. Ich schlage auf gut Glück den Roman „Dirty Secrets“ auf: „Das erste Mal war liebevoll und zärtlich und wunderschön gewesen, trotz der furchtbaren Umstände. Es war eine Flucht gewesen. Eine Befreiung.“ So erotikfrei geht es weiter. Ich nippe am Weinglas und sehne mich nach Josefine Mutzenbacher. Vielleicht kann man von einem ehemaligen Pornostar mehr erwarten. Sasha Greys Roman trägt den überraschend intellektuellen Titel „Die Janus-Kammer“. Der erste Satz bringt mich fast um den Verstand: „Menschen, die in Hotels arbeiten, vermeiden es normalerweise, in Hotels zu übernachten, und folgen damit einem weitverbreiteten Trend innerhalb der Dienstleistungsbranche.“ Das ist nicht im klassischen Sinne er-


Informativ nenne ich Texte, die mich auf sachkundige und objektive Weise in etwas unterrichten, von dem ich zu wenig weiß und vermute, dass es gut wäre, besser Bescheid über sie zu wissen. Freilich, alles muss selbst ich nicht wissen, und darum lese ich fast gar keine Bücher mehr, um mich zu informieren.

Und jeder Satz, der veröffentlicht wird, ist eine Gelegenheit, sich als Trottel zu erweisen. Früher gab es die aktivistische und die esoterische Trottelei. Beides ist zu einem industriellen Komplex zusammengewachsen, der Ratgeber in Serie herstellt. Mir fällt da etwas zu Paulo Coelho ein, ich führe es an späterer Stelle aus.

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regend, aber immerhin informativ, wie das ganze erste Kapitel, in dem ich lerne, dass Prostituierte sich mit einem bestimmten Trick behelfen, wenn der hässliche Kerl, der auf ihnen liegt, partout nicht kommen will: „Sie rammt ihren Mittelfinger tief in seinen Arsch hinein. Und dreht ihn im Kreis.“ Aha. Leider steht aber vier Seiten weiter: „Warum nur sind harte Männerschwänze so unglaublich geschmeidig? Ist es möglich, dass die Reibung beim Masturbieren wie ein peeling wirkt?“ Solche Sätze würde ich eher lesen, um den Orgasmus zu verhindern. 24:00 Uhr Die Romantik, die direkt an die Erotik anschließt, ist mit vier Metern erheblich Platz einnehmender. Die einzige Abteilung, in der ich keine der Autorinnen (wiederum fast nur Frauen) kenne. Auch nicht Carrie Price. „Zoe“ lautet ein Band aus der Reihe „New York Diaries“ – Erotik und Romantik kommt meist in Reihen daher und spielt in New York, dem Liebeszentrum der Welt. Ich stolpere über den Satz: „Nach meinem niedergeschlagenen Anruf, der dieser fatalen Audition gefolgt war …“ – schlechtes Deutsch wirkt auf mich unromantisch. Der Verlag verschweigt, welche Software dieses Buch (nicht) übersetzt hat. Ich beschränke mich des Weiteren darauf, lediglich die Titel zu lesen. „Jeder Kuss ein Volltreffer“, „Ich bin zu alt für diesen Scheiß“ (wie wahr!) und „Ein Cowboy küsst selten allein“ (um mit offenen Karten zu spielen: Ich habe auch noch nie allein geküsst). Postmoderne Ironie allenthalben. Doch dann: „Der Junge, der mit dem Herzen sah“ (es lebe der kleine Prinz) und „Das Geheimnis der Schneekirsche“ – es gibt sie also noch, die pathetisch sentimentalen Titel. Ich lese in zehn beliebige Bücher hinein, alle im Stil des süßsauren Tofu-Realismus geschrieben, so austauschbar, niemand könnte sie je voneinander unterscheiden. Nach einer knappen Stunde bilde ich mir ein, die romantischen Titel riechen schlechter. 00:50 Uhr Ich wende mich etwas unbefriedigt den Verkaufstischen zu, die in blauen Farben Sommerlektüre versprechen, samt Muscheln, Korallen, Papageien, Fi-

schen, Sand und einer vermeintlichen Sommerbrise. Robert Renk hatte mir das Prinzip einleuchtend erklärt: „Hier ziehen die populären Titel die weniger bekannten mit. So kann ich einem Geheimtipp Aufmerksamkeit verschaffen.“ Donna Leon ist also die Tempoläuferin für Christoph W. Bauer (es funktioniert wohl). Passend „Der Klang der Stille“ von Sergio Bambaren. Angeblich laut Klappentext ein Buch für Mutige, also greife ich in der Geisterstunde beherzt zu. Der erste Satz ist eine Ohrfeige (man sollte nie ein Buch kaufen, ohne den ersten Satz gelesen zu haben; dieser erzwingt zwar selten einen Kauf, spricht aber umso häufiger eine klare Warnung aus): „Jede Minute, die vergeht, ist eine Gelegenheit, alles zu verändern, jeder Augenblick eine Chance, alles zu verbessern.“ Wie sehr habe ich mein Leben verschwendet, was sind all die Menschen, die ich bewundere, doch für Luschen, da sie ein Leben lang mit gemischtem Erfolg versucht haben, etwas zu verändern, die Welt ein wenig zu verbessern. Hätten wir doch nur Bambaren gelesen. Der paradoxe Titel wird auf Seite 34 erklärt: „Vergiss nie, dass die Stille, die du nur hörst, schwer zu finden und noch schwerer zu verstehen ist.“ Ich höre im Klang der Wagner’schen Stille, wie auf einem Nebentisch Franz Schuh verächtlich schnaubt. Und Karl Kraus das Wortmesser wetzt. Buchhandlungen sind unendlich tolerante Reiche. Hier tummeln sich Meuchelmörder der Sprache wie Herr Bambaren neben Rettern und Rittern des Wortes, wie auf dem Tisch gegenüber. Vier Bücher des Mund-zuMund-Beatmers der Literatur, Alois Hotschnig, die großartige Novelle „Der Argentinier“ von Klaus Merz, der Roman „Himmelfarb“ meines ehemaligen Verlegers Michael Krüger, die intelligenten und gebildeten Essays von Karl-Markus Gauß. Und der so tragisch früh verstorbene David Foster Wallace, übersetzt vom Feinwerktechniker Ulrich Blumenbach, mit einer Reportage namens „Der große rote Sohn“, die zu den AVN Awards (den Oscars der Pornoindustrie) nach Las Vegas führt und sich hervorragend mit der ungewollten Parodie von Sasha Grey ergänzt. Etwas farbenübersättigt greife ich zu einem gänzlich schwarzen Band, darauf in weißen Lettern FUTUR II. Vielver-


Dem habe ich nichts hinzuzufügen! Obwohl es noch viele gäbe, die hinzuzufügen wären.

Gerade lese ich in einer Verlagsvorschau auf 2018 einen Satz von Christian Kracht, mit dem er für das Buch eines Kollegen wirbt: „Dieser Autor ist ein ganz und gar außerordentliches Genie.“ Spricht hier ein Schriftsteller oder tuckert eine Apparat? Gehört es nicht zum Wesen des Genies, dass es nicht gewöhnlich, sondern eben außerordentlich ist? Und zum Außerordentlichen, dass es, was auch immer, jedenfalls ganz und gar ist? Aber vielleicht ist es Kracht ja auch ergangen wie mir selbst! Vor langer Zeit, als ich mir das Geld für meine Bücher noch als Literaturkritiker und Kolumnist, also mit einer publizistischen Arbeit verdiente, von der ich mich noch heute, im Rückblick, um kaum einen Text distanzieren möchte, hat mir die Neue Zürcher Zeitung ein Buch von Paulo Coelho zugeschickt, damit ich eine kleine Kritik darüber verfasse. Ein Jahr später wurde das nächste Buch dieses Autors mit dem Satz beworben: „Paulo Coelhos Romane werden von Millionen gelesen. Karl-Markus Gauß, NZZ“. Der Satz war auf eine so blödsinnige Weise richtig, dass ich mich zu schämen begann und im Ordner, in dem ich meine verstreut publizierten Zeitungstexte sammle, nachschaute. Zugleich erleichtert, dass ich doch nicht so blöde war wie der Satz, der mit meinem Namen unterzeichnet war, und empört, was ein renommierter Verlag aus ihm gemacht hatte, las ich, was ich tatsächlich geschrieben hatte: „Paulo Coelhos Romane werden von Millionen gelesen, was weder für diese noch für jene spricht.“

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sprechender geht es gar nicht, zumal das Buch vom Verbrecher Verlag stammt. Zufällig schlage ich Seite 74 auf: eine Aufzählung der Konzerte der Musikgruppe Ja, Panik über zehn Seiten hinweg. Eine neue literarische Form, der archivarische Hardcore-Numerismus. Zitat: „17.05.2010 DE. Dingolfing, Red Box Festival“. Reinster Irrsinn, nur fürchte ich, dass er ernst gemeint ist, und die Gruppe in jenem Mai tatsächlich in Dingolfing aufgetreten ist. Manchmal kommentieren sich die Publikationen: Direkt daneben liegt die neuste Ausgabe der Kulturzeitschrift Wespennest aus, zum Thema „be-fremden“. 01:30 Uhr Die breiten Regale mit den Krimis empfinde ich als wenig einladend, weil die Umschläge schon von Weitem eine breite, uniforme rot-schwarze Front aufweisen. Offensichtlich haben die Verlage den ultimativen visuellen Köder gefunden (schwarz für Drama, rot für Blut), die Kunden beißen zuverlässig an, gerade weil es wenig subtil ist und daher nur noch reproduziert werden muss. Andere Tische hingegen beschwören reihenweise persönliche Erinnerungen herauf: Michail Schischkin (ein gemeinsamer Drink in einem Zelt auf der Buchmesse), David Albahari (traurige Gespräche spätabends beim ersten Münchner Literaturfest), Michael Köhlmeier (vor Kurzem eine absurde Zusammenkunft mit dem Noch-Kanzler Kern, der uns „Intellektuelle“ mit einer klaren Positionierung gegen rechts übertrumpfte, die er schon am nächsten Morgen beim Kuschelgespräch mit Strache vergessen hatte), Meja Mwangi (mein erstes Tusker-Bier als Jugendlicher in Kenia, als wir aufgeregt auf einen Auftritt von Mwangi warteten, der aber nie erschien), Yu Hua (gemeinsam die Pekingente verspeist, während wir über Auflagen redeten, seine stets um eine Null höher als meine), Katja Lange-Müller (die mir neulich wie ein Rohrspatz schimpfend im Gang eines Zuges entgegenlief), T. C. Boyle (der mir erzählte, auch er höre beim Schreiben vor allem Opern, am liebsten Barockopern), Aslı Erdoğan (vor deren Gefängnis in Istanbul wir noch im November protestierten, die in-

zwischen freigelassen worden ist). Mir wird bewusst, wie viele Erlebnisse meines Lebens sich um Bücher und Autoren ranken, wie viele der anwesenden Kolleginnen und Kollegen ich kenne, ob persönlich oder als Leser. Es stellt sich ein rührendes Gefühl ein, als wären wir eine Familie, mit vielen Freundschaften, aber auch dem einen oder anderen schwarzen Schaf (schon fällt mein Blick auf Christian Kracht). Denn ich stehe vor der breitesten aller Regalwände, der Literatur. 02:38 Uhr Auf einmal überkommt mich ein merkwürdiger Drang aufzuräumen. Ich ordne herumliegende Exemplare ins Regal, sorge für alphabetische Ordnung, von Hector Abad bis Wu Ming. Das bereitet mir großen Spaß, danach schmerzt mir der Rücken. Es ist alles vertreten, sogar eine handsignierte Gesamtausgabe des leider noch nicht kanonisierten Edgar Hilsenrath. Natürlich mit erkennbaren idiosynkratischen Vorlieben, an denen sich die Handschrift jedes Buchhändlers zeigt: wenig von Grass, viel von Kästner; Steinfest (eine feste Burg der Phantasie) neben Stichmann (mehr Talent als Können). Viele kleine österreichische Verlage sind vertreten, das Regionale steht Schulter an Schulter neben dem Weltläufigen. Jede Menge Charmantes, Versponnenes, Bücher, die man nie von sich aus suchen würde, über die man stolpern muss, wie über Kieselsteine von ungewöhnlicher Form und Farbe. An der „Infostelle“ überrascht eine aufwendig gestaltete Monografiereihe über berühmte Autoren, etwa über den sehr geschätzten Gottfried Benn aus der Feder eines gewissen Jörg Magenau. Vielleicht liegt es an der fortgeschrittenen Nachtruhe, dass ich angesichts halbgarer Teflon-Erkenntnisse à la „Mag sein, dass man als Pathologe eine andere Beziehung zum Tod unterhält“ das Buch gleich wieder zuschlage. Mag sein, dass man als Buchhändler eine andere Beziehung zum Lesen und als Autor zur Sprache hat. Mag sein, wer weiß das schon so genau … 03:44 Uhr Zeit nun für den wirklich großen Elefanten in der Buchhandlung. Er heißt George R. R. Martin und nimmt alleine mehr Platz ein als die Erotik und halb


Jetzt wäre es schon zu spät, die Flasche Rotwein aufzumachen, ohne die mich der fürsorgliche Robert Renk, der nicht nur ein Patriot der Bücher, sondern geradezu ein Chauvinist der von ihm geschätzten und verwöhnten Autoren ist, sicher nicht allein in seiner Buchhandlung gelassen hätte. Man trinkt in die Nacht, mitunter in den Morgen hinein, aber fängt damit nicht an, wenn es zu tagen beginnt. Dies als Empfehlung eines erfahrenen Mannes an die heranwachsende Jugend. („Heranwachsende Jugend“? Oh, Kracht! Ist es nicht das Privileg und Verhängnis, kurz das Wesen der Jugend heranzuwachsen?)

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so viel wie die Klassik! Tolkien hält sich wacker, zu meiner Begeisterung ist Lovecraft auch noch gut im Rennen, aber alle anderen sind mir unbekannt (Harry Potter ausgenommen). Erstaunlich, wie wenig man sich auskennt in gewissen Genres. Das Genre trägt übrigens den Namen Fantasy. Science-Fiction hingegen fehlt völlig, zur ausgleichenden Gerechtigkeit liegt die schon legendäre Southern-Reach-Trilogie von Jeff VanderMeer auf einem der Tische aus. 04:22 Uhr Erschöpft wende ich mich den Kalendern zu. Ich habe schon mehr Bücher in der Hand gehabt, als ich in meinem restlichen Leben werde lesen können. Diese Erkenntnis stößt mich in ein schwarzes Loch, obwohl ich zu Hause die Anwesenheit der vielen ungelesenen Bücher eher als Verheißung begreife, als Beglückung empfinde. Island und Irland scheinen besonders viele Tiroler Wände zu schmücken. Auch New York, Neuseeland und der Haderer. Welche Erkenntnisse kann man hieraus über die Einheimischen ziehen? 04:26 Uhr Ich habe das Erdgeschoß nun einmal umrundet (an den vielen Reiseführern bin ich vorbeigegangen wie ein Vegetarier an einem Metzgerladen; wer mit Reiseführern aufbricht, hindert sich selbst am Reisen). Gegenüber der Kasse – wie in jeder Buchhandlung – die Bestseller. Mal sehen, wie gut Sie sich, liebe Leserin, lieber Leser, in der Buchbranche auskennen: Die Bestseller hier stammen von Schuh, Jergović, Muschg, Bärfuss und einigen anderen. Fällt Ihnen etwas auf? Ja, wenn der Wunsch Vater des Verkaufs wäre, dann würde die Bestsellerliste in etwa so aussehen. Im real existierenden Kapitalismus aber nicht, nie und nimmer! 04:37 Uhr Hinter der Kasse in einem engen Kabuff warten die bestellten Bücher auf Abholung. Wonach gelüstet es die Innsbrucker? Nach Stanisław Lems Meisterwerk „The Big Book of Breasts“ – nein, Verzeihung, das ist der Unschärfe meines müden Blicks geschuldet, Lem steht nur unmittelbar neben einem Brustkompendium.

Jemand fliegt nach Taiwan, nach Albanien oder Madagaskar, jemand will ernsthaft ins Power Training einsteigen. Jemand muss noch Mathematik lernen, jemand will alles über den Kräutergarten von Paracelsus erfahren. Es ist faszinierend: Obwohl die Wagner’sche so unendlich viel bietet, ist doch nicht für jeden alles dabei. Die Vielfalt unserer Interessen und Begierden ist eine tröstliche Vorstellung. 05:02 Uhr Auf in den ersten Stock. Hier finden sich mehr Bücher, die die Umwelt begrünen als die Welt verbessern wollen. Vielleicht weil viele glauben, mit dem Ersteren sei es schon getan?! Es geht meterweit um Kochen, Esoterik und Gesundheit, aber nur schmalregalig um Politik. Auffällig ist die Dominanz der individuellen Glücksversprechen. Das Glück des Einzelnen steht öfter im Fokus als das Glück der Gesellschaft. Obwohl Studien wiederholt erwiesen haben, dass das Glücksempfinden der Bürger in gerechteren Gesellschaften erheblich höher ist. Anders gesagt: Soziale Ungerechtigkeit macht die ganze Gesellschaft unglücklich. Der beste Weg, das eigene Wohlbefinden zu steigern, wäre, das Leben aller zu verbessern. Das widerspricht aber dem Zeitgeist, und dieser äußert sich, nicht nur in diesem Punkt, immer wieder – wie sollte es auch anders sein – in der Auswahl der Bücher. Buchhandlungen sind Seismografen der Gegenwart. Sie können unmodische Angebote unterbreiten (viel Lyrik und experimentelle Literatur), aber sie müssen auch die Wünsche der Kunden respektieren. So könnte man nach einer Nacht in der Wagner’schen den Reichtum menschlicher Kreativität ebenso feiern wie die dekadente Dummheit unserer Zeit beklagen. 06:06 Uhr Beim Einschlafen zähle ich anstatt Schafen Bücher, mein Blick vom Vorüberziehen der Bücherrücken so müde, dass er nichts mehr hält.


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Stumme Begegnung

Bruno Walpoth lässt diese Ausgabe von Quart am Cover von einer seiner Figuren bewachen und schickt noch mehr seiner Holzmenschen auf den folgenden Doppelseiten durch das Heft. Lisa Trockner über das Weitertreiben traditioneller Handwerkskunst, die Arbeit an der lebensgroßen Figur und die geheimnisvolle Präsenz von Körpern aus Holz.

Die Summe einzelner Begegnungen spielt nicht nur im Schaffen eine Rolle, sondern beeinflusst bewusst und unbewusst den beeindruckenden Werdegang von Bruno Walpoth. Die erste prägende Begegnung ist eine indirekte, jene mit den Kunstwerken an den Wänden im Haus seiner Eltern: Die Jagdbilder – vom viel zu früh verstorbenen Bruder seines Vaters – haben dem jungen Bruno von Kindesbeinen an imponiert. Bereits in der Grundschulzeit begann er, diese akribisch genau nachzuzeichnen und somit seiner Gabe für naturgetreue Abbildungen und für perfektionistisches Arbeiten nachzugeben. Schon damals war dem talentierten Zeichner klar, dass seine Leidenschaft nicht dem Zweidimensionalen, sondern dem Dreidimensionalen, insbesondere dem Arbeiten mit Holz gehört. Schlussendlich war es sein Professor Wilfried Senoner an der Mittelschule in St. Ulrich, der ihn als Förderer in der Entscheidung, Bildhauer anstatt Schreiner zu werden, unterstützte. Die lebendige Tradition der Holzschnitzerei war Bruno Walpoth, wie vielen seiner Kollegen, gewissermaßen durch seine geographische Herkunft, dem Grödental, wo er 1959 geboren wurde, aufgewachsen ist und bis heute lebt, in die Wiege gelegt. In dem Seitenarm des Eisacktals, wo Vieh- und Landwirtschaft vorherrschten, entwickelte sich im 17. Jahrhundert die Holzschnitzerei zu einem Charakteristikum des Tales, das im Laufe der Jahrhunderte zu einem lukrativen wirtschaftlichen Zweig heranwuchs. In der Folge wurden Grödner Holzfiguren vermehrt exportiert und bescherten vielen Einheimischen ein rentables Einkommen. Mit dem aufkommenden Tourismus um 1900 konnte das eigenständige Kunsthandwerk der Grödner weiter expandieren. Aus dieser Garde der Auftragsschnitzer spaltete sich eine Reihe von jungen Kunstschaffenden ab, die – dem kommerzialisierten Brauchtum entwachsen – ihren eigenen Stil entwickelten und abseits der

Vermarktung der Holzfigur ihre Berechtigung in der Gegenwartskunst finden. Dieser Tendenz folgend machte sich auch der junge Bruno Walpoth gemeinsam mit seinem Bildhauerfreund Arnold Holzknecht nach der klassischen Bildhauerlehre und unzähligen lokalen Handwerksaufträgen von Heiligenfiguren, mit der Passion für die Gegenwartskunst im Herzen und großen Visionen im Kopf, auf nach Wien an die Akademie der Bildenden Künste, um dort seiner Berufung nachzugehen. Während in Gröden die traditionelle Formung der Holzfigur in den 1980er Jahren nach wie vor unter Künstlern verbreitet war, wurde an den Akademien der größeren Städte die freie Skulptur zelebriert. Gefragt waren erweiterte Plastiken aus Pappmaché (etwa von Franz West) oder Erwin Wurms One-Minute-Sculptures. Gefeiert wurde das Spontane. „Wir fühlten uns wie Rock’n’Roller! Es wurde so mit dem Pinsel gefuchtelt, als stünde man auf der Bühne und spielte Gitarre“, beschrieb ein Maler die Kunst der 1980er Jahre. Dementsprechend wenig Anerkennung fanden die Skizzen und Skulpturen der jungen Grödner Bildhauer, die sie ehrgeizig den Professoren an der Akademie in Wien vorlegten. Enttäuscht durch die Zurückweisung brachen sie ihre Zelte in der Stadt des Aktionismus ab und versuchten ihr Glück in München, wo sie wohlwollend und mit der Weitsicht, dass die figurative Kunst in näherer Zukunft wieder aktuell werden würde, angenommen wurden. Die Übersiedlung nach München war nicht nur, wie Walpoth selbst sagt, eine der besten Entscheidungen seines Lebens, zugleich kann die Begegnung mit Professor Hans Ladner an der Akademie in München als ein prägendes Kapitel der künstlerischen Entwicklung des jungen Studenten notiert werden. Für drei Jahre enthielt sich Walpoth in seinen Münchner Lehrjahren


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der Figur, arbeitete ausschließlich abstrakt und nahm kein Holz in die Hand, bis er sich schließlich überwand,

seine Wurzeln nicht weiter zu verleugnen und sich entschloss, einen rohen Holzstamm zu bearbeiten. Mit einem jungen männlichen Modell arbeitete er während der Semesterferien für knapp zwei Monate an einer realistischen lebensgroßen Figur. Trotz Widerstand folgte er seinem inneren Bedürfnis und präsentierte diese – für ihn heute noch typische Figur aus Lindenholz – seinem Professor und seinen Kollegen. Nicht nur, dass die Figur trotz stilistischem Anachronismus ihren Reiz auf die Betrachter ausübt, die Jünglingsfigur kann als sein Schlüsselwerk bezeichnet werden. Das akribische Arbeiten mit Modell hat in dem jungen Studenten die Leidenschaft für das Bearbeiten von Holz neu entfacht. Erst vor wenigen Jahren ist es Walpoth gelungen, diese für seine Motivation einschneidende Arbeit 35 Jahre später zurückzuerwerben. Nach dem Abschluss an der Akademie folgt die Rückkehr nach Südtirol. In dieser Phase werden die freien Arbeiten weniger, neben abstrakten Werken entstehen erneut viele Auftragsarbeiten im sakralen Bereich, obwohl Walpoths Herz immer der lebensechten Gestalt gehört. Im Jahr 2000 knüpft er erstmals wieder an die Zeit in der Akademie an und schafft eine weitere lebensgroße Aktfigur. Für den kauernden Jüngling steht ihm ein Künstlerkollege Modell. Eine aufregende Zeit des Experimentierens und der Selbstfindung beginnt. Passend dazu zeichnet sich das prophezeite Wiedererstarken figurativer Bildhauerei ab. Erste internationale Galerien beginnen, sich für die Kunst der Grödner zu interessieren, und der Weg für noch wacklige Schritte auf den Kunstmarkt ist geebnet. Vor gut 10 Jahren wagt schließlich auch Walpoth den radikalen Schnitt: Er hängt seine langjährige Lehrtätigkeit an den Nagel, gibt seiner inneren Sehnsucht nach der Figur, die er seit den Jahren der Akademie in sich getragen hat, nach und schenkt ihr von nun an die volle Aufmerksamkeit. Konsequentes Durchhaltevermögen – wenn auch immer wieder von einem Gefühl der Zerrissenheit unterbrochen –, gepaart mit einem ganz und gar verinnerlichten künstlerischen Ausdruck, kennzeichnen seine Arbeiten: Eine aus der Tradition heraus weitergedachte und -entwickelte eigenständige Kunstform, die in ihrer

Aussage den Nerv der Zeit trifft und zur Erweiterung der Grenzen im figurativen Bereich beiträgt. Dies gilt nicht nur für Bruno Walpoth alleine, sondern für eine Reihe seiner Grödner Kollegen und Künstlerfreunde wie Aron Demetz, Gehard Demetz, Walter Moroder und einige andere. Künstler, denen durch Können, Leidenschaft und eine Portion Hartnäckigkeit heute der Erfolg Recht gibt. Bruno Walpoths Menschen aus Linden- oder Nussholz entstehen in seiner Begegnung und Auseinandersetzung mit Modellen. Im Maßstab 1:1 werden die Körper, die Linien und Formen der wenigen jungen hageren Männer und vielen schönen Frauen aus dem Holzblock mit Meißel und Feile herausgearbeitet. Auch wenn Walpoth die konkrete Wiedergabe von Körperpartien (einer Schulter oder eines Knöchels) reizt und gutes Gelingen ihm Genugtuung bereitet, geht es ihm nicht darum, ein hyperrealistisches Abbild der vor ihm stehenden Menschen zu schaffen: Das Modell dient in seiner äußeren Erscheinung als Hülle für implizierte Projektionen. Die Gesichtszüge und Körperformen entsprechen zwar jenen der Modelle, doch nimmt Walpoth markante charakteristische Eigenheiten der Persönlichkeit – die im klassischen Sinn des Porträts für Individualität stehen – in seiner skulpturalen Nachahmung zurück: Das Modell als Muster für technische Umsetzung und nicht als Vorlage einer Abbildung der Natur. Jede neue Arbeit ist eine weitere Herausforderung, Spannung aufzubauen. Dies gelingt ihm durch ein Gemisch aus Präsenz und Absenz, Nähe und Distanz. Seine Figuren lassen in ihrer physischen Anwesenheit Nähe zu, doch ist es kaum möglich, in direkten Kontakt mit ihnen zu treten. Versucht man den Blick der Figuren einzufangen, so scheint dies verwehrt zu sein, es ist, als würden sie eine mittelbare Konfrontation scheuen, sie weichen aus, lassen nicht zu, dass man spontan interagiert. Will man den Gemütszustand in den Gesichtern ablesen, so kommt man trotz des frontalen offenen Blicks ins Zweifeln, ob es ein konzentriertes Schauen oder doch eher Gleichgültigkeit ist, was sie ausstrahlen. Es stellt sich die Frage, ob sie zuversichtlich in die Zukunft blicken oder im Blues der Melancholie gefangen sind. Manche Figuren haben die Augenlider geschlossen, sodass sie noch mehr in sich gekehrt wirken. Sie sind nicht in Aktion und unberührt von ihrem Umfeld. Es


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gibt keine wandernden Augen, auf der Suche nach einem Zusammentreffen, keinen Blickfang, die Figuren sind stimmig in ihrer Haltung – verhaltenes Dasein, das sich nach innen richtet. Dennoch ist eine Begegnung mit Walpoths Figuren unumgänglich. Ein Reiz, mit dem der Künstler spielt und den er auskostet. Eine Interaktion ist dann möglich, wenn der Betrachtende bereit ist, sich einzulassen und etwas von sich selbst herzugeben. Überschreitet man erstmals diese Grenze, wird es kaum noch möglich, Walpoths Gestalten auszuweichen, man wird unweigerlich in ihren Bann gezogen. In diesem Moment wird das Gegenüber zum Speicher, zum Filter, zum Reflektor dessen, was man selbst zulässt und zu geben bereit ist. Diese durch den Betrachtenden eingehauchte Sinnesempfindung schafft eine unglaubliche Präsenz im Raum, die Platz einnimmt. Jede einzelne durch Künstlerhand eingefrorene Pose, die ausweichende Mimik und angespannte Gestik ist kontextlos von einem Vakuum umhüllt, in das man beim Betrachten schlüpfen kann oder nicht. Dieser Eindruck der intimen Isolation wird zusätzlich von ihrer einzigartigen Schönheit verstärkt. Die erhabene Ästhetik in Form und Ausdruck, die weniger an das gängige Schönheitsideal als vielmehr an jenes der Frührenaissance erinnert und von demütiger und unschuldig wirkender Anmut geprägt ist, suggeriert zusätzlich Distanz. Wiewohl sich Walpoth als „klassischen“ Bildhauer bezeichnet und bevorzugt Linde oder letzthin noch lieber Nussholz bearbeitet, bricht er immer wieder aus seinen Schemata aus und erprobt neue Formeln der Zugänge: Geschichteter Wellenkarton als Material für Büsten, bei denen die tradierte Form in ein im kunsthistorischen Sinn verstandenes armes Material übertragen wird. Als weiteres Beispiel seien seine Köpfe genannt, die mit getriebenem und verlötetem Blei überzogen sind. Trotz aller Versuche, dem Holz zu entweichen, bleibt das organische Material jenes, zu dem er immer wieder zurückkehrt, dem er treu bleibt. In den letzten Jahren wächst auch in Bruno Walpoth, wie in vielen Kollegen, das Bedürfnis, die klaren Linien und Formen der Figur aufzubrechen und diese mehr und mehr zu verselbständigen. Walter Moroder zum Beispiel durchbohrt und höhlt seine Figuren zuneh-

mend aus, sodass die Form durch die Kraft der Vorstellung neu gedacht werden muss. Aron Demetz dekonstruiert seine Skulpturen durch Feuereinwirkung, Aufrauen oder Pilzüberwucherungen so lange, bis die Ursprünglichkeit des Materials korrumpiert. Die hier erstmals publizierten Fotoarbeiten, die zusammen mit dem Fotografen Egon Dejori entstanden sind, geben neue Sichtweisen auf das Schaffen des Künstlers frei. Figuren ähnlicher Körperstatur werden durch computergeneriertes Überlappen und Übereinanderlegen fokussierter Punkte (wie z. B. den Augen) zu transluzenten vibrierenden Wesen, bei denen die Grenzen zwischen menschlicher Gestalt und künstlerischem Objekt ineinanderfließen und die nicht mehr eindeutig als statische Figuren identifizierbar sind – ein Spiel zwischen konkreter Form und abstrahiertem Denken. Durch diese Formel aus physischer Präsenz und subjektiver Geisteshaltung werden die von Widersprüchlichkeit gekennzeichneten Ursprünge Walpoths genährt: Einerseits sein Drang zur perfekten Körperform und andererseits sein freier Geist in der Fähigkeit abstrakten Wahrnehmens. Ein Antagonismus, den der Künstler in seinem Schaffen mit jedem neuen Werk zu versöhnen versucht. Im konkreten bildhauerischen Arbeiten gelingt es ihm, die Auflösung der konkreten Materialität durch den apathisch entweichenden Blick seiner Figuren wahrzunehmen. Ein weiteres Indiz, welches die Magie des Unfassbaren im Greifbaren bestärkt, ist die Ästhetik der neutralen Posen seiner Figuren, die durch ihre Haltungen keine eindeutige Gefühlsregung suggerieren. Etwas zeitlos „Entmenschlichendes“ erhalten die Körperformen schließlich durch die glatten Oberflächen und die weiße Acrylfarbe, von der sie bereits in der Entstehungsphase immer wieder überzogen werden und die es vermag, dem Material optisch seine Wärme zu entziehen. Bruno Walpoth gelingt es auf geheimnisvolle Weise, seinen Figuren eine emotionale Distanz zu verleihen, bei der der Körper sich von seiner Materialität loslöst und in seinem Realismus für eine metaphysische Präsenz Platz schafft. Es entsteht eine Wirkkraft, ein Bewegungsraum, der dem Betrachtenden eine stumme Begegnung mit sich selbst erlaubt.










Wenn man schon so heißt: Muss man dann das Unglück nicht anziehen? Vor dreißig Jahren saß ich einmal einen Abend mit der damals bereits betagten, aber quirligen und schlagfertigen Autorin Elisabeth Freundlich zusammen. Sie war, wie es ihr Name sagt: freundlich, sehr sogar; aber hat fast nur düstere oder in ihrer sachlichen Genauigkeit deprimierende Bücher geschrieben, schreiben müssen. Etwa „Die Ermordung einer Stadt namens Stanislau“, die exakt recherchierte Geschichte der galizischen Stadt, deren Bewohnerschaft von den Nationalsozialisten vernichtet wurde. Ihre Autobiographie nannte sie „Die fahrenden Jahre“, sie ist 1992 im Otto Müller Verlag erschienen, herausgegeben von der Vorarlberger Autorin Susanne Alge. Damals lernte ich sie kennen, eine kleine, 86-jährige Frau, die von den Bitternissen des Exils erzählte, die nichts waren gegen die Bitternisse, die auf sie warteten, als sie heimkehrte in ein Österreich, in dem niemand an ihr und den Remigranten interessiert war.

Ich habe noch nie etwas von Paul Fröhlich gehört, nichts von ihm gelesen. Dieser Text genügt, mich davon zu überzeugen, dass das ein großes Versäumnis ist.

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Marginaltexte (4): Wortkammer Mit dem Wort Marginalie wird gewöhnlich Nebensächliches bezeichnet, etwas am Rande oder an der Grenze einer Sache Liegendes. In Quart werden unter diesem Titel zentrale Texte über das Leben an der Peripherie neu veröffentlicht, die längst vergriffen oder nur schwer zugänglich sind, an entlegenen Orten aufbewahrt oder gar in Archiven verschwunden. Folge 4: Kindheitserinnerungen des in Gries am Brenner aufgewachsenen und 1975 mit 25 Jahren an einer Herzkrankheit verstorbenen Paul Fröhlich.

Almabtrieb, Autobahn, Fichtennadeln, Senkgrube, Karfiol, Abschürfungen, gebrochene Finger, violett angeschwollen. Regenglitsch, Bachstaub. Zwiebelund Schnittlauchgeruch an den Händen der Mutter. Zerklüftete Hände. Im Winter kamen die Jäger vorbei, zogen Taschenmesser und tranken Branntwein. In der Nacht träumte ich von blutigen Hasenpfoten, von Rucksäcken mit Hirschknopfaugen. Wir stellten Limonadeflaschen ins Bachwasser; ertränkten Ameisen mit Spucke; klebriger Tod. Das verlassene Bahnhaus: dämmrig, kühl. Die Mädchen legten sich zum Schmusen auf den schweren Tisch, waren zwölf oder jünger, die Burschen alle über vierzehn. Nach dem Regen dampfte der Waldboden, roch wie Honigsud. Wir spießten Insekten an Baumstämme, ließen sie in der Sonne dörren. Eine Mutprobe bestand darin, Schmeißfliegen und kleine Falter in Brot einzukneten und zu schlucken. Die Stube roch nach Geranien und gebügelter Wäsche. Auf dem Uhrkasten stand die Branntweinflasche, mit Weihwasser gefüllt, ofenwarm. Daneben: Arnikaschnaps, Johannisöl, daneben: der Spucknapf des Großvaters. Der Großvater rauchte Virginier, nahm Farnkrautbäder gegen die vereiterten Füße. Das Vieh. Der niedere, schwitzende Stall. Geruch von Sägemehl und dampfendem Urin. Gurren und Flattern der Hennen. Hennen mit Schicksal, in dem ein Marder, eine Kuhklaue oder eine kalte Winternacht eine Rolle spielten. Ich sehe Mutter mit einem blutigen zuckenden Federbalg in der Hand traurig zum Brunnen gehen: die Hennen waren ihr Volk, genauso wie die Kinder und Kochtöpfe. Die Kühe waren sein Volk. Er schlug sie mit dem Melkfuß oder tätschelte sie mit dem Striegel, er heilte sie von Euterentzündungen, Blähungen und eingetretenen Nägeln. Diese wogenden geduldigen Bäuche mit trensenden Mäulern und Augen so sanft wie Seegras! Der Vater. Sein Griff nach dem Teller befahl die Familie an den Tisch. Sein Griff nach der Zeitung brachte die Familie zum Schweigen. Die Hände des

Vaters waren verlängerte Instrumente des Schweigens. Wenn sie mich an den Ohren packten, fühlte ich keinen Schmerz, sondern Angst, in einen Abgrund gehoben zu werden. Meine Sprache ist eine Gewohnheit aus Landschaft und Kindsein. Eine Gewohnheit aus Abschauen und Auswendiglernen. Die ersten Sätze, die ich lernte: das Abendgebet; der schmerzhafte Rosenkranz. Gebte für Verstorbene und Sterbende. Zu Hause wurde nur über Dinge gesprochen, die mit Arbeit, Essen oder Schicksalsschlägen zu tun hatten. Die Sätze, die im Laufe eines Tages fielen, waren mehr Bestandteile des allgemeinen Hausrates als des Einzelnen, der sie im Munde führte. Gefühle zeigte man durch Weinen, Lachen oder Unwillen, es war nicht üblich, etwas, das zum Weinen oder Lachen war, über die Geste hinaus zu beschreiben. Wenn von der Erinnerung die Rede war, erzählten Hände und Augen mit; das Zuhören war immer auch ein Zuschauen und Mitgestikulieren. Dieser einheimische Mundbetrieb: ein vorgeburtlicher, fleischdunkler Zustand. Das Wollen regiert über das Können, das innere Gefälle wird ohne Umschweife in Laute umgesetzt. Tagesnöte und Todesahnungen vermischen sich mit dem Hausverstand, Handgriff und Unheil sind unzertrennlich miteinander verschwistert. Die Wörter sind mit Gegenständen vollgesogen, Landschaft, Hausrat, Geschlecht … Die Wortkammer gehört zum erblichen Inventar dieser Gegend: verfertigte Redensarten und Bittformeln, die dem Einzelnen das Nachgrübeln ersparen helfen. Das Wörtchen „ich“ steht für Beruf, Krankheit und Adresse und in den meisten Fällen auch für die besondere Neigung zum Alkohol. Der Alkohol verschafft vorübergehend eine Art Lebensgefühl, eine Art Weitblick, aber auch nur in den Grenzen der bewährten Übermuts- und Verdrußformeln, mit denen der Volksmund übereinstimmt. Der Volksmund: ein Sammelgut verjährter Lebensregeln, mit dessen Hilfe die Temperamente neuer Generatio-


Wie die Muttersprache, die Sicherheit gewährt, von der Vatersprache in Besitz genommen wird und nach und nach zur Sprache der Autoritäten verhärtet, von der Sprache der Familie und des Vertrauten also zu der des Staates und der Obrigkeit wird: Das hat Fröhlich leidgenau erfasst und großartig beschrieben.

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nen abgekühlt und zurechtgestutzt werden. Der Volksmund: der Mythos der handwerklichen Berufsstände, die keine andere Bedrohung kennen als die tägliche Forderung, überleben zu müssen. Überleben heißt: essen, schlafen, wieder essen, wieder schlafen. Rund um diese Naturbedürfnisse wird noch der Hausfriede als seelischer Anspruch angemeldet, allenfalls der Friede mit Gott, aber hier beginnt sich dieser Anspruch schon in Bilderbuchvorstellungen aufzulösen. Gott trägt die Gesichtszüge des – nur vom Hörensagen bekannten – Urgroßvaters, eine nachsichtige, schlichtende Figur, die aus Altersgründen und Ruhebedürfnis über die größten Gemeinheiten beide Augen zudrückt. Der einzelne, der sich immer nur in den allgemeinen Begriffen erlebt und empfindet, handelt in seiner Triebhaftigkeit im Einverständnis mit der allgemeinen Triebhaftigkeit. Jedes Vergehen in diese Richtung wird von der schweigenden Mehrheit abgedeckt, so gilt das gemeinschaftliche Verständnis zugleich auch als himmlische Lossprechung, denn das Recht ist immer auf der Seite des Außergewöhnlichen. „Jemand“ ist in dieser Gegend männlichen Geschlechts. Das Leben der Frau spielt eine rein tagwerkliche Rolle. Alles, was die Frau über den Tag hinaus fühlt oder sagen möchte, wird vom Mann mit einer Handbewegung vom Tisch gewischt: Beruf und Kirche haben ihm seit Jahrhunderten die Rolle des stellvertretenden Herrgotts und Familienrichters zugesprochen, und dieser Zuspruch duldet – was die Frau betrifft – nur den demütigen Augenaufschlag der jungferlichen Maria und später den bitteren, in den Ärmel geweinten Lebensschmerz der Muttergottes. Die Muttersprache ist in Wirklichkeit eine Vatersprache, die das Kind durch die Mutter lernt. Die Vatersprache trägt die Seufzer der Mutter, die entsagenden Blicke, die heimlichen Tränen: das Kleinkind wird für diese Randtöne hellhörig. Das Kind spürt die verschwiegenen Nöte dieser Sprache auf und reimt sich später seine eigenen Vokabeln zum Gesagten dazu. Der Vater wird als hart, mürrisch, unberechenbar verinnerlicht, seinen unbegreiflichen Anweisungen wird ein kritischer Trotz entgegengestellt. Später verwischt sich diese Vaterfigur mit den Begriffen Öffentlichkeit, Gesellschaft, Staat: die Empfindsamkeit des Heranwachsenden richtet sich mit derselben unnachgiebigen Haltung auf diese übertragenen Autoritäten. Der leise, aussichtslose Kampf der Mutter wird zum unerschöpflichen Impuls, sich in der Gemeinschaft Gerechtigkeit zu verschaffen und ihren mundlosen Schmerz, an dem ich jahrelang mit-

gelitten habe, in Wörtern aufzulösen. Die Erzählungen des Großvaters waren beladen mit Gegenständen, Uhrzeiten, Wetterverhältnissen und Handgriffen. Die Menschen in seinen Geschichten waren eine Versammlung landläufiger Gewohnheiten, aber jeder von ihnen hatte eine besondere Art damit umzugehen. Wenn die Mutter nach dem Abspülen in den Küchenstuhl sank und mit dem Zeigefinger die Brotkrumen von der Tischplatte pickte, so war die Müdigkeit, von der sie seufzte, zugleich auch die erledigte Arbeit oder der in sich zusammengesunkene Tag. Die Finsternis, die schneidende Kälte in dieser Gegend; oft noch im Juni, oft noch bei der Heuarbeit mit rotgefrorenen Fingern … Herbst brachte Schneeregen, die Felder dunkelten rasch zu; manchmal verspätete, trügerische Sonnentage nach Allerheiligen. Auf dem abschüssigen Gelände Wegzäune, Küchenschellen, Moosquellen, darüber die Hochspannungsleitung, darüber der Himmel, in allen Grauschattierungen vor und nach Gewittern. Die Bahn, wie in den Fels hineingerostet; ein flimmernder Luftofen, der an gewissen Augusttagen bis in die Dämmerung hinein glühte. Auf der anderen Talseite nasse, überhängende Schrofen, von Lawinen, Muren und Bränden zerschunden, darunter der Bach, ein silberner Lidstrich, ganz eingeschlossen in die Silbernis des Abendvergehens. Mulden, Steilhänge, Wald: ein windiger Talkessel, mit einer Kopfdrehung zu überschauen. Nach Sommergewittern tauchen auf dem Feldbuckel italienische Schneckensucher auf. Wir beobachten aus der Ferne, wie sie in ihren schwarzen Gummimänteln und tief in die Stirn gezogenen Tschakos durchs Gras waten. Der Großvater steht mit fauchendem Gehstock an der Hausecke und schleudert ihnen die gemeinsten Schimpfwörter entgegen, die er seinerzeit an der italienischen Front gehört hat. Die Schneckensucher schwenken ihre prallen Rupfensäcke und verschwinden so lautlos, wie sie gekommen sind. Die Paßstraße, eine steile Serpentine, die den Talkessel von Bergvorsprung zu Bergvorsprung einspannt. Im Winter eine Eisfalle für die Fernlaster, die nacheinander abrutschten, umkippten, ausbrannten. Die Schneeketten der Fernlaster scharren tiefe Narben in den Asphalt. Die Fahrer brechen kleine Fichten und schlagen sie unter die funkensprühenden Räder, bis die Stämme zerfransen. Sie stehen frierend und fluchend herum und reiben sich die tätowierten Arme mit Schnee warm. In der Nacht huschen Taschenlampenkegel über die Aufschrift der Plachen, und immer wieder diese langge-


Wäre es eine Erzählung, nicht eine Kindheitserinnerung, würde ich dem Autor, wenn er mich denn hörte, leise zurufen: Lass nicht alle Kinder sterben! Aber er stirbt am Ende ja auch selbst.

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zogenen ausländischen Flüche, ein verzweifeltes Gebell … Ich stand am vereisten Fenster und fürchtete mich; fürchtete mich vor etwas, das keinen Namen hatte, von dem ich nur wußte: es war irgendwo dort draußen und bedrohte. In den ersten Schuljahren, als der Winterverkehr noch keine Rolle spielte, jagten wir auf Rodeln über diese Eisplanke ins Dorf. Die Kleinsten klammerten sich an den Windblusen und Zöpfen der Größeren fest, ellbogenlange Fäustlinge übergestülpt, die Kappen tief in die Augen gezogen, – und noch immer weinten sie vor Kälte leise in sich hinein, wenn alles Stille, alles Sternenfunkeln war, – nur das eisige Pfeifen des Fahrtwindes und das knöcherne Gleiten der Kufen. Aus den Tälern der Kindheit weht ein scharfer Geruch: Erde, Weihrauch, Schnee … Der Tod der mageren Schwester hat den Juli siebenundfünfzig ein für allemal vereinsamt: ein spanischer Sommer der Erinnerung, von Bienen und schwarzen Trikoloren beweint. Die Mutter geht still hinüber in die Jahre. Ihre versteinerte Hand zieht auf den Scheiteln der Buben bittere Furchen. Der Achtjährige wirft sich in die gemähte Wiese, von Schnecken und Salamandern bekränzt. Die Kühe sprechen in der Nacht mit den Toten. Särge werden durchs Haus getragen. Dunkles Gepolter der Knechte, denen unsichtbare Hunde den Schweiß von den Stirnen lecken. Und immer wieder die winzigen, spitzen Schreie der Aufgebahrten. Das Kind atmet schweißgebadet in der einsamen Kammer. Sie war schon seit Jahren bettlägrig gewesen. Ich durfte immer nur für Minuten in ihr Zimmer. Dann schnupperte ich am Nagellack oder sah mir die Münzensammlung an, die sie im Nachtkästchen aufbewahrte. Manchmal erzählte sie mir vom Himmel. Dort glänzt alles, sagt sie. Alles glänzt. Ich habe keine Angst vor dem Sterben. Ich weiß, daß ich in den Himmel komme. Alle Kinder, die sterben müssen, kommen in den Himmel und werden heilig und glänzen. Als die Mutter in der Tür des Schuppens stand und kein Wort sagte, da wußte ich: die Schwester ist in den Himmel geflogen. Auch das hatte sie mir erzählt: ich werde dann Flügel haben und durch die Luft fliegen. Ganz weit hinauf. Alle standen um das Bett herum und weinten. Der Großvater, die Nachbarin, der Bruder, Vater, Mutter. Die Tränen rannen ihnen. Die Stube wurde mit schwarzen Tüchern verhängt. Die Nachbarn kamen mit Schnittblumen und Kerzen und beteten Rosenkränze bis spät in die Nacht. Es roch nach Weihrauch und Kranznadeln. Eine Verwandte sorgte für die Mahlzeiten, während die Mut-

ter den ganzen Tag mit ausgeweinten, verschwollenen Augenlidern vor der Aufgebahrten kniete. Einmal gab es einen Aufruhr, weil sie gesehen haben wollte, daß sich die Tote bewegte. Wir suchten in den dürren, verstaubten Böschungen nach weggeworfenen Flaschen. Jeder von uns hatte einen Stock, mit dem er im Gras stocherte und Flaschenhälse aufspießte. Der eine oder andere hatte sich schon an einer rostigen Konserve geschnitten oder war mit den Fingern in eine übelriechende Flüssigkeit getappt. Wir schleppten die Flaschen in einem Rupfensack zum Bach und spülten die Würmer und Schnecken heraus. Dann versteckten wir sie im Holzschuppen. Jeder hatte sein eigenes Lager nach Limonade-, Bier- und Weinflaschen sortiert. Nachmittags trugen wir einige davon zum Krämer und tauschten sie gegen Kaugummi oder Stollwerck ein. Mein Schulweg führte durch ein Stück Wald, in dem ich immer laut betete, aus Angst vor ungeheuerlichen Erscheinungen. Eine Sage aus dieser Gegend erzählt von einer Zigeunerin, die aus Liebeskummer in den Tod gesprungen sei. Einheimische hätten sie später noch oft zu Gesicht bekommen oder ihr Schluchzen gehört. Früher hatte die Mutter während der Arbeit manchmal Kirchenlieder gesungen oder der Vater hatte sich die Ziehharmonika umgeschnallt und den Schneewalzer gespielt. Jetzt fuhrwerkten sie einsilbig in Küche und Stall herum. Der Vater schlägt die Türen hinter sich zu, die Mutter wischt sich heimlich mit dem Geschirrtuch die Tränen aus den Mundwinkeln. In einem Haus, wo zwei Kinder aufgebahrt und weggetragen worden sind, gibt es nicht mehr viel zu musizieren. Die Fotografie im Herrgottswinkel: das durchsichtige Gesichtchen der Toten mit dem unvergeßlichen Herzkrankenlächeln. Daneben, wie ein zweiter Altarflügel: der herzkranke Bruder im Norwegerpullover. Als mich der Vater im Lehrlingsheim Graz-Eggenberg vom Unglück benachrichtigte, sah ich das blasse, von einem nässenden Ausschlag übersäte Gesicht vor mir, das ich zum letzten Mal auf dem Balkon der Innsbrucker Medizinischen lachen gesehen habe. Das Fehlen des Bruders am Mittagstisch war eine bedrückt hingenommene Leere, die durch das Besteckgeräusch zur Beklemmung anschwoll. Während ich den Löffel zum Mund führte, starrte ich auf den Fleck der Tischplatte, wo er immer seinen Ellbogen aufgestützt hatte. Nach dem Begräbnis wartete ich, bis alle Menschen – auch die Mutter – gegangen waren. Dann bückte ich mich


Weil ich gar nichts über den Autor weiß, habe ich dort nachgeschaut, wo fast alle Autoren genannt und besprochen werden, die sonst keiner nennt und die nirgendwo besprochen werden: beim Schönauer. In den fünf voluminösen Bänden, zu denen seine Besprechungen und Kritiken gesammelt sind, stoße ich natürlich auch auf eine Notiz über Fröhlich, und zwar zu einem Buch, das 13 Jahre nach dem Tod des Verfassers erschienen ist: „Vermischte Erinnerungen“, herausgegeben von Walter Klier. In der ihm eigenen Originalität, die literarischen Dinge anzupacken, schrieb Schönauer, der Verfasser einer wachsenden subjektiven Literaturgeschichte der Gegenwart, 1988 über diesen Band aus dem Nachlass: „Der Höhepunkt jeder Dornröschendarstellung ist jene Stelle, wo plötzlich alles stehenbleibt. Der Koch, der den Lehrling ohrfeigen will und auf halbem Weg erstarrt, der Soldat, der salutieren will und in ein hundertjähriges Habtacht verfällt, der Gärtner, der die Gartenschere nicht mehr zubringt. Die Literatur, die Paul Fröhlich bei seinem Tod 1975 hinterlassen hat, wirkt wie ein Standbild aus jener Zeit.“ Das ist sehr gut gesagt, aber ein prekäres Urteil. Obwohl, es müssen ja nicht alle Bilder laufen lernen.

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nach einer Handvoll Schnee und warf ihn auf die pyramidenförmig geschichteten Kränze. Das Rascheln der Kranzschleifen brachte mich zum Weinen. Nach dem Tod des Bruders schrumpfte das Zuhause zum Schauplatz stummer Bedrückungen. Der Großvater wurde in das Altenzimmer abgeschoben. Dort stand er gebeugt und zitternd am Fenster und starrte auf die andere Talseite, als würde er von dort jemanden erwarten. Er war in den letzten Jahren so schwerhörig geworden, daß jede Unterhaltung nach zwei, drei Sätzen ins Stocken kam und in Handzeichen ausartete. Die notwendigsten Wörter wurden ihm ins Ohr geschrien. Im Frühjahr begann die Autobahn AG mit den Vorarbeiten für den Brückenbau. Die Mutter zeigte den Ingenieuren und dem Küchenpersonal die eingerahmten Bildchen der Toten. Diese fremden, an solche Zeremonien gewöhnten Gesichter beugten sich tief über die Aufnahmen, als wollten sie ihr Mitgefühl mit diesem Elend noch deutlicher zur Schau stellen. Ich fühlte mich unter ihren harten, unruhigen Augen als lebendes Kind dieser Familie irgendwie schuldig. In der Nähe des Hauses wurden Sprengarbeiten durchgeführt. Die Erschütterungen waren so gewaltig, daß das Geschirr in der Kredenz jedesmal eine Weile nachzitterte. Ich beobachtete vom Stubenfenster aus, wie zwei Arbeiter das Feldkreuz umsägten. Es war ein ganz einfaches Feldkreuz mit einem verwitterten Dach und einem bemalten Heiland, dem vor langer Zeit ein Fuß abgesplittert war. Jedesmal, wenn ich daran vorbeikam, flüsterte ich: Heilig’s Kreuz! Das war so eine Gewohnheit, die mir noch die Schwester beigebracht hatte. Vergaß ich es einmal, dann lief ich zurück und sagte das nächste Mal zweimal laut: Heilig’s Kreuz! Heilig’s Kreuz! Während die Männer den Herrgott auf einen Handwagen luden, grub in der Nähe ein Caterpillar einen übermoosten Feldhügel ab und kippte die fettschwarze Erde auf ein Schotterauto. Mit einem Schlag hatte das Feld seine Würde verloren. Dort, wo das Kreuz gestanden hatte, gähnte eine winzige Narbe, und rund um diese Narbe war die Landschaft entseelt, als hätte man ihr das Auge ausgestochen. Die Gegend schrumpfte zur Baustelle. Eines Tages klopfte dieser Mann an unser Küchenfenster. Ein junger, kräftiger Mensch mit einem kantigen Schädel. Er trug einen grauen Lodenmantel und schwarze Gummistiefel. Die Mutter winkte ihn herein und bot ihm ein Glas Wein an. Er wehrte mit einer knappen Handbewegung ab: Bin mit der Vespa un-

terwegs! Aber dann trank er das Glas doch in einem Zug leer. Unser Hund, ein Spaniel, hatte sich bei seinem Eintreten winselnd unter dem Herd verkrochen. Der Vater versuchte, ihn herauszulocken; zuerst mit schönen Worten, dann mit Speck, schließlich brüllte er: Sauvieh! Der Hund robbte zitternd hervor und vergrub die Schnauze zwischen den nassen Stiefeln des Mannes. Der packte ihn unterm Arm und trug ihn hinaus. Der Vater setzte seinen Hut zurecht und ging den beiden nach. Die Mutter schloß die Tür. Auf dem Herd sotten die Kartoffeln über. Bevor die Tropfen verzischten, rasten sie in einem wilden Tanz um die Herdplatte. In dieses Zischen hinein fiel der Schuß. Die Mutter riß den Topf vom Feuer, daß eine Handvoll Wasser überschwappte. Der Dampf schoß wie ein Pilz zur Decke und breitete sich über alle Gegenstände. Kurz darauf hörte ich das Knattern der Vespa, das sich immer weiter entfernte. Im Kleinbauern- und Wirtshausklima unserer Gegend galt Innsbruck als Podium für den beruflichen Erfolg. Wenn es einem jungen Menschen gelungen war, einen Arbeitsplatz in der Stadt zu ergattern, dann blickten die Zurückgebliebenen neidisch auf diese erfolgreich gesicherte Existenz. Es kam vor, daß so ein junger Mensch scheiterte und sich als Tankwart oder Sägewerkarbeiter mit einer Dorflaufbahn begnügen mußte; das war dann für die Familien tüchtiger Kinder immer Anlaß für Mitleid und Spott. Im Winter kam die Sechsuhrfrühgarnitur ungeheizt über den Brenner. Wir zeigten mit steifgefrorenen Fingern unsere Monatsausweise her, gruben die Fäuste in die Anoraktaschen und nickten vor Übermüdung wieder ein. Auf der Heimfahrt wurde geschmust, gerauft oder geschnapst. Auf eine Bierwette hin sprang ein Hilfsarbeiter aus dem fahrenden Zug. Ein Mechanikerlehrling versuchte den Stöckelschuh einer Wurstverkäuferin aus dem Fenster zu werfen und wurde von einem Eisenbahner unter Gelächter bei den Ohren gepackt und durch den Waggon gezerrt. Die Atmosphäre aus Roheit, Schadenfreude und Tageserschöpfung verschweißte die Pendler zu einer dumpfen, unberechenbaren Leidensgenossenschaft. Es gibt – nach außen hin – ein untrügliches Zeichen für das Ende der Kindheit: das erste Monatsgehalt. Der Vater schneidet die Frage des Kostgeldes an, die Mutter durchsucht die Rocktaschen nach versteckten Scheinen, es kommt zum Wortwechsel über vermutete Beträge, schließlich der erste Streit und von Seiten des


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Vaters die erste Drohung mit dem Hinauswurf: schau wie du weiterkommst, Rotzbub! Ich erinnere mich an eine Szene, in der mein Vater nach einer solchen Auseinandersetzung die verriegelte Schlafzimmertür aufgetreten hat, während die Mutter händeringend im Hintergrund stand. Es ging um zwanzig Schilling, die ich mir erlaubt hatte, aus meiner Sparschatulle zu nehmen, um ins Kino zu gehen. Es war natürlich nicht der lächerliche Betrag, – es war der Widerstand gewesen, den ich gewagt hatte: der erste Widerstand, der nicht vom Kind, sondern vom Mitverdiener gekommen war: das ist mein Leben und mein Leben ist meine Sache! Man lebte nicht für seine Sache. Man lebte für den Hof, für die Familie und dürftigstenfalls für den Glauben. Das Geistige wurde durch kurze Geschichten veranschaulicht, sodaß auch der schwerfälligste Kopf das Gute vom Bösen unterscheiden konnte. Das genügte für den Umgang mit Angehörigen und Nachbarn. Alles andere war eine Angelegenheit von Handgriffen. Fleiß zählte mehr als Klugheit. Die Ausdauer war angesehener als der Einfall. Nur Kleinkindern war es erlaubt, aus der Seele zu reden. Schon in der Volksschule wurde dem Kind das Eigenleben abgewöhnt. Die Neugierde war plötzlich nicht mehr belustigend, sondern vorlaut. Wünsche waren Zeichen für Undankbarkeit. Der eigene Wille wurde als Trotz beschimpft und jeder Versuch, sich zu erklären, als Aufmucksen bestraft. Geduldet wurden nur ein paar harmlose Ausfälligkeiten, aber auch nur als Unterhaltung am Mittagstisch: der Bub durfte den Teller des Vaters vertauschen, den Löffel ausnahmsweise einmal mit der linken Hand halten oder den Radiosprecher nachäffen. Die Schuldgefühle wurden einmal im Monat in den Beichtstuhl getragen; das verschaffte eine vorübergehende Erleichterung, aber auch die Scham, vor der Gemeinde als Büßer dazustehen. Das sechste Gebot war das kritischste. Während bei allen übrigen Punkten eingelernte Sätzchen heruntergesagt werden durften, mußte die Unkeuschheit in allen Einzelheiten beschrieben werden: wann, wo, wie oft und mit wem. Einmal überraschte mich die Mutter bei einer Unkeuschheit. Ich hatte einem Nachbarmädchen die Unterhose abgestreift und mit einem Stück Holz, das mir als Operationsmesser diente, am Geschlecht herumgefupselt. Die Mutter gab aber nicht mir, sondern dem verschreckten Mädchen die Ohrfeige. Zu mir sagte sie nur: wasch dir sofort die Hände, du Schweinigl! In geschlechtlichen Dingen trug immer das Mädchen, auch wenn es noch so klein war, die letzte Schuld.

Der Schritt vom Feldweg auf den Gehsteig: zwischen mir und den geräumten Schauplätzen der Kindheit einen Graben ziehen. Das Verdrußgesicht der Mutter, die abgearbeitete Gestalt des Vaters, die wehrlose Genügsamkeit des zitternden Mannes im Altenzimmer hinter diesem Graben zurücklassen. Als Gepäck nur die Erinnerung und das unbestimmte Gefühl, daß alles anders werden wird. Der kurze Abschied: die Mutter wischt sich die Hand in die Schürze und macht mir mit dem bebenden Daumen ein Kreuzzeichen auf die Stirn. Der Vater steht mit aufgekrempelten Hemdsärmeln in der Tür und wartet, bis ich an ihm vorbei muß. Er streckt mir die Hand hin, schweigend, mit einem festen, endgültigen Druck. Der Großvater schläft. Es würde auch schwerfallen, ihm diesen Augenblick zu erklären. Auf der Höhe des Feldbuckels, von dem aus der letzte Blick auf das Haus möglich ist, befällt mich der ganze Jammer. Die Kindheit, die sich auf dem letzten, steilen Wegstück so verzweifelt ans Herz geklammert hat – plötzlich rutscht sie ab. Die Tränen schießen mir in die Augen und ohne Übergang beginne ich zu singen: unzusammenhängende Lied- und Wortfetzen, aus Liedern und Wörtern, die ich in diesem Talkessel gelernt und die es mir nun aus Mund und Augen spült. Vermischte Erinnerung … Ich sitze unterm Tisch und wische mir mit dem Ärmel die Katzenhaare von der Zunge; die Mutter geht in Schafwollsocken über den frischgespülten Küchenboden … Das Haus: wie eine Wurzel in die Landschaft eingewachsen. Von der Dachrinne tropfte das Schneewasser auf die roten Geranien des Stubenerkers … Die Felder rund ums Haus, der Garten, die Bretterstöße, der nahe Wald: das war die Weite. Heute sitze ich hinterm Tisch, das Kinn auf die Handballen gestützt und schaue in eine seltsam erstarrte Gegend: als wären die Dinge in das Fenster eingefroren … Die Handgelenke der Schwester dufteten nach Lavendel, als sie mir über die Wange strich und kein Wort herausbrachte vor Atemnot … Das Blitzlicht des Gemeindefotografen zeigte ihre violettgesprenkelten Wangen überirdisch. Auf dem Dachboden stehen Schachteln voll Krimskrams. Schulhefte, Kommunionkerzen, Bilderbücher. Eines Tages, so habe ich mir vorgenommen, werde ich alles genau durchsehen. Eines Tages, so habe ich es mir vorgenommen, werde ich mich an alles genau erinnern.


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Ich habe mit Einer zu Mittag gegessen.

Verabredet waren wir nicht. Ich saß mit Freunden bei Marco’s Treff in Sölden, einer der wenigen Bars, wo es im Sommer auch zu Mittag eine Kleinigkeit zu essen gibt, als Einer auftauchte und sich zu uns setzte. Von Christian Seiler

Er bestellte eine Pizza und ein kleines Bier, und er war bester Laune. Am Vormittag war er von Vent nach Sölden gekommen, ich missverstand ihn zuerst und dachte, er sei den ganzen Weg gewandert, aber er hatte das Postauto genommen, und ich missverstand ihn ein zweites Mal, als er mir erzählte, warum er gekommen sei. Wegen den Madln, sagte er, das verstand ich, aber er sagte noch etwas, was ich nicht verstand, weil die Mischung aus Ötztaler Dialekt und von Defiziten im Gebiss beförderter, undeutlicher Aussprache zu komplex für mich war. Meine einheimischen Freunde verstanden ihn aber schon. Wegen den Madln, sagte Einer, die er hier laufen habe, und die Freunde zuckten nachsichtig mit den Schultern. Er könnte genauso gut erzählen, wegen den Raketen, die er heute Nachmittag auf den Mond schießen will. „Jetzt kommen sie und holen Jakob“. Das ist der Satz, der am Anfang der großen Karriere des Schriftstellers Norbert Gstrein stand, die Eröffnung seiner Erzählung „Einer“, die als Band 1483 der Edition Suhrkamp im Herbst 1988 erschien und vom großen Jorge Semprun als herausragende Erforschung der „Wunder und (…) Geheimnisse des Alltags“ gelobt wurde, wie sie am Schauplatz der Erzählung, der nur notdürftig als Fend codierten Heimatgemeinde Gstreins, geschehen sind, geschehen und geschehen werden. So beginnt die Erzählung: „Jetzt kommen sie und holen Jakob. Plötzlich hat das Knattern aufgehört, das

schon den ganzen Vormittag dem Dorf im Ohr gelegen ist, von einem Hang über die Dächer zurückgeworfen auf den anderen, und die Burschen, drei sind es, stehen wartend am Straßenrand, in den behandschuhten Fäusten rotglänzend die Helme, haben ohne Eile ihre Motorräder abgestellt, auf denen sie gerade noch hin und her gefahren sind, in unermüdlichen Kreisen durch knietiefen Schnee, der von den Hinterrädern meterhoch aufgewirbelt wurde, und immer wieder dieselbe Treppe, fünf Stufen hinauf und auf der anderen Seite den Absatz in einem Sprung herunter, dass die Federn mit einem quietschenden Geräusch tief einknickten. Als gleich darauf der Bus abfährt, schaukelnd in den unregelmäßigen Rinnen gefrorenen Schnees, die jedes Jahr um diese Zeit im Schatten der Häuser entstehen, als er vor dem Hotel Fend noch ein Paket aufnimmt, vielleicht dann, oder doch erst, als er die Kirche schon hinter sich gelassen hat und auf der taunassen Straße talauswärts gleitet, blau-glänzend in der Sonne, hat der Fender auf die Wanduhr geblickt: und es ist fünf nach elf gewesen.“ Vent ist ein charaktervoller Ort, das heißt: Der Tourismus hat hier nicht alles niedergewalzt. Zwar gab es allerhand Projekte, die Vent in der Nahrungskette des Fremdenverkehrs weiter nach oben gerückt hätten. Das spektakulärste war die größenwahnsinnige Planung einer Straße über die Rofenhöfe Richtung Hochjoch, von wo aus mit einer Seilbahn das Skigebiet Schnalstal in Südtirol erschlossen werden sollte. Das


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wussten die richtigen Menschen zu verhindern, sodass Vent das Schicksal erspart blieb, zu einer touristischen Autobahnstation zu werden. Die Grundstruktur des Ortes am Ende des Tals blieb weitgehend unverändert, auch wenn sich, wie überall in den österreichischen Alpen, die Verlockungen des Tourismus durch Wachstum bemerkbar machten, neue Häuser, neue Hotels, neue Frühstückspensionen, freilich anders als in den Ötztaler Skihochburgen Sölden und Obergurgl: kleiner, familiärer, überschaubarer. Immerhin ist Vent ein Dorf geblieben. Das Fend, in dem Norbert Gstrein seine Erzählung ansiedelt, ist so klein wie Vent und so touristisch wie Vent, jedenfalls so touristisch, wie es ein junger Mann wie Norbert Gstrein empfindet, der zwischen Skischule und Hotel aufwächst. Jetzt kommen sie und holen Jakob. Sie holen ihn in den langen, musikalischen Sätzen Norbert Gstreins, in Sätzen, die in Rückblenden das Bild von Jakob zeichnen, das Bild eines begabten Kinds, das aus dem Tal hinaus aufs Internat geschickt wird, zum Außenseiter wird, Misshandlungen erlebt und zurück zu Hause an diesem Zuhause zerbricht. Jakob leidet am Ort und an der Familie. Er leidet daran, wie der Ort und die Familie ihren Gästen alles andere unterordnen. Manchmal verliebt er sich in die Töchter von Gästen und trauert, wenn sie nach zwei Wochen wieder verschwinden. Wenn seine Kammer unter dem Dach für Gäste gebraucht wird, muss er in der Stube schlafen. Dann schreit er. Sein Aussehen ist ihm egal. Er fällt auf. Er verdingt sich als Skilehrer. Er weiß, dass über ihn gelacht wird. Er hasst es, wenn über ihn gelacht wird. Er säuft. Er geht von Wirtshaus zu Wirtshaus. Er verliert die Stelle als Skilehrer. Schließlich gibt ihm nur noch die Mutter ein paar Schilling, damit er irgendwo sein Glas Wein trinken kann. Längst schreibt keiner der Wirte mehr seine Ge-

tränke an. Er muss Geld auf den Tisch legen, bevor ihm ein Glas eingeschenkt wird. Aber er ändert seine Gewohnheiten nicht. „Manchmal sprach er mit Hanna, sah sie über einen Tisch lange an oder begann plötzlich, wenn sie weit die Straße hinaus spaziert waren, das sei kein Leben, und es kam vor, dass er auf einmal weinte, grundlos, wie man sagt. In den Gasthäusern merkte man nichts. Er erzählte die gleichen Geschichten mit den gleichen Dummheiten, und wenn er einen ganzen Abend irgendwo schweigend stand, nannte man ihn besoffen, nicht unglücklich, oder sah an ihm vorbei.“ Ich las „Einer“ zum ersten Mal 1988, als das Buch erschien. Die Erzählung berührte mich. Ich empfand Mitleid für diesen tragischen Jakob, und ich entwickelte eine abstrakte Vorstellung des Ortes Fend, weil ich noch keine Ahnung hatte, dass es Vent wirklich gibt, wo es liegt und wie ein Leben dort verlaufen kann. Mich erschütterte, wie lakonisch Gstrein die Tragik des Einzelnen mit der berechnenden Gleichgültigkeit der Übrigen verschränkt: „Im Dorf sahen sie Jakob als etwas, mit dem man sich abfand, und im besten Fall könnte man versuchen, einen kleinen Vorteil herauszuschlagen. Solange es dem Geschäft nicht schadete, war alles erlaubt, aber sie hatten einen überscharfen Blick, der sie bei einem Verdacht gleich das Ärgste fürchten ließ; dass die Gäste davonliefen oder gewiss nie wiederkämen. Sie wussten Jakob mit Gespür auf den rechten Platz zu rücken, brauchten nur ein wohlwollendes Lachen zu sehen, um aufmunternd die Hand auf seine Schulter zu legen: erzähl doch einen Witz; und eine Flasche Wein wäre ihm sicher. Aber immer öfter zogen sie ihn stillschweigend zurück, weil er plötzlich zu schreien begann: Piefke; manchmal das einzige Wort, oder sein Anblick war einfach nicht zu ertragen, und die Damen wandten sich angeekelt ab.“


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Mir imponierte Norbert Gstreins Radikalität, seine offensichtliche Bereitschaft, die Brücken zu seinem Heimatort niederzubrennen. Ich bewunderte seine melodische, an Thomas Bernhard geschulte Sprache. Ein paar Jahre später lernte ich ihn kennen und konnte erst wirklich ermessen, welche Anstrengung notwendig gewesen musste, in einer Welt, in der Sport, Gäste und Investitionen den Ton angeben, einem intellektuellen Leben nachzugehen. In den Preisreden, die bald darauf auf Norbert Gstrein gehalten wurden, kamen diese Motive wiederholt zur Sprache. Als er zum Beispiel den Franz-Nabl-Preis erhielt, wurde attestiert, dass „… die provinzielle Sozialstruktur der Tiroler Fremdenverkehrsgemeinde (…) für die Bewohner keine Beheimatung [bietet], sondern (…) sie in innerer und äußerer Vereinsamung einen Passionsweg beschreiten [lässt], an dessen Ende die Auslöschung der sozialen Identität und die Verwahrung stehen.“ Gstrein wurde mit so verschiedenen Autoren wie Franz Innerhofer, Uwe Johnson und Peter Handke verglichen. Sein Aufstieg vom jungen Nachwuchsautor zur fixen Größe des deutschsprachigen Literaturbetriebs vollzog sich in erstaunlichem Tempo. Gstrein verließ zuerst Vent, dann Tirol, wo er regelmäßig nach seinem Bruder Benni gefragt wurde, der ein erfolgreicher Skirennfahrer war. Er siedelte sich an wechselnden Orten in Österreich, Deutschland und der Schweiz an. Bis heute besucht er Vent mit einer gewissen Regelmäßigkeit, hegt aber keine Ambition, wieder dauerhaft ins Bergsteigerdorf zurückzukehren. Die innerliche Distanz zwischen dem, der gegangen ist und denen, die geblieben sind, ist zu groß, auch wenn Norbert Gstrein inzwischen als großer, wenn auch schwer zu verstehender Sohn des Ortes gilt. Der Längenfelder Bildhauer Gerbert Ennemoser widmete der mit ihrem Schöpfer bekannt gewordenen literarischen Figur „Einer“ eine

monumentale Skulptur. Im Wikipedia-Artikel zu Vent ist Norbert Gstrein zwar noch nicht als Vent-Celebrity verzeichnet, dafür gibt es jede Menge literaturwissenschaftlicher Sekundärliteratur, die das Verhältnis von Autor und Herkunft beleuchten. Gstrein selbst äußert sich dazu nicht mehr. Ich lernte Vent erst kennen, als mich ein Freund, der in seiner Jugend hier als Skilehrer gearbeitet hatte, einlud, mir das Dorf einmal anzuschauen. Das erste Haus, das er mir zeigte, war das alte Widum, gleich beim Dorfeingang. Dort war er als Skilehrer untergebracht gewesen und manchmal, wenn es abends in der „Milchbar“ spät geworden war, dem Pfarrer in die Arme gelaufen, der gerade zur Frühmesse hinüber zur Kirche gehen wollte. Der Pfarrer verzieh diese offensichtliche Sünde, allerdings nur unter der Bedingung, dass mein Freund mit in die Frühmesse kam und in der ersten Reihe bis zur Wandlung durchhielt. Er erzählte mir, während wir durch den Ort spazierten, noch viel mehr. Wenn es geschneit hatte, mussten seine Kollegen und er oft mitten in der Nacht ausrücken, um die Straße frei zu machen: Die Landesstraße von Zwieselstein nach Vent war damals noch nicht mit zahlreichen Galerien überbaut, die gegen Schnee und Steinschlag schützen. Einmal, erzählte er mir, sei es dabei zu einem fürchterlichen Unfall gekommen, als ein Einheimischer in die Schneefräse kam und von ihr zerstückelt wurde. Später schauten wir uns das Hotel Vent an, das nicht mehr ganz so elegant im hinteren Dorfteil von Vent steht wie auf den Fotos aus den dreißiger Jahren. Ein paar Zubauten haben der Ästhetik ein bisschen zugesetzt, aber verglichen mit den muskelbepackten Almarchitekturen sieht es noch immer ein bisschen extraterrestrisch aus. Wir nahmen an der dortigen Bar namens „Scharfes Eck“ ein, zwei Getränke, und erst


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später, als ich im Bett über den Tag nachdachte, kam mir vor, als hätte ich die Geschichte mit der Schneefräse schon einmal gehört. Mich beschäftigte die Frage, wie eine „urban legend“ heißen muss, wenn sie auf dem Land passiert, dann schlief ich ein, ohne die Frage gelöst zu haben. Aber ich kam auf die Geschichte zurück. Als ich meinen Freund bei Gelegenheit fragte, ob er sicher sei, dass seine Story nicht nur eine Story sei, reagierte er brüsk. „Und ob“, sagte er, ohne in weitere Details zu gehen. „Aber ich kenne die Geschichte von irgendwo“, sagte ich. „Das wundert mich nicht“, sagte er. „Norbert Gstrein hat sie in ,Einer‘ erzählt.“ „Ach so“, sagte ich, ohne mich konkret zu erinnern. Später las ich die Stelle dann nach, die gekonnt Poesie und Splatterliteratur kombiniert: „Mutter zuckt unmerklich zusammen, und wir wissen, dass sie sich erinnert, erinnern uns selbst an den Unfall im letzten Winter, als einer beim Schöpfen ausgerutscht und augenblicklich von der rotierenden Trommel zerfleischt worden ist. An den Schneewänden konnte man noch Tage später das Blut sehen, und vor wenigen Wochen, am Jahrestag, hat der Pater ein Wegkreuz anbringen lassen, in Gedenken an einen, der an dieser Stelle ums Leben kam; bis heute weiß niemand, ob aus Unachtsamkeit oder weil er betrunken war.“ Dass Chronik und Erzählung zusammenhängen könnten, brachte mich auf eine neue Spur. „Es wäre ja witzig“, sagte ich zu meinem Freund, „wenn es auch den Jakob aus ,Einer‘ tatsächlich gäbe. Sozusagen den echten Einer.“ Mein Freund schaute mich groß an und legte die Stirn in Falten, als hätte ich irgendetwas Entscheidendes verpasst.

Dann sagte er: „Natürlich gibt es den echten Einer.“ Er erzählte mir dann die ganze Geschichte. Sie unterscheidet sich von der literarischen Geschichte nur in Details. Ein Detail ist freilich entscheidend: Die Geschichte hört nicht 1988 auf. Während der Jakob aus „Einer“ seine Erlösung im offenen Ende der Erzählung von 1988 findet, hat sich der Einer aus Vent sein Leben am Rand der Ortsgemeinschaft eingerichtet. Er sieht aus, wie ihn Norbert Gstrein beschreibt, nur älter, und er hat auch seine Gewohnheiten nicht abgelegt. Er ist in Vent geblieben und hat sich, so viel ist bekannt, seine Welt, in der er denkt und zu Hause ist, ganz allein eingerichtet, manchmal schweigsam und mürrisch, manchmal zur Unterhaltung des ganzen Dorfes. Das klingt ein bisschen depressiv, aber zu Unrecht. Denn Einers Welt, wie sie die anderen sehen, stimmt nicht unbedingt mit der Welt überein, die er tatsächlich bewohnt. Die Unschärfen fallen jedenfalls nicht zum Nachteil von Einer aus. Beim Vergleichen sind Vor- und Nachteile bekanntlich eine Frage der Perspektive. Als sich Einer in Marco’s Treff an unseren Tisch setzt, stellt ihn mir mein Freund als den Helden des NorbertGstrein-Buchs vor. Einer bekräftigt das. Aber er setzt die Betonungen anders. Einer sei sein Buch, und er habe Norbert Gstrein damit berühmt gemacht. Er lacht zufrieden. Sein Buch. Er war’s. Lacht. Schiebt ein Stück Pizza nach und spült es mit Bier hinunter, dann möchte er noch etwas über Vent sagen, wohin er demnächst mit seinem Bus, dem Postbus, aufbrechen werde. Der Chef von Vent sei nämlich er. Schon klar, dass sie droben in Vent etwas anderes erzählen. Sollen sie erzählen. Erzählen kann jeder. Aber über wen wird erzählt? Über wen? Das müssen wir endlich verstehen. Sonst gibt es nichts zu verstehen. Aber das müssen wir verstehen.


Der argentinische Schriftsteller und Enzyklopäde Jorge Louis Borges hat in einer abgründigen Erzählung eine Landkarte halluziniert, so groß und genau, dass sie kein Abbild der Erde mehr gibt, sondern diese ersetzt. Gebirge, Täler und Ebenen, die Städte, Dörfer, selbst die Ozeane mit ihrem Wellenkamm sind auf dieser im Maßstab der Wirklichkeit geschnittenen Landkarte erfasst. Keine Felsspitze, kein Krater, keine Weggabelung, die auf ihr nicht nachgezeichnet, nachgebildet wäre, sodass sie, wenn sie über die Erde gebreitet läge, diese vollständig bedeckte und ihre Konturen plastisch wiedergäbe. Der Idee der Landkarte korrespondiert die eines universalen Museums, dessen Domäne die Natur mit ihrer Vielgestalt und die Geschichte in ihrer ganzen, von jeder Generation neu zu entdeckenden Widersprüchlichkeit ist. Die Welt selbst wird in ihm weniger festgehalten als konstituiert, und zur Welt gehört ja beides: das Vorgefundene, ohne den Menschen Existierende – und das von den Menschen einer besonderen Region, einer bestimmten Zeit Gemachte.

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Armer Uhu, klösterliches Atrium, edles Geschmeide

Gegenstände im Wert von mehr als einer Milliarde Euro befinden sich im neu eröffneten Sammlungs- und Forschungszentrum der Tiroler Landesmuseen, das von den Architekten als „Schatzkiste“ oder „Tresor“ gedacht war und für Besucher verschlossen bleibt. Eine Begehung von Carolina Schutti

Mitleiderregend hockt er da, über und über mit getrocknetem Schlamm bedeckt, sein Federkleid ist zerzaust, in die Brauntöne seines Gefieders mischt sich helles, unpassendes Grau: die Farbe des Inns, wenn er Sturzbäche aufnimmt, Kies und Unmengen an Sand, Geschiebe und Erde von überfluteten Äckern. Das Wasser ist lang verdunstet, übrig geblieben ist eine staubige Kruste, Zeugnis eines historischen Unglücks, das der Vogel nun auf seinem Federkleid trägt. Selbstverständlich hätte man ihn wieder instand setzen können, den armen Uhu, ihm die Federn auskämmen, Glanz in sein Gefieder bringen, ihn zu einem Ausstellungsstück machen, das sich herzeigen lässt, aber man beschloss, ihn zu lassen, wie er war, und setzte ihn samt dem Ast, auf dem er sich festzukrallen scheint, in eine Vitrine. Ein hässliches, zerstörtes Objekt, dennoch rundum von Glas geschützt. Und noch ein weiteres irritierendes Moment: der scheinbar aufmerksame, beinahe stechende Blick des Vogels. Er trotzt der staubigen Aura, die ihn umgibt, der Tatsache, dass nicht länger seine Eleganz im Mittelpunkt steht, sondern allein sein dokumentarischer Wert. Glasaugen, perfekt geschliffen, starren durch das Vitrinenglas auf hohe Regale, auf den (vorerst) letzten Wolf Tirols, auf zwei Tiger mit weit aufgerissenen Mäulern, auf einen schneebedeckten Affenkopf. Die Lüftung surrt, Luftfeuchtigkeit und Temperatur in den einzelnen Depots werden ständig überwacht, wenngleich durch deren Versenkung im Erdboden kon-

stante klimatische Bedingungen garantiert und nur wenige zusätzliche Maßnahmen erforderlich sind. Fenster gibt es naturgemäß keine, die Wände aus Sichtbeton sind trocken, die schweren Türen der Eingangsschleusen verhindern ungewollten Luftzug. Was hier gelagert ist, soll nie wieder beschädigt werden, schon gar keiner Naturkatastrophe zum Opfer fallen, wie damals im Jahr 1985, als die naturwissenschaftlichen Sammlungen der Tiroler Landesmuseen noch im Zeughaus untergebracht waren und das historische Hochwasser die Räume überflutete. Beinahe alle Bestände wurden zerstört oder stark beschädigt, nur mit großem finanziellen Aufwand, mit unglaublichem persönlichem Engagement der Mitarbeiter gelang der Wiederaufbau. 600.000 Käfer, über eine Million Schmetterlinge. In weiteren Räumen Fundstücke der Vomper Grabungen, Skulpturen, Monstranzen, Gemälde, Grafiken, Bauerntruhen, Schmuckstücke, historische Musikinstrumente, aber auch zeitgenössische Kunst, aktuelle Kunstankäufe des Landes Tirol, kurzum, Objekte im geschätzten Wert von über einer Milliarde Euro werden nach Abschluss aller Übersiedelungstätigkeiten im Sammlungs- und Forschungszentrum (SFZ) der Tiroler Landesmuseen in Hall eine neue Heimat finden. Auch wenn viele der Regale bereits gut gefüllt scheinen, wird die logistisch herausfordernde und wissenschaftlich begleitete Übersiedelung noch einige Monate in Anspruch nehmen. Schließlich werden hier sämtliche Bestände, die vorher in elf Einzeldepots untergebracht waren, zusammengeführt.


Was ist eine Schatzkiste? Jedenfalls kein Museum, das eine Anzahl kanonisierter Werke der bildenden Kunst enthält. Das ist ja das Langweilige an den großen, renommierten Museen der Welt, dass sie auf ihrem Parcours die Meisterwerke einiger als meisterlich anerkannter Künstler aller Epochen in immer neuer Mischung für den Museumstouristen bereit halten; der sich in seiner eigenen Stadt nur selten in eines der dortigen Museen begibt, aber sich in einer fremden Stadt gleich danach erkundigt, welches Museum es zu besichtigen gilt. Den Besuch des Museums nimmt er als Beweis dafür, dass er überhaupt dort gewesen ist, in jener anderen Stadt, in dessen Museum er Werke von Künstlern bewunderte, die er als geübter Museumstourist bereits von den bedeutenden Museen anderer Städte kennt.

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Das leicht geneigte, am Rande von Hall in Tirol gelegene Grundstück ist weit entfernt von den Lawinenstrichen und Muren des Halltals, von labilen Hängen, von felssturzgefährdeten Wänden, von Wildbächen, die bedrohlich anschwellen können, aber auch hoch genug über dem Inn, der schon um knapp vierzig Meter ansteigen müsste, um dem Depot Schaden zufügen zu können. Adresse: Krajncstraße 1, eine ruhige Nebenstraße, die von der Kaiser-Max-Straße abzweigt. Einen Bauernhof in direkter Nachbarschaft, steht das niedrige, dunkle Gebäude im wahrsten Wortsinn mitten auf der grünen Wiese. Vor einer imposanten Kulisse, gebildet aus einem klarblauen, wolkenlosen Herbsthimmel, den frisch verschneiten Gipfeln des Bettelwurf, umgeben von den noch kräftig grünen Futterwiesen, begegne ich dem vor wenigen Wochen eingeweihten Gebäude zum ersten Mal. Abweisend und zugleich verlockend, sind doch immerhin einige schwarze Fensterläden geöffnet, die dazu einladen, einen Blick in die ebenerdig gelegene Tischlerei zu werfen. Lackrot hingegen leuchtet der Eingangsbereich, der die etwa vierzig Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Hauses willkommen heißt. Für andere heißt es draußen bleiben, denn es gibt keinen Publikumsverkehr, ohne guten Grund und Termin öffnet der freundliche Portier niemandem die Tür. Annette Lill-Rastern, die Leiterin des Sammlungsmanagements, mit der ich verabredet bin, steht noch im Stau. Ich nütze die wenigen Minuten, um vom Parkplatz aus das Gebäude zu umkreisen. Ständig beobachtet von Videokameras, mit den Absätzen meiner Schuhe in der Wiese versinkend, denn zwischen Wiese und Fassade gibt es nicht einmal einen schmalen Kiesstreifen, Architektur und Natur treten in direkten Kontakt. Dieser Eindruck verstärkt sich angesichts des vertrockneten Unkrauts, das in einigen der offenen Fugen zwischen den Fassadenplatten hängt, als wollte es Freundschaft schließen mit dem schwarzen Fremdkör-

per. Ich befühle die raue Oberfläche, die in regelmäßigen Abständen eigenartige Unebenheiten aufweist, sternförmige Beulen. Ein „Tresor“ beziehungsweise eine „Schatzkiste“ sollte dieses Zentrum werden, so das Ansinnen der Architekten. Schneller als gedacht ist das Gebäude umrundet, ich wundere mich, soll die Gesamtfläche doch 14.000 Quadratmeter betragen. Das Geheimnis ist rasch gelüftet: Als ich wenig später mit Annette Lill-Rastern hineingehe und mich an ein zum Innenhof hin ausgerichtetes Fenster stelle, stehe ich, obschon ich mich im Erdgeschoß wähne, gleichzeitig im dritten Stock. Die Quadratmeter sind also in der Tiefe bzw. in der Erde verteilt: Was von außen besehen recht bescheiden wirkt, offenbart erst beim Betreten seine ganze Größe. Maßanzug Den Tiger dürfe ich ruhig anfassen. Ich zögere. Ehrlich?, frage ich, strecke vorsichtig meinen Arm, befühle das Fell, das weicher ist als erwartet, eine Mischung irgendwo zwischen Jagdhund und Katze vielleicht. Hier wird nicht nur Historisches bewahrt, sondern auch Neues geschaffen: Peter Morass, mehrfach ausgezeichneter Tierpräparator, ist bekannt für seine besonders lebendig wirkenden Dermoplastiken. Nun stehen sie hier, dicht an dicht mit Raubvögeln, Luchsen und Bären aus dem vorigen Jahrhundert. Die Wirbeltiere brauchen Platz, den haben sie hier, in perfekt konstruierten Regalen. Und was klein ist, wie die Wanzen zum Beispiel oder die Schmetterlingssammlung, ist sorgfältig in Schubladen oder auf Regalböden geschlichtet. Ob bei der Planung Rücksicht genommen wurde auf Zahl und Art der Gegenstände, möchte ich von Annette Lill-Rastern wissen, und prompt zeigt sie mir im Gemäldedepot die Computerausdrucke, die an jedem der Regale hängen. Penibel wurde darauf geachtet, wie


Ich bin ein alter Anhänger des Besonderen, und wenn ich mich aufmache, meinen Ort zu verlassen, dann nicht, weil ich anderswo entdecken möchte, was es überall gibt.

Ein Musiker, der mehr davon versteht als ich, hat mir einmal eine Partitur von Luigi Nono gezeigt, ein graphisches Kunstwerk mit einer schier unglaublich dichten und verwirrenden Schraffur. Und gesagt: Noch komplexer geht es nicht! Und doch habe Nono einmal gesagt: Ein Musikstück, das den Musikern zwar das Höchste an technischer Fertigkeit abverlange, ihnen aber keine Freude bereite, weil sie sich dabei die Gelenke ruinieren und Krämpfe in den Finger bekommen, taugt nichts.

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groß die jeweiligen Bilder sind (etwa 4200 sind es insgesamt), und mit einem speziellen Computerprogramm wurde die ideale Hängung berechnet, um einerseits Übersichtlichkeit zu garantieren und andererseits den Platz bestmöglich auszunutzen. Kleinere Kunstobjekte wie Halsketten und Ringe haben spezielle Schubladen erhalten, sakrale Gegenstände stehen auf Regalen, sperrigere Kunstwerke – ich sehe bedruckte Stühle und Plastiken – finden auf Holzpodesten in der Mitte des Raumes Platz. Ein Gebäude, das für die Dinge entworfen ist wie ein Maßanzug, mit ausreichenden Reserven für weitere Zugänge selbstverständlich. Kein reines Lager sollte das Depot werden, und das ist es auch nicht. Aber auch kein Museum. Irgendetwas dazwischen, jedenfalls wird hier in dieser Aufgeräumtheit wohl kein Gegenstand in einer schummrigen Ecke vergessen werden können. Und noch etwas unterscheidet das Sammlungs- und Forschungszentrum von einem bloßen Aufbewahrungsgebäude: Wenngleich es hier keinen Publikumsverkehr gibt, so wird doch immer wieder der Kontakt nach außen hergestellt. Benjamin Wiesmair, als Schmetterlingsforscher zuständig für die Naturwissenschaftlichen Sammlungen der Tiroler Landesmuseen, stößt zu uns und erzählt mir vom Bildungsauftrag, den er und seine KollegInnen durchaus ernst nehmen: Tage der offenen Tür, Angebote für Schulklassen lassen immer wieder Einblicke in die Sammlungsund Forschungstätigkeit zu. Er führt mich zum wertvollsten Stück der Naturwissenschaftlichen Sammlung, einem großen Schrank voller Forstschädlinge inklusive Fraßmuster, der anlässlich der Weltausstellung in Wien 1873 präsentiert wurde und aus Platzgründen den Weg von der BOKU Wien nach Tirol fand. Dann zeigt er mir noch winzige Minierfalter, wunderschöne Schillerfalter, die berühmten Totenkopfschwärmer. Allzu bald schließen sich die beiden schweren Türen hinter mir, aber es gibt ja noch einiges zu sehen.

Es ist sehr ruhig im Haus, zwischen den Feiertagen und dem Wochenende haben sich viele freigenommen. Wir wechseln die Stockwerke. Rote Klebestreifen an den Wänden fungieren als Wegweiser und gleichzeitig als Farbklecks auf dem vielen Sichtbeton. Dieser bietet aber auf raffinierte Weise eine Möglichkeit zur individuellen Wandgestaltung. In einer umlaufenden Metallschiene lassen sich unkompliziert Bildtafeln aufhängen: Ein küssendes Frauengesicht, ein historisches Männergewand, der Kreativität sind hier keine Grenzen gesetzt, Mitgestaltung ist erwünscht. Frau Lill-Rastern zeigt mir einige Büros, Vorlageräume und Werkstätten. Sie sind allesamt um den begrünten Innenhof herum gelegen. Lärchenholz und Glas der inneren Fassade wirken freundlich, ganz im Gegensatz zum schwarzen Glasfaserbeton der Außenhaut. Tageslicht fällt durch die großen Fenster, dringt durch die teilweise verglasten Bürowände hindurch, um auch den umlaufenden Gang zu belichten. Die 14.000 Quadratmeter Gesamtfläche scheinen, nicht zuletzt aufgrund der zwiebelartigen und mehrgeschoßigen Bauweise, keinesfalls überdimensioniert. Großzügig, das ja, aber es soll schließlich einen Unterschied geben zur vorherigen, mehr als beengten Raumsituation. Und die Menschen? Für die Dinge ist der Bau perfekt, so viel ist klar, aber wie geht es denen, die hier arbeiten? Fühlen die sich wohl?, frage ich vorsichtig. Denn in der Vorbereitung auf diese Besichtigung, bei der Betrachtung der Pressefotos, ist unwillkürlich der Gedanke an Architektenhäuser, Architektenwohnungen aufgetaucht, die zwar im ersten Moment wunderbar anzusehen sind, in denen die Bewohner aber nach dem Einzug weder wissen, wohin sie Staubsauger und Bügelbrett stellen, noch, wie sie ihren Balkon vernünftig nützen können. Gewiss


Ja, ja, Kßchenkräuter und Schnittlauch sind schon in Ordnung. Vor allem, wenn man davon ausgehen muss, dass die Natur nur im Tresor ßberleben wird.

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ein Vorurteil, doch gleichzeitig eine Tatsache, mit der sich nicht wenige Menschen herumschlagen und aus der Not heraus mehr oder weniger hässliche Lösungen für vermeidbare architektonische Probleme finden. Wie also ist es hier? Annette Lill-Rastern genießt es, Kolleginnen und Kollegen zu sehen, die sie vorher vielleicht einmal pro Jahr getroffen hat. Die fälschlich gelieferte Milchglastür ihres Büros – die einzige übrigens – vermisste sie nach deren Austausch nur kurz und lässt die Bürotüre jetzt überhaupt die meiste Zeit über geöffnet. Die Gebäudearchitektur ermöglicht konzentriertes Arbeiten, gleichzeitig besticht die räumliche Nähe der Büros und Labors zu den einzelnen Depots. Würde ich mich hier einsperren lassen? Jederzeit. Wunderbar stelle ich es mir vor, das Arbeiten in dieser beinahe sakralen Stille, mit dem Gefühl, von einem schützenden Außenring umgeben zu sein, mit dem Blick in ein kleines Stück Himmel oder in den klösterlich wirkenden Innenhof. Ein Lachen, das von irgendwoher kommt oder das Rollen eines Transportwagens. Das Keuchen der Kaffeemaschine und nur ab und an das Klingeln des Haustelefons. Die friedliche Geräuschkulisse täuscht vielleicht an diesem Fenstertag, vielleicht ist es sonst lauter, vielleicht geht öfter jemand an der geöffneten Bürotür vorbei, aber die konzentrierte Atmosphäre bei gleichzeitig kurzen Wegen, um sich mit Kolleginnen und Kollegen anderer Fachbereiche treffen und austauschen zu können, die bleibt wohl auch an unruhigeren Tagen erhalten. Schnittlauch und Kaffee Die Gelegenheit zum gegenseitigen Austausch und das soziale Miteinander seien dem Wiener Architekturbüro Franz&Sue besonders wichtig, lässt sich deren Homepage entnehmen. Im Fall des Sammlungs- und For-

schungszentrums wurde darauf jedenfalls Rücksicht genommen, mehr noch, das Atrium lädt geradezu dazu ein, die Mittagspause nicht im fußläufig erreichbaren M-Preis, sondern hier zu verbringen. Die Küchenzeile im Sozialraum wirkt zwar noch relativ unbenutzt, aber hier werde bereits gemeinsam gekocht, versichert mir Frau Lill-Rastern. Küchenkräuter finden sich im Hochbeet. Jetzt, im Herbst, schafft es die Sonne nicht mehr bis hinunter, aber der Schnittlauch zeigt immer noch, dass er schneller wächst, als er geerntet werden kann. Einen Espresso und einen Händedruck später ein freundlicher Abschied, ich trete durch die lackrote Pforte hinaus in den prächtigen Herbsttag. Ohne einen weiteren Schreib- oder Forschungsauftrag werde ich hier nicht mehr so schnell hineinkommen, was ich sehr schade finde. Als ich mich nach einigen Schritten umdrehe, scheint es, als wäre das Gebäude abweisender als zuvor, dunkler, die Schwärze der Außenhaut wirkt beinahe wie ein Tarnmantel. Ich verweile auf dem Parkplatz. Blicke auf die Beulen in der Außenhaut. Wollt ihr hinaus?, frage ich leise, meine die Objekte, nicht die Menschen. Dass die Unebenheiten in den Fassadenplatten Abbilder eines steinzeitlichen Faustkeils seien, werde ich später lesen, doch für mich sind es in diesem Augenblick Abdrücke von Eulenköpfen, Geigenbögen, Stuhlbeinen, Münzen aus der Bronzezeit, die von innen gegen die schwarze Hülle drücken. Vom armen Uhu in seiner Vitrine, den Schmuckstücken, dem aufflatternden Kolibri, der Tigerpranke: Wer weiß, vielleicht dürfen sie irgendwann das schützende und bewahrende Depot verlassen und ans Licht der Öffentlichkeit treten …


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Vom Wesen der Verwandlung

Alexandra Kontriner zeigt in Quart auf den folgenden Seiten ihren Blick auf die Vergänglichkeit, dazu eine Einleitung von Thomas-Roman Eder.

In der Tiroler Heimat fing Alexandra Kontriner schon früh an, tote Insekten und verdorrte Pflanzen zu zeichnen, um ihre Beschaffenheit zu erforschen und Strukturen zu erkennen. Das Übersehene und das Verschwindende faszinierten sie. Übergang und Transformation wurden schließlich zu den Themen der Künstlerin. Ihre Modelle sind Fundstücke, Schenkungen oder Leihgaben. Detailtreue und handwerkliche Perfektion machen Brüche und Verletzungen sichtbar und markieren Momente des Zerfalls. Präparate aus der Vogelsammlung des Naturhistorischen Museums (NHM) überträgt sie vor Ort mit Bleistift und Aquarellfarben in Originalgröße auf Papier. Ein zweites Ausdrucksmittel ist die Fotografie, die den puristischen Charakter ihrer Arbeitsweise unterstreicht. Weder der lückenlose Schein fotografischer Treue (Adorno), noch künstlerische Attitüde bestimmt das Motiv, sondern die Motivation der Darstellung selbst. Jedes Bild offenbart den Grund seiner Entstehung: das Festhalten eines Zufalls, die Dokumentation eines Naturphänomens, das Bewahren einer Erinnerung etc. Für das vorliegende Projekt schuf Kontriner vier neue Zeichnungen, ergänzte sie durch drei Fotografien und einen Ausschnitt aus der Serie „Insektarium“. Die bewusste Gegenüberstellung von je zwei Bildern erzeugt Assoziationen, die aneinandergereiht das übergreifende Thema entwickeln. Es hat mit Zerstörung und Verschwinden zu tun, naturgemäß aber zugleich mit Herkunft und Verantwortung. Das Kunstwerk ästhetisiert die Vergänglichkeit, ohne den Verlust zu beklagen. Es bleibt gegenüber dem Schrecklichen, das es darstellt, gleichermaßen zweckfrei wie ohnmächtig, was seine Wirkung paradoxerweise erhöht. Steinadler – Pasterze – Ringdrossel – Totengräber – Rosenkäfer – Insektarium – Totenkopfschwärmer – Nebelwald

Der Steinadler weist in der Struktur seines Gefieders Ähnlichkeiten mit der Oberfläche der gegenübergestellten Pasterze auf. Pasterze: Österreichs größter Gletscher, Fotografie, Sommer 2006. Die Ringdrossel wird durch die Reduzierung auf einen Flügel als verwesender Kadaver dargestellt. Für das Bild „Totengräber“ stand ein ausgemustertes Präparat der naturwissenschaftlichen Sammlungen der Tiroler Landesmuseen Modell. Der Rosenkäfer (Fotografie) verendete neben einer zufälligen Gravur am Fensterbrett. Insektarium: Endlos-Serie: jeweils nur eine Insektenart wird auf einem Din-A5-Blatt dargestellt. Der Totenkopfschwärmer, ursprünglich im südlichsten Europa und Nordafrika beheimatet, weht in manchen Jahren nach Tirol und schafft, begünstigt durch den Klimawandel, einen Vermehrungszyklus. Die Raupe schlüpft im September, verpuppt sich und verendet im Herbst ohne weitere Nachkommen. Nebelwald: Fotografie, Kristeinertal, Osttirol. Das Steinadlerküken (Adler = Wappentier) schlüpft in den Tod. Die Pasterze ist seit Beginn der Gletschermessungen um die Hälfte geschrumpft. Der Rest einer verwesenden Ringdrossel ermöglicht dem Totengräber das Weiterleben. Die mehrfach gleiche Darstellung des Aasfressers entwertet das Einzelwesen zum uniformen Muster. Der leblose Rosenkäfer hingegen bleibt durch ein abstraktes Muster am Fundort einzigartig. Insektarium: Verantwortung des Künstlers, Übersehenes zu sehen und sichtbar zu machen. Der Totenkopfschwärmer wurde in der Literatur zum Symbol des (Ver-)Schweigens. Hochwald im Nebel, Ursprungs- und Sehnsuchtsort, Erinnerungen, Tirol.










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Brenner-Gespräch (18): „Alle Existenz ist unerreichbare Vollkommenheit“

So viele Leute fahren über die Alpen. Quart bittet herausragende Persönlichkeiten an den Straßenrand zu einer Jause mit Gespräch. Folge 18: Die weltberühmte, 85-jährige Komponistin Sofia Gubaidulina, Composer in Residence beim Festival KLANGSPUREN SCHWAZ 2017, nimmt sich Zeit für die Musikwissenschaftlerin Tatjana Frumkis und den Künstlerischen Leiter Matthias Osterwold und spricht über die Vermehrung von Kaninchen aus mathematischer Sicht, fachliche Notwendigkeit starker Konstruktionen und Versöhnung nach dem Tod.

Matthias Osterwold: Frau Gubaidulina, es ist auffällig, dass Sie Ihr kompositorisches Werk seit den 1970er Jahren in ungebrochener Kontinuität entwickelt haben, mit Ihrer ganz persönlichen musikalischen Sprache, anders als viele Ihrer Kollegen aus der ehemaligen Sowjetunion. Sofia Gubaidulina: Sie haben Recht. Es gab einen großen Unterschied zwischen uns Komponisten dieser Generation. Nicht wenige vollzogen einen Bruch in ihrer Entwicklung. Ich kann zum Beispiel ein Gespräch mit Arvo Pärt nicht vergessen. Er fragte mich: Wie soll eigentlich moderne, gegenwärtige Musik klingen? Damals schrieb er avantgardistisch konzipierte Stücke. Nach diesem Gespräch zog er in ein Dorf und lebte dort als einfacher Arbeiter. Drei Jahre später kam er auf die Bühne zurück mit einem ganz neuen Stil, einer stillen und konsonanten Musik. Dasselbe geschah bei einigen meiner Freunde, z. B. auch bei Valentin Silvestrov. Aber bei mir war es genau umgekehrt – ich träumte seit meiner Kindheit immer davon, das ans Tageslicht zu bringen, was in den tiefsten Schichten unserer Seele verborgen liegt. Das ist unglaublich schwer und dauert eine Ewigkeit. So etwas kann man nicht mit Veränderung erreichen, man muss vielmehr versuchen, einen Zustand zu finden, wo das Ich und das Selbst in eins gebracht werden. M. O.: Sie beschreiben den Kern Ihres künstlerischen Ansatzes. Mir kommt es so vor, wenn ich Ihre Musik höre – und zwar egal, ob sie klein besetzt ist oder

ein großes Orchesterwerk –, dass da immer so etwas ist wie ein Selbstgespräch. Und dass, was immer man musikalisch darin sehen mag, Ihre Musik gänzlich durchhörbar ist. Man hört die Instrumente wie einzelne Stimmen. Ihre Werke sind so etwas wie Gedichte oder Dichtungen in Musik, im doppelten Wortsinne. Also nicht nur Poesie, sondern auch Verdichtungen, Intensivierungen, Konzentrate. Würden Sie dieser Beschreibung zustimmen können? S. G.: Es gibt wirklich ein Gespräch mit mir selbst. Und dieses Gespräch ist nicht ein Punkt, sondern die Beziehung zwischen dem Ich und etwas Anderem, und das ist gerade der Weg zu sich selbst. Ich bin überzeugt, dass ein Weg zum Innersten der Seele existiert. Und dort im Innersten existiert ein Fenster, wo dieses Selbst steht. Diese Beziehung zwischen dem Ich und dem Selbst ist wie gesagt kein Punkt, sondern Bewegung, ein Vektor. Und gerade das ist eine Verdichtung verschiedener, mannigfaltiger Existenzen des Lebens. Ich glaube also, Dichtung – dicht – bedeutet: vielfältige Gedankenzustände in einem. Also Mannigfaltigkeit und Ganzheit. Tatjana Frumkis: Hier gibt es für mich einen Widerspruch … gegen diese Ganzheit steht eine bestimmte Dramaturgie des Werkes, die es in deinem Schaffen seit Anfang der 1970er Jahre gibt. Zum Beispiel wurde jetzt im Festival KLANGSPUREN Dein 1971 geschriebenes Stück „Concordanza“ aufgeführt. Ein Stück mit einer Konstruktion, die man vielleicht imagi-


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näres Drama nennen kann. Es gibt als Ausgangspunkt ein Symbol – eine Kollision mit zwei Polen oder zwei Helden, die sich gegenseitig auseinandersetzen. Entweder gehen sie voneinander weg oder kommen zueinander, kreuzen sich. Aus dieser Kollision entsteht ein absolut unkonventioneller Kompositionstyp, der trotz desselben Prinzips jedes Mal anders ist. Dazu gehört noch ein kleiner Widerspruch: Seit den 1970er Jahren schreibst du praktisch nur instrumentale, reine, absolute Musik. Aber diese Werke hatten immer einen Titel. Das heißt, sie hatten einen philosophischen, literarischen Hintergrund, dennoch war das kein Programm. Und jetzt möchte ich dich fragen: Welchen Unterschied siehst du zwischen Programmmusik und deinen Werken, die rein und absolut sind, aber trotzdem diese Titel und diese „dramatische“ Kollision im Hintergrund haben? S. G.: Ich sehe keinen Widerspruch. Denn unser Leben selbst ist im Grunde genommen widersprüchlich. Das ist der Kern unserer Existenz – Mannigfaltigkeit und Ganzheit ist das Gesetz unseres Lebens. Und auch, weil ich über diesen Weg zu sich selbst sage, dass er ein Prozess ist, den künstlerische Werke verwirklichen können. T. F.: Es gibt viele Beispiele dieser Kollision, dieser Dramaturgie. S. G.: Von Anfang an war dieser dramaturgische Kontrast in meinem Schaffen bemerkbar, schon in den Titeln – etwa „Hell und Dunkel“, „Vivente – non vivente“, „Rumore e silenzio“. Auch zum Beispiel in der Gegenüberstellung von Solo und klanglicher Masse. Und im letzten Werk, dem Oratorium „Über Liebe und Hass“. Auch das Stück „Fachwerk“ hat sehr kontrastartige Substanzen. Vielleicht ist die Statik in „Fachwerk“ beim Hören besonders evident, mit dem Bajan, dem russischen Knopfakkordeon, das in seiner Konstruktion anders funktioniert als das westliche Tastenakkordeon. Alles beginnt in den tiefsten Registern, den Glissandi der Marimba von unten nach oben und der

allmählichen Bewegung des Bajans bis zum höchsten, hellsten Register. M. O.: Wenden wir uns dem Beispiel etwas näher zu. Im Mai 2017 gab es eine intensive Aufführung des Tiroler Symphonieorchesters in Innsbruck mit dem charismatischen Bajan-Spieler Geir Draugsvoll aus Norwegen, der das Werk auch in Auftrag gegeben hat. Draugsvoll hatte Ihnen die Zeit gelassen, die Sie brauchten. Es dauerte länger als ursprünglich geplant, aber was er bekommen hat, ist ein fabelhaftes Werk, das jetzt „sein“ Stück ist. Und als Spieler „verkörpert“ er dieses „Fachwerk“ geradezu – er wird zum „Performer“. Der deutsche Begriff „Fachwerk“ stammt ja aus der Architektur. S. G.: Die Fachwerk-Architektur fasziniert mich sehr. M. O.: Im Titel ist eine Anspielung enthalten, dass – bei aller Subjektivität und Expressivität Ihrer Musik – sehr wohl starke formale Konstruktionen vorhanden sind, die eine wichtige Rolle im Aufbau von Spannungsbögen spielen. „Fachwerk“ ist also Architektur, in der symbolisch das Kreuzmotiv enthalten ist, und bildet auch eine gewisse ornamentale Typologie aus. All dieses haben Sie in Ihrem Werk formal, aber auch metaphorisch komponiert. S. G.: Und in „In croce“ gibt es dann noch den Kontrast zwischen Cello und Bajan. Die Töne treffen sich und ergeben eine Explosion. M. O.: Im Eröffnungskonzert von KLANGSPUREN SCHWAZ 2017 war eine engagierte, schöne Aufführung von „Glorious Percussion“ zu erleben. Es ist ein relativ junges Werk von Ihnen, von 2008. Im Titel sind zwei Dinge angedeutet, die für Sie wichtig sind – zum einen Ihre Liebe zum Schlagwerk, und in dem Begriff „Glorious“ scheint zum zweiten auf, dass Sie in eine noch höhere oder weitere Dimension zielen. S. G.: Das Werk besteht aus acht Variationen. Als glie-


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derndes Element sind die pulsierenden Klänge wesentlich, die entsprechend dem stehenden Akkord aus zwei, drei Intervallen gebaut sind. Das Werk hat eine achtteilige Form, aber es gibt verschiedene Kulminationspunkte, etwa im Zentrum und im Goldenen Schnitt des Werkes, nach den Regeln der Fibonacci-Reihe. M. O.: Das ist die Reihe, die sich im Zahlenverhältnis ihrer aufeinanderfolgenden Glieder dem Goldenen Schnitt annähert.

schen Kunst, weil alles, was wir hören und produzieren, einen neuen pulsierenden Raum hervorbringt, den wir nicht hören. Aber faktisch existiert er, das ist eine natürliche Tatsache. Die Pulsationen sind Kern des Werkes. Und diese Erscheinungen sind bei der Entwicklung dieser acht Variationen immer wieder evident im Raum vorhanden.

S. G.: Fibonacci entdeckte im 12. Jahrhundert dieses Gesetz, mit dem er komischerweise die Vermehrung von Kaninchen beschreiben konnte.

M. O.: In dem Werk scheint mir sehr wohl deutlich hörbar, wie aus den Pulsationen, aus den Differenztönen in das Orchester hinein Ableitungen geschehen. Ich habe mich gefragt, ob es in Ihrer künstlerischen Haltung vielleicht eine gewisse Verwandtschaft mit Olivier Messiaen gibt?

M. O.: Der Goldene Schnitt ist gewissermaßen die magische Zahl natürlichen Wachstums.

S. G.: Vielleicht … ich kann diese Ähnlichkeit nicht ausschließen.

S. G.: Ja. Die Reihe von Fibonacci spielt eine große Rolle in der Natur, im kosmischen Raum und im Menschlichen. Überall wirkt dieses Gesetz, bis zur kleinsten Zelle unseres Organismus, bis in die DNA. Ich möchte zeigen, was diese Reihe für mich bei der Gestaltung der Form bedeutet: 1, 2, 3, 5, 8, 13, 21, 34, 55, 89 usw. Das reicht. Aber je weiter man in der Reihe kommt, desto mehr Vollkommenheit ist erreichbar. Das ist das Wichtigste. Also: Alle Existenz ist unerreichbare Vollkommenheit. Im Goldenen Schnitt, dieser Proportion, finde ich Punkte, wo etwas in der musikalischen Form geschieht. Zu diesen Punkten zu kommen ist für meine Gestaltung sehr bedeutend.

M. O.: Wenn man mit Differenztönen und gewissermaßen mit der natürlichen Physikalität von Klängen arbeitet, dann erreichen sie eine Art Glanz, weil sie auf den natürlichen Frequenzproportionen beruhen. Schlagwerk produziert eigentlich keine ganz sauberen Tonhöhen, aber gleichzeitig ist ein breites Spektrum an Partialtönen vorhanden, wie in den Gongs zum Beispiel. Sie destillieren alles aus diesen pulsierenden Schwebungen und Differenztönen.

T. F.: Welche Rolle spielen das Pulsieren der Klänge, Differenztöne und Schwebungen für deine Komposition? S. G.: Das ist Material. Da ist zunächst die formale Dimension – die Gestaltung von acht Variationen mit Fibonacci-Kulminationspunkten. Jedes Intervall erzeugt einen Differenzton und eine bestimmte Zahl von Schwebungen. Es ist ein pulsierender Klang. Diese Phänomene sind etwas Besonderes in der musikali-

S. G.: Ja genau. Es kann sein, dass es in dieser Hinsicht noch zusätzliche Erscheinungen gibt, nicht nur gezählte, kalkulierte Pulsation, sondern noch etwas Weiteres: unlineare Pulsationen und anderes mehr. T. F.: Du sprichst davon, dass alles mit dieser wunderbaren utopischen Idee der Noosphäre zu tun habe, die von Pierre Teilhard de Chardin, Wladimir Wernadski und anderen entwickelt wurde; also der Idee, dass jeder Künstler oder Komponist eigentlich seinen eigenen Teil an kosmischen Klängen produzieren kann. S. G.: Ja – ein Energiepotential als Resultat in einem pulsierenden Raum. Vielleicht wird etwas Schweben-


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des produziert, aber diese zusätzliche Energie erscheint tatsächlich in der Welt. Man könnte es auch so interpretieren, dass sie im Gegensatz zur Entropie steht. M. O.: Sie als Komponistin haben gewissermaßen die Möglichkeit, die Auswirkungen dieses Naturgesetzes der zunehmenden Entropie zu verlangsamen oder für einen kurzen Moment aufzuhalten? T. F.: Auf jeden Fall zu widerstehen. M. O.: Das hieße, die Differenzierung wieder zu erhöhen, aber im Einklang mit den Naturgesetzen, also der Physikalität und der Materialität der Klänge, mit denen Sie arbeiten? S. G.: Ja. Es ist eine wahnsinnige Idee, aber es könnte sein, dass wir diesen nach unten laufenden Prozess bremsen. Weil Entropie Verminderung von Energie bedeutet. Physiker nennen das den Kältetod des Universums. Wenn alles zur Ruhe kommt, ohne Energie, Streben nach dem Gleichgewicht, Ausgleich – das bedeutet Tod.

geschrieben hat, und Wernadski, der diese Theorie weiterentwickelte. Die Erde ist umhüllt von Pflanzen, dann kommt die Tierwelt, dann das Menschliche, schließlich die geistige Sphäre, und diese mentale Energie umgibt auch die Erde – die Noosphäre. M. O.: Ich kenne diese Theorie nicht, aber wie wir tasächlich wissen, ist die Evolution ein Prinzip, die wachsende Entropie aufzuhalten oder jedenfalls zu verlangsamen. Die Evolution schafft neue Formen und Möglichkeiten, die sich in Anpassung und im Austausch mit den physikalischen Gegebenheiten als brauchbar, als gut erweisen. Aber noch heute ist nicht ganz klar, welche Rolle das Ästhetisch-Schöne, das in der Natur überreichlich vorkommt, in diesem Prozess spielt. S. G.: Ja, die Natur verwirklicht diese Idee, um damit Entropie zu bremsen. Gerade Schönheit ist an diesem Prozess beteiligt. T. F.: Sprich bitte über deine Zusammenarbeit mit Musikern, die dich inspiriert haben und die du inspiriert hast.

M. O.: Tod von allem. S. G.: Doch die Musik kann diesen Prozess bremsen. M. O.: Ich persönlich bin auch überzeugt, dass wir durch Kunst den Lauf der Entropie verlangsamen oder für einen Moment aufhalten können – mindestens auf einer metaphorischen und menschlich-sozialen Ebene. Deshalb ist es wesentlich, in der Kunst – aber auch in unseren menschlichen Beziehungen – zu möglichst viel Differenzierung, Subtilität, Sensitivität zu kommen, weil wir dann der Redundanz oder dieser Verflachung, Nivellierung etwas entgegensetzen können. Künstler haben dabei eine besondere Rolle inne, glaube ich. S. G.: Das denke ich auch. Mitwirken an der Noosphäre. Diese wahnsinnige Idee von Teilhard de Chardin, der das wunderbare Buch „Der Mensch im Kosmos“

S. G.: Es waren und sind wirklich genial begabte Interpreten mit einem besonderen Verhältnis zu ihren Instrumenten. Ich kann mein erstes Zusammentreffen mit Elsbeth Moser nicht vergessen. Sie hatte ein russisches Instrument – ein Bajan – bestellt und ich spürte, dass das wirklich ihr Kind ist – es war absolut klar, dass es ein lebendiges Geschöpf für Elsbeth Moser war. T. F.: Du nimmst ja eigentlich Instrumente auch als Personen wahr … M. O.: Sie sind auf diese Interpreten unmittelbar zugegangen als Musiker, die alles vom Instrument her denken, die Möglichkeiten des Instruments voll nutzen. „In croce“ wurde initiiert von Ihrem Freund, dem Cellisten Vladimir Tonkha. Dann sind da eben Elsbeth Moser, Friedrich Lips und später Geir Draugsvoll.


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T. F.: Es war für uns eine große Überraschung, dass Sofia dieses Instrument „ernst“ genommen hat. Denn das Bajan war für uns in Sowjetzeiten einfach ein Volksinstrument. Sie hat dieses Instrument entdeckt. M. O.: Gehen wir auf das Kapitel der Entdeckung von Instrumenten etwas näher ein. 1975 hat Sofia Gubaidulina zusammen mit Viktor Suslin und Vyacheslav Artyomov das Improvisationstrio „Astreja“ gegründet, das bis zum Tode von Suslin im Jahre 2012 bestand, wobei nach 1992 – das Jahr von Sofia Gubaidulinas Ausreise nach Deutschland – Viktors Sohn Alexander an die Stelle von Vyacheslav Artyomov trat. Das Trio spielte im echtesten Sinne improvisierte Musik, und zwar auf Instrumenten, die alle drei Musiker ursprünglich gar nicht kannten – darunter viele Volksinstrumente aus Kaukasien, Mittel- und Ostasien. Diese Musik ist auch auf Schallplatte veröffentlicht worden. Was bedeutet „Astreja“? S. G.: Göttin der Vollkommenheit. Artyomov hatte sich den Namen ausgedacht. Jedenfalls stellt diese Erfahrung mit „Astreja“ für mich etwas Besonderes dar. Mir scheint, dass unsere Zeit mehr Aktivität des Unterbewusstseins braucht. Wir leben eigentlich in der Zeit von Faust, mit dem Primat der Erkenntnis, also: ich möchte alles wissen, alles erkennen. Jetzt kommt vielleicht die Zeit heran, in der etwas Gegensätzliches wirken soll. Wir drei spürten damals, dass noch etwas anderes existieren sollte, als ausschließlich imaginierte Musik auf Papier zu bringen. Das Unterbewusstsein, unsere Seele, ist durch intellektuelle Aufgaben ein wenig unterdrückt. Was behindert eigentlich die Aktivität der Seele, des Unterbewusstseins? Ein kritisches Publikum, zivilisierte Instrumente, etwas schon Komponiertes. Wir wollten uns davon ein Stück distanzieren und eine archaische Situation schaffen, wo nichts vorher existiert – überhaupt keine Musik, kein Publikum. Es existierten nur wir drei in einem Privathaus. Nur noch wir und das Gespräch zwischen uns mit Materialien, die nicht zivilisiert waren. Wir beherrschten diese Instrumente nicht. Klavier, Geige,

Cello, Kontrabass – all das war streng verboten. Aus diesen Materialien etwas Musikalisches zu schaffen und mit diesen Mitteln miteinander zu sprechen – das war für mich etwas Besonderes. Ich weiß noch … als ich einmal die Saite eines orientalischen Instrumentes mit dem Bogen strich, spürte ich, dass dieser Klang wirklich meine Seele ist – nicht die Darstellung meiner Seele im Klang, nein. Meine Seele und der Klang sind eins geworden. Diese Ganzheit schätze ich am meisten. Sie ist schwer zu erreichen. Irgendwo steht ein Fenster im tiefsten Bereich meiner Seele offen, wo ich mit meinem Selbst zusammentreffe. M. O.: Wenn ich Sie richtig verstehe, finden Sie diesen Moment – Ihr Selbst – in Übereinstimmung mit dem, was von außen an Sie herantritt. In diesem Moment sind Sie gewissermaßen ideell identisch mit dem Natürlichen. S. G.: Gerade das ist der Fall. Also der Klang dieser Saite und mein Bogen sind verbunden, sie sind zugleich mein Selbst. M. O.: Ich vermute, dass das Improvisieren für Sie immer auch eine reiche Quelle Ihrer Klangfantasie war, eine Möglichkeit, daraus Klänge neu zu entdecken. S. G.: Ich glaube nicht, dass diese Art und Weise zu musizieren die konventionelle Art des Komponierens beeinflusst. Jedenfalls nicht bewusst, das möchte ich nicht. Aber diese Erfahrung beeinflusst meine Fantasie, die ich dann notiere, um auf normale Art und Weise zu komponieren. M. O.: Sie haben mit „Astreja“ gelegentlich doch auch öffentlich gespielt? S. G.: Das war ein Experiment. Aber auf der Bühne spüre ich eine ganz andere Situation. Das hat etwas Artistisches … M. O.: Auf der Bühne führen Sie wieder etwas vor.


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S. G.: Da ist mein Kontakt mit Publikum. Das ist auch kostbar, aber etwas ganz Anderes. Die größte Tiefe spüre ich gerade ohne Publikum, ohne Kritiker, ohne jegliche Hindernisse. M. O.: Und ohne die Konventionen und Normen eines traditionellen europäischen Konzertlebens. S. G.: Ja, genau so, wie wir es wollen. Wir können alles produzieren. Wir sind absolut frei. Das gemeinsame Musizieren solcher Art ergibt ganz besondere, unendliche, unkonventionelle Freundschaften. Wie mit Viktor Suslin. Er ist ein fantastischer, wichtiger, großer Komponist mit großer intuitiver Kraft und unglaublich genauer, komplizierter struktureller Arbeit. Leider ist er 2012 gestorben. Das imaginäre Zusammentreffen nach dem Tod veränderte die Beziehung. Im Leben hatten wir immer gestritten. Es gab grundverschiedene ästhetische Vorstellungen, Einsichten in das Leben, die Existenz. Im neuen Gespräch – nach seinem Tod – war das alles vorbei, als wäre es zur Versöhnung gekommen. Mein Werk zu seinem Tod heißt „So sei es“ – das bedeutet Amen. Was geschah – alles wird gut. M. O.: Wie steht es mit Ihrem Verhältnis zu literarischen Texten? Es gibt ja eine ganze Reihe an vokalen Werken, wo Sie sich als Komponistin zu Texten verhalten. T. F.: Ägyptische Poesie, persische Poesie, deutsche Poesie, englische Poesie, russische Poesie, liturgische Texte. M. O.: Wie ist Ihr Zugang zu den Texten, was steuert Ihre Wahl? S. G.: Das ist eine sehr tiefe Frage. Allgemeine Prinzipien kann ich nicht beschreiben, jedenfalls spielt Poesie eine große Rolle für mich. In „Aus dem Stundenbuch“ werden die Gedichte von Rilke nur gesprochen, also nicht vertont. Vielleicht ist er mir am meisten verwandt. Ich spüre seine Poesie: „Und manchmal bin ich wie der Baum, der, reif und rauschend, über einem

Grabe den Traum erfüllt, den der vergangne Knabe (um den sich seine warmen Wurzeln drängen) verlor in Traurigkeiten und Gesängen.“ Das ist mit so nahe. Unglaublich interessant, rätselhaft und geheimnisvoll. Rätselhaft ist auch, wie Marina Zwetajewa und Rilke Verwandtschaft zeigen. Ich spüre, dass „Das Stundenbuch“ vollkommen meine Gedichte sind. Aber das Vertonen ist eine ganz andere Sache. Ich weiß nicht, wie das gehen kann. Ich habe mir viele Gedanken darüber gemacht, was Musik mit Poesie anstellt. Mir scheint, musikalische Vertonung ist nicht nötig. Mir scheint, dass Musik für die Gedichte nicht der Vermehrung von Expressivität dient, sondern umgekehrt. Wenn ich privat das russische Vaterunser spreche, tue ich das sehr expressiv, sehr persönlich. Im Gottesdienst aber, in seiner litaneihaften Musikalität, klingt das Vaterunser zurückhaltend, damit ein allgemeiner Sinn, etwas Höheres zum Vorschein kommt. T. F.: Du hast einmal gemeint, dass Musik Heilung der Verse sein muss. S. G.: Ja, und zwar durch Abstraktion und Hervorhebung der allgemeinen Dinge – so geschieht Erlösung. M. O.: Frau Gubaidulina, Sie haben uns etwas gesagt, das mich tief berührt hat: „In meinem Alter habe ich nur noch Sehnsucht nach der Zukunft, in Kunst und Leben.“ – Das ist wie eine Paraphrase auf Sartres „Die Jugend hat Heimweh nach der Zukunft“. In diesem Sinne sind Sie der jüngste Mensch von uns allen.



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© Freytag-Berndt und Artaria KG, 1231 Wien, Austria

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In literarischen Würdigungen bin ich manchmal als „Alleingänger“ bezeichnet worden. Ich weiß nicht, ob die Charakterisierung zutrifft, aber eines war ich jedenfalls nie: ein Alleinwanderer. Schon die Idee selbst hat für mich etwas Abstruses. Über Land zu wandern, kam mir überhaupt erst in den Sinn, als ich kleine Kinder hatte, von denen ich glaubte, sie hätten ein Anrecht darauf, die Natur kennenzulernen und einen Vater zu haben, der mit ihnen durch Wald und Wiesen, über Stock und Stein wandert. Kaum dass sie aus dem Alter heraus waren, habe ich es wieder bleiben lassen. Ich bin nicht stolz darauf, aber wenn ich wandere, dann durch Städte. Die ergehe ich mir nicht als urbaner Flaneur, sondern als Stadtwanderer.

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Das Leben geht weiter Landvermessung No. 5, Sequenz 3. Durch das Gsiesertal Richtung Welsberg Geschichten kann man auch durch geometrische Operationen auf der Landkarte generieren: In Quart folgen unterschiedliche Autoren mit unterschiedlicher Kondition unterschiedlichen Linien (s. Übersichtskarte). Wir befinden uns derzeit auf der Geraden, die von Obermauern im Osttiroler Virgental Richtung Südtirol und weiter ins Trentino führt. Julie von Kessel erinnert sich am Weg an das Sterben ihrer Mutter, gibt auf der Kuhweide eine Witzfigur ab und weiß jetzt, wohin sie sich am Tag des jüngsten Gerichts begeben würde.

Das Wasser des Gebirgsbaches plätschert den Hang hinab in Richtung Tal. Zwischen dichten Tannen schlängelt es sich hinunter. Ab und zu fließen weitere Rinnsale hinzu, es hat viel geregnet in den letzten Tagen, der Bach ist stark angeschwollen. Er tritt über die Ufer, er schießt über große, moosbewachsene Steine, vorbei an Farnbetten und Wanderwegen, ab und zu ergießt er sich als rauschender, dampfender Wasserfall über einen Felsvorsprung. An einer Waldlichtung hat sich ein flaches Becken gebildet, Kinder stehen barfuß in dem eisigen Wasser, die Hosenbeine hochgekrempelt, die Haut gerötet vor Kälte. Sie bauen kleine Boote aus gebogenen Blättern, die sie vorsichtig in die Strömung setzen, in manche platzieren sie Marienkäfer oder Tannennadeln als Passagiere, dann beobachten sie jauchzend, wie ihr Werk ins Tal saust. Ich stehe daneben und schaue zu, während ich eine Pause von meinem Aufstieg zur Alm mache. Südtirol ist eine Gegend, von der ich bisher viel Magisches gehört habe – die Berge! die Natur! der Käse, der Wein! –, in der ich aber noch nie war, wenn man von den Fahrten nach Italien absieht. Jetzt darf ich hier wandern, zwei Tage lang. Allein. Ein Zustand, den ich seit fast einem Jahr nicht mehr erlebt habe, als mein jüngstes Kind auf die Welt kam. Ein Mädchen. Die Vorstellung, in Ruhe wandern zu können, ohne ständig kleine Menschen anzutreiben, sie auf dem Rücken zu tragen oder mit Gummibärchen zu bestechen, klingt wie ein Traum. Außerdem ist meine Mutter vor wenigen Monaten gestorben. Sie war lange krank, ständig muss ich an sie und die furchtbare Zeit

vor ihrem Tod denken. Ich breche in den unpassendsten Augenblicken in Tränen aus. Die Berge werden dir guttun, sagen meine Freunde. Allerdings liegt Südtirol nicht gerade nah an meiner Heimat Berlin. Die Strecke, die ich entlangwandern soll, durchläuft das Gsiesertal in der Nähe der österreichisch-italienischen Grenze und scheint von Berlin aus so schwer erreichbar wie kaum ein anderer Ort in Europa. Zwei Stunden Flug und vier Stunden Autofahrt – darunter ist nichts zu machen. Ich steige also an einem Donnerstag morgen um halb sieben in Schönefeld ins Flugzeug, das mich nach Bergamo bringt. Meine Sitznachbarin – eine rüstige Rentnerin Ende sechzig, Perlenohrringe, solides Schuhwerk – beneidet mich um meinen Auftrag: „Alleine wandern ist das Allerschönste!“ Ich nicke, doch inzwischen beschleichen mich erste Zweifel. Was ist, wenn ich nur düsteren Gedanken nachhänge? Oder nach zehn Minuten aufgebe und mich heimlich in das nächste Lokal verdrücke? Fast frage ich sie, ob sie mitkommen möchte, aber dann wäre der Sinn ja verfehlt. Außerdem ist sie garantiert sportlicher als ich, das würde nur Probleme bereiten. Ich schnaufe schon bei der leisesten Anstrengung wie eine Dampflok. Mit dem Mietwagen geht es weiter, erst Richtung Venedig, dann nach Norden. Hinter Bozen mutet die Landschaft an wie ein Südtirol-Prospekt: schroffe Felsen, dazwischen saftige, grüne Täler mit urigen Höfen und Bauernhäuschen. Mein Herz jubelt bei so viel Postkarten-Romantik. Nach dreieinhalb Stunden erreiche ich


Wenn ich trotzdem manchmal zu Fuß in Tälern oder auf Hochebenen unterwegs war, dann nur, weil ein übergeordneter Zweck es von mir verlangte. Vor fünfzehn, zwanzig Jahren war ich im Gebiet der 13 Gemeinden von Verona und den 7 von Vicenza unterwegs, noch ein Stück südwärts vom Pustertal in den Dolomiten. Ich suchte nicht die Freuden des Gehens auf unebenem Gelände und vor grandioser Gebirgskulisse, sondern die letzten Zimbern. Sie übten einen großen Reiz auf mich aus, denn seit einigen Jahren war ich überall in Europa unterwegs, die kleinsten Volksgruppen aufzusuchen und zu schauen, wie sie, umgeben von viel größeren Sprachgruppen, leben, wie sie sich ihre Vergangenheit erklären und ihre Zukunft vorstellen. Also: wie sie sich in der Gegenwart behaupten.

Was die Zimbern angeht, so wird es heute schon mehr Zimbernforscher als Zimbern selber geben. Auf zahlreichen Universitäten in Australien, Europa, den USA beschäftigen sich Altgermanisten damit, was das Hochzimbrische ausmachte und welcher Ort, Luserna oder Roana, heute sprachlich als untergehende Sprach-Metropole des Zimberntums anzusehen sei. Was sie alle so interessiert daran, ist die Tatsache, dass das Zimbrische die älteste noch immer gesprochene Form des Deutschen ist, eine Art von regionalem Museum des Althochdeutschen. Mich interessierte freilich nicht diese akademische Frage, sondern die andere, wie man nämlich seine Sprache, seine Kultur bewahren kann, ohne ein bornierter Hinterwäldler zu werden. Und wie man lebt, wenn man weiß, dass die angestammte Kultur dem Untergang entgegengeht.

Irgendwo im Zimbernland war da auf einmal dieser Kreisverkehr, in dessen Mitte, Kunst im Straßenbau, eine riesige Schnecke thront. Das kam mir gleich sympathisch vor, die Schnecke als Aufforderung zur Langsamkeit. Nicht durchbrettern oder runtersausen, sondern langsam über die Dörfer wandern. So hielt es auch ich.

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das Pustertal, jetzt ist es nicht mehr weit, das Gsiesertal ist ein Seitenarm des Pustertals. Die Straße schlängelt sich um einen See, der hellgrün zwischen den Nadelbäumen leuchtet. Immer wieder kommen mir Radfahrer entgegen, es ist heiß, der letzte Augusttag. Ich parke kurz und steige aus dem Auto. Die Luft riecht nach Tannen und Urlaub, der See glitzert in der Sonne. Ich strecke mich und atme tief ein. „Meinst du, ich muss bald sterben?“, hatte meine Mutter mich gefragt, damals, vor drei Jahren, als ich zum ersten Mal mit ihr im Krankenhaus war. Sie hatte starke Schmerzen im Arm. Das Röntgenbild ergab, dass sich mehrere Tumore entlang ihrer Wirbelsäule gebildet hatten, sie hatte vor längerer Zeit Krebs gehabt. Jetzt war die Krankheit zurückgekommen. Ein Tumor saß in ihrem Oberarm. „Quatsch!“, sagte ich. „Von Sterben hat der Arzt doch gar nichts gesagt. Der Krebs wächst sehr langsam!“ Ich weiß nicht, woher ich damals die Sicherheit nahm, das zu behaupten. Vielleicht, weil ich selber daran glaubte oder glauben wollte. Meine Mutter war nicht jemand, die früh starb. Es passte einfach nicht zu ihr. Sie sah sehr jung aus mit Anfang siebzig, sie war stark. Sie arbeitete noch als Psychotherapeutin, hatte Patienten, viele Freunde, hütete an den Wochenenden ihre Enkel. Sie würde achtzig, neunzig Jahre alt werden, mindestens. Sie wurde viel zu sehr gebraucht. Ich steige wieder ins Auto und versuche, die Gedanken daran abzuschütteln. Die Straße wird schmaler und kurviger, ab und zu fahre ich durch ein Waldstück. Kurz vor Welsberg sehe ich plötzlich mehrere Menschen auf der Fahrbahn: Ein Mann kniet auf dem Asphalt, neben ihm liegt ein Radfahrer, er ist gestürzt. Er trägt schwarze Elasthan-Kleidung, einen silbernen Helm, eine verspiegelte, ergonomische Sonnenbrille; sein merkwürdig gekrümmter Körper erinnert mich an eine Krähe, die letztes Jahr gegen unser Küchenfenster geflogen ist. Zwei Männer rufen den Krankenwagen und leiten den Verkehr vorbei. Immer mehr Dorfbewohner kommen herbeigeeilt, das Unglück scheint gerade erst passiert zu sein. Ich fahre weiter, doch etwas

an der Szene hallt grauenvoll in mir nach, der schmale Körper des Mannes, die verdrehten Arme. Die Blutlache, die sich unter seinem Kopf ausbreitete. Endlich kommt die Abzweigung zum Gsiesertal. Die Straße schlängelt sich durch kleine Dörfer, rechts und links grasen Kühe auf grünen, blumenübersäten Wiesen, dunkle, alte Höfe erstrecken sich die steilen Berghänge hinauf. Sankt Magdalena, ein wunderbar malerischer Ort, liegt oben am nördlichen Ende, dort, wo das Tal immer schmaler wird. Ich stelle das Auto an meiner Pension ab und gehe zu Fuß weiter. Eigentlich geht die Strecke, die ich entlangwandern soll, von hier aus nach Süden, Richtung Welsberg, das Tal hinab. Doch ich breche erst mal auf, um das zu erkunden, was sie hier den Talschluss nennen, ein Wort, das mir partout nicht einleuchten will. „Aber ist es nicht der ANFANG des Tals?“, fragte ich meine Wirtin, während ich meine Turnschuhe anzog und den Rucksack schulterte. In Berlin wäre ich für eine solche Frage direkt angeblafft worden, sie lachte nur hell und schüttelte den Kopf. „Na, ’s is’ doch der SCHLUSS!“ – als wäre das eine Erklärung. Am Talschluss gehen viele Wanderwege ab, die hinauf in die Berge zu Almhütten führen. Ich entscheide mich für die Kradorfer Alm, die Gehzeit beträgt angeblich nur eine Stunde, sie wird auf der Karte mit nur zwei von fünf Wanderstiefeln als Schwierigkeitsgrad ausgewiesen, das kommt mir gerade richtig vor. Es ist heiß, kurz nach Mittag, später soll es vielleicht regnen, einige Wolken sammeln sich schon an den Bergspitzen. Eine ältere Italienerin sitzt unter einem Kreuz am Anfang des Weges. „Kradorfer Hütte?“ frage ich hoffnungsvoll, sie nickt und zeigt nach links: „Si!“. Dann mustert sie mich von oben bis unten, sieht meine orangefarbenen Turnschühchen, schüttelt kurz mitleidig den Kopf und sagt dann aufmunternd „facile!“. Das heißt glaube ich ‚leicht‘ oder ‚einfach‘ auf Italienisch, zumindest hoffe ich das angesichts meiner Fitness und Wanderausrüstung. Der Weg mutet erst einmal wirklich einfach an, er führt direkt in ein wunderbar schattiges Waldstück. Inzwischen sind es über dreißig Grad. Es riecht nach süßem


Als ich in Roana, dem zimbrischen Robaan, ankam und wie vereinbart den alten Inigo Rebeschini, auf Zimbrisch Fikhinnar genannt, in seinem Gasthaus „All Amicizia“ aufsuchte, saß ich bald in einer Runde älterer Leute, die mir zu Ehren und sich zur Freude gleich anfingen, alte Lieder zu singen. Der erste Versuch, mit jemandem ins Gespräch zu kommen: Singen! Dann unterhielten wir uns auf Italienisch, die Staatssprache. Und dann versuchte ich es mit den paar Brocken Zimbrisch, die ich zuhause gelernt, mit den paar Sätzen, die ich auf Zimbrisch einstudiert hatte. Das Zimbrische klang noch von ferne nach Deutsch, aber war doch kaum zu verstehen. Und ins Deutsche übersetzen musste ich es mir über das Italienische. Denn die wunderbaren alten Leute, die die älteste Sprachform des Althochdeutschen hüten, sprechen kein Deutsch.

Die Alten, auf die ich auf meiner Wanderung durchs Zimberland stieß, waren alle so freundlich, fröhlich und weltzugewandt, dass ich dem Buch, das ich über sie schrieb, den Titel „Die fröhlichen Untergeher von Roana“ gab.

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Boden und Tannenzapfen. Weiß-rote Markierungen an den Bäumen zeigen den Pfad an, der den Berg hinaufführt. Ein reißender Gebirgsbach plätschert neben mir, ab und zu überquere ich ihn auf wackeligen Brücken. Aus der Ferne kann ich kreischende und jauchzende Kinder hören. Es ist merkwürdig tröstlich, die Stimmen, der Bach, die Kuhglocken, die von den Weiden herüberklingen. Von Zeit zu Zeit treffe ich auf andere Wanderer, junge Paare, Familien, Rentner, die mich auf Italienisch, Österreichisch oder Deutsch grüßen: vom jovialen „Griaß di“ oder „Servus“ über das etwas förmliche „Guten Tag“ oder „Ciao“ ist alles dabei, besonders großartig: „Salve“. Wanderer sind freundliche Menschen. Meine Mutter war oft schwierig in solchen Situationen, zu Fremden konnte sie sehr arrogant sein oder machte Witze auf ihre Kosten. Oft hatte sie den Eindruck, dass Menschen sie anstarrten. Dann drehte sie sich immer zu ihrer Begleitung und murmelte laut „Glotz!“. Es war mir und meinen Schwestern immer unsäglich peinlich. Erst war es der Arm, der ihr zu schaffen machte. Er schwoll an, und es gab nichts, was wir gegen die Schmerzen tun konnten, die sie ständig quälten. Immerzu wickelten wir Eispackungen um ihre Schulter. Schließlich schlief sie im Sitzen, den Arm vor sich im neunzig Grad Winkel ausgestreckt, nur so war es zu ertragen. Dann füllte sich ihre Lunge mit Wasser. Sie konnte kaum atmen, selbst der Gang zur Toilette war mit minutenlangem Keuchen verbunden. Mehrfach musste sie ins Krankenhaus, um die Lunge punktieren zu lassen. Die Ärzte bohrten ihr ein Loch in den Rücken, durch einen schmalen Schlauch lief das Wasser ab. „Hat was von Oktoberfest“, sagte sie trocken und zeigte auf die Drainage. „O’zapft is!“ Später hatte sie keine Kraft mehr für solche Scherze. Langsam höre ich auf, an Tod und an Krankheit zu denken, ich konzentriere mich auf den Weg vor mir, auf die Steine, den Waldboden, den Geruch, die dichten

Tannen. Bei einer Weggabelung weiß ich nicht weiter, keine rot-weiße Markierung weit und breit. Wenn mein Mann dabei wäre, würde ich ihn entscheiden lassen, um ihn dann später mit Hohn und Vorwürfen zu überschütten, aber ich bin alleine und muss mich auf mein Gefühl verlassen. Es geht immer steiler hinauf. Ich begreife langsam, was Talschluss bedeutet: Die Berge wachsen hier zusammen, das Tal wird schmaler. Ich frage mich langsam, ob „facile“ wirklich einfach bedeutet oder vielleicht nicht doch „Vorsicht!“ oder „Gleich kommt ein Unwetter!“ Jetzt wäre eigentlich ein guter Zeitpunkt, umzudrehen und mich im Tal mit einer Zeitung ins Café zu setzen, noch dazu, weil ich mir nicht sicher bin, ob ich mich noch auf dem richtigen Weg befinde, doch mein Pflichtgefühl zwingt mich, weiter aufzusteigen. Außerdem kann ich oben am Hang eine Hütte sehen, die wird es sein. Es wäre zu armselig, jetzt schon aufzugeben. Die nächste Etappe geht durch ein paar Wiesen, endlich sehe ich wieder eine Markierung. Zwei hellbraune Pferde stehen unter einem Baum, die Augen in der Nachmittagshitze geschlossen, sie haben wunderbar hellblonde, dichte Wimpern. Ihr Fell glänzt, ab und zu schlägt der Schweif nach ein paar Fliegen. Ich streichle die Blesse des kleineren Pferdes, die struppige Mähne, ich kraule seinen Hals, es öffnet kurz die Augen und schnaubt durch seine weichen Nüstern. Man müsste dieses Programm als Therapie anbieten: Wandern, Schwitzen, Pferde umarmen. Links neben dem Weg befinden sich mehrere quadratische Kisten im hohen Gras. Bienen fliegen emsig durch schmale Schlitze ein und aus, das Ganze sieht aus wie die Landebahn eines belebten Flughafens. Ein aufbauender Anblick: Sterben Bienen nicht gerade aus? Es soll diesen Sommer achtzig Prozent weniger Insekten in Deutschland geben – eine Tatsache, die mir in den letzten Wochen das Gefühl gab, der Weltuntergang stehe gerade bevor. Aber vielleicht lag das auch an meiner allgemeinen Stimmung. Irgendwann empfahlen die Ärzte meiner Mutter doch eine Chemotherapie. Der Krebs war schneller gewachsen, als sie gedacht hatten. Ihr schulterlanges, braunes Haar fiel aus, stattdessen wuchs es weiß und dicht


An einem Talschluss liegt Ljetzan, das italienische Giazza, ein Ort, der sich aus der schattigen Senke hoch ins Gebirge schraubt. Dort, am Ende einer Welt, haben findige Leute, die italienische Namen haben und sich als Abkömmlinge der germanischen Zimbern fühlen, ein „Puachar Haus. Ume Altaz Taucias Gareide“ gegründet, als das Haus der Bücher und der althochdeutschen Kultur. Ich zog auf einem Höhenweg um den Ort herum und war mehr als zwei Stunden unterwegs, bis ich an der Felswand anstand, an der Giazaa klebt. Dort stehen Ferienhäuser für die wohlhabenden Veroneser Wanderfreunde, ein großes Hotel und irgendwo ein Blockhaus, aus dem dichter Rauch drang. Ein magerer Mann rührte mit einem verklebten Holzstück in zwei Riesenbottichen. Was hier entstand, unter souveräner Missachtung aller hygienischen Vorschriften der EU, war der nach uralter Weise hergestellte „Formaggio di Montagne“.

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nach. Dazu trug sie jetzt immer eine große schwarze Brille. „Jetzt siehst du aus wie eine richtige Psychotherapeutin“, sagte ich. „Wie ein shrink aus New York.“ Sie lächelte. Die Medikamente schwächten sie. Sie wurde schmal und dünn wie ein kleiner Vogel. Sie machte keine Scherze mehr, oft war sie sogar zu erschöpft, um zu sprechen. Ihre Hände krümmten sich, sie konnte nichts mehr halten. Wenn ich kam, saß sie meistens in ihrem Bett und blickte traurig aus dem Fenster. Ich legte ihr dann das Baby in den Schoß, das erst wenige Wochen alt war und richtete ihr die Kissen im Rücken, die ständig verrutschten. Sie strahlte das kleine Wesen an, beide kommunizierten über kleine Geräusche, und wenn das Baby weinte, steckte meine Mutter ihm mit größter Mühe den Schnuller in den Mund. Danach dämmerte sie erschöpft ein. Ich starre noch eine Weile die Bienenstöcke an und beschließe, am Tag des jüngsten Gerichts hierher zu kommen, falls das bei der aufwändigen Flug- und Autoverbindung möglich sein sollte. Hier wird es zumindest noch Insekten geben. Als ich aus dem nächsten Waldstück heraustrete, fängt jemand an, auf der Kradorfer Alm Horn zu spielen, es ist eine wunderbare, traurige Melodie. Ich bleibe stehen, die Musik schwebt über mich hinweg und hinunter ins Tal. Kurz schießen mir Tränen in die Augen, aber ich reiße mich zusammen und gehe weiter. Endlich komme ich oben an, durchgeschwitzt und mit rotem Kopf, aber beeindruckt von meinem eigenen Durchhaltevermögen. Tatsächlich habe ich nur etwa eine Stunde gebraucht und bin nicht nach zehn Minuten umgekehrt. Die Kellnerin trägt ein Dirndl und duzt mich, wie alle Einheimischen hier, auf jede meiner Fragen („Darf man auf der Terrasse sitzen?“, „Haben Sie Apfelschorle?“, „Können Sie mir eine Karte bringen?“) antwortet sie mit einem herzlichen „Sowieso!“ Neben mir sprechen Menschen einen Dialekt, bei dem ich wirklich auch bei größter Konzentration nichts verstehe, aber es ist Deutsch. Die Karte bietet all das, was die Herzen meiner Kinder höher schlagen lassen würde: Frittatensuppe, Mehlspeisen, Kaiserschmarrn.

Ich bestelle ein Gericht, von dem ich keine Ahnung habe, was es bedeuten soll: Kaminwurze mit Kren. Auf der Blumenwiese neben mir tollen Ziegen mit ihren Zicklein, eine Biene schwirrt um mich herum, die pure Idylle. Ich vermisse meine Mutter am meisten, wenn ich auf etwas stoße, das ihr gefallen hätte: ein trauriges Lied, die urigen, dunklen Hütten, der weite Blick ins Tal. Die Zicklein, die durch das hohe Gras springen. Das Baby zu Hause, das in wenigen Wochen seine ersten Schritte gehen wird. Wie gerne hätte ich diese Dinge mit ihr geteilt. Meine Kaminwurze kommt, es stellt sich als eine Art getrocknete Salami mit Meerrettich heraus und ich beschließe, für die nächsten Monate einfach hier sitzen zu bleiben. Am nächsten Morgen ist der erste September, der meteorologische Herbstbeginn, tatsächlich ist es so, als hätte die Natur auf den Kalender geschaut, der Himmel ist grau, die Wolken hängen tief, helle Schleier ziehen sich über die Tannenspitzen hinunter ins Tal. Der Blick aus meinem Fenster erinnert an die Märchen der Gebrüder Grimm. Es ist zehn Grad kälter als gestern. Heute werde ich mich an die vorgegebene Strecke halten. Rechts und links des Tales verlaufen zwei Talblickwege, einen davon will ich hinunterwandern, von Sankt Magdalena zum nächsten Ort St. Martin und weiter hinunter nach Welsberg. Ich frühstücke schon um sieben, zusammen mit den seniori aus meinem albergo. Der Rest schläft wohl etwas länger, aber ich will früh los, die Wetter-App auf meinem Handy zeigt für den Vormittag sogar kleine Blitze in den grauen Wolken. Es gibt ein tiefgelbes, fast orangefarbenes Rührei – die Hühner in Sankt Martin essen Mais, sagt mir die Kellnerin. Ich bekomme einen Schirm, dazu den inzwischen obligatorischen besorgten Blick auf mein Schuhwerk, dann breche ich auf. Die Luft ist wunderbar kühl und feucht. Es regnet nicht, aber es riecht nach Rauch, nach Herbst. Der Talblickweg, von dem ich mir erhofft habe, dass er sich milde abwärts beugt, führt erst einmal recht steil durch den Wald nach oben. Irgendwo nehme ich die


Im Zimbernland war ich durch keinen Ort gekommen, der dem heiligen Martin gewidmet war. Aber ein paar Jahre vorher, als ich mit meinem literarischen Projekt, die kleinen Nationalitäten aufzusuchen, in Kalabrien unterwegs war, hatte ich den Eindruck, jedes fünfte Dorf wäre dem freundlichen Heiligen gewidmet, der seinen Mantel entzweigeschnitten und mit einem nackten und frierenden Bettler geteilt hatte. Wie die Zimbern in den Dolomiten leben im kalabrischen Gebirge die Arbëreshë, Abkömmlinge albanischer Flüchtlinge, die im 15. Jahrhundert ihre Heimat verlassen mussten und sich im Süden Italiens ansiedelten. Es gibt sie heute noch, in weit größerer Zahl als Zimbern, und wie diese unterhalten sie sich in einer Sprache, die außer ihnen und begeisterten Sprachforschern keiner mehr versteht. Denn ihr Albanisch hat sich seit fünf Hundert Jahren nicht verändert, sodass Albaner aus dem Mutterland es als verwandt empfinden, aber ihm in Rede und Schrift nicht mehr folgen können.

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falsche Abzweigung und verlaufe mich, viel kann allerdings nicht passieren, weil ich mich ja immer am Tal orientieren kann. Der Weg ist anstrengend, wieder erwacht mein Impuls, einfach aufzuhören. Der Schirm ist völlig sinnlos, warum hat ihn mir die Pensionsbesitzerin aufgeschwatzt? Ich benutze ihn zum einseitigen Nordic Walking. Endlich tut der Wald sich auf, auf einer Bergkuppe ist eine Lichtung mit einem Kreuz. Das ganze Tal liegt vor mir ausgebreitet. Es ist fast noch magischer als bei schönem Wetter, überall hängen kleine Wolken unter mir an den Hängen, die kleinen Dörfer wie hingewürfelt, schmale Kirchtürme, alte Höfe, dazwischen der reißende Gsieser Bach. Es sieht so aus, als steige der Regen aus den grünen Wiesen empor. Die Sonne bricht ab und zu durch die Wolken in schmalen, scheinwerferartigen Strahlen. Der Wegweiser verwirrt mich, nicht zum ersten Mal, der Pfeil nach Sankt Martin zeigt direkt den steilen Hang hinab. Da soll ich hinunterwandern? Es beginnt zu nieseln und ich verfluche schon die ganze Sache. Ich kraxele weiter den Berg entlang, durch Matsch und nasses Gras, es regnet immer stärker, ein stetiges Plätschern auf meinem Schirm (zum Glück hat ihn mir die Pensionsbesitzerin aufgeschwatzt), den ich mit einer Hand halte, mit der anderen muss ich ein ums andere Mal aufstützen, wenn ich ausrutsche. Irgendwann muss ich quer über eine steile, eingezäunte Wiese gehen. Meine Schuhe sind inzwischen völlig durchnässt, die Hose matschig. Zwei graue Kälber stehen im Regen und beobachten mich teilnahmslos – eine Witzfigur mit orangefarbenen Turnschuhen und einem grellgelben Schirm, die über ihre Weide schlittert. Ich werfe ihnen einen wütenden Blick zu. „Glotz!“ rufe ich ihnen entgegen. Sankt Martin ist ein kleiner Ort, etwa so groß wie Sankt Magdalena, alte Höfe, dazwischen Ferienhäuser, ein paar kleine Läden, eine Bäckerei. In der Mitte eine gotische Kirche mit hohem, spitzem Turm. Daneben ein kleiner Friedhof, er ist gepflegt, die Gräber ordentlich aufgereiht, mit frischen Blumen und kleinen, flackernden Lichtern. Jedes einzelne Grab ist mit einem

kleinen Foto versehen, schwarz-weiße oder bunte Bildchen, der lächelnde Verstorbene. In tiefer Trauer, wir vermissen Dich, steht darüber. Du fehlst. Keine drei Jahre nach unserem gemeinsamen Besuch im Krankenhaus war meine Mutter mehr am Leben. Was ich ihr also direkt nach der Diagnose des Arztes sagte, nämlich, dass sie nicht wird sterben müssen, stimmte nicht. Ich denke dauernd an meine Worte zurück, ich schäme mich, dass ich ihre Sorgen so abgetan habe. Es tut mir leid, dass ich Unrecht hatte. Dass ich ihr nicht die Schmerzen und die Angst lindern konnte. Ich denke an das letzte Mal, dass ich sie lebend sah: als ich mich von ihr verabschiedete, nahm sie nur meine Hand und lächelte traurig, ohne Worte, dann nickte sie kurz; wir beide wussten, dass unsere gemeinsame Zeit bald zu Ende sein würde. Vorne, ganz nah an der Kirche, steht ein leuchtendes weißes Kreuz auf einem Grab, es ist das einzige, das kein Bild hat. Es sieht ganz neu aus, doch als ich näher hingehe, sehe ich, dass es mehr als zwanzig Jahre alt ist: 1995 ist dieser Mensch gestorben, 1995 geboren. Ich lese die Inschrift nochmal, dann begreife ich, dass es sich hier um ein Baby handelt, es ist noch nicht mal ein Jahr alt geworden. Ein Mädchen. Der Regen hat nachgelassen, es ist nur noch ein zartes Nieseln zu spüren. Ich setze mich auf die Steinstufen vor dem Kindergrab und denke an mein Baby zu Hause, an ihr helles, fisseliges Haar, an den Duft ihres Köpfchens. An ihre feinen, weichen Finger. Kurz schicke ich ein Gebet an das Universum und danke den Göttern, dass sie lebt, dass alle meine Kinder leben, dass ich und meine Schwestern noch leben. Das ist es wohl, was die Menschen meinen, wenn sie einem ewig sagen: Das Leben geht weiter. Das ist die gute Nachricht und auch die schreckliche. Langsam kämpft sich die Sonne zwischen den grauen Wolken hervor, sie scheint ins Tal, auf die Kirche und den Friedhof. Die Strahlen wärmen meinen Rücken. Ich stehe auf, falte den Schirm zusammen und starte den nächsten Wanderweg hinab, Richtung Welsberg.


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~ 1 : 200.000

Wolfgang Wirth skaliert auf den folgenden Doppelseiten Landkarten von den Voralpen und dem Alpenhauptkamm neu, indem er sie mit anderweitigen Mustern und Farbtönen überzieht. Dazu eine Introduktion von Jeannie Moser:

Ihr Gebrauch macht aus einer Zeitschrift ein dreidimensional agierendes, ein ausgreifendes und sich ausdehnendes Objekt. Blättert man in ihr, strecken, wölben, krümmen und biegen sich ihre planen Seiten in den Raum. Das, was auf ihnen abgebildet ist, wird größer oder kleiner, rückt näher oder ferner. Mit dem Material, von dem Wolfgang Wirths künstlerische Arbeit RUGS (V–XII) ausgeht, verhält es sich genau umgekehrt: Es sind topographische Karten, die objektund raumbezogene Informationen zweidimensional darstellen und damit einen dreidimensionalen Raum in eine plane Fläche übersetzen. Solche Landkarten veranschaulichen ein Gelände, indem sie Berge und Abhänge, Kämme, Grate, Senken oder Täler einebnen und ihre körperlichen Eigenschaften sowie räumlichen Zusammenhänge maßstäblich generalisieren. An der Skalierung, die sich am Rand jeder Karte befindet und Aufschluss darüber gibt, welcher Maßstabsfaktor die Größenordnung auf der Karte festsetzt, orientiert sich Wolfgang Wirth. Von der 60-teiligen Skalierung aus entwickelt er plane, rechtwinkelige Muster und malt sie auf die ebenso planen, rechtwinkeligen Flächen der Karten, die im Maßstab 1:200.000 Gebiete der nördlichen Voralpen und des Alpenhauptkamms

etwa zwischen dem 27. und 34. Längen- und dem 46. und 50. Breitengrad darstellen. Die verwendeten Farben beziehen sich auf die Farbtöne der Karten. Sie sind mehr oder weniger lasierend und lassen die darunterliegende Information meist noch leicht sichtbar. Die Muster verbinden sich mit den Texturen der Karten, sie verweben sich mit ihnen. Für die folgende Bildstrecke verwendet Wolfgang Wirth nun acht photographische Abbildungen aus seiner Werkserie RUGS in einer Weise, die den zoomenden Effekt des Blätterns in einer Zeitschrift aufnimmt. Dafür spielt er mit ihrer Skalierung und arbeitet mit zwei Maßstäben: Auf der Nullebene erscheint die Abbildung klein und fern, auf der Ebene 1 größer und näher. Zwischen ihnen befindet sich jeweils eine digital perspektivisch verzerrte Abbildung, die einen kontinuierlichen Übergang zwischen den beiden Ebenen zur Darstellung bringt. Die Montage der Abbildungen erzeugt den paradoxen Effekt einer Verräumlichung der flächigen, bemalten Landkarten. Die Betrachter der Bildstrecke bekommen Talböden und Senken, Plateaus, Abhänge, Kämme und Grate zu sehen – als würden sie über und durch einen Landschaftsraum fliegen.










Seit je war mir das Lesen auch eine Stütze der Erinnerung. Mein Gedächtnis hat Schwächen im Systematischen, Stärken im Assoziativen. Ich kann mir die Handlung eines Romans, den ich vor 35 Jahren gelesen, nein, regelrecht studiert habe, nicht mehr in Erinnerung rufen. Aber ich weiß noch genau, dass damals, als ich Dostojewskis „Dämonen“ las, der Herbst ungewöhnlich schön war, ich weiß, dass ich, von der Schilderung eiskalter russischer Birkennächte aufblickend, dem Kastanienbaum im Garten dabei zuschauen konnte, wie sich seine Blätter verfärbten. Und ich sehe wieder, wie meine Freundin, die später meine Frau wurde, mittags das grüne Gartentor mit dem Vorderrad ihres Fahrrads aufstößt und es dann über den Kies zur Hausmauer schiebt. Ich schaue aus dem muffigen Kellerloch hinaus, in dem ich damals wohnte, von ei-

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ner hellen lauten Wohnung aus dem Arbeiterviertel im Norden von Salzburg umständehalber in zwei feuchte Zimmer in einem Schlösschen übersiedelt, das in einem Viertel wohlhabender Leute im Südosten langsam verfiel. So viele Einzelheiten aus dieser Gegend kann ich mir dank des Romans vergegenwärtigen, den ich damals las und von dem ich wenig mehr in Erinnerung behalten habe als die äußeren Umstände, unter denen ich ihn las, und die innere Gestimmtheit, in der ich mich befand. Kaum dass ich an jene Lektüre denke, tauchen nach so vielen Jahren die Gesichter von Passanten wieder vor mir auf, denen ich damals auf den Straßen der Gegend begegnete, und die längst tot sein mögen. An so vieles kann ich mich dank eines Romans erinnern, dessen Handlung ich längst vergessen habe.


Vertrauen, Achtsamkeit, Pragmatik

Über die Adaption von Yasushi Inoues Novelle „Das Jagdgewehr“ für die Opernbühne. Von Friederike Gösweiner

Die Begegnung mit Yasushi Inoues Erzählung „Das Jagdgewehr“1 (im Original „Ryōjū“ (猟銃)) habe ich der Empfehlung eines Freundes zu verdanken. Die deutsche Übersetzung des japanischen Originals von 1949 stammt von Oscar Benl und ist bei Suhrkamp 1964 erschienen. Wie stark der Eindruck beim ersten Lesen des edel-schlichten weißen Bibliothek-Suhrkamp-Bandes mit schilfgrünem Streifen vor fast zehn Jahren war, zeigt mir die Tatsache, dass ich noch sehr genau weiß, wo und wann ich die 98 Seiten, mit der die Erzählung auskommt, in einem Zug ausgelesen habe. Das weiß ich nur bei sehr wenigen Büchern, und alle diese Bücher sind bedeutsame Weggefährten für mich. Dass „Das Jagdgewehr“ Jahre später zu dem Text werden würde, den ich neben meinen eigenen längeren Texten wohl tatsächlich am häufigsten gelesen haben würde (die Gewohnheit, Bücher mehrmals zu lesen, ist heute keine selbstverständliche mehr), dass es jener fremde Text sein würde, den ich am besten glaube „verstanden“ zu haben (was das auch heißen kann), zumindest hoffe, möglichst gut verstanden zu haben, weil ich auf seiner Basis ein Libretto zu schreiben versucht habe, wusste ich damals nicht, wie ich auch noch nicht einmal wusste, dass ich selber bald literarisch zu schreiben versuchen würde. Der Klappentext der deutschen Suhrkamp-Taschenbuchausgabe fasst „Das Jagdgewehr“ so zusammen: „Mit einem Jagdgewehr ,auf dem wunderlich einsam wirkenden Rücken des Jägers‘, der seinen Weg durchs Gebirge zieht, fängt alles an. Fasziniert von diesem Bild, schreibt ein Dichter das Gedicht Das Jagdgewehr. Der einsame Jäger liest das Gedicht in seiner Jägerzeitung, erkennt sich selbst in den Zeilen wieder und schreibt dem Dichter, genauer: Er schickt ihm die Abschiedsbriefe dreier Frauen, die sein Leben bestimmten: seiner Frau, seiner Geliebten und deren Tochter. Aus drei Perspektiven erzählen diese Briefe die Geschichte seines

Lebens, die Geschichte einer verbotenen Liebe, die in Wirklichkeit eine Geschichte der Einsamkeit ist.“2 Es ist selten, dass sich ein Klappentext als so brauchbar erweist wie dieser. Hinzuzufügen ist, dass „Das Jagdgewehr“, weil es eine „Geschichte der Einsamkeit“ erzählt, auch eine Reflexion ist über die Sehnsucht, verstanden zu werden, die Unfähigkeit sich mitzuteilen und somit auch über das Wesen der Literatur. Erzählt wird die Geschichte nicht aus der Sicht eines Erzählers. Der Ich-Erzähler begnügt sich mit einer kurzen Einleitung, in der er knapp schildert, wie es zum überraschenden Erhalt der Briefe kommen konnte und kommt nur am Ende in einer kurzen nachdenklichen Coda nochmals zu Wort. Er ist, wie wir selbst, mehr Lesender als Erzähler, ist Mittler oder „Medium“ zwischen den zwei Welten Fiktion und Realität. Die eigentliche Geschichte entfaltet sich in Gestalt der Briefe, das heißt in Worten, die die Figuren in dezidierter Mitteilungsabsicht an einen anderen richten, in den drei schriftlichen Bemühungen der seit Jahren wissenden Ehefrau Midori, der heimlichen Geliebten Saiko und deren nichts geahnt habenden Tochter Shoko, sich Josuke Misugi, dem schweigsamen Jäger, zu erklären. Zuspitzung erfährt das Geschilderte dadurch, dass die drei Briefe dezidiert letzte Worte sind, die die drei Frauen an Josuke richten. Es ist schon alles vorbei, alles verloren, die Briefe sind lediglich nachgetragene Worte zu dem Geschehen, das alle voneinander entfernt hat, über Jahre hinweg, im Stillen. Diese für westliche Lesende ungewöhnliche Konzeption der wiederholten Wiedergabe ein und desselben Vorgangs aus unterschiedlicher Perspektive, die in Japan größere Tradition hat (bekannt ist einigen vielleicht der Terminus „Rashomon-Effekt“ dafür, geprägt durch 1 Yasushi Inoue: Das Jagdgewehr. Aus dem Japanischen von Oscar Benl. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1964 (Bibliothek Suhrkamp 137). Im Folgenden mit der Sigle J zitiert. 2 zitiert nach www.suhrkamp.de


Mein Sohn war schon ein Cineast, noch ehe er das Wort kannte, und ist ein Kenner des japanischen Films geworden, der in Japan die Cineasten, die wir trafen, mit seinem Wissen verblüffte. Im Herbst 2007 flogen wir zusammen nach Japan, in ein Land, auf das ich mich nicht sonderlich freute, weil ich mir sicher war, dass es mir in den zwei Wochen, in denen ich als Gast des japanischen Germanistenverbands an verschiedenen Universitäten des Landes Lesungen halten sollte, fremd bleiben und ich über den Status des Touristen nicht hinausgelangen würde; da war es naheliegend, mich von meinem Sohn durch ein Land begleiten zu lassen, das ihn aus der Ferne schon immer fasziniert hatte. Wenn wir heute, mehr als zehn Jahre später, über unsere gemeinsame Japan-Reise sprechen, bei der ich 53 und er 23 Jahre alt war, dann erzählen wir uns und unseren Zuhörern dieselben Geschichten aus zwei Perspektiven, die im Einzelnen ganz Verschiedenes hervorheben und sich doch zu der einen großen Erzählung ergänzen: am Ende von Kindheit und Jugend gehen Vater und Sohn als zwei Erwachsene gemeinsam auf die Reise, von der sie schon gesprochen haben, als sie Hand in Hand unterwegs zum Kindergarten waren.

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Unter den vierzig, fünfzig Heften und Büchern, die ich auf meinen Reisen mit Notizen vollgeschrieben habe, hole ich den dunkelbraunen Band heraus, auf dessen Vorderseite ein kleines Schildchen klebt, das mit „Japan 2007“ beschriftet ist. Es ist gleich die erste Eintragung, die ich gesucht habe: „Im Flieger, Samstag auf Sonntag. Ich lese um fünf Uhr früh, umgeben von Leuten, die mit brennenden Augen irgendeinen Film auf dem Bildschirm an der Rückenlehne des Vordermanns verfolgen oder Japan röchelnd entgegenschlafen, Das Jagdgewehr von Yasushi Inoue. Eine Nichte schreibt jetzt, da die Mutter tot ist, dem Onkel einen Brief, in dem sie das Unglück der beiden betrauert, dass sie einander liebten, aber diese Liebe stets verborgen halten mussten. Auch sie weiß davon nur aus dem Tagebuch der Mutter, das sie auftragsgemäß hätte verbrennen sollen. Und wenn der Onkel einst tot sein wird, wird es sein, als wäre ihre Liebe gar nicht gewesen. Es ist genau 5 Uhr 41, wir befinden uns über dem sibirischen Chabarowsk, da sehe ich hinter dem Tragflügel einen rötlichen Streifen, darüber ein lichtes Blau. Darüber nichts als Schwärze. Das dunkelrote Band wird breiter, darauf legt sich ein Rosa, darüber ein helles Blau. Und dann reißt das Schwarz auf, bis die Wolken in der Ferne wie Tuschzeichnungen von Gebirgen wirken.“


Akiro Kurasawas Film „Rashomon“, der wiederum auf zwei Kurzgeschichten Akutagawa Ryūnosukes basiert), verschärft formal den Befund, den die Erzählung inhaltlich gibt: Eine kohärente Gesamtdeutung des Geschehens scheint unmöglich, jeder spricht isoliert und aus zeitlicher Distanz, wodurch sich die Gräben umso deutlicher offenbaren, die um jedes Ich verlaufen, die uns voneinander isolieren, an denen wir leiden, obwohl wir sie selber ziehen, weil innerste Wünsche und Sehnsüchte in Widerspruch stehen zu jenen anderer, Scham ein wahrhaftig offenes Sprechen miteinander untergräbt, Angst vor den Untiefen des eigenen Ichs das Handeln lähmt, Eitelkeit und Konvention Masken zu tragen gebieten für die gesellschaftliche Selbstinszenierung, Furcht vor Liebesentzug Schweigen macht … Versteckt wird in der Erzählung dabei auch das Potenzial von Literatur dargestellt, Medium wahrhaftiger (Selbst-)Erkenntnis zu sein. Im „Jagdgewehr“ ist es das Gedicht, das alles ins Rollen bringt, das den Jäger, der die „ungewöhnlich tiefe Einsicht eines Dichters“ (J, S. 15) bewundert, überhaupt erst dazu veranlasst, die drei Briefe an den Gedichtautor zu schicken, wissend, es sei „sehr töricht, um jeden Preis von anderen verstanden werden zu wollen“ (J, S. 17). Und auch wenn für den Dichter der „Held“ des Gedichts, der „eigentliche Kern [s]einer Idee, doch weiter ein geheimnisvoll unbekanntes Wesen“ (J, S. 16) bleibt, so hat zwischen den beiden Männern durch das Gedicht Begegnung stattgefunden, die beide zugleich auf sich selbst zurückwirft und sie aus sich befreit, wie das vielleicht nur die Literatur, oder allgemeiner die Kunst, vermag. Dass ich mich auf der Suche nach einem geeigneten Stoff für Thomas Larchers erste Oper auf „Das Jagdgewehr“ besonnen habe, verwundert mich im Nachhinein nicht. So gut wie alle, die das Buch in der Folge gelesen haben, lesen mussten, um entscheiden zu können, ob sie diese Oper mitbeauftragen wollen würden, ob sie sich vorstellen könnten, darin eine Rolle zu haben, als Sänger, als Regisseur, waren vom Potenzial des Stoffes für die Opernbühne überzeugt. Nur wie daraus faktisch etwas Bühnentaugliches herzustellen wäre, schien

fraglich. Denn „Das Jagdgewehr“ ist perfekte Prosa, es nützt die Möglichkeiten der Gattung wunderbar aus. Es liegt auf der Hand, warum viele Libretti auf dramatische Stoffe zurückgreifen – sie sind schon für die Bühne gemacht, die Adaption scheint leichter (wobei der Schein manchmal trügt und wohl keineswegs gilt, dass jedes Theaterstück zu einer Oper umgebaut werden kann). „Das Jagdgewehr“ wird im Deutschen immer wieder als Novelle bezeichnet, jene Prosaform, die aufgrund ihrer Kürze, ihrer Konzentration auf psychologische Vorgänge einer oder weniger Figuren und der Verwendung von Dingsymbolen die „Schwester des Dramas“ (Theodor Storm) und damit wohl die operntauglichste ist. Die japanische Literatur kennt keine Novelle, aber die Zuschreibung im Deutschen scheint durchaus gerechtfertigt: Es gibt eine Art Rahmenhandlung, die aus Sicht des Ich-Erzählers geschildert wird. Die Erzählung konzentriert sich auf nur fünf Figuren, die klar umrissene Handlung wird durch ein unvorhersehbares, zufälliges, „unerhörtes“ Ereignis grundiert, das zugleich Wendepunkt der Erzählung ist, die in eine Katastrophe mündet. Und die geheimnisvolle symbolische Strahlkraft der Dinge mit leitmotivischem Charakter, denen in der Erzählung eine Schlüsselrolle zukommt – ein Haori mit blaugrauem Distelblütenmuster, Schlangen oder das titelgebende Jagdgewehr selbst –, springt bereits beim ersten Lesen ins Auge. Wie jeder künstlerische Text hat auch das Libretto zur Oper „Das Jagdgewehr“ als Experiment begonnen, ohne jede Sicherheit, ob es gelingen würde. Es gab keinen Auftrag für das Libretto, es gab das (unbezahlbare) Vertrauen des Komponisten in seine Librettistin und den Glauben an das Potenzial des Stoffes für eine Oper des 21. Jahrhunderts. Ob das Experiment gelungen ist, wird sich im Sommer 2018 zeigen, wenn die Oper bei den Bregenzer Festspielen uraufgeführt wird. Denn die eigentliche Referenz zum literarischen Ausgangstext ist bei einer musikdramatischen Adaption nicht das Libretto, sondern die Opernpartitur, die für jene, die wie ich nicht in der Lage sind, solch komplexe musikalische Notationen zu lesen, erst in einer Aufführung zu verstehen ist. Das Libretto selbst ist längst fertig.


Wann ist ein Text fertig? Als ich vor langer, herzlos schnell vergangener Zeit mit gleich viel Leidenschaft wie Gewinn Germanistik studierte, kam gerade eine Disziplin in Mode, die „Rezeptionsästhetik“ hieß. Neben manch Anregendem lehrte sie auch, dass ein Text erst im Vorgang des Lesens gleichsam „realisiert“ werde, und da jede Generation anders liest, weil sie in anderen historischen und sozialen Verhältnissen lebt, bleibe die Literatur wesenhaft immer „offen“, kein Werk gäbe es, das irgendwann tatsächlich „fertig“ wäre. Ich hielt dies schon damals für so wahr wie trivial. Natürlich benötigt die Literatur die Leser, die das Buch lesend immer auch auf ihre Weise interpretieren, sei es verstehen oder missverstehen. Alte Bücher, die keiner mehr liest, sind fertig im Sinne von tot. Aber doch ist der Text mehr als eine Spielfläche, auf der jeder seine Pirouetten so drehen mag, wie es ihm beliebt. Nicht nur der Text muss sich vor den nachkommenden Lesern behaupten, auch sie sich vor ihm. Vor allem auf dem Theater ist es erzblöde Mode geworden, dass jeder mit dem Text und gegen die vermeintliche Beschränktheit seines Verfassers macht, was ihm gerade taugt, um seine eigene Beschränktheit ideologisch ausleben und ästhetisch herausbrüllen zu dürfen.

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Aber ein Libretto allein ist nichts Fertiges, jedenfalls kein „fertiger Text“, sondern lediglich Fundament für die Musik, die später darauf gründet – zumindest in der bisherigen Operngeschichte. Keinen „fertigen“ Text abzuliefern, ist vielleicht die größte Herausforderung beim Versuch, ein Libretto zu schreiben. Nicht nur die Möglichkeiten und Notwendigkeiten der Bühne sind wie beim Sprechtheater mitzudenken, sondern viel mehr noch der Atem der Musik, von der zum Zeitpunkt der Entstehung eines Librettos in der Regel kein Takt vorhanden ist. Hätte ich selber nicht ein inniges Verhältnis zur Musik und würde nicht glauben, Musik und ihre Möglichkeiten wenigstens intuitiv zu verstehen, hätte ich das Experiment wohl auch kaum gewagt. Ein Libretto zu schreiben hat viel mit dem Glauben an Potenziale zu tun, mit Vertrauen – in den konkreten Raum der Bühne und viel mehr noch in den seelisch-geistigen Raum, den die Musik, und nur die Musik, zu öffnen vermag (Ingeborg Bachmann schreibt in den „Notizen zum Libretto“ zu „Der Prinz von Homburg“ sehr schön vom „Erraten des Weges dieser Musik und ihrer vorhandenen und noch zu weckenden Potenziale“3). Zugleich hat es mit der Bereitschaft zu dienen zu tun oder neutraler formuliert: mit Rücksicht, mit Achtsamkeit den Nacharbeitenden gegenüber und damit einhergehend auch mit einem gewissen Sinn für Pragmatik. Das Libretto der Oper „Das Jagdgewehr“ ist daher sicher nichts Fertiges. Es atmet, hoffe ich, viel Vertrauen – in die Musik und auch in den Bühnenraum. Vielleicht wirkt es für sich genommen geradezu dürftig, weil sein Umfang gering ist (die meisten Libretti zeitgenössischer Opern, die ich kenne, sind zu lang). Vielleicht wirkt es verwirrend, weil ich die fiktiven papierenen Briefstimmen der Novelle auf der Bühne als reale Figuren erscheinen lasse. Fiktion Bühnenrealität werden zu lassen, sodass die Bühne zum Seelenort wird, einem Ort des geistigen Auges und der phantastischen Innerlichkeit, an dem konkret passiert, was wir uns wie der Dichter prosalesend sonst nur innerlich vorstellen, ist allerdings ein altbewährter Kunstgriff, und es gab für mich keinen Grund, die Metastruktur der Novelle

(die Texte – Briefe – innerhalb des erzählenden Textes abbildet) aufzulösen. Die Eingriffe, die ich in den Originalwortlaut Inoues in der Benl-Übersetzung vorgenommen habe, sind äußerst gering. Die Anmaßung, als Fremde überhaupt in den Text einzugreifen, zu kürzen, zu raffen, zu verschieben, erschien mir groß genug, geholfen hat mir wahrscheinlich die Tatsache, dass ich, leider selbst nicht in der Lage, Japanisch zu lesen, mit einer Übersetzung gearbeitet habe, also mit einem „neuen Original“. Für die Sprachfindung des Librettos unerlässlich war auch das Studium der beiden englischen Übersetzungen als Abgleich und die Gespräche mit der Übersetzerin aus dem Japanischen, Ursula Gräfe (Oscar Benl ist 1986 verstorben), denn die Novelle spielt ja in den 1940er Jahren. Mich selbst stilistisch zu verwirklichen oder gar den gesamten Duktus „jetzig“ aufzufrisieren, stand nie zur Diskussion. Stile zu mischen sollte gut motiviert geschehen, und wer den Originaltext nicht lesen kann, kann nicht versuchen, selbst adaptierend zugleich neu zu übersetzen. Dieses Libretto sollte sprachlich möglichst aus einem Guss sein, weil es inhaltlich ohnehin disparat genug ausfallen würde, weshalb es – bis auf ein, zwei Sätze – ausschließlich aus Textbausteinen des Originals gestaltet ist. Wenn ich auch bemüht war, sehr behutsam mit dem Original umzugehen, so gibt es doch zwei schwerwiegende Eingriffe, die die Novelle von der Oper textlich unterscheiden werden. Beide sind nicht leichtfertig vorgenommen und Gegenstand am Ende tatsächlich jahrelanger Reflexion und mehrerer gescheiterter Versuche, sie zu vermeiden und dem Original noch treuer zu bleiben. Und vielleicht ist es das, was ich selber vor allem aus der Arbeit am Libretto gelernt habe: dass etwas Neues zu kreieren letztlich nur möglich ist, wenn man sich anmaßt, sich nicht leichtfertig über das Original zu erheben, aber doch frei mit dem Material umzugehen, freilich immer im Blick die Form, auf die man abzielt. 3 Ingeborg Bachmann: Notizen zum Libretto. In: Gesammelte Werke. Hg. v. Christine Koschel, Inge von Weidenbaum und Clemens Münster. Bd. 1., München, Zürich: Piper 2010, S. 433–434.


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Die Zeitstruktur der Novelle, die Wiederholung von gleichen Szenen aus verschiedenen Perspektiven habe ich nicht erhalten. Auch wenn in der Musik, zumal in der Oper, die Wiederholung überhaupt nichts Außergewöhnliches darstellt, wäre das Libretto so nicht nur zu lang geworden, sondern als Bühnenvorlage auch viel zu statisch geraten. Aus dem prosaischen doppelten Nacheinander der Novelle – der nacheinander abgedruckten Briefe, die vergangene Geschehnisse aus verschiedenen Blickwinkeln beleuchten – wird auf der Bühne eine Quasi-Gleichzeitigkeit: Die Figuren blicken immer noch auf das Geschehen zurück, aber sie tun es jetzt, während es sich ereignet. Das Libretto folgt also dem chronologischen Verlauf der Handlung und führt das Geschehen mit der (im Original brieflichen) Reflexion des Geschehens eng, das heißt, die Figuren treten immer wieder aus dem Moment heraus, wenden sich gleichsam vom Geschehen ab, halten inne, um fühlend zu sich zu kommen im Gesang. Solch monologhafte Sequenzen über momentane Gefühlszustände, in denen Figuren laut singen, was wir alle sonst nur still fühlend denken (oder zu Papier bringen), sind exakt, wozu Arien in der Operngeschichte verwendet wurden. Auf längere arienhafte Passagen wollte ich daher keinesfalls verzichten. Im Libretto (und hoffentlich nur dort) wirken diese Sequenzen vielleicht ungewöhnlich aufgrund der Tempuswechsel in die Vergangenheit, die immer dann passieren, wenn die Figuren mit (brieflicher) Distanz zum Geschehen sprechen. Die Engführung von Geschehen und Reflexion des Geschehens aus zeitlicher Distanz schien mir für die Bühnenadaption der einzig gangbare Weg. Der Tempussprung verstärkt dabei – wie in der Novelle die Isoliertheit der Perspektiven – die Drastik der Aussage. Freilich kann diese Anlage nur funktionieren, wenn die Musik, der Bühnenraum, die Gestik der Singenden das Ihre dazu tun. Dann aber kann die Oper „Das Jagdgewehr“ dem Vergleich mit der Novelle „Das Jagdgewehr“ vielleicht tatsächlich standhalten – weil sie nicht die Novelle kopiert, die als Prosatext vor allem beim ersten Lesen stark von narrativer Spannung lebt, erzeugt durch das allmähliche Enthüllen der ganzen Tragödie, sondern, was in der Novelle als Aussage an-

gelegt ist, in der inszenierten Synthese von Text und Ton momenthaft drastisch verdichtet – was dem Potenzial der Oper entspricht. Dieser drastischen Verdichtung ist auch die zweite Änderung geschuldet. Die Frage, mit der die Oper das Publikum zurücklässt: „Was ist denn diese Qual, die jeder in sich trägt?“ (J, S. 87), formuliert in der Novelle Saiko in ihrem Brief, nicht der Dichter. Das ist die einzige wichtige Stelle, an der ich einer Figur Worte einer anderen in den Mund lege (es gibt noch eine zweite, bei der ich aber lediglich den Satz eines Großonkels, der als Stichwortgeber sonst einmalig auftreten müsste, Shoko sagen lasse, die mit ihm telefoniert). Ich lasse den Dichter, das Medium, durch das wir in Kenntnis der Geschichte kommen, diesen Gedanken aufgreifen, an prominenter Endstellung, womit ich einen Akzent setze was die Deutung angeht. Es schien mir passend, mit einer Frage zu enden, zumal mit dieser, die so sehr angelegt ist im Originaltext, ihren expliziten Ausdruck in der Reflexion über das Tiersymbol der Schlange erfährt – dem geheimnisvollen „anderen Ich“ (J, S. 78). Zwar spielt „Das Jagdgewehr“ im Japan der 1940er Jahre und damit in einer anderen Gesellschaft mit anderen Konventionen als unserer heutigen westlichen, doch scheint mir seine Auseinandersetzung mit Einsamkeit als condition humaine von überzeitlicher Relevanz. Und vielleicht ist es für die aktuelle Überspanntheit des Westens zwischen bekenntniszwanghafter öffentlicher Offenbarung intimer Angelegenheiten und lynchjustizhaftem Political-correctness-Wahn sogar auf verquere Weise ein besonders passender Stoff, weil er den Fokus auf Wesentliches lenkt, weg vom Was und hin zu einer Tiefeninvestigation des Wie: darauf, wie das alles, was wir einander antun und sagen und nicht tun und nicht sagen, in uns wirkt, am Seelengrund, in den Untiefen des Gedächtnisses, in jedem Ich. Es zeigt wie kaum ein anderes Buch, das ich bisher gelesen habe, die Vergeblichkeit, mit der wir nach einander – und uns selbst – tasten und dabei letztlich immer wieder ins Leere greifen, einander verfehlen, alle durch dieses „weiße Flußbett“ (J, S. 9) gehen, durch das der Dichter den Jäger gehen sieht.


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Hans Kupelwieser Originalbeilage Nr. 30

Pignon de bicyclette (Fahrradkettenrad), 2017 Rad

Zahnkranz

Material: PP 28 Ă— 21 cm

Photogramm

Schablone


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Zwischen uns das brennende Meer

Mirko Bonné betrachtet Cy Twomblys Gemäldezyklus „Lepanto“ und erzählt dessen Geschichte, die nach Virginia, in den Golf von Korinth und nach Gröden führt.

Gemälde von Cy Twombly sah ich zum ersten Mal an einem flirrend heißen Sommertag im Museum für Gegenwartskunst Basel. Im Baseler Kunstmuseum wurde umgebaut; das nutzte man, um Teile der zeitgenössischen Sammlung in ungewohntem Rahmen neu zu präsentieren und auszudeuten. Neben zwei rätselhaft zeitlos wirkenden, weiß übertünchten Plastiken, die mitten in dem großen, durch Glasfronten erhellten Raum standen und eine erregende Präsenz bewiesen, wurden acht frühe Gemälde Twomblys ausgestellt, die die rasante Entwicklung des Malers an einem kritischen Punkt zeigen: Bilder aus den 1950er, 60er und 70er Jahren, in denen sich aus hingekliert anmutenden Ziffern und Schriftzeichen irritierende Momente entwickeln, die ihrerseits zu bildnerischen Symbolen und eigenständigen, so kindlichen wie archaischen Formen werden. Lange blieb ich stehen vor einem großformatigen, auf den ersten Blick nichts als grauen, mit dunkelgrauen Schlieren übermalten Bild, das Cy Twombly 1971 gemalt und dem er den Titel „Nini’s Painting“ gegeben hatte. Hält man vor dem Gemälde inne und betrachtet aufmerksam das Schlieren- oder Liniengewimmel darauf, so stellt sich rasch der verblüffende Eindruck ein, dass man wie vor einem Fenster zu stehen meint, hinter dem es draußen lautlos regnet. Die Schlieren, die eine sacht ansteigende Diagonale von der linken unteren zur rechten oberen Bildecke beschreiben, erweisen sich bei genauerem Hinsehen lediglich als graue Bleiftstiftstriche, erhalten jedoch (wodurch?) blaue Schatten, die, je nach Augenentfernung von der Bildoberfläche, zu wandern scheinen. Aufgetragen ist das Graphitgeäst auf weitere, wie im entfernteren Hintergrund gleichfalls schräg über das Bild aufsteigende Strichepulks, die aber aus Kreide sind und Twomblys bevorzugte Grundfarbe Weiß auf der Leinwand ins Spiel bringen. Einige Male ging ich weiter, sah mir die anderen, zumeist unbetitelten Gemälde und die beiden Plastiken an, stellte mich an eine der Glasfronten, durch die man hinuntersah auf den St. Alban-Teich, kurz bevor der in den Rhein mündet; es war Nachmittag, weit über 30 Grad heiß, überall am Nordufer des Rheins saßen

Sonnenhungrige im Gras und auf den Steinen, Schattenplätze gab es nirgends mehr. Gleißendes Licht, das sich auf der Wasseroberfläche spiegelte, gebrochen einzig von den in der Windstille stehenden Bäumen und ihren regungslosen Wipfeln. Wieder ging ich zurück vor das Bild. Auf mir unerklärliche Weise schien es das in den Saal fallende Licht nicht allein aufzunehmen, sondern zu verstärken, ja sogar selber Licht zu werfen. Ich hatte den Eindruck von einer im Bildhintergrund zunehmenden Helligkeit. Die graublauen Linien ergaben anscheinend eine Schrift, die ich mit Blicken selber auf dieses Licht auftrug, obwohl ich sie nicht zu entziffern vermochte, so als würde ich dicht über eine Landschaft fliegen und unvermittelt eine Ordnung, ein Muster darin erkennen, eine menschengemachte, menschliche Struktur, anhand derer Natur und Kultur ineinander übergingen. Nini, fragte ich mich, ist damit ein Kind gemeint, oder vielleicht eine Frau, eine Geliebte? Ist Twomblys Gemälde als Brief, als gemalter Brief zu verstehen? An wen wäre der gerichtet? Nach dieser ersten Begegnung in Basel fing ich an, mich eingehender mit Cy Twomblys Kunst, seiner Malerei, seinen Zeichnungen, Plastiken und Fotografien zu beschäftigen. Erstaunt fand ich heraus, dass er seit Mitte der 1950er Jahre bis zu seinem Tod 2011 vorwiegend in Italien lebte und malte, in Rom, im Latium, aber auch im Grödnertal in Südtirol. Zu Twomblys frühesten europäischen Förderern zählt Plinio De Martiis, in dessen Galerie La Tartaruga in Rom er über Jahrzehnte hinweg immer wieder ausstellte. 1971 starb unerwartet De Martiis’ Frau Maria Antonietta Pirandello, Enkelin des umstrittenen italienischen Dramatikers und Nobelpreisträgers von 1934. Ihr Spitzname war Nini. Twombly malte fünf Gemälde zum Andenken an die junge Frau. „Nini’s Painting“ verbindet Schrift und Malerei, bringt Unterschiede zwischen den Genres Zeichnung und Gemälde in die Schwebe und ist tatsächlich ein gemalter, gezeichneter Brief, nicht zu entziffern zwar, und doch lesbar und verständlich auf eigentümliche, sinnliche, innige Weise. Mit „Nini’s Painting“ hält Cy Twombly der Zumutung des Todes eine Schrift-und-Licht-Erzählung entgegen.


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Twombly wurde 1928 in Lexington, Virginia, geboren. Sein vermeintlicher Vorname „Cy“ ist der Spitzname seines Vaters, der so wie er mit bürgerlichem Namen Edwin Parker Twombly hieß, und vererbt sich (Poesie) durch die Generationen: Der Vater arbeitete als Schwimm- und Golflehrer an der Lexingtoner Washington and Lee Universität, war in jungen Jahren aber Baseball-Profi und hatte (ähnlich der BaseballLegende Denton „Cy“ Young) von sich reden gemacht, indem er mit fulminanten Würfen immer wieder Maschendrahtzäune so zurichtete, als hätte die ein Tornado zerfetzt. Cy ist eine Kurzform des Ausdrucks „cyclone“ für Zyklon oder Wirbelwind, und mir erscheint es als nicht zu weit hergeholt, in diesem selbstgewählten Namen ein Programm zu sehen. Bestimmt hätte Cy Twombly so wie sein Vater das Zeug zum Sportler gehabt, auf zahlreichen Fotos, die es von ihm gibt, erkennt man seine noch im hohen Alter hoch aufgeschossene, athletische Statur. Doch er entschied sich früh für eine künstlerische Laufbahn und hatte das Glück, keine Hindernisse in den Weg gelegt zu bekommen, die er hätte zur Seite fegen müssen. Mit Mitte zwanzig lernte er während eines Stipendiums in New York Robert Rauschenberg kennen, mit dem ihn eine Jahrzehnte anhaltende Freundschaft verbinden sollte. Die beiden jungen Künstler besuchten einen Malkurs am Black Mountain College in Asheville, North Carolina, bevor sie (mal gemeinsam, mal jeder für sich) anderthalb Jahre lang die US-Südstaaten, Kuba, dann Europa und schließlich Nordafrika bereisten. Ehe sie in die Vereinigten Staaten zurückkehrten, verbrachten sie den Frühling 1953 in Rom, für Cy Twombly ein lebensentscheidender Einschnitt. Einige Jahre lang teilten sich Rauschenberg und Twombly ein Atelier in Manhattan und begannen dort, ihre Reiseeindrücke zu verarbeiten und eine erste, gemeinsame Ausstellung in Eleanor Wards Stable Gallery vorzubereiten. Twombly lernte de Kooning, Kline, Pollock, Reinhardt und viele andere dort kennen. Das Zentrum der internationalen Kunstszene verlagerte sich von Paris nach New York, und zahlreiche Freunde und Kollegen, darunter Rauschenberg, wurden berühmt und verkauften Werke zu immer höheren Preisen. Twombly entschied sich für das Gegenteil. Er hörte auf, zielgerichtet zu produzieren, malte über ein Jahr lang überhaupt nicht und verabschiedete sich schließlich aus New York, um 1957 überzusiedeln

nach Rom. Dort, in der lebendigen Nähe zur antiken Tradition, beginnt sein eigentliches Werk, Gestalt anzunehmen. In Rom, in mehreren kleinen Dörfern im Latium und auf der Insel Procida in der Bucht von Neapel, wo er in den folgenden Jahren malte, fand er das mediterrane, ins Weiße übergehende Licht, das so vielen seiner Gemälde als Bildfeld dient. Geschichte, Mythen und Dichtung vorrangig der griechischen Antike sowie ihrer Fortschreibungen bis hin zu zeitgenössischen Lyrikern wie Giorgos Seferis verwandelt Twombly zu Klang- und Bedeutungsräumen, die seine Bilder mittels minimaler, oft im gestisch kritzelnden Understatement gehaltener Fingerzeige aufrufen und sie für denjenigen Betrachter öffnen, der dort hineingehen und sich aufhalten möchte: unsichtbare Dichtung. Vorläufer einer virtuellen Kunst. Striche, Streichungen, Zeichen. Ziffern, Chiffren. Scheinanweisungen. Skizzen zu nichts. Klecks. Verwischung. Flecke. Flecken. Übermaltes. Stehengelassenes. Gekliert, verschliert. Versunken im Bildgrund. Linien wie Fische. Punktegewölk. Aber immer das Licht. Als würde man in einem weißgetünchten Raum stehend aufs Meer blicken: eine Bucht voller Helligkeit. Die Ägäis. Ein freier Tag. Das Ionische Meer. Zurückgewonnene Kindheitssaumseligkeit. 1959 heiratet Twombly Tatiana Franchetti, eine junge Baroness, deren Familie Land und Anwesen bei Rom und in Südtirol besitzt. Im selben Jahr kommt ihr Sohn zur Welt, Cyrus Alessandro, auch ihn nennt man Cy. Aus der Zäune zertrümmernden Baseball-Legende wird ein antiker König. Durch das Vermögen der Franchettis aller finanziellen Schwierigkeit ledig, bereist die Familie in den folgenden Jahren Südeuropa und Nordafrika, verbringt aber längere Zeiten immer wieder auch in Virginia oder auf Captiva Island in Florida, wo Robert Rauschenberg ein Atelier hat. Auf dem Familienanwesen Castel Gardena in St. Cristina im Grödnertal beginnt Cy Twombly zu Beginn der 1960er Jahre, sich mit den Mythen, der Philosophie und Dichtung der hellenischen und kretischen Antike zu beschäftigen. Er bereist die Kykladen und Mykonos. Erste historisch aufgeladene, archaisch anmutende, unmittelbar anrührende Objekte entstehen. Er mietet ein Atelier in Rom an und eines in Gaeta auf dem Weg nach Neapel. Twombly hat die Orte gefunden, an denen für den Rest seines Lebens seine Zeichnungen, Gemälde, Plastiken und Fotografien entstehen. Das Glück dieser Fügung ist jedem einzelnen


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seiner Kunstwerke eingeschrieben. „Jede Linie ist die momentane Erfahrung mit ihrer unverwechselbaren Geschichte“, sagt Cy Twombly. Abgesehen von einem Sommeraufenthalt auf Rhodos habe ich (Schande) Griechenland nie bereist. Es hat sich einfach nicht ergeben, auch wenn ich durchaus so etwas wie eine Griechenlandsehnsucht, eine Griechenlandfaszination in mir spüre. Da war es erstaunlich für mich (wie das Leben doch so spielt!), als vor inzwischen fast zehn Jahren meine beiden Töchter anfingen, zusammen mit ihrer Mutter im Sommer nach Griechenland zu reisen, und zwar stets, aus privaten Gründen, an denselben Ort, in die Nähe eines westgriechischen Hafenstädtchens am Golf von Korinth namens Nafpaktos. Von der dort mittlerweile gewohnheitsmäßig von Waldbränden heimgesuchten Küste erhalte ich im Juli und August Post, Fotos, Filmchen, Karten, Nachrichten. Ich versuche mir die Leute vorzustellen, die in Nafpaktos leben, die Luft, die Farben des Meers, die Laute, die Tiere, die Sternbilder. Es soll viele wilde Hunde und Katzen geben, und im Hinterland Schlangen. Wie ist die Geschwindigkeit, in der man miteinander umgeht? Alles Zusammenhänge, die auf Cy Twomblys Bildern und in seinen Plastiken sichtbar werden, ohne nach Bedeutsamkeit zu verlangen. Wie meine Töchter fuhr auch Twombly mit dem Wagen von Athen aus an den Golf. Entlang der Peleponnesküste besuchte er Epidaurus, Korinth, Mykene, Olympia und Sparta, immer wieder aber ließ er auch die Meerenge selbst auf sich wirken. Die Idee, die Seeschlacht von Lepanto zu malen, trug er jahrzehntelang mit sich herum, ehe er 2001, unter dem Eindruck der Ereignisse vom 11. September und ihrer Folgen, daranging, den Zyklus „Lepanto“ zu malen. Zwischen Patras und Nafpaktos, dem alten Lepanto am westlichen Eingang zum Golf von Korinth, trafen am Morgen des 7. Oktober 1571 in Sichtweite der Küstenstädte die seit langem zusammengezogenen und auf ihrem Weg stetig größer gewordenen Flotten des Osmanischen Reichs und der christlichen Mittelmeermächte aufeinander. Rund 250 Galeeren und mehrere hundert kleinere Fusten und andere Segelschiffe auf Seiten der Türken, denen sich mehr als 200 schwere Galeeren und stark bewehrte Galeassen sowie dutzende weitere Segel- und Ruderschiffe der sogenannten Heiligen Liga entgegenstellten, einer Allianz vor allem

aus Spaniern und Venezianern, der jedoch auch kleinere Mittelmeeranrainerstaaten angehörten, wie die Republik San Marco, die dem Vatikan unter Papst Pius V. unterstand. 1571. An die 450 Jahre ist er her, dieser ruhige, lichte Herbstmorgen über den türkisblauen Weiten des Ionischen Meers. Anlass der Seeschlacht von Lepanto, des letzten und zugleich blutigsten Galeerenseegefechts der Geschichte, war vordergründig die zwei Monate zuvor vollzogene Annexion Zyperns durch das Osmanische Reich. Neben Kreta war Zypern die einzige bedeutsame Insel im östlichen Mittelmeer, die noch zur einmal so einflussreichen Handelsmacht der venezianischen Dogen gehörte. Anderthalb Jahre lang hatten Venedig, Spanien, Genua und ihre Alliierten aus taktischem Kalkül heraus, aber auch einer verheerenden Typhus-Epidemie wegen tatenlos zugesehen, wie die Türken der Reihe nach und unter Anwendung von Folter und Gräueln die zypriotischen Städte Paphos, Limassol, Larnaka und schließlich Famagusta unter ihre Kontrolle brachten und mit Anatoliern zu besiedeln begannen. Erst Ende des Sommers 1571 waren Philipp II. von Spanien und der Doge Alvise Mocenigo soweit, eine ausreichend große und, wie sich zeigen sollte, gefechtstechnisch der türkischen zumindest ebenbürtige Flotte in See stechen zu lassen. Religiöse Gründe spielten für die Entsendung der päpstlichen Seemacht jedoch eine mindestens ebenso wichtige Rolle. Wäre Zypern mehr als nur ein Vorwand gewesen, man hätte die Insel wohl kaum bloß zwei Jahre nach der Seeschlacht von Lepanto den Osmanen überlassen. Lepanto gilt bis heute als geschichtlicher Kipppunkt: Alles, was man hatte, wurde den Osmanen entgegengesetzt. Sollte demnach die Ausweitung des Islam ins westlichere Mittelmeer mit allen Mitteln unterbunden werden? Oder ging es doch eher um Eindämmung der osmanischen Handelsstärke? Was wäre passiert, hätten die Türken diese entscheidende Schlacht gewonnen? Die politische und religiöse Inquisition Philipps II., seine Spitzel, Folterknechte und Beamtenschergen hätten das Feld räumen müssen. Die Türken wären europäische Zentralmacht, vielleicht Weltmacht geworden. Oberbefehlshaber der als der Liga weit überlegen geltenden Osmanenflotte war Admiral Ali Pascha, der im Ruf eines taktisch wenig erfahrenen Haudruffs stand. Am Hauptmast seines Flaggschiffs, der Galeere „Sulta-


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na“, war das „Banner des Kalifen“ befestigt, eines der bedeutendsten Symbole des Osmanischen Reichs, ein riesenhafter, gleich einem Drachen im Wind wehender, leuchtend grüner Wimpel, der mit Koranpassagen bestickt und in goldenen Lettern 28.000 Mal mit Allahs Namen verziert war. Auf Ali Paschas Kommando begab sich die „Sultana“ ins unmittelbare Kapergefecht mit dem Flaggschiff der Liga, der Prachtgaleere „La Real“, von deren Hauptdeck aus der junge Kommandant der Armada Don Juan de Austria seine Schiffe befehligte. Die „Königliche“ war 60 Meter lang, ein Ungetüm, das 290 Ruderer antrieben und auf der in der Seeschlacht von Lepanto an die 500 Soldaten kämpften. Der hölzerne, in Spaniens Nationalfarben Rot und Gelbgold lackierte Koloss wurde von zwei nur unerheblich kleineren Galeeren geschoben, um bei seiner Größe überhaupt in der Formation zu bleiben. Diesen das ganze Killergefährt doppelt stabilisierenden Zusatzantrieb nutzten Philipps II. findige Untertanen, um im Vorschiff den Platz der Rudersklaven einzusparen und stattdessen dort weitere Soldaten zu postieren. Wie schnell klar wurde, waren die wendigen, nicht nur im Bug, auch längsseits und so mit weit mehr Kanonen bestückten spanisch-venezianischen Galeassen den behäbigen osmanischen Galeeren in jeder Form überlegen. Von Bord der Schiffe der Heiligen Liga feuerten die Soldaten mit Musketen und Arkebusen, Vorläufern späterer Gewehre, und brachten den Türken, die zum Großteil noch mit Pfeil und Bogen kämpften, in kürzester Zeit schwerste Verluste bei. Ganze Schiffe gingen binnen Minuten in Flammen auf und entzündeten wie aneinandergehaltene, schwimmende Fackeln die Nachbarschiffe, bis ganze Flottenreihen lichterloh brannten. Mit dem Hauptmast der „Sultana“ fing das „Banner des Kalifen“ Feuer und verbrannte. Ein Arkebusenschuss traf Ali Pascha in den Kopf und tötete ihn eine Stunde nach Gefechtsbeginn. Ein spanischer Matrose trennte der Leiche des Admirals den Kopf ab und pflanzte ihn auf einen Spieß, um ihn weit oben in der Takelung der „Real“ zu befestigen. Im Wasser trieben tausende Tote. Es war dunkelrot, orangerot, wenn ein brennendes Schiff durch den Teppich aus toten Türken, Spaniern, Armeniern, Genuesern, Kurden, Venezianern, Kretern, Ägyptern, Zyprioten, Maltesern und Griechen driftete. Den Kommandanten des Flaggschiffs der Republik von San Marco traf ein Brandpfeil ins Auge, als er einmal, der Hitze wegen, sein Helm-

visier lüftete. Pferde schwammen zwischen den Toten, versanken. Schweine und Hühner kreiselnd auf der blutdurchströmten Dünung. Es gab keine einzige Frau auf dem ganzen brennenden Meer. Drei Stunden lang dauerte die Schlacht. In dieser Zeit kamen rund 30.000 Türken und 8.000 Spanier und Italiener um. Claude Simon, der französische Nobelpreisträger von 1985, von dem die eindringlichsten mir bekannten Darstellungen von Kriegswirren stammen, schildert in „Die Schlacht bei Pharsalos“ eine kriegerische Auseinandersetzung, die zugleich an Land, in der Luft und auf dem Wasser stattfindet. Zudem ist das dargestellte Chaos zeitenthoben, da antike, mittelalterliche und Kämpfe zu Beginn des Zweiten Weltkriegs ineinandergeblendet werden. Jagende Menschenmassen beschreibt Simon, „die sich in einer Art kosmischem Ganzen vermischen, ein Mahlstrom, in dem sich der metallische Sturzbach windet, hier und da von flüchtigen Reflexen funkelnd, Treibgut mit sich führend (und ein Reiter erschien, nicht wirklich reitend, sich einen Weg bahnend, sondern dahintreibend wie ein Korken an der Wasseroberfläche: einen Augenblick lang war er sichtbar, von den Wirbeln langsam über dem Durcheinander getragen, als ob alles, Mann, Rüstung, Pferd – wie eine Reiterstatue, wie ein Heiliger oder Gruppen, die in Prozessionen auf den Schultern getragen werden – auf der dunklen Flut schwömme, schwankend, hin- und hergeworfen, vorwärts-, zurückgezogen, dann wieder mitgerissen und schließlich versinkend …)“. Ein einfacher Soldat, der vor Lepanto ein Beiboot verteidigte, wurde später weltberühmt, bekannter als Ali Pascha und Don Juan de Austria, ja berühmter als jeder Sultan, jeder Inquisitor, jeder Nobelpreisträger und jeder Papst. Er sollte später einer der bekanntesten Erzähler überhaupt werden. Damals aber, 24 Jahre jung, segelte er als ein vor Philipps Häschern geflohener, vermeintlicher Italiener an Bord der spanischen Galeere „Marquesa“: Miguel de Cervantes. Knapp drei Jahrzehnte, bevor sein „Don Quijote“ erschien, wurde Cervantes von zwei Kugeln in die Brust und einer in die linke Hand getroffen; seither lautete sein Spitzname „el manco de Lepanto“, Einarmiger von Lepanto. Mehrfach beschreibt Cervantes später, als Schöpfer des Ritters von der traurigen Gestalt, wie furchteinflößend die sichelförmige Aufstellung der osmanischen Flotte gewirkt habe. Über einen wie ihn heißt es in den „Exemplarischen Novellen“: „In der


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Seeschlacht von Lepanto wurde ihm die linke Hand von einer Musketenkugel unbrauchbar gemacht; diese Verstümmelung erachtet er trotz ihrer scheinbaren Hässlichkeit für schön, weil er sie davontrug aus der denkwürdigsten und erhabensten Begebenheit, die verflossene Jahrhunderte nie zu sehen bekamen und künftige nicht zu sehen erwarten dürfen.“ Diese epochale, über die Jahrhunderte hinweg andauernde Symbolik der mörderischsten Seeschlacht aller Zeiten erfüllt Cy Twomblys Gemäldezyklus „Lepanto“ von 2001 mit neuem Leben. Zwölf großformatige Bilder, in lichten, ja explosiven Gelb-, Rot-, Grün- und vor allem Blautönen zeigen dem Betrachter keinen einzigen Menschen, nichts Tierisches, Pflanzliches oder Gegenständliches, sind jedoch alles andere als abstrakt. Schon beim Betreten des halbrunden (sichelförmigen?) Saals im ersten, lichtdurchfluteten Stock des Münchener Museums Brandhorst war ich überwältigt von der Wucht, mit der mir die eigene Bestürzung angesichts einer derartigen Verheerung entgegenkam. Dass dem Zyklus eine kreisförmige, die Zeit darstellende Gestalt innewohnt, macht zum einen die Anzahl der Gemälde deutlich: Jedes der zwölf Bilder steht für eine helle Stunde des verstreichenden 7. Oktober 1571, der ebenso jeder andere Tag hätte sein können. Zum anderen beginnt der Zyklus mit einem fast ausschließlich in Gelb- und Rottönen gemalten Bild und endet auch mit einem solchen: Nur auf dem ersten, vierten, achten und zwölften Gemälde verzichtete Twombly beinahe völlig auf die Verwendung von Blau- oder Grüntönen – hier herrscht Feuer vor. Und nur auf diesen vier voll und ganz wie in Flammen stehenden Bildern sind die Umrisse der Galeeren, Galeassen, Fusten und anderen Begleitschiffe und -boote von oben zu erkennen (wie aus durch die Zeit geflogenen Aufklärungsflugzeugen oder aus der Perspektive von Vögeln, die plötzlich, wie unter Schock stehend, malen können). Die anderen acht Bilder zeigen die Schiffe in Seitenansicht, stark vereinfacht, fast kindlich, doch deutlich als Ruderschiffe erkennbar, die weiter weg oder im Vordergrund, einzeln oder in Flottillenformation, dahintreiben wie durch Luft oder Licht. Die meisten von ihnen in Flammen geschossen. Allesamt ihrer Segel beraubt. Wie verwundet. Wie blutend. Wie in Farben schreiend. Nackt und skelettiert. Flammenbälle stehen darüber. Von Galeeren ist nur Leere geblieben, das

Leben, das Tempo, die Kraft, die Zukunft verwischt, versunken, verdampft. Einzelne Ruder (Ruderer?), einzelne Masten (Matrosen?) schwimmen rumpflos im Golf aus hellblauem Acryl. In noch nicht zur Gänze zerballerten Schiffen klaffen riesige Löcher, das Feuer frisst sich dort ins Innere, wo Menschen sind und schreien und ertrinken oder schreien und verbrennen. Es ist erschütternd, zu sehen, was sich in einem Gesicht vollzieht wie dem meiner Tochter, als ich ihr erzählte, dass all diese zerplatzten, kaputten Formen auf den zwölf Bildern, aus denen die Farbe herunterzufließen scheint (und ja wirklich heruntergeflossen ist!), Schiffe darstellen. Erschütternd ebenso, dass Cy Twombly schon Mitte der 1950er Jahre auf Gemälden, die sich mit der griechischen Geschichte beschäftigen, Schiffe malt, die in ihrer hingekritzelten Eindringlichkeit jenen der „Lepanto“-Bilder ähneln. Twombly malte den Zyklus nicht zufällig 2001, dem Jahr der Anschläge auf das World Trade Center und das Pentagon. Im selben Jahr, in dem die Globalisierung erstmals auch für den Westen kriegerische Züge annahm, ziehen die Gemälde eine geschichtliche Parallele und stellen so auch eine poetisch-bildnerische Mahnung dar. Besonders deutlich wird dies anhand des ob seiner unfassbaren Furiosität zentralen sechsten Bildes. An dessen rechtem Rand lässt Cy Twombly rote, blaue, grüne, gelbe und schwarze Acrylfarbe in zwei unterschiedlich hohen Säulen so über die Leinwand hinunterrinnen, dass sich das Auge des Eindrucks nicht erwehren kann, eine ähnliche Gestalt wie das Äußere der in sich zusammengestürzten New Yorker Zwillings-Türme vor sich zu haben. Eine Galeere mit blutig roten Umrissen scheint dort im Anflug, wo eine andere bereits explodiert sein muss. Licht und Stille, die Cy Twomblys Gemälde erzeugen, sind von derselben Intensität, wie man sie über dem Golf von Korinth noch heute erlebt. Meine Tochter Sonia, die 2001 zur Welt kam, hat sie auf acht Polaroids gebannt: die Stille und das Licht bei Nafpaktos.



Sonia BonnĂŠ, Lepanto, Polaroids (2017)


Der Unterschied zwischen gebundener und ungebundener Sprache ist der zwischen Vers und Prosa. Die wissenschaftliche Beschreibung der Lyrik kennt eine Fülle von Begriffen, mit denen verschiedene teils alte, teils neuere Formen lyrischen Sprechens gefasst werden. Das fängt schon bei einer Sache mit dem wenig eleganten Wort „Versfüße“ an, von denen hier nur Jambus, Trochäus und Daktylus erwähnt seien, und führt zu komplex gebauten Strophen, auf die hier nicht eingegangen werden kann. Interessant ist jedoch, dass die Stummelsätze, vorurteilsfrei betrachtet und in die richtige inhaltliche Anordnung gebracht, in ihrer Rhythmik und Verknappung unverkennbar eine Tendenz zum lyrischen Welterleben ausdrücken, wie man an den folgenden Beispielen unschwer erkennen kann.

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Nullsätze, Stummelsätze und Gesprächskiller

Es gibt Hunderte von Wendungen, die in ganz gewöhnlichen Unterhaltungen vorkommen. Jeder nimmt sie in den Mund, ohne darüber nachzudenken. Gleichwohl geben sie Rätsel auf, schon weil sie ohne Kontext so gut wie unverständlich sind. Von Hans Magnus Enzensberger

Sie gehören eher der mündlichen Rede als der schriftlichen Verständigung an. Ein außergewöhnlicher Reichtum an Tonfällen sorgt dafür, daß keine Mißverständnisse auftreten, obwohl ihre Semantik gewissermaßen in der Luft hängt. Sie setzen ein intimes Hintergrundwissen voraus und sind durchaus von der Situation abhängig, in der sie geäußert werden. Oft ist weder ihr Subjekt noch ihr Prädikat leicht zu bestimmen; auch syntaktisch gehen sie eigene Wege. „Es tut sich was“ oder „Damit hat sich’s“: es ist unklar, wer da etwas tut oder hat, noch dazu in reflexiver Gestalt. „Sei dem, wie ihm wolle“ verleitet insofern zum Grübeln, als weder deutlich wird, wer da will, noch wem gewollt wird oder wem da etwas sei. Auffällig ist, nicht nur bei den Interjektionen, die Vorliebe für die Ellipse. Das Repertoire an Intonationen ist, wie gesagt, reichhaltig. Sie sind es, in denen die soziale Funktion der Nullsätze und Gesprächskiller zu ihrem Recht kommt. Zwar signalisieren nicht wenige dieser Wendungen Überraschung, Erstaunen, gutmütiges Zureden oder schiere Ahnungslosigkeit. Doch die aggressiven Töne überwiegen bei weitem: Ablehnung, Hohn, Überheblichkeit, Rechthaberei, Grobheit und Ironie. Verblüffend vielen Nullsätzen hört man an, daß es ihnen darauf ankommt, das letzte Wort zu behalten. Sie dienen dazu, den Gesprächspartner förmlich niederzubügeln und mundtot zu machen. Dabei wimmelt es von performativen Widersprüchen, die solche destruktiven

Absichten verleugnen möchten: „Ich bin sprachlos“, „Das ist nicht gesagt“ oder „Ich denke nicht daran“ sind Sätze, die sich, ohne mit der Wimper zu zucken, selbst widerlegen. Gelegentlich werfen Nullsätze, gewissermaßen hinter dem Rücken des Sprechers, metaphysische Probleme auf. „Da hört sich ja alles auf“ ließe sich als Ankündigung des Weltendes verstehen, wobei auch in diesem Fall das Passiv irritiert. „Sei doch nicht so“ oder „Du bist mir einer“ – diese Sätze rütteln an der Frage der Identität. „Dem ist nicht so“: wem ist hier anders? Der benefaktive Dativ bezieht sich auf ein unbekanntes Es, dem ein anderes Es nicht so ist – ein ontologisches Mysterium. In aller Unschuld lassen sich manche Nullsätze auf ein Match mit dem Nichts ein, das in Formulierungen wie den folgenden nichtet: „Ich mache mir nichts daraus“, was auf die Umkehrung einer creatio ex nihilo hinausläuft, wenngleich offen bleibt, was hier zunichte gemacht wird. Immerhin ist ein Subjekt der Vernichtung erkennbar. Hingegen gerät man ins Taumeln bei der Frage, welches Das und welches Es gemeint sein könnte, von dem es heißt: „Da fehlt sich nichts“, „Das macht nichts“ oder gar „Das nimmt sich nichts“. Viele solcher Nullsätze kommen in der mündlichen Sprache derart häufig vor, daß man den Eindruck hat, sie seien unentbehrlich für den Dialog. Warum interessieren sie die Linguistik nicht? Vielleicht gerade


Ich für meinen Teil Wenn man mich fragt Ich würde sagen Quasi Nichts für ungut Aber ein bisschen pronto Nicht mein Ding Aber wirklich nicht Eigentlich In keinster Weise Gewissermaßen Unter uns gesagt Prost, Mahlzeit Jetzt mal ganz ehrlich So schaut’s aus Im Endeffekt Schlicht und ergreifend Passt schon Gar keine Frage Im grünen Bereich

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deshalb, weil sie buchstäblich nichts besagen. Sie fungieren einerseits als Gleitmittel, Pausezeichen, Mittel zur Überbrückung von Verlegenheit – andererseits als Stopper, Bremse und Puffer. Hinter ihrer Banalität verbirgt sich eine eigentümliche Metaphysik des Nichts. Eine kleine Auswahl dieser Irrwische muß sich begnügen, weil sonst eine seitenlange Kette den Leser ermüden würde. Wir lassen es lieber bei denen, die mit dem Buchstaben A anfangen: Aber aber Aber dalli! Aber erlauben Sie mal! Aber es kommt noch viel dicker! Aber hallo! Aber immer! Aber jetzt mal im Ernst. Aber klar doch! Aber wie! Aber woher denn! Abwegig! Ach du grüne Neune! Ach du lieber Gott. Ach du liebes bißchen! Ach herrje! Ach ja? Ach komm! Ach nee! Ach so läuft das! Ach so! Ach was! Ach? Aha! Alle Wetter! Allemal!

Allerdings. Alles der Reihe nach! Alles für die Katz! Alles halb so wild. Alles im Eimer! Alles Kacke! Alles Kokolores! Alles nicht so heiß! Alles nur das nicht. Alles nur Wischiwaschi! Alles paletti! Alles Quack! Alles Schamott! Alles was recht ist! Alles wie gehabt. Alles, nur das nicht! Allmächt! Also doch! Also gut! Also sei so lieb! Also so was! Also wirklich! Amen. Ätsch! Au Backe! Au weia! Auch das noch! Auch gut. Auch wieder wahr. Auf keinen Fall! Auf so eine Idee kannst auch nur du kommen. Augenwischerei! Aus der Traum! Ausgerechnet! Auweh!


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Besetzung

Mirko Bonné, Tegernsee Hamburg: Schriftsteller und Übersetzer. Zuletzt erschienen: „Feuerland“ (Erzählungen, 2015), Neuübersetzung von Robert Louis Stevenson: „Der merkwürdige Fall von Dr. Jekyll und Mr. Hyde“ (Novelle, 2015), „Lichter als der Tag“ (Roman, 2017). Marie-Luise-Kaschnitz-Preis 2010, RainerMalkowski-Preis 2014. Sonia Bonné, Hamburg sich durch die Schule.

Hamburg: Lebt in Berlin und quält

Hans Magnus Enzensberger, Kaufbeuren /Allgäu MünchenSchwabing: Poet, Essayist, Publizist. Für sein literarisches Werk erhielt er die wichtigsten Literaturpreise (u. a. Büchner-Preis, Heinrich-Böll-Preis, Ernst-Robert-Curtius-Preis). Paul Fröhlich, Gries am Brenner Innsbruck: Paul Fröhlich wurde am 2.4.1950 in Gries am Brenner geboren und ist am 11.11.1975 gestorben. Nach Abschluss der Hauptschule in Steinach (1956) Lehre als Fernmeldetechniker in Graz, die er wegen einem Herzleiden 1966 abbrechen musste. 1966–1969 Arbeit als Vertragsbediensteter am Landesgericht Innsbruck. 1970 Studium an der Filmakademie Wien (Sparte: Drehbuch). Brach dieses Studium ab und lebte dann als freier Schriftsteller und zuletzt Zeitungsverkäufer in Innsbruck. Berlin. Absolvierte 1969 das MosTatjana Frumkis, Moskau kauer Tschaikowsky Konservatorium. Lebt seit 1990 als freischaffende Musikwissenschaftlerin und Musikpädagogin in Deutschland. Zahlreiche Publikationen insbesondere über russische Musik und Musik aus der ehemaligen UdSSR in verschiedenen Fachzeitschriften, Lexika und Artikelsammlungen, u. a. in MusikTexte, Positionen, MGG, Komponisten der Gegenwart, OSTEUROPA. Einführungstexte für CDs bei ECM, Teldec Classics, Sony Classical; Radio-Aufträge von MDR und WDR; Texte, Konzerteinführungen und Vorträge u. a. bei Festival of Contemporary Music Seattle, Culturescapes Basel, MaerzMusik / Berliner Festspiele, Klangspuren Schwaz_Tirol, Schloss Elmau, Hochschule für Musik und Theater Bern. Autorin von Musikfilmen. Salzburg: Schriftsteller, Essayist, Karl-Markus Gauß, Salzburg Kritiker und Herausgeber der Zeitschrift Literatur und Kritik. Seine Bücher wurden in viele Sprachen übersetzt und oftmals ausgezeichnet, darunter mit dem Prix Charles Veillon, dem VilenicaPreis, dem Georg-Dehio-Preis und dem Johann-Heinrich-MerckPreis. Bei Zsolnay erschienen zuletzt „Das Erste, was ich sah“ (2013), „Der Alltag der Welt“ (2015) und 2017 sein Reisebuch „Zwanzig Lewa oder tot“. Friederike Gösweiner, Rum / Tirol Schwaz: Romanautorin, Librettistin, Literaturkritikerin, Germanistin; ihr Debütroman „Traurige Freiheit“ erschien 2016 im Literaturverlag Droschl, war „Innsbruck liest“-Buch 2017 und wurde mit dem Österreichischen Buchpreis 2016 in der Kategorie Debüt ausgezeichnet; ihr Libretto für Thomas Larchers Oper „Das Jagdgewehr“ wird im Sommer 2018 bei den Bregenzer Festspielen uraufgeführt; Rezensionstätigkeit vorwiegend für „Die Presse“ und „Literaturkritik.de“; zwei wissenschaftliche Monografien sowie mehrere Aufsätze und Lexikonartikel. Berlin. Journalistin und Autorin. Ihr Julie von Kessel, Helsinki erster Roman „Altenstein“ erschien im März 2017 bei Kindler / Rowohlt. Arbeitet seit 2003 beim ZDF Morgenmagazin, davor im ZDF Studio New York. Studierte Politische Wissenschaften an der FU Berlin und der Ludwig-Maximilians-Universität München. 130 / 131

Alexandra Kontriner, Lienz / Osttirol Wien: Studierte Kunstgeschichte in Innsbruck (2003–2008) und absolvierte Kurse an der Universität für Angewandte Kunst in Wien (2006–2008). Daneben und danach Ausstellungsorganisation und kuratorische Assistenz (u. a. Galerie Gugging 2009–2014). Zahlreiche veröffentlichte Texte (u. a. im Allgemeinen Künstlerlexikon / De Gruyter Verlag). Ausstellungen (Auswahl): Galerie artdepot, Innsbruck (2016, 2017); Galerie3, Klagenfurt (2017); Galerie Amart, Wien (2016) sowie mehrere Teilnahmen an Kunstmessen. Publikationen u. a. im Dolomitenstadtmagazin Nr. 18 (Künstlerinporträt) und im Spielzeitbuch des Volkstheaters 2017/2018 (Sujet „Neues Wiener Volkstheater“). www.alexandrakontriner.com Hans Kupelwieser, Lunz am See / NÖ Wien, Hochschule für Angewandte Kunst, Wien (1976–1982), Professur an der TU Graz am Institut für Zeitgenössische Kunst ab 1995; diverse Preise, u. a. Würdigungspreis für Künstlerische Fotografie, 2009; Österreichischer Baupreis für die Seebühne Lunz, 2005; Einzelausstellungen (Auswahl): Smolka Contemporary / Galerie Elisabeth Melichar, Wien (2017); Galerie Leonhard, Graz (2017); Haus der Kunst, Brünn (2016); Galerie Hollenbach, Stuttgart (2016); Kunsthalle Nexus, Saalfelden (2015); Zeit Kunst Niederösterreich, Landesgalerie für zeitgenössische Kunst, St. Pölten (2012); Fotogalerie, Wien (2011); diverse Projekte Kunst im öffentlichen Raum, z. B. Denkmal Jüdischer Friedhof, Krems (1995); zahlreiche Gruppenausstellungen. Matthias Osterwold, Hamburg Berlin und Schwaz: Seit 2012 Künstlerischer Leiter des Tiroler Festivals für neue Musik „KLANGSPUREN SCHWAZ“. 2001–2014 Gründung und Leitung von „MaerzMusik / Berliner Festspiele“. Studierte Soziologie, Volkswirtschaft, Stadtforschung in Hamburg, Musikwissenschaft in Berlin. Arbeitete als Musikkurator 1992–1994 am Podewil in Berlin, 1999–2001 am ZKM Karlsruhe. Künstlerische Leitung diverser internationaler Festivals, u. a. „sonambiente – festival für hören und sehen“ Berlin 1996/2006, „Pfeifen im Walde“ Lucerne Festival 1997, „Festival of Vision – Berlin in Hongkong 2000“, „Kontraste“ Krems 2003–2009, „Beijing Modern Music Festival“ 2007. 1983 Mitbegründer und seitdem Vorstand von „Freunde Guter Musik Berlin e. V.“ zur Förderung experimenteller Musikperformance. Ab 2018 Mitarbeit im künstlerischen Team der Ruhrtriennale. Innsbruck: Schriftstellerin, MusiCarolina Schutti, Innsbruck kerin. Unterrichtstätigkeit in verschiedenen Bereichen, ehem. Mitarbeiterin im Literaturhaus am Inn. Promotion über Elias Canetti. Studium Germanistik und Anglistik / Amerikanistik sowie Konzertgitarre und Gesang. Schreibt Romane, Erzählungen, Hörspiele. Wien: Autor und Journalist, lebt in Christian Seiler, Wien Wien. War Chefredakteur von „profil“ und „Du“ und hat zahlreiche Bücher veröffentlicht, darunter die Biografie „André Heller. Feuerkopf“ und zuletzt mit Hans Söllner dessen Autobiografie „Freiheit muss weh tun“. Berlin: Journalist und Schriftsteller. StuSimon Strauß, Berlin dierte in Basel, Poitiers und Cambridge sowohl Altertumswissenschaften und Geschichte. Arbeitete für die „Basler Zeitung“, die „Süddeutsche Zeitung“ und für die Frankfurter Allgemeine Zeitung. Strauß hospitierte am Theater und war Gastdramaturg, promovierte bis 2016 an der Humboldt-Universität in Berlin. Seitdem ist er Redakteur im Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Im Juli 2017 erschien sein erster Roman: „Sieben Nächte“.


Lisa Trockner, Wolkenstein / Gröden Brixen: Studium der Kunstgeschichte an der Leopold-Franzens-Universität Innsbruck und der Universität von Granada. 2005 Promotion (Dr. phil.). Seit 2006 Geschäftsführerin im Südtiroler Künstlerbund. Ilija Trojanow, Bulgarien Wien: Schriftsteller, Übersetzer, Verleger. Zuletzt erschienen: „Nomade auf vier Kontinenten“, „Der entfesselte Globus“ (bei Hanser); „Macht und Widerstand“, „Meine Olympiade“ (bei S. Fischer). Bruno Walpoth, St. Ulrich St. Ulrich: Holzbildhauerlehre in St. Ulrich / Gröden, 1973–1984 Studium an der Akademie der Bildenden Künste in München bei Prof. Hans Ladner. Mitglied des Südtiroler Künstlerbundes. Einzelausstellungen u. a.: Galerie JanKossen, New York (2017); Galerie Frank Schlag, Essen (2016); Stadtgalerie Brixen (2015); Accessogalleria, Pietrasanta (2015); Kunstverein Münsterland, Coesfeld (2014); Absolute Art Gallery, Knokke (2011). Beteiligungen u. a.: Museo Arte Contemporanea, Cavalese (2017); Legno/Len/Holz, MART Galleria Civica Trento,

(2017); „Künstler im Focus“, Schloss Werdenberg, (2017); „Garten“ 70 Jahre Südtiroler Künstlerbund (2016); Fleming Museum, Burlington USA (2015); Triennale Bad Ragatz (2015); Biennale Gherdeina (2014); „Look at me“ Pinacoteca Gaeta (2013); Biennale Venezia – padiglione Trentino Alto-Adige (2011); Figura“, Franzensfeste (2011); CODA Museum, Apeldoorn (2010). Wien: Lebt und arbeitet in Wien. Wolfgang Wirth, Innsbruck Einzelausstellungen (Auswahl): Galeria Belo-Galsterer, Lissabon (2018); Rabalderhaus, Schwaz (2017); Galería Magda Bellotti, Madrid (2016, 2011); Traklhaus, Salzburg (2012); Charim Galerie, Wien (2009) Galeria Lokal_30, Warschau (2008, 2006). Beteiligungen (Auswahl): parallel – philomena+, Wien (2017); kunstraum proarte, Hallein (2017); Carpe Diem und Galeria Joao Esteves de Oliveira, Lissabon (2017), CentroCentro, Madrid (2017), Alcultura, Algeciras / Spanien (2016); Galeria BeloGalsterer, Lissabon (2014); Kunstverein Salzburg (2013); Charim Galerie, Wien (2013); Galería Fucares, Almagro / Spanien (2012), St. Claude Gallery, New Orleans (2012). www.wolfgangwirth.at

Quart Heft für Kultur Tirol

Kulturzeitschrift des Landes Tirol Herausgeber: Markus Hatzer, Andreas Schett Chefredaktion: Heidi Hackl, Andreas Schett Anschrift der Redaktion: Circus, Kochstraße 10, 6020 Innsbruck (A), office@circus.at Anschrift des Verlags: Haymon Verlag, Erlerstraße 10, 6020 Innsbruck (A) T 0043 (0)512 576300, order@haymonverlag.at, www.haymonverlag.at Geschäftsführer / Verleger: Markus Hatzer Aboservice: T 0043 (0)512 576300, aboservice@haymonverlag.at Bezugsbedingungen: Quart Heft für Kultur Tirol erscheint zweimal jährlich. Jahresabonnement: € 22,– · Einzelheft: € 16,– · Preise inkl. MwSt., zzgl. Versand Die Bezugspreise unterliegen der Preisbindung. Abonnement-Abbestellungen müssen spätestens 3 Monate vor Ende des Kalenderjahres schriftlich erfolgen. Mitarbeiter dieser Ausgabe: Mirko Bonné, Sonia Bonné, Hans Magnus Enzensberger, Paul Fröhlich, Tatjana Frumkis, Karl-Markus Gauß, Friederike Gösweiner, Julie von Kessel, Alexandra Kontriner, Hans Kupelwieser, Matthias Osterwold, Carolina Schutti, Christian Seiler, Simon Strauß, Ilija Trojanow, Bruno Walpoth, Wolfgang Wirth Kuratoren: Ruedi Baur, Othmar Costa, Karin Dalla Torre, Eduard Demetz, Georg Diez, William Engelen, Martin Gostner, Helmut Groschup, Franz Hackl, Hans Heiss, Stefanie Holzer, Sebastian Huber, Gabriele Kaiser, Otto Kapfinger, Walter Klier, Martin Kofler, Gustav Kuhn, Christoph Mayr-Fingerle, Milena Meller, Walter Methlagl, Wolfgang Mitterer, Walter Niedermayr, Thomas Nußbaumer, Dominique Perrault, Wolfgang Pöschl, Helmut Reinalter, Robert Renk, Arno Ritter, Benedikt Sauer, Benno Simma, Gerhard Steixner, Vitus H. Weh, Lois Weinberger, Maria Welzig u. a. Linke Seiten: Karl-Markus Gauß; Grafisches Konzept: Circus Visuell-editorisches Basiskonzept: Walter Pamminger Farbkonzept: Peter Sandbichler Grafische Realisation: Circus, Büro für Kommunikation und Gestaltung, Innsbruck / Wien, www.circus.at Druck: Lanarepro, Lana, Italien Papier: Luxo Samt 135 g/m2 Schriften: Sabon LT Std, Gill Sans Std, Neutral BP Verwendung der Karte „Tirol-Vorarlberg 1 : 200.000“ auf den Seiten 80 / 81 mit freundlicher Genehmigung von Freytag-Berndt und Artaria KG, Kartographische Anstalt, Brunner Straße 69, 1231 Wien (A). Sämtliche inhaltlichen Beiträge dieses Heftes sind Ersterscheinungen, Auftragswerke, Uraufführungen. ISBN 978-3-7099-3422-7 · © Haymon Verlag, Innsbruck-Wien 2018 · Alle Rechte vorbehalten. Die Drucklegung erfolgte mit freundlicher Unterstützung der Abteilung Kultur der Tiroler Landesregierung und der Abteilung Deutsche Kultur der Südtiroler Landesregierung.



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