The Red Bulletin DE 03/22

Page 1

DEUTSCHLAND MÄRZ 2022 € 2,50

JETZT ABONNIEREN: GETREDBULLETIN.COM

ABSEITS DES ALLTÄGLICHEN

WAS DENKT MADE ER SICH IN CHINA DABEI? EILEEN GU

Ein Besuch im Kopf von

ALEX HONNOLD, dem größten Free-Solo-Kletterer der Welt

Jesse Marsch sagt: „Neugier, Chaos und Verletzlichkeit sind Stärken.“

PLUS KARIM ADEYEMI L EO N LÖW E N T R AU T BAT M A N STEVE JOBS SKUNK ANANSIE




E DI TO R I A L

WILLKOMMEN

IM KURS FÜR MOTIVATION

Fürs Foto posen kann Autor Max Reich (re.). Aber tanzen? Fehl­ anzeige. Choreograf Mecnun Giasar (li.) sollte das ändern. Das Ergebnis ab Seite 50.

GESTATTEN, DONALD DUCK

Diese Comic-Ente kennt wohl jeder – aber wem hat sie ihren Ruhm zu verdanken? Die Antwort ab Seite 92.

6

Hollywood-Helden waren schon vor Robert Pattinson Batman. Mehr flatterhafte Fakten auf Seite 14. JIMMY CHIN (COVER), CHRISTOPH VOY, PICTUREDESK.COM, COURTESY OF SKIN

PARTNERWAHL

Keine Ahnung, wie es Ihnen gerade geht, wenn Sie dieses Heft in den Händen halten. Als Optimisten hoffen wir das Beste und laden Sie ein, dieses Heft als Kraftpaket zu betrachten. Wer zum Blättern neigt, legt am besten auf Seite 40 einen Zwischenstopp ein. Dort verrät uns der Künstler Leon ­Löwentraut, 24, wie wir mehr aus unseren Fähigkeiten machen können. Zwischenstopp Nummer zwei: ein Hausbesuch bei US-Kletterer Alex Honnold, 36, der gelernt hat, ohne Angst und Sicherung tausend ­Meter hohe Felswände zu bezwingen. Wie er das macht? Erzählt er ab Seite 42. Zwischenstopp Nummer drei machen wir in England, wo wir Lily Rice getroffen haben. Die 17-jährige Rollstuhl-Motocross-Fahrerin zeigt uns ab Seite 56 nicht nur beeindruckende Kunststücke – sondern auch, dass Freiheit eine Frage der Einstellung ist. Gute Unterhaltung mit der neuen Ausgabe von The Red Bulletin! Die Redaktion

WER BIN ICH?

Jahre nach der Entstehung dieses Fotos in den späten 1980ern sang diese junge Dame 1997 den Welthit „Hedonism“. Die Auflösung gibt’s ab Seite 36.

4

THE RED BULLETIN



I N H A LT The Red Bulletin im März 2022

FREESTYLE

COVERSTORY

42 HIER KOMMT ALEX

Zu Gast bei Alex Honnold, dem größten Free-Solo-Kletterer der Welt – jetzt wissen wir, wie es bei ihm daheim und in seinem Gehirn aussieht.

56 LILY HEBT AB

Lily Rice macht Rückwärts­ salti – mit dem Rollstuhl. Für die Britin bedeutet das Freiheit.

56 VORREITERIN Lily Rice sorgt mit ihren ­ ollstuhl-Kunststücken für Furore. R

FUSSBALL

62 SHOOTING-STAR

Karim Adeyemi ist die neue Hoffnung im DFB-Sturm. Was macht ihn so stark?

PORTFOLIO

20 WELCOME ON BOARD

Carlos Blanchard, 38, ver­ wandelt das Lebensgefühl der Snowboarder in lässige Fotos.

MUSIK

NIGHTLIFE

66 D IE MACHT DER NACHT

Seit neun Jahren dokumentiert Andrew Esiebo die ­Partyzone der nigerianischen Millionen­ metropole Lagos.

Skin, Sängerin der Kultband Skunk Anansie, kämpft seit Jahren für Minderheiten.

FUSSBALL

38 SIE WILL NUR SPIELEN

Lena Güldenpfennig ist Fuß­ ballspielerin und professionelle „FIFA“-Gamerin gleichzeitig.

40 DER MUTMALER

Wie der junge Künstler Leon Löwentraut mit Hartnäckig­ keit die Kunstwelt eroberte.

TANZEN

50 LOCKER AUS DER HÜFTE Mecnun Giasar gibt Stars Tanzunterricht. An unserem Autor scheiterte er allerdings.

6

Tipps für ein Leben abseits des Alltäglichen 79 REISEN. Heiße Tour zu den ­Vulkanen Ätna und Stromboli 84 G AMING. Ein Rückblick auf die ­Geschichte der Videospiele

KUNST

8 GALLERY 14 ZAHLEN, BITTE! 16 FUNDSTÜCK

GUIDE

50 VORTÄNZER Choreograf Mecnun Giasar bringt unserem Autor das Tanzen bei.

66

85 PLAYLIST. 40 Jahre Yello 86 L ESESTOFF. „88 Namen“ von US‑Autor Matt Ruff 88 T IPPS & TRENDS. Eine Brille für Gamer und zeitlose Küchenuhren – unsere Lieblinge des Monats 92 B OULEVARD DER HELDEN. Wie Erika Fuchs Donald Duck zu literarischer Qualität verhalf

17 DAS PHILOSOPHEN-INTERVIEW 18 MEIN ERSTES MAL

96 IMPRESSUM 98 CARTOON

VORSPIELERIN DJ Nana zeigt in Lagos, dass sie den Dreh heraushat.

THE RED BULLETIN

SPENCER MURPHY, CHRISTOPH VOY, ANDREW ESIEBO/PANOS PICTURES, CARLOS BLANCHARD

36 E WIGE REBELLIN­


20

GUTES AUGE Der Spanier Carlos Blanchard macht Snowboard-Fotos mit Gefühl – wie hier am Arlberg. Mehr großartige Bilder: im Portfolio

THE RED BULLETIN

7


KAPSTADT, SÜDAFRIKA

Alles waagrecht? B-Boy Meaty, mit bürgerlichem Namen Dmitri Nell, zeigt beim Red Bull BC OneWorkshop, was Tänzer wie er alles draufhaben. Als zweimaliger Sieger des BC One-Events in Südafrika ist er eine Legende in der Szene seiner Heimat. Kein Wunder also, dass die Moves bei Könnern wie ihm so aussehen, als wäre die Schwerkraft im Urlaub. Aber das stimmt natürlich nicht. Das Geheimnis von B‑Boy Meatys Leichtigkeit besteht in jahrelangem diszipliniertem Training. Instagram: @bboymeaty 8


WAYNE REICHE/RED BULL CONTENT POOL


PRAG, TSCHECHIEN

Brettspieler Keine Frage, die vielen Ein­ schränkungen der letzten Zeit nerven. Man kann aber auch das Beste daraus machen: Der tschechische Fotograf Jan Burkert etwa nutzte die Zeit, um in seinem winzigen Studio mit seinem Kumpel Michal Suchopár und dessen Skateboard zu experimen­ tieren. Was dabei herauskam, sehen wir hier. Instagram: @burysss 10


DAHAB, ÄGYPTEN

Jetzt wird’s dunkel

JAN BURKERT/RED BULL ILLUME, ENRIC ADRIAN GENER/RED BULL ILLUME

DAVYDD CHONG

Im März 2020 war der Spanier ­ nric Adrian Gener gerade am Golf E von Akaba am Roten Meer, um hier, an einem Epizentrum der FreediveSzene, Fotos zu machen. Dabei entstand eine der besten Bild­ sequenzen seines Lebens: zwei ­Fotos der Apnoe-Taucherin Nanna Kreutzmann beim Aufwärmen, hinab ins Dunkle der Tiefe. Beide ­Hintergründe wurden am Com­ puter bearbeitet und zusammengefügt. Fertig ist das Kunstwerk. Noch mehr Bilder: 27mm.net


SINGAPUR

In der Enge des asiatischen Stadtstaats Singapur muss man schon ein gutes Auge haben, um als Fotograf lohnende Motive zu finden. Ebrahim Adam hat hier in der Produktions­stätte für Fertig­ teil-Module eine interes­sante Location entdeckt. Fehlte nur noch eine Idee, die ein außer­gewöhnliches Bild er­ geben würde. Die kam in Gestalt des BMX-Artisten Tay Seng Tee, der hier auf kleinstem Raum trickst. Instagram: ebrahimadamphoto

EBRAHIM ADAM/RED BULL ILLUME

Schöner wohnen


13


Z AHL EN, BI T T E!

BATMAN

Fledermaus Superstar Im März schlüpft Robert Pattinson in „The Batman“ im Kino erstmals in die Rolle des Superhelden. Was der Kult-Flattermann verdient, wie schnell er fährt und wie oft sein Butler entführt wurde.

drehte Andy Warhol den Film „Batman Dracula“ – ohne Erlaubnis von DC Comics. Der Film gilt als verschollen.

Folgen lang schlüpfte Adam West zwischen 1966 und 1968 in der TV-Serie „Batman“ ins Fledermauskostüm.

1

6

Oscar als bester Nebendarsteller gewann Heath Ledger 2009 posthum für seine Rolle als Joker in „The Dark Knight“.

10.000.000

km/h schnell war das fiktive Batmobil, das Michael Keaton 1989 im Kino pilotierte.

14

Einwohner hat Batmans fiktive Heimatstadt Gotham City.

9.200.000.000

Dollar besitzt Bruce Wayne laut Schätzung des ­US-Magazins „Forbes“ – Rang 6 auf einer Liste fiktionaler Charaktere.

542

Mitarbeiter eines kanadischen Energiekonzerns verkleideten sich 2014 für eine Benefiz­ aktion als Batman.

THE RED BULLETIN

HANNES KROPIK

Hollywoodstars waren vor Robert Pattinson als B ­ atman zu sehen: Adam West, Michael Keaton, Val Kilmer, George Clooney, Christian Bale und Ben Affleck.

530

Objekte umfasst die BatmanSammlung von US-Superfan Brad Ladner – das bescherte ihm einen Eintrag ins Guinness-Buch der Rekorde.

Mal wurde Batmans Butler Alfred Pennyworth in den Comics entführt.

1964

120

8226

27

CLAUDIA MEITERT

Filme („The Dark Knight“, 2008 „The Dark Knight Rises“, 2012, „Joker“, 2019) spielten jeweils mehr als eine Milliarde Dollar ein.

Dollar bezahlte ein Sammler 2010 für eine Originalausgabe von „Detective Comics #27“, in dem Batman 1939 erstmals auftauchte.

GETTY IMAGES (4)

3

1.075.000



F U ND ST Ü CK

Zauber des Anfangs: die Apple-Gründer Steve Wozniak (li.) und Steve Jobs 1976

STEVE JOBS UND STEVE WOZNIAK

Der Ur-Apfel

Die Computerplatine, die Steve Wozniak persönlich in seiner Garage in Palo Alto, Kalifornien, zusammenlötete, kostete 666,66 Dollar, gegen Aufpreis gab es noch das schicke Holzgehäuse mit Tastatur dazu. Dann musste nur noch ein Fernseher angeschlossen werden, und es konnte losgehen. Um das Startkapital für die Gründung der Firma Apple zusammenzukratzen, mussten Jobs, damals 21, und Wozniak, 25, Opfer bringen. Jobs verkaufte seinen VW-Bulli, Wozniak seinen Taschenrechner, einen HP-65. Das Exemplar hier auf dem Bild kam im vergangenen November für 400.000 Dollar unter den Hammer.

16

THE RED BULLETIN

DDP IMAGES, PICTUREDESK.COM

Apple I, das allererste Produkt der beiden Apple-Gründer und Pioniere des Personal Computer, April 1976


DAS F IK T IVE PHILO S O PHEN -IN T ERV IE W

HANNAH ARENDT SAGT:

„Spuck in die Hände und fang an zu lieben“ Wir alle sollten mehr in die Liebe investieren: Liebe zum Leben, zu uns selbst … und auch zu unseren Partnern. Aber was bedeutet wahre Liebe konkret? Das erklärt die deutsch-amerikanische Philosophin Hannah Arendt im fiktiven Interview mit dem Philosophen Christoph Quarch.

the red bulletin: Frau Arendt, die Liebe ist von den männlichen Philo­sophen etwas stiefmütterlich behandelt worden. Was sagt die Philosophin dazu? hannah arendt: Ach, wissen Sie, ich würde das nicht gendern. Es gibt durchaus bemerkenswerte Texte von männlichen Kollegen, die sich dem Thema Liebe widmen. Aber in einem Punkt liegen Sie schon richtig. Die Liebe ist tatsächlich ein Aspekt des Lebens, der sich aus männlicher und weibli­ cher Perspektive jeweils etwas anders darstellt. Es ist sicher auch kein Zufall, dass Platon in seinem „Sym­posion“, dem wohl bedeutendsten philosophi­ schen Text zur Liebe, die wichtigsten Gedanken der Priesterin Diotima in den Mund gelegt hat.

BENE ROHLMANN DR. CHRISTOPH QUARCH

Aber ist die Liebe nicht in erster Linie ein ­Gefühl? Ah, das ist es also, was Sie von einer Philo­sophin zu hören erwarten. Aber da muss ich Sie leider enttäuschen. Denn in meinem Denken ist die Liebe eine Kraft des Handelns. Wer einen anderen Menschen liebt, wird schöpferisch und kreativ. Wer das Leben liebt, der wird sich für das Leben engagieren. Untätig rumzu­ hängen und sich in seinen Gefühlswal­ lungen zu aalen ist in meinen Augen kein Zeichen von Liebe, sondern eines von träger Selbstgefälligkeit. Kraft

„Liebe ist eine des Handelns. Wer einen anderen Menschen liebt, wird kreativ.“

Wo liegt der Unterschied zwischen einer männ­ lichen und einer weiblichen Sicht auf die Liebe? In den Reden der Diotima geht es unter anderem um die Frage, was geschehen muss, damit die Liebe – ­beziehungsweise der Eros, wie die Griechen sie nann­ ten – entsteht; genauer: wie der Eros geboren wird. Das scheint mir ein ziemlich weiblicher Zugang zu sein, der darüber hinaus den Vorteil hat, etwas deut­ lich zu machen, was für unser menschliches Leben äußerst wichtig ist. Ich nenne es: die Natalität. Frau Arendt, wären Sie so gut, diesen Begriff für unsere Leser zu erklären? Sehen Sie: Natalität heißt „Gebürtigkeit“. Das ist etwas, was uns Menschen allen gemein ist: Wir wurden von einer Mutter geboren. Das heißt: Wir alle sind irgend­ wann als Neulinge zur Welt gekommen – als neue ­Wesen, unberechenbar, voller Möglichkeiten und ­Potenziale. Das ist äußerst bedeutungsvoll. Denn es ist der Grund dafür, dass wir auch später immer ­wieder neu anfangen können. Zum Beispiel, wenn wir uns verlieben oder wenn „der Eros uns entflammt“ –

THE RED BULLETIN

um es noch einmal mit den Worten der griechischen Philosophie zu sagen. Liebe hat immer etwas mit ­Neuanfang und Neubeginn zu tun. Liebe bringt Ver­ änderung. Liebe ist Handeln.

Das klingt so, als sei die heute gängige Forderung, man ­müsse sich zunächst einmal selbst ­lieben, um dann auch andere ­lieben zu können, nicht nach ­Ihrem ­Geschmack? Mit meinem Geschmack hat das gar nichts zu tun. Ich halte das einfach nur für Unsinn. Liebe, die ihren Namen verdient, ist immer an andere adressiert: an meinen Partner, meine Freunde, vielleicht auch die Natur, ja vielleicht sogar das Leben. Und sie zeigt sich immer nur darin, dass ich etwas für diejenigen tue, denen meine Liebe gilt; darin, dass ich die Ärmel hochkremple, in die Hände spucke und etwas Neues wage. Menschen, die ich liebe, sind solche, mit denen ich etwas an­fangen kann. Mutig und tätig anderen zu begegnen – das ist in meinen Augen der größte Aus­ druck meiner Liebe zum Leben. HANNAH ARENDT (1906  – 1975) gilt als eine der bedeutendsten Denkerinnen des 20. Jahrhunderts. Nach ihrer Emigration in die Vereinigten Staaten lehrte die frühere Studentin von Martin Heidegger an Hochschulen in New York und Chicago. Mit ihrem Buch „Elemente und Ursprünge totalitärer Herrschaft“ wurde sie in den USA zu einer gefeierten politischen Philosophin. CHRISTOPH QUARCH, 57, ist deutscher Philosoph, Gründer der Neuen Platonischen Akademie (akademie-3.org) und ­Autor zahlreicher philosophischer Bücher, zuletzt: „Kann ich? Darf ich? Soll ich? Philosophische Antworten auf alltägliche Fragen“, legenda Q, 2021.

17


M EIN ERST ES M A L

PAROV STELAR

„Ich musste der Lokführer meines Lebens werden“

In seiner Heimat Österreich ist Marcus Füreder erfolg­ ‚Wo ist die Klinik? An der holländischen Grenze? Per­ reich. Sehr erfolgreich sogar. Als Parov Stelar hat er fekt, dann könnten wir dir nächste Woche in Holland zehn Amadeus Awards gewonnen und spielt in den ein paar Gigs aufstellen.‘ Das war ein Aha-Erlebnis. größten Clubs des Landes. Noch erfolgreicher ist er Mir wurde bewusst, dass ich die Selbstbestimmung aber im Ausland: Der Erfinder des verloren hatte. Und ich wusste, Genres Electro­swing spielt in ich muss wieder der Lokführer Frankreich Konzerte vor über sein. Nicht der Passagier in der 100.000 Fans, in den ameri­ VIP-Klasse, der sagt: ‚Bitte noch kanischen iTunes-Charts waren ein Glaserl Champagner.‘ Ich seine Hits auf Nummer 1, seine dachte, ich hätte die Zügel in der Videos auf ­YouTube haben über Hand, aber das war nicht so. Mu­ sikmachen oder Kreativsein war 500 Mil­lionen Views. zu der Zeit unmöglich. Da ging Ihm ist das aber nicht genug. nur Dienst nach Vorschrift. Das Neben dem Musikmachen be­ treibt er eine Plattenfirma und wäre aber ohnehin falsch gewe­ sen. Denn wenn du einfach wei­ einen Verlag, er produziert an­ termachst, kann das böse enden. dere Künstler und entwirft seine Viele Leute, die ein schweres Albumcovers. Ende April er­ scheint sein neues Album Burn-out haben, kehren nicht „Moonlight Love Affair“. Dieser mehr in ihren Beruf zurück. 0:00 –39:20 Tatendrang macht ihn zu einem Parov Stelar der vielschichtigsten Künstler Wie ich wieder zum Lokführer Mein erstes Mal – der Podcast des Landes. Um 2010 herum wurde? Ich war viel im Wald. wäre ihm diese Eigenschaft al­ Ich wuchs im Mühlviertel auf lerdings beinah zum Verhängnis und hatte dadurch von Kindheit geworden. Hier spricht der heute an eine starke Naturverbunden­ „Ich dachte, ich hätte heit, die mir immer viel Trost ge­ 46-Jährige von seiner ersten schweren Krise – und erklärt, die Zügel in der Hand. spendet hat. Und durch Sport! wie er sie überwunden hat. ein Burn-out ja im End­ Aber das war nicht so.“ Weil effekt ein Gedankenkarussell ist. „Vor zehn, zwölf Jahren hat es Du kommst nicht mehr heraus, Multitalent Parov Stelar über das Aha-Erlebnis in seinem Burn-out mich richtig erwischt. Komplet­ du hast keinen Zugriff mehr auf tes Burn-out. Dabei lief es zu der ­andere Bereiche deines Lebens. Zeit richtig gut. Der Zug hatte Fahrt aufgenommen, Und Sport ist ein Ventil, mit dem du kurzfristig Parov Stelar war international gefragt. Das Problem ­abschalten kannst. Und genau darum geht es: den war, ich war totaler Autodidakt, ich hatte mich ins ­Pause-Knopf zu drücken. So lange, wie du es für Musikgeschäft geschmissen, ohne seine Mechanismen ­richtig hältst. Egal was die anderen sagen.“ zu verstehen. Wie führt man ein Label? Wie führt man einen Musikverlag? Wie setzt man ein Live-Programm „MEIN ERSTES MAL“ IST DIE RED BULLETIN-PODCAST-SERIE, auf? Ich machte das alles selbst. Und übersah dabei, in der Heldinnen und Helden über ihre Anfänge sprechen. Die Folge mit Parov Stelar, in der er dass es Zeiten geben muss, in denen du deine Batteri­ auch erzählt, wie er mit den Absagen en auflädst. Irgendwann stand ich auf und bemerkte, von Plattenfirmen sein Klo tapezierte, ich war emotional f­ arbenblind. Es gab keine Farben gibt’s im Podcast-Kanal mehr. Ein dunkler Schatten lag über mir, der sich ein­ von The Red Bulletin – fach nicht ver­ziehen wollte. Eine Therapeutin schickte auf allen g ­ ängigen Platt­ mich dann in eine Burn-out-Klinik in Osnabrück, um formen wie Spotify und auf ­redbulletin.com/podcast Ruhe zu finden. Dann rief meine Konzertagentur an:

18

THE RED BULLETIN

MARCUS FÜREDER

Er ist der erfolgreichste Elektromusiker Österreichs. Vor zehn Jahren war er knapp davor, alles zu verlieren. Hier erzählt Parov Stelar, wie er seine erste große Krise überstand.


RUNNING FOR THOSE WHO CAN`T WITH THE NEW WINGS FOR LIFE WORLD RUN COLLECTION

NOW AVAILABLE REDBULLSHOP.COM/WINGSFORLIFEWORLDRUN


P O RT FO L IO

TALKIN’ ’BOUT MY GENERATION Planung? Vergiss es! Drück drauf, wenn alles passt. Wie der Spanier CARLOS BLANCHARD, 38, das Lebensgefühl der Snowboarder in lässige Fotos verwandelt. Protokoll ANDREAS WOLLINGER

„Das ist eines meiner aktuellen Lieblingsbilder, weil es alles zeigt, was ich an unserem Sport so mag: Dynamik, Feeling und jede Menge Spaß.“ Airolo, Schweiz, 2018

Der Snowboarder Elias Elhardt aus Ober­ staufen fetzt über eine Schneekuppe. Das Foto entstand bei Dreharbeiten zu Elhardts erstem Filmprojekt „Contraddiction“.

20

THE RED BULLETIN


THE RED BULLETIN

21


P O RT FO L IO

„Wenn du mit Typen wie Elias Elhardt unterwegs bist, weißt du, dass es spontan und lustig wird. Alles andere ergibt sich von selbst. Planung ist ohnehin überbewertet.“

Lofoten, Norwegen, 2018

Elias in der Luft bei einem Frontside 720, einer zweifachen Drehung um die Hochachse

22

THE RED BULLETIN


„In diesem abgelegenen Resort mussten wir zu Fuß zum Abendessen gehen. Alex Tank nahm sein Board, um schneller da zu sein – für mich zeigt das Bild die Ausgesetztheit des Menschen in der Natur.“ Brezovica, Kosovo, 2019

Der Allgäuer Snowboarder Alex Tank stapft aus dem Hotel in den Schneesturm – Sekunden bevor er anschnallt.

THE RED BULLETIN

23


P O RT FO L IO

„Als ich dieses Bild aufnahm, hatte es minus 25 Grad. Ich hatte schon Angst um meine Kamera.“

Pyhä, Finnland, 2021

Die Niederländerin Lisa Bunschoten bei einem Boarder­cross-Rennen. Das Bild stammt aus Carlos Blanchards Buch „Dreams“ über para­ lympische Snowboarder.

„Eine Splitboard-Tour zu so einem Aussichtspunkt kann anstrengend sein. Aber die Aussicht war sie allemal wert.“ Lofoten, Norwegen, 2018

Ein Bergrücken auf der Inselgruppe der Lofoten. An manchen Stellen ragen die steinernen Giganten bis zu 1200 Meter hoch aus dem Meer. Splitboards lassen sich für den Aufstieg auseinandernehmen, was Snowboardern Skitouren ermöglicht.

24

THE RED BULLETIN


„Das ist Knut Eliassen, das kreative Hirn des SnowboardTeams Nitro. An diesem Tag suchten wir bei Regen eine interessante Location. Knut ist so voller Energie, dass er selbst bei der Kälte kein T-Shirt braucht.“ Lofoten, Norwegen, 2018

Snowboard-Marketing-Manager Knut Eliassen posiert für ein Porträt. Fotograf Blanchard sagt: „Seine Quirligkeit ist ansteckend.“

THE RED BULLETIN

25


P O RT FO L IO

26

THE RED BULLETIN


„Spannender als die Gesichter der Teilnehmer fand ich hier die mit Tape an die Beine geklebten Startnummern.“

Mount Baker, Washington (Staat), USA, 2019 Teilnehmer am Start des „Legendary Banked Slalom“. Das Rennen wird seit 1985 ­durchgeführt und gilt als Mekka für Snowboarder.

Titel

Ort, Datum

„Faccullentio. Ita pro dolore doloraectur? Bearum et eatiusa antecea arum nullaccus, sus. Rum ducia venis magnihit utemFaccullentio. Ita pro dolore doloraectur? Bearum et eatiusa antecea arum nullaccus, sus. Rum ducia venis magnihit utem vitionsequi doluptas niandel et anda venihil latur, cum que nus vitionsequi doluptas niandel et anda venihil latur, cum que nus“

THE RED BULLETIN

27


P O RT FO L IO

„Mach es für die Show, heißt es. Wenn einer der besten Snowboarder der Welt loslegt, steht er wie hier sofort im Mittelpunkt.“ Brezovica, Kosovo, 2019

Elias Elhardt entzückt das ­Publikum mit einem Sprung vom Dach der Hütte (rechts im Bild).

28

THE RED BULLETIN


THE RED BULLETIN

29


P O RT FO L IO

30

THE RED BULLETIN


„Was man hier nicht sieht: Lisa Bunschoten trägt eine Prothese unterhalb des linken Knies. Das verändert ihre Bewegung, nicht aber das Tempo und den Hunger nach Erfolg.“ Flachauwinkl, Österreich, 2020 Die paralympische Snowboarderin Lisa Bunschoten aus den Niederlanden bei einem Trainingslauf

THE RED BULLETIN

31


P O RT FO L IO

„Das habe ich nach einem langen Tag beim letzten Licht aufgenommen. Was kann man mehr verlangen als so einen Sonnenuntergang an einem derart fantastischen Ort?“ Nationalpark Torres del Paine, Chile, 2017

Bergsilhouette mit Wolkenhintergrund. Blanchards Glück: Das Foto war das allerletzte einer Filmrolle.

32

THE RED BULLETIN


„Ich liebe es, Menschen in einem unvorbereiteten Moment zu erwischen. Man sieht dann mehr von ihrer Persönlichkeit.“ Kitzsteinhorn, Österreich, 2018

US-Snowboarderin Hailey Langland kurz nach einem Shooting auf dem Parkplatz, noch ganz in Konzentration gefangen

THE RED BULLETIN

33


P O RT FO L IO

„Ein Bild, das meinen Zugang zu Fotografie erklärt. Klar ist die Gegend schön – aber alles, was am Ende zählt, ist die Action.“

Lofoten, Norwegen, 2018

Elias Elhardt bei einem Sprung nah am Wasser vor der malerischen Kulisse der Kapelle von Sildpollnes

34

THE RED BULLETIN


DER FOTOGRAF

CARLOS BLANCHARD Das Talent zum Fotografieren liegt bei Carlos Blanchard in der Familie: Schon sein Großvater und Vater waren passionierte Lichtbildner. Bereits als Jugendlicher begeisterte er sich dank der vom Großvater überlassenen Nikon-Kamera

Snowboard-Fotokünstler Blanchard im Nationalpark Torres del Paine, Chile

für diese Ausdrucksform. Trotzdem fand Carlos, geboren im spanischen Saragossa, mit Anfang zwanzig erst relativ spät zu seiner Berufung. In der Folge erhielt er eine gediegene Ausbildung und etablierte sich als Snowboard-Fotograf. Als er vor zehn Jahren nach Innsbruck über­ siedelte, hob seine Karriere richtig ab. Der heute 38-Jährige ist immer bestrebt, seinen eigenen, unverwechselbaren Stil zu etablieren und ein gutes Auge für oft übersehene Details zu ent­ wickeln, die ein Foto erst jene Geschichten erzählen lassen, die uns inspirieren. „Ich glaube an die Kommunikation zwischen der Realität und der Vorstellungskraft“, sagt Carlos. „Ich möchte den Betrachter weder verstören noch beeinflussen, ich will nur meine Freude an der Suche nach und dem Einfangen von speziellen Momenten teilen.“ carlosblanchard.com

THE RED BULLETIN

35


Musik

Deborah Dyer auch bekannt als Skin von Skunk Anansie, Albtraum der Chauvinisten, verraten von Johnny Rotten, geadelt von der Queen. 54 Jahre im Geist der Rebellion. Text WILL LAVIN

Foto TOM BARNES

Skin hat gute Laune. Das liegt daran, dass die 54-jährige Sängerin, mit bürgerlichem Namen Deborah Anne Dyer, nach 19 Monaten corona­ bedingter Trennung endlich wieder mit ihren Freunden von der Band Skunk Anansie vereint ist. Die vier Briten haben sich im Voltaire Road Recording Studio im Südwesten Londons eingefunden, um an neuen Songs zu arbeiten, die wohl in einem Album münden werden. Mehr als 25 Jahre ist es her, dass Skunk Anansie Mitte der Neunziger im Zeitalter des Britpop gemeinsam mit Bands wie Blur oder Oasis ins Scheinwerferlicht traten. Von Anfang an waren es die extra­vagante, furchtlos-selbstbewusste Erscheinung und die androgyn anmutende Falsettstimme von Skin, die das ­Quartett unverwechselbar machten.

Ein Buch als Mutmacher

Dazu kam, dass Skin prinzipiell keinem Ärger ausweicht, wenn es darum geht, sich für benachteiligte Minderheiten einzusetzen. „Ich als Gesicht einer Rockband – das hat eine Menge Leute unangenehm ­berührt“, erinnert sie sich heute. Wobei „unangenehm berührt“ eine höfliche Umschreibung ist für die Anfeindungen, denen Skin sich zuweilen ausgesetzt sah. Eine schwarze Frau, offen bisexuell, das war damals für manche Menschen eine unerträgliche Provokation. Doch davon ließ sich Skin nie ein-

36

schüchtern. Sie nahm den Kampf auf und ging immer dorthin, wo es besonders wehtat; prangerte Rassismus, Sexismus oder Missbrauch an, wo immer sie konnte – unter anderem in ihren Songs. Das rief zum Teil heftige Re­ aktionen hervor. In ihrer im Herbst des v­ origen Jahres erschienenen Auto­biografie „It Takes Blood and Guts“ („Es erfordert Blut und Mut“) erinnert sich Skin mit Schrecken an eine Australien-Tour 1996 mit den Sex Pistols, bei der Neonazis im ­Publikum sie mit dem Hitlergruß empfingen und Sprechchöre an­ stimmten: „Runter von der Bühne, du schwarze Schlampe!“

Wie man zur Rebellin wird

Was sie damals aber fast noch mehr kränkte: dass Sex-Pistols-Frontmann Johnny Rotten zu alldem kein Wort verlor. „Ich glaube, dass auch das eine Art von stiller Gewalt sein kann“, sagt Skin, und in diesem Augenblick leuchten ihre Augen auf wie Scheinwerfer. „Ohhh, das ist gut!“, ruft sie, begeistert von der poetischen Eingebung. „Schreib das auf“, sagt sie zu Schlagzeuger Mark Richardson, der schräg gegenüber am Mischpult sitzt. Einerseits haben ihre trotzige Art und der Geist der Rebellion Skin zu einer Ikone gemacht, andererseits muss so eine Attitüde auf die Dauer ziemlich anstrengend sein, oder? Nein, sagt Skin, im Grunde habe sie immer nur sich selbst treu bleiben wollen. „Ich habe nie wirklich das Opfer gespielt. Ich denke, es ist bes-

ser, die Dinge positiv zu sehen. All diese Widrigkeiten waren schließlich mit ein Grund, warum die Band so erfolgreich sein konnte.“

Sich anbiedern bringt nichts

Überhaupt – Integrität und Authen­ tizität sieht Skin als die wichtigsten Zutaten ihrer Karriere: „Sich einem Publikum oder den Kritikern anzubiedern, um Erfolg zu haben, bringt nichts, wenn du dann jemand sein musst, der du nicht bist“, meint sie. „Ganz ehrlich: Was ist Erfolg? Musik zu machen und sie zu veröffent­ lichen – das ist für mich Erfolg.“ Sogar das britische Königshaus weiß Skins Verdienste mittlerweile zu würdigen – sie wurde im Juni vergangenen Jahres als Officer in den OBE aufgenommen, ein Ritterschlag der Queen. Sieht sie sich eigentlich selbst als Wegbereiterin für Diversität und Feminismus? „Rückblickend betrachtet sehen wir natürlich unseren Einfluss. Aber damals hatten wir keine Ahnung, da war es einfach nur verrückt, eine schwarze, lesbische Sängerin zu haben, die nicht sexy war und keine winzigen Outfits trug. Heute ist es cool, woke zu sein und sich für alles Schwarze, Schwule und Transsexuelle zu inter­essieren. Ich finde das verdammt großartig. Also ja: Jetzt begreife ich, dass wir Wegbereiter waren.“ Nun muss Skin aber wieder ins Studio, um mit den Aufnahmen ­weiterzumachen. Sie macht keinerlei Anstalten, es etwas langsamer an­gehen zu lassen. Hat sie je ans Aufhören gedacht? „Die Frage ist: Wann soll man auf­ hören? Und wie?“, sagt Skin mit einem unglaublich gewinnenden Lächeln. „Und außerdem: Warum sollte ich überhaupt aufhören?“ Die Tour von Skunk Anansie startet Anfang März in Polen; alle Live-Termine unter: skunkanansie.com

THE RED BULLETIN


„Integrität – das ist der wichtigste Baustein einer Karriere.“ Pop-Ikone Skin, 54, beweist das seit mehr als einem Vierteljahrhundert.

THE RED BULLETIN

37


Fußball

spielt Fußball in der U23 von RB Leipzig, zugleich ist die Zwanzigjährige seit kurzem professionelle „FIFA“-Gamerin in der Virtual Bundesliga – als erste Frau überhaupt. Text MAXIMILIAN REICH

Eigentlich ist Lena Güldenpfennig ja Mittelfeldspielerin in der U23 Fußballmannschaft von RB Leipzig. Aber im März 2020, im ersten Lockdown, hat sie aus Langeweile zu Hause so oft das virtuelle Fußballgame „FIFA“ auf der PlayStation gespielt, bis sie schließlich so gut war, dass sie sogar ein Turnier des DFB gewann. Am nächsten Tag kam von ihrem Arbeitgeber das Angebot, zusätzlich zu ihrer Fußballkarriere auch Mitglied im neuen eSports-Team von RB Leipzig zu werden. Als erste Frau in der virtuellen Bundesliga. THE RED BULLETIN: Welcher Job steht auf deiner Visitenkarte: Gamerin oder Fußballerin? Lena Güldenpfennig: Beides. Wobei ich mich in erster Linie als Fußballerin betrachte, das spiele ich schon mein Leben lang. Das Gaming kam ja erst vor kurzem hinzu. Sind Fußballer automatisch die besseren „FIFA“-Spieler? Es muss nicht, aber kann natürlich von Vorteil sein, wenn man die Taktiken beim Fußball kennt. Und zum Beispiel weiß, dass bei einer Auf­stellung mit einer Raute im Mittelfeld der ­offensive Mittelfeldspieler zusammen mit den Stürmern den Gegner schon im Spielaufbau angreift. Solche Verhaltensmuster hat „FIFA“ im Spiel übernommen.

38

Trotzdem bist du die einzige Kickerin, die auch in der virtuellen Bundesliga spielt. Warum? Fußball spielen ja schon nicht so viele Mädchen und „FIFA“ erst recht nicht. Und die Kombi gibt es dann eben nur einmal in Deutschland. Dazu kommt dann auch noch der Zeitaufwand, der für beides nötig ist. Aber es macht mich schon stolz, zu sehen, dass immer mehr Frauen virtuell Fußball spielen. Da sehe ich mich auch ein wenig als Vorreiterin. Wie sieht dein Tagesablauf aus? Um 8 Uhr gehe ich in die Berufsschule für meine Ausbildung als Erzieherin. Um 13 Uhr komme ich nach Hause und setze mich meistens schon mal eine Stunde an die Kon­ sole. Um 16 Uhr habe ich 90 Minuten Fußballtraining, und danach spiele ich noch mal ein bis zwei Stunden „FIFA“. Außer an Tagen vor einem wichtigen eSports-Spiel, dann sind es eher fünf bis sechs Stunden. Klingt ziemlich stressig. Schon mal darüber nachgedacht, eins von beiden aufzugeben? Nee, gar nicht. Dafür macht es viel zu viel Spaß. Was macht mehr Spaß: ein Sieg auf dem Rasen oder im Game? Ein Sieg auf dem Rasen ist schon schöner. Das Mannschaftsgefühl ist einfach stärker, weil du mit deinen Mitspielerinnen jubelst. Wobei auch virtueller Fußball ein Teamsport ist.

Wie entscheidet sich, wer von euch fünf spielen darf? Ein Spieltag in der virtuellen Bundesliga besteht aus drei Partien. Einer auf der Xbox, einer auf der PlayStation und dann noch einem Doppel auf der PlayStation. Es ist abgesprochen, dass Gaucho und Umut (Kapitän Richard „Gaucho10“ Hormes, 28, und Umut Gültekin, 19; Anm.) die Spiele spielen und ich mir erst mal von der Bank aus ein paar Dinge abgucke und einspringe, wenn einer von den Jungs krank ist oder wir bereits genug Punkte haben, um uns für die Endrunde zu qualifizieren. Ansonsten spiele ich vor allem auf Turnieren. Kann man davon leben? Es gibt auf jeden Fall Menschen, die davon leben können. Bei mir ist es gerade noch ein Nebenverdienst. Um mehr zu verdienen, müsste ich noch höher dotierte Turniere gewinnen wie die EM oder WM und mehr streamen, um mehr Leute auf mich aufmerksam zu machen. Und natürlich besser spielen, um einen noch besseren Vertrag mit einem höheren Monatseinkommen zu bekommen. Ärgern sich die Jungs, wenn sie gegen eine Frau verlieren? Manche reagieren, als wäre es ein Weltuntergang, gegen ein Mädchen zu verlieren, und andere sagen: „Respekt! Ich ziehe meinen Hut.“ In der virtuellen Bundesliga wurde ich aber super aufgenommen. Viele der Spieler haben mich kontaktiert und mir viel Glück gewünscht. Es ist eben auch für sie etwas Besonderes, eine Frau dabeizuhaben. RB Leipzig virtuell: twitch.tv/rblzgaming Weitere Infos: virtual.bundesliga.com

THE RED BULLETIN

RB LEIPZIG/CARSTEN BEIER

Lena Güldenpfennig

Ach so? Ja, ich habe ja noch vier Mitspieler im Team und einen Trainer.


„Manche reagieren, als wäre es ein Weltuntergang, gegen ein Mädchen zu verlieren.“ Lena Güldenpfennig, 20, über Spiele gegen Männer bei „FIFA“-Turnieren

THE RED BULLETIN

39


Kunst

beschloss mit zwölf Jahren, Künstler zu werden. Heute hängen seine Bilder im Palazzo Medici in Florenz. Hier erzählt der Star-Maler, 24, wie man sein Talent entfaltet. Protokoll ANDREAS ROTTENSCHLAGER

Foto SEBASTIAN DRÜEN

London, St. Petersburg, Venedig: Wenn Leon Löwentraut seine Ausstellungen eröffnet, blitzen Kameras, zücken Kunstfans ihre Smartphones. Der 24-jährige Düsseldorfer ist Deutschlands Star­ maler der In­stagram-Generation. Für die UNESCO schuf er 2018 einen siebzehnteiligen Gemäldezyklus. Im Palazzo Medici Riccardi in Florenz (erbaut 1444) stellte er 2019 als bisher jüngster Künstler aus. Löwentraut ist Autodidakt. Seine bunten Acrylbilder im Stil moderner Expressionisten sind bei Sammlern weltweit begehrt. Beim Festival für Talente „Organics Talentville“ in Wien erzählte er, wie man das Beste aus seinem T ­ alent herausholt. Hier ein Best-of:

1. Leidenschaft schlägt alles

„Ich habe mit sieben Jahren be­ gonnen zu malen. Mit zwölf Jahren wusste ich: Ich will Künstler werden. Mir hat schon damals gefallen, dass ich mich beim Malen nicht ­erklären musste. Denn mit dem Pinsel in der Hand war ich niemandem Rechen­ schaft schuldig. Mein großes Problem zu Beginn: In meiner Fami­lie hatte niemand Kontakte in die Kunst­welt. Also hab ich selber an die Türen der Galerien geklopft. Ich hab gesagt: ‚Hört mal zu: Mein Name ist Leon Löwentraut. Das sind meine Bilder.‘ Ich trug d ­ amals immer eine

40

Mappe bei mir mit Kopien meiner Werke. Auf manchen Ab­zügen war die Farbe verblasst. Ich hatte nicht einmal Kohle für Druckerpatronen. Aber das war mir egal. Denn wenn ich zu hundert Prozent hinter dem stehe, was ich tue, kommt im Leben alles zurück.“ „Ich bekam anfangs viele Ab­ sagen. Aber ich habe weitergemacht, mehr Bilder gemalt, weiter an Türen geklopft, bis eine Galerie schließlich sagte: ‚Wir glauben, du hast Potenzial.‘ Meine erste Ausstellung fand 2013 in Aying nahe München statt – in einer Scheune. Für mich bedeutete das die Welt. Wenig später berichteten die ersten Zeitungen über mich. Dann das Fernsehen. Mit siebzehn hatte ich meine erste Solo-Show in Notting Hill, London. Später wurden meine Bilder im Puschkin-Museum in St. Petersburg gezeigt oder im Headquarter der UNESCO in Paris.“

2. Selbstlob ist voll okay

„Egal welches Talent du entwickeln willst: Fürchte dich nicht vor deinem Selbstvertrauen. Es gibt Leute, die sagen, Eigenlob stinkt. Aber das ist Schwachsinn! Du musst jeden Morgen aufstehen und sagen: ‚Das, was ich tue, ist gut!‘ Diese Botschaft ist mir sehr wichtig. Denn es gibt viele Leute da draußen, die verdammt viel Talent haben, aber niemals bekannt werden. Weil sie vielleicht nicht den Mut haben rauszugehen. Weil sie Angst haben, sich zu zeigen. Weil sie Angst haben vor Kritik.“

3. Lass nur das Beste raus

„Junge Talente hadern oft mit ihrem Perfektionismus. In meinem Fall: Wann ist ein Bild gut genug? Es gibt Bilder, die entwickeln sich schnell. Es gibt andere, die brauchen länger. Ich male meist mehrere gleichzeitig. Der Prozess zieht sich manchmal über Monate. Es gibt auch Bilder, die wollen nicht fertig werden, die halten mich von anderen Bildern ab. Diese Bilder stelle ich in die Ecke. Wenn sie mich weiter ärgern, drehe ich sie um. Lassen sie mich dann immer noch nicht in Frieden, trete ich rein. Richtig gehört: Ich zerstöre sie, weil sie für mich keine Daseinsberechtigung mehr haben. Das klingt extrem. Aber wer in meine Aus­ stellungen kommt, soll nur die besten Werke sehen. Ich zeige nur Bilder, hinter denen ich zu hundert Prozent stehe. Denn für mich braucht es drei Dinge, um ein Talent zu entfalten: Disziplin, Liebe und Authentizität.“ Leons aktuelle Ausstellung: „Unstoppable“, noch bis zum 28. Februar in der Gerhardt Braun Gallery in Palma de Mallorca. Alle Infos: leonloewentraut.de

Leon Löwentraut als Speaker am Festival für Talente ORGANICS TALENTVILLE in Wien. Die Talks aller Vortragenden als Video: organicsbyredbull.com/talentville

THE RED BULLETIN

MATTHIAS HESCHL/RED BULL

Leon Löwentraut

„Es wird immer Leute geben, die nicht gut finden, was du tust. Aber es wäre ja auch langweilig, wenn jedem deine Arbeit gefällt. Wenn ich kritisiert werde, merke ich oft, dass ich etwas richtig mache. Denn alles, was neu ist, wird diskutiert – weil die Menschen noch nicht wissen, wie sie damit umgehen sollen. Solche Diskussionen auszulösen ist eine wichtige Funktion von Kunst.“


„Ich zerstöre Bilder, die mich an der Arbeit hindern.“ Maler Leon Löwentraut, 24, hier bei einer Ausstellung auf Mallorca, über Qualitätskontrolle

THE RED BULLETIN

41


Klettern

ALLES IM GRIFF

Alex Honnold an einem Überhang im kalifornischen Yosemite Nationalpark: Selbst kleine Fehler sind in seiner Welt verboten.

42


Jenseits der Angst Der Amerikaner ALEX HONNOLD, 36, klettert ohne jede Sicherung auf tausend Meter hohe Felsen. Wie macht er das? Und was denkt er sich dabei? Hausbesuch bei einem Außerirdischen. Text HEATHER BALOGH-ROCHFORT

Fotos JIMMY CHIN


Klettern

E

44

Früh übt sich: Kletterstar Honnold 2003 im Alter von 17 Jahren mit seiner Cousine im Garten seines Onkels in Kalifornien

Leistungen im Klettern vollbringt, der große und kleine Felsen erklomm, mit und ohne Seil. Der 2017 als erster Mensch die tausend Meter hohe, beinahe­senkrechte Steilwand El Capitan im YosemiteNationalpark ohne Sicherung hinauf kletterte. Der oscarprämierte Doku­ mentarfilm über dieses Husarenstück machte ihn zum globalen Kletterweltstar. Aber jetzt beginnt ein ganz neues ­Kapitel seines Lebens. Ehe. Kinder. Klettern. Free Solo. Wie geht sich das alles aus?

Familie

„Ich glaube, ich war auf jedes meiner Kletterabenteuer besser vorbereitet als auf mein Kind“, sagt Honnold und lacht. „Vor einem Kletterprojekt lese ich tonnen­ weise Bücher, lerne, trainiere. Bücher über Kindererziehung habe ich noch kein einziges gelesen. Wir werden rausfinden, wie es geht, während wir es tun.“ An ihrem ersten Hochzeitstag gaben Honnold und seine Frau Sanni McCand­ less-Honnold auf Instagram bekannt, dass sie im Februar 2022 eine Tochter erwarten. Kletterfans aus der ganzen Welt gratulierten den beiden unter

ihrem Posting, aber unter die Gratulationen mischten sich auch Zwischentöne. ­Fragen, Zweifel, was denn all das für den Kletterer Alex Honnold und seine einzigartige Karriere bedeuten würde. Honnold ist für viele der wichtigste Kletterer auf diesem Planeten, er ist das Gesicht eines Sports, der selbst in seinen entspanntesten Momenten kaum mehr als ein paar Millimeter Sicherheits­ abstand zum Tod gewinnt. Wie passt so ein Sport zur Rolle eines Familienvaters?­ Für einige seiner Fans gar nicht. Für Honnold selbst sehr wohl. Er hatte i­ mmer geplant, eine Familie zu gründen – un­ abhängig davon, was das für sein Klettern bedeuten würde.

„Ich war auf meine Kletter­ abenteuer besser vorbereitet als auf mein Kind.“ THE RED BULLETIN

COURTESY OF ALEX HONNOLD

in ganz normales Wochenende im Hause Honnold. „Ist das dein Rucksack oder der von Jimmy?“, fragt Alex Honnold im Vorbeihuschen. Ich bin mir kurz nicht sicher, wie ich darauf antworten soll. Jonathan Griffith, Honnolds Freund und Kameramann von Dokumentationen wie „Der Alpinist“ und dem brandneuen „Alex Honnold: The Soloist VR“, kommt mir zu Hilfe: „Jimmy Chin treibt sich ­irgendwo hier auf dem Grundstück her­ um.“ (Chin ist Kletterer, Fotograf und Oscar-Gewinner; er war Regisseur des Honnold-Epos „Free Solo“; Anm.) Es ist ein milder Samstagvormittag im November, ich sitze gemütlich am Esstisch in Honnolds Haus in der Nähe von Las Vegas. Durch die Fensterfront bietet sich mir ein unglaublicher Ausblick auf leuchtendrote Sandsteinfelsen. Trotzdem interessiere ich mich mehr für das, was im Raum passiert. Es ist spannend, Honnold bei etwas so Banalem wie Aufräumen zu beobachten: Wenn er in seinem Wohnzimmer mit ein paar Handgriffen für Ordnung sorgt, macht er das mit der gleichen Präzision, mit der er auch tausend Meter hohe Felswände ohne Seilsicherung erklimmt. Hier sieht man, was Honnold ausmacht: Er ist keiner, der herumredet. Er macht die Dinge einfach. Honnold verräumt Chins Rucksack in der Küche, da stellt sich ihm das nächste Hindernis in den Weg: eine Babyspielmatte. Einen Augenblick hält er verdutzt inne, als würde er sich fragen, was erd­ farbene Babysachen in seinem Wohnzimmer zu suchen haben. Dann zuckt er mit den Schultern und verstaut das Ding im Schrank. Auf dem Weg zurück in die Küche hält er kurze inne, um einen ungefähr fünf Zentimeter dicken Stapel Fanpost durchzusehen. Die ganze Szenerie ist ein Muster­ beispiel für jene Effizienz, die Alex ­Honnold auszeichnet, jenen Mann, der seit 25 Jahren die unglaublichsten


ER HAT GUT LACHEN

Alex Honnold steht 2022 vor einem neuen Lebensabschnitt. Er wird erstmals Vater, und seine erste Virtual-RealityKletter-Doku erscheint.


ER WEISS, WAS ER TUT

Honnold im Juni 2017 bei seiner Free-SoloBesteigung von El Capitan im YosemiteNationalpark. Wenn er ohne Sicherung klettert, kann er jeden Griff auswendig.


Klettern

MEDICAL UNIVERSITY OF SOUTH CAROLINA

„Ich bin quasi auf alles vorbereitet“, sagt er, nachdem er sich auf eines der zwei runden Sofas in seinem Wohn­ zimmer gesetzt hat. „Könnte sein, dass die Vaterschaft das Klettern für mich ver­ ändert. Könnte sein, dass sie es nicht tut. Ich gehe ja schon jetzt keine unnötigen Risiken ein.“ Wie auf Stichwort unterbricht ein zaghaftes Klopfen die Unterhaltung. Honnold hebt seinen Blick zum Fenster hinter mir. Dort hält eine freundliche junge Frau ein glücklich brabbelndes Baby im Arm, das Spuckebläschen gluckst und mit den Beinchen strampelt. Als sie die Kameras im Raum sieht, duckt sich die Frau hinaus, Honnold entschul­ digt sich. „Tut mir leid, das ist meine Schwägerin. Sie wohnt mit ihrem drei Monate alten Baby im anderen Haus auf dem Grundstück“, sagt er. „Das ist mein Übungsbaby.“ Honnold fühlt sich mit dem Konzept von Familie und vor allem mit Kindern wohl. Was eigentlich keine Überraschung ist, wenn man seine eigene Kindheit ­bedenkt. Er wurde 1985 in Sacramento geboren, als jüngeres von zwei ­Kindern von Charles Honnold und Dierdre Wolow­ nick, typische Mittelschicht, beide Eltern waren Sprachlehrer an einer Volks­ hochschule in der Nähe; der Vater unter­ richtete Englisch als Zweitsprache, die Mutter Französisch. Die Familie war nicht perfekt, aber funktionierte. Seine

2016 scannte eine Forscherin Honnolds Gehirn. Ergebnis: Sein Angstzentrum blieb „cool“. Eltern ließen sich scheiden, als Alex im ersten Studienjahr war. Wenig später starb der Vater an einem Herzinfarkt. Aber Honnold erinnert sich daran, wie stark er den familiären Halt als Kind spürte, und er wollte schon immer selbst eine Familie gründen. Alex zeigte schon früh, aus welchem Holz er geschnitzt ist. Als kleiner Junge vertiefte er sich stundenlang in Problem­ lösungsspiele wie Lego; im Kindergarten­ alter begann er mit dem Klettern. Als Zehnjähriger hatte er sich voll und ganz dem Sport verschrieben, auch wenn er damals nicht der Beste darin war. „Ich habe es geliebt“, erinnert er sich. „Ein­ fach draußen zu sein, das war immer schon ein wichtiger Teil meines Lebens.“ Während er das sagt, deutet er aus dem Fenster auf die roten Felsen in der Ferne. „Bist du da schon einmal geklet­ tert?“, fragt er und legt den Kopf schief. Ich gebe zu, dass mich Klettern nie wirk­ lich interessiert hat. „Da verpasst du wirklich was“, sagt er mit einem breiten Grinsen. „Definitiv.“

So sieht Furchtlosigkeit aus: Die Hirn-Scans oben zeigen die Aktivitäten in der Amygdala, dem menschlichen Angstzentrum, beim Betrachten von furchterregenden Bildern. Während das Gehirn von Alex Honnold (li.) fast unbeeindruckt bleibt, brennt die Amygdala der Kontroll­person, ebenfalls ein Kletterer, bereits lichterloh. THE RED BULLETIN

Angst

Es kommt nicht oft vor, dass ein Zeitwort nach einer Person benannt wird, aber Honnold ist genau das passiert. 2008 kletterte er allein eine 22 Seillängen lange Route über die Nordwestwand des Half Dome im Yosemite-Nationalpark. Ein ikonisches Foto davon verbreitete sich im Internet: Honnold steht, roter Kapuzenpulli, schwarze Kletterhose, auf einem winzigen Felsvorsprung, Rücken und Fersen fest gegen die Wand gepresst; seine Zehen ragen fast über den Rand. Unter ihm klaffen 500 Meter Nichts. So entstand das Verb „honnolding“, das so viel heißt wie mit dem Rücken zur Wand zu stehen, an einer unsicheren Stelle, und dem Abgrund und der Angst ins Gesicht zu schauen. Über die Jahre ist Honnolds Angst – oder viel mehr das offensichtliche Fehlen derselben – zu einem echten Thema ge­ worden. Die wenigsten von uns können sich vorstellen, Leistungen wie er zu ­ vollbringen, ohne von lähmender Angst ergriffen zu werden. Als die Normal­ sterblichen, die wir sind, gibt es für uns also nur eine mögliche Erklärung: Honnold muss furchtlos sein, vielleicht genetisch bedingt? Vielleicht durch eine seltene Fehlbildung im Gehirn? Dieses Narrativ setzte sich so sehr durch, dass er sein Gehirn 2016 von der Neurowissen­ schaftlerin Jane Joseph untersuchen ließ. Dabei lag der Schwerpunkt auf der Amygdala, dem Angstzentrum im Ge­ hirn. Das Ergebnis war aufschlussreich, aber nicht überraschend: Es ist nahezu unmöglich, Honnolds Amygdala zu stimu­ lieren. Egal was Joseph ihm während der Unter­suchung zeigte: Honnolds Angst­ zentrum blieb unbeeindruckt. So weit die wissenschaftlichen ­Daten. Alles andere ist reine Spekulation. Die Tatsache, dass es Alex Honnold F ­ reude bereitet, senkrechte 1000-Meter-An­stiege im Alleingang und ungesichert zu klet­ tern, lässt darauf schließen, dass seine Amygdala „cooler“ sein könnte als die der meisten anderen. Fast die ganze Welt hat 2018 den Film „Free Solo“ gesehen, in dem Honnold die Erstbegehung der Freerider-Route an El Capitan im Allein­ 47


GANZ OBEN

Alex Honnold 2017 am Ziel seiner Träume – am höchsten Punkt der legendären Felswand El Capitan

Ausgerechnet in den Alpen geriet der Kletter-Titan an seine Grenzen. Angst spüren, Vater werden, Alpen bezwingen: Alex Honnold über seine bisher größten Herausforderungen – einfach den QR-Code scannen.

48

gang schaffte. Die meisten Leute würden so etwas nie in Betracht ziehen, selbst wenn sie über Honnolds Kletterfähig­ keiten verfügten. Honnold selbst streitet beharrlich ab, dass er furchtlos ist; er weiß, sagt er, sehr wohl, was es heißt, Angst zu haben. Er meint, dass er sich die Angst bis zu einem gewissen Grad abtrainiert hat. Be­ deutet das, dass er auch seine Amygdala trainiert hat? Schwer zu sagen – es gibt keine Vergleichsdaten aus der Zeit, bevor er mit dem Free Solo begonnen hat. „Ich habe definitiv Angst wie andere auch. Und ich habe immer noch Angst vor dem Tod“, sagt er. „Ich bin nur mit der Zeit unempfindlicher geworden und kann gut damit umgehen.“

Unter „kann gut damit umgehen“ ver­ steht er wohl das, was er am besten kann: Ruhe bewahren, Selbstvertrauen ausstrahlen, Professionalität und vor ­allem Logik anwenden. Wir alle lesen von seinen waghalsigen Alleingängen, aber was wir nicht sehen, sind die Hunderte von Stunden, die er damit verbringt, die Routen in der Vorbereitung mit Seil zu klettern, wieder und wieder. Wenn er sich dazu entschließt, die Sicherung aufzugeben und ohne Seil zu klettern, hat Honnold bereits vollstes Vertrauen in seine Fähigkeit gefunden, die jeweilige Route zu klettern. Völlig ohne Zweifel. Bei den Dreharbeiten von „Alex Hon­ nold: The Soloist VR“ im vergangenen Sommer lernte Honnold die andere Seite THE RED BULLETIN


Klettern

Die neue Aufgabe: Kann man Familie und Free Solo kombinieren? vorangehende Hojac musste um­drehen, um den Kletterweltstar zu retten. „Nico ließ seinen Rucksack fallen und rannte den Kamm hinunter. Er gab mir seinen Pickel, stapfte dann gemütlich über die Platte zurück. Währenddessen klammerte ich mich mit jeder Hand an einem Pickel fest und kämpfte mich mühsam Meter um Meter vorwärts.“

RENAN OZTURK/JONATHAN GRIFFITH PRODUCTIONS

Zukunft

der Angstgrenze kennen, als er mit der Filmcrew und einer Gruppe anderer Klet­ terer in den französischen Alpen drehte. Er ist Felskletterer, kein Bergsteiger. „Bergsteigen ist für mich Landschafts­ tourismus“, sagt er. „Manche Leute machen Kreuzfahrten, um das Meer zu sehen. Ich ‚mache‘ hin und wieder Alpi­ nismus, um schöne Berge zu sehen.“ Aber da stand er nun, mit Eispickel, Steigeisen und schweren Bergschuhen. Honnold bahnte sich seinen Weg über den Gebirgskamm und versuchte, mit dem Schweizer Bergsteiger Nicolas Hojac mitzuhalten. Er war nicht perfekt aus­ gerüstet, was sowohl sein Equipment betraf wie auch sein Nervenkostüm. „Ich war echt nicht gut drauf“, gesteht er. Der THE RED BULLETIN

Wenn es ein wiederkehrendes Thema in Alex Honnolds Leben gibt, dann ist es analytisches Denken. Das Entschlüsseln einer Lego-Konstruktion. Die Be­wertung von Kletterrouten. Das Berechnen des Risikos einer Entscheidung. Wie analysiert er die Frage, welche Zukunft sich ergibt, wenn man seinen gefährlichen Beruf als weltbester FreeSolo-Kletterer mit der Liebe zu seiner Familie kombiniert? Nach stundenlangen Gesprächen ver­ stehe ich, dass selbst er nicht weiß, wo er in einem Jahr stehen wird. Aber er ist darauf vorbereitet, dass sich die Dinge ändern werden. „Ich muss nicht mehr ständig reisen und klettern. Ich habe viele Dinge, die ich tun wollte, schon getan“, sagt er. „Jetzt habe ich eine Frau und bald auch ein Kind. Diese Dinge verdienen ein biss­ chen mehr Zeit.“ Während ich meine Sachen wieder in meinen Rucksack packe, ruft Honnold Jon Griffith und mich zu sich ins Wohn­ zimmer, um ihm zu helfen. Wir haben im Laufe des Vormittags einige Möbel umgestellt. Er will sichergehen, dass sie zurück an ihren richtigen Platz kommen. „Kannst du mir helfen, die Couch zu bewegen?“, fragt Honnold. „Es muss genau so aussehen wie heute Morgen, sonst bringt Sanni mich um.“ Fast scheint ein wenig Angst in seiner Stimme mitzuschwingen, aber das bilde ich mir sicher nur ein. Instagram: @alexhonnold

VR-Brille auf und klettern wie Alex Der Film „The Soloist VR“ zeigt Honnold in der Wand dank Virtual Reality hautnah. Alex Honnold hat schon eine Menge Dokus übers Klettern gedreht, aber nun hat er das Thema aus einem ganz neuen Blickwinkel in Angriff genommen. Der neue Film „Alex Honnold: The Soloist VR“ war eine Idee des Alpinfilmers Jonathan Griffith. Er taucht ein in Honnolds Welt des Freikletterns – spektakulär aufgenommen mit einer VirtualReality-­Kamera. Ein Team von sechs Kletterern (darunter auch der Schweizer Red BullAthlet Nicolas Hojac) begleitete Alex Honnold auf Routen in Europa und den USA. Die Arbeit mit Virtual Reality war eine ganz neue Erfahrung für Honnold. „Ich habe noch nie zuvor mit VR gedreht. Dieses Projekt war genau das Richtige für mich, denn es ist eine tolle Möglichkeit, Klettern auf eine völlig neue Art zu zeigen.“ Gedreht wurde in den italienischen Dolomiten, den französischen Alpen und in Kalifornien. Der Zuschauer kann sich entweder auf Honnold konzentrieren oder sich drehen, um etwa einen vorbeifliegenden ­Vogel zu beobachten oder die Felswand hinunterzuschauen, wo ein Kieselstein hunderte Meter fällt.

Alpinfilmer Griffith mit VR-Kamera „Alex Honnold: The Soloist VR“ kann ab 3. März mit einem Oculus-Headset via Oculus VR Network erlebt werden. „Making The Soloist VR“ zeigt das Abenteuer der Kletterer Nicolas Hojac und Alex Honnold: redbull.com

49


VORHANG AUF

Beim Red Bulletin-DanceShooting in Nürnberg kommt Star-Choreograf Mecnun spontan die Idee, den Vorhang in seine Performance einzubauen.


Tanzen

Let’s dance!

Der Choreograf MECNUN GIASAR, 28, unterrichtet Stars wie Bausa und Apache 207 – und trat mit der Boygroup BTS im Wembley-Stadion auf. Wir stellten ihm seine bisher härteste Aufgabe: unserem Autor das Tanzen beibringen. Text MAXIMILIAN REICH

Fotos CHRISTOPH VOY

51


M „

oment! Ohne Musik geht hier gar nichts“, ruft Mecnun. Er schreitet hinüber zu dem Tisch in der Mitte des Raumes, auf dem unser Fotograf sein Equipment aufgebaut hat, und legt sein iPhone auf die Tischplatte. Im nächsten Augenblick tönt „Be Careful“ von Kaytranada aus dem Gehäuse, und Mecnun schwingt zufrieden mit den Hüften. „So, jetzt können wir anfangen.“ Mecnun setzt mir seine schwarze ­Prada-Sonnenbrille auf, mit der ich auf ihn zulaufen soll wie ein Model auf dem Laufsteg. Dabei ruft er mir immer wieder zu: „Was trägst du? Du trägst Prada! Zeig mir, dass du Prada trägst!“ Die Übung soll mir helfen, meine Schüchternheit abzulegen, um später auf der Tanzfläche mein verführerisches Ich auszupacken. Das Problem: Ich habe offenbar kein ­verführerisches Ich, sondern bloß eines, das an Magenkrämpfen zu leiden scheint. Ungelenk stakse ich auf Mecnun zu. Er stöhnt: „Herr, gib mir Geduld.“ Um mir dann im nächsten Moment mit einem Lachen die Hand auf die Schulter zu ­legen und zu sagen: „Keine Sorge, ich mach nur Spaß!“ Ich befürchte allerdings: Recht hat er wohl trotzdem. Meine Freunde behaupten, ich tanze wie Benjamin Blümchen nach einem Bandscheibenvorfall. Für Menschen wie mich wurde das Fingerschnippen erfunden. Deshalb soll Mecnun Giasar mir heute Tanzen beibringen. Der 28-Jährige ist einer der gefragtesten Tänzer und Choreografen der Welt. Im vergangenen Jahr gewann er das nationale Finale von Red Bull Dance Your Style. Pop-Superstar Rihanna folgt ihm auf Instagram. Er hat für Rapperin Shirin David Choreografien

52

entworfen, stand mit Loredana auf der Bühne und trat mit der K-Pop-Band BTS im Wembley-Stadion auf – sein persön­ liches Highlight. „Der Tour Director kannte mich wohl irgendwoher und fragte, ob ich mit auf Europa-Tour gehen möchte“, erzählt Mecnun. „Ich bin nach London geflogen und hab in der Nacht davor im Studio die Schritte geprobt. Am nächsten Tag sind wir vor 120.000 Menschen aufgetreten.“

Rhythmus im Blut

Wie schafft es jemand aus einer kleinen Stadt in Bayern auf die große ­Weltbühne? Mit Leidenschaft. Mecnun wuchs in Nürnberg auf. Seine Eltern kamen aus Griechenland nach Deutschland und haben türkische Wurzeln. Der Vater ist Musiker.

DER MEISTER UND SEIN SCHÜLER

Ganz oben: Mecnun Giasar (re.) zeigt The Red Bulletin-Autor Maxi­ milian Reich, wie man seinen Oberkörper locker zur Musik bewegt. Im Bild darunter sind die Beine dran: Es geht darum, das Gewicht möglichst elegant von einem Bein aufs andere zu verlagern. THE RED BULLETIN


Tanzen

„Meine Eltern stammen aus einem kleinen Dorf, da wurden die Hochzeiten auf der Straße gefeiert. Tanzen ist das A und O in unserer Kultur. Bei uns zu Hause wurde 24 Stunden am Tag Musik gemacht“, erzählt Mecnun. Wenn die Onkel und Tanten zu Besuch kamen, mussten sie sich erst einmal ins Wohnzimmer aufs Sofa setzen und zugucken, wie der kleine Mecnun für sie tanzte. Kurz: Vielleicht könnte ich jetzt genauso gut tanzen, wenn wir daheim nicht immer nur das Brettspiel „Die Siedler von Catan“ gespielt hätten, denke ich mir. Oder ich ­einen größeren Bruder hätte. THE RED BULLETIN

Ein Problemschüler dreht auf

Denn als Mecnun sieben Jahre alt ist, schleppt ihn sein fünf Jahre älterer Bruder Ali das erste Mal nach Fürth ins Jugendzentrum, wo er eine Tanzgruppe besucht. „Das hat mich inspiriert. Ich hab meine beiden besten Freunde mitgenommen und gesagt: So was müssen wir auch machen.“ Mit zehn Jahren gewinnt Mecnun die fränkischen Meisterschaften, mit vierzehn wird er deutscher Meister im Hip-Hop. Die Schule ist ab da nur noch eine lästige Pflicht, die ihm Zeit zum Tanzen stiehlt. Er bleibt zweimal s­ itzen und bricht die Schule schließlich nach

„ Ich kann nicht in einem Büro sitzen und für andere arbeiten. Ich bin Künstler. Ich muss mich ausdrücken.“ Mecnun Giasar, 28, über die Gründe, warum er die Schule nach der siebten Klasse abgebrochen hat

53


EXPRESSIONIST

Mecnun nutzt nicht nur das Tanzen, um sich aus­ zudrücken – auch sein ­Modestil ist extravagant.

der siebten Klasse ab. „Die Lehrer wollten mich auf etwas vorbereiten, was ich nicht bin. Ich wusste, ich kann nicht in einem Büro sitzen und für andere arbeiten. Ich bin Künstler. Ich muss mich durch Tanz ausdrücken.“ Die Eltern sind alles andere als be­ geistert, lassen ihren Sohn aber schließ­ 54

lich seinen Weg gehen. „Ich glaube, weil mein Vater selbst Künstler ist, wusste er insgeheim, dass ich schon nicht ver­ hungern werde.“ Und wenn ich Mecnun so anblicke, fällt es tatsächlich schwer, ihn mir im Büro einer Versicherung vor­ zustellen. Er trägt einen schwarzen Schnauzbart, über dem ein goldener THE RED BULLETIN


Tanzen

„ Tanz ist nur eine meiner Superkräfte. Ich bin auch Regisseur und Creative Director.“

Nasen­klipp baumelt. Die Fingernägel sind dunkelrot lackiert, und unter seiner Mütze lugen hinten blond gefärbte Haarspitzen hervor. Anfangs fährt Mecnun zwei-, dreimal pro Woche nach München, um dort in ­einer Tanzschule von den erfahreneren Tänzern zu lernen. Zusammen reisen sie auch zu Weltmeisterschaften. „So wurde ich immer bekannter. Leute schrieben mich aus dem Ausland an und luden mich ein, Tanzkurse zu geben.“ Seinen ersten Workshop in der Fremde gibt er in London – da ist er gerade einmal sechzehn. Die Videos seiner Kurse lädt er auf YouTube hoch und steigert so weiter seine Bekanntheit. Mecnun zieht sein ärmelloses schwarzes Shirt hoch und gibt den Blick frei auf seine Brust, auf der das Tattoo einer Weltkugel in Farbe prangt. Auf seine Schultern und Arme hat er sich schwarze Strichlisten tätowiert für jedes Land, in dem er schon Tanzkurse gegeben hat. Dreiundvierzig sind es nun. Sein Körper sieht deshalb ein bisschen so aus wie die Wand einer Gefängnis­ zelle. Zehn Monate im Jahr ist er unterwegs. Vor zwei Tagen kam er aus Alba­ nien zurück, wo er ein Musikvideo für die Sängerin Dhurata Dora choreografiert und gedreht hat. Woher er das kann? „Ich wollte die Tanzvideos zu meinen Auftritten immer selber schneiden, weil niemand in meinen Kopf blicken kann. Deshalb hab ich mir das alles beigebracht.“ Mittlerweile arbeitet er auch als Regisseur für Musikvideos oder Creative Director für Fashion Shows. „Ich bin nicht nur Tänzer, ich bin ein Künstler mit einer Palette von Superkräften. Tanzen ist nur eine davon.“

Die Kraft des Hühnerschritts

TANZ MIT TIEFGANG

Mecnun beim „Voguing“, einem Tanzstil, der seinen Ursprung in der LGBTQ-Be­wegung der 1970er-Jahre in New York hat THE RED BULLETIN

Seine Choreografien und Filme sollen nicht einfach nur hübsch anzusehen sein – er möchte damit auch immer etwas ­ausdrücken. So arbeitete er voriges Jahr mit den Rappern Apache 207 und Bausa am Clip zu ihrem Nummer-eins-Hit ­„Madonna“, um sich für mehr Vielfalt im Deutschrap einzusetzen. Ein wichtiger Aspekt dabei ist das „Voguing“, zu dem sich Frauen unterschiedlichster Herkunft in dem Video bewegen: Der Tanzstil ­wurde in den 1970er-Jahren in New York von der unterdrückten afro-lateinamerikanischen LGBTQ-Bewegung entwickelt. „Deutschrap ist oft frauenfeindlich und homophob. Deshalb war es an der Zeit, den Menschen, die sonst selten repräsentiert werden, eine Plattform zu geben.“

Basis des Voguing ist der sogenannte Duckstep: Ich gehe etwas in die Hocke – so wie Mecnun es mir vorzeigt – und ­mache kleine Hühnerschritte nach vorn, während ich meinen Oberkörper bei ­jedem Tritt in eine neue Pose werfe. ­Einmal verschränke ich die Arme vor der Brust, dann stütze ich mich auf den Oberschenkeln ab oder forme mit den Fingern das Peace-Zeichen. Im ersten Moment komme ich mir dabei albern vor, doch mit jedem Schritt gewinne ich an Selbstvertrauen. Ich schalte den Kopf aus und lasse mich treiben. Der Beat übernimmt die Kontrolle über meinen Körper. Ich fühle mich gut. Jawohl, ich bin der verdammte König der Tanzfläche! Ich bin … „Du bist steif wie Scheiße“, ruft Mecnun lachend und wirft verzweifelt beide Arme in die Höhe, ­wobei er für einen kurzen Moment den Schmerz in seiner Schulter vergisst. Vorgestern hat er sich impfen lassen. Weil er schon einmal Covid hatte, war das bisher nicht nötig. Aber bald möchte er in die USA nach Los Angeles ziehen, in das Epizentrum der internationalen Musik- und Filmszene, und für die Einreise braucht er eine Impfbescheinigung. Die ebenfalls geforderte Wohn- und Arbeitsgenehmigung hat er bereits. Einen letzten Move zeigt mir Mecnun noch. Er schaltet wieder sein Handy ein und lässt Kaytranada diesmal „Intimi­ date“ singen, während er sich mir gegenüber aufbaut. Ich soll ihm alles nach­ machen. Wir strecken die Arme seitlich weg und formen eine Welle – von der ­linken bis zur rechten Hand. Na ja, zumindest Mecnun formt eine Welle. Bei mir sieht’s eher aus, als würde ich eingeschlafene Gliedmaßen aufwecken. Anschließend simulieren wir eine zweite Welle, diesmal mit dem Oberkörper von oben nach unten – wobei mir Mecnun „Schlucken!“ als Hilfe zuruft – und wieder ­zurück, von der Bauchmitte zum Kopf: „Kotzen!“. „Und?“, frage ich am Ende ­unserer Stunde. „Darf ich nächstes Mal mittanzen, wenn du mit BTS auftrittst?“ „Klar“, sagt Mecnun und lacht. Leider kann er deutlich besser tanzen als lügen. Mehr Eindrücke von Mecnun gibt’s auf Instagram: @mecnungiasar

55


Freestyle

Lily ist so frei LILY RICE sitzt im Rollstuhl und macht Rückwärtssalti. Warum? Weil sie eine Sportart namens Wheelchair Motocross ausübt, die sie von ganzem Herzen liebt. Und um uns zu zeigen, was Freiheit wirklich bedeutet. Text JESS HOLLAND 56

Fotos SPENCER MURPHY THE RED BULLETIN


Lily Rice, gerade einmal 17, ist bereits eine der bestimmenden Figuren im WCMX, dem RollstuhlMotocross. In England war sie die Erste in dem jungen Sport.

THE RED BULLETIN

57


Freestyle

L

ily Rice saß am Rand einer Rampe in ­einem Skatepark in Cornwall, England, kurz geschorene, rosa gefärbte Haare ­unter dem Vollvisierhelm. Vor ihr gähn­ ten vier Meter Tiefe, darunter Beton. Sie gab ihrem neongrünen Rollstuhl ­einen Schubs – und fiel ins Leere. Bis hierher war alles planmäßig gelau­ fen, es würde ein atemberaubender Stunt werden, diesmal für ein Foto­shooting. Die Bilder würden ein Hammer sein … doch plötzlich bemerkte sie: Da ist ihr wohl ein winzig kleiner Fehler passiert – sie hatte das Gewicht ein paar Millimeter zu weit nach vorn verlagert. Es blieb kei­

ne Zeit zur Korrektur – Lily Rice kippte im Flug hilflos nach vorn. Sie krachte mit dem Gesicht voran auf den Boden, der Rollstuhl knallte auf ihren Rücken, sie schlug sich Zähne aus, verletzte sich am Hals. Sie konnte nicht mehr schlucken, sich nicht be­wegen. Sie stöhnte, röchelte. Es waren furchtbare, animalische Laute, die sie ausstieß. Ihre beste Freundin kam angelaufen, die Skateboarderin Daisy da Gama Ho­wells. „Ich war sicher, Lily ist schwer verletzt, vielleicht sogar tot“, sollte sie sich später an den Schrecken erinnern. „Diese Geräusche, die sie nach dem Unfall machte, werde ich nie vergessen.“ Lily war nicht tot, sie war bewusstlos. Dazwischen kam sie ein paar Sekunden lang zu Bewusstsein. Später sollte man sie fragen, woran sie dachte, in diesen kurzen wachen Momenten. „Wird meine Mutter mit mir schimpfen, weil ich keine Ellbogenschützer getragen habe? Solche Dinge schossen mir durch den Kopf“, erzählt sie von den bizarren Gedanken­ gängen in dieser Ausnahmesituation. Der Unfall liegt zwei Jahre zurück, Lily Rice war damals 15 Jahre alt. Wegen einer spastischen Lähmung sitzt sie seit ihrem zehnten Lebensjahr im Rollstuhl.

Spastische Lähmung bedeutet, dass die Muskeln in ihren Beinen sehr schwach sind, aber wenn sie sich anstrengt, kann sie ein paar Schritte gehen, sich sogar ­allein eine Treppe raufarbeiten. Wenn sie und ihre beste Freundin, Daisy da Gama Howells, heute von dem Tag vor zwei Jahren erzählen, lachen sie, auch während sie von Blut und dem Ge­ röchel und der Todesangst reden. „Das ist unsere Art, damit umzugehen“, sagt Rice. Sie erinnert sich noch gut an die Fahrt im Krankenwagen. „Ich habe da­ gegen angekämpft, dass meine Augen zufallen – ich dachte, sonst sterbe ich.“ Nach den Operationen konnte Rice im Krankenhaus nur Hühnersuppe essen, wobei „essen“ wohl nicht ganz der rich­ tige Ausdruck ist: Die Suppe musste ihr mit einer Kanüle in den Mund ver­ abreicht werden. Sobald sich die Nahrungsaufnahme wieder halbwegs normal gestaltete, ging sie wieder zur Schule. Nach einem Monat war sie zurück im Skatepark. Es war schwierig, nach diesem Unfall wieder mit dem Sport zu beginnen. Ihr Körper war tatsächlich traumatisiert, und er erstarrte, wenn sie nur in die Nähe einer Rampe kam. Aber Rice gab

„Ich weiß nicht, wo ich ohne diesen Sport wäre. Er zeigt mir, wozu ich imstande bin.“ Lily Rice, 17, über die Bedeutung des Rollstuhlskatens für ihr Leben

58

THE RED BULLETIN


Lily Rice in ihrem Element: Enorme Zähigkeit, außergewöhnliches Talent und überbordende Lebensfreude sind ihre Markenzeichen.


Alles, was Räder hat, fliegt: Lily Rice und ihre beste Freundin, Skateboarderin Daisy da Gama Howells, fotografiert im Skatepark von Haverfordwest im Südwesten von Wales

nicht auf. Sie begann mit einfachsten Übungen, ganz langsam, bis ihr Selbst­ vertrauen langsam zurückkam. Gut möglich, dass Lily Rice ihre Zähig­ keit, die Härte zu sich selbst und ihre überbordende Lebensenergie zu einem Teil ihrem Vater Mark verdankt. Er ist ­Sanitäter und Surfer. Von klein auf nahm er sie mit in die Natur, so als ob da gar nichts wäre mit ihren Beinen. Er ließ sie auf Bäume klettern, brachte ihr das Fahrradfahren bei und spielte mit ihr am Strand – obwohl sich die Krankheit schon früh bemerkbar machte und sie zum Gehen Schienen und Krücken brauchte. Lilys spastische Lähmung verschlim­ merte sich mit der Zeit. Als sie zehn ­Jahre alt war, reichten Schienen und Krücken nicht mehr – sie begann, einen Rollstuhl zu verwenden. Aber sie hasste 60

den Gedanken, den Rest ihres Lebens im Rollstuhl verbringen zu müssen. Um ihn möglichst wenig zu sehen, verräumte sie ihn in eine Ecke ihres Zimmers.

D

rei Jahre später – Lily war ge­ rade dreizehn geworden – sah sie im Internet ein Video von Aaron Fotheringham. Und ­damit veränderte sich schlagartig ihre Beziehung zum Rollstuhl. Aaron „Wheelz“ Fotheringham wurde in Los Angeles mit einer gespaltenen Wirbelsäule geboren, dem schweren Fall einer sogenannten Spina bifida. Sein ­älterer Bruder war ein begeisterter BMX‑Fahrer. Die beiden verbrachten als Kinder viel Zeit miteinander, und als ­Aaron acht Jahre alt war, kam er auf die Idee, mit seinem Rollstuhl über eine BMX-Rampe zu fahren und Stunts zu

probieren – Drehungen, Sprünge. Bald nahm er an BMX-Wettbewerben teil, die Videos von seinen Stunts gingen im Internet viral. 2006 schaffte er als erster Mensch überhaupt einen Rückwärtssalto im Roll­ stuhl. Zwei Jahre später tourte er mit dem „Nitro Circus“ um die Welt, der durchgeknallten Action-Show mit Free­ style-Motocross-Superstar Travis Pas­ trana. 2012 fuhr Fotheringham mit sei­ nem Rollstuhl in Kalifornien über eine acht Meter hohe Megarampe und sprang dabei 21 Meter weit. Was Fotheringham tat, hatte, als er anfing, noch keinen Namen. Man nannte es „Wheelchair Motocross“, kurz WCMX. 2015 fanden im Alliance Skatepark in Grand Prairie, Texas, die allerersten Weltmeisterschaften im WCMX statt; auch Skateboarder und BMX-Fahrer mit verschiedenen Behinderungen nahmen teil. Fotheringham holte Gold – wie bei ­jeder WM seither. Lily Rice steckte ihren Vater mit ihrer Begeisterung für Fotheringham und des­ sen Videos an. Die Tochter eines seiner Freunde hatte auch gerade mit dem ­Skaten begonnen, die Väter stellten den Kontakt zwischen den Mädchen her. Lily Rice und Daisy da Gama Howells ­trafen sich im Skatepark. Am Anfang war es für viele der anderen Skater noch un­ gewohnt, j­ emanden in einem Rollstuhl über die Rampen fahren zu sehen. Doch schon bald war Rice ein fester Teil der Community im Skatepark. An einem Juli-Abend des Vorjahres hängen Rice und da Gama Howells wie so oft im Skatepark ab. Zu hören sind die typischen Skatepark-Geräusche: ­Musik aus mit Stickern verzierten Laut­ sprechern, das Rollen der Hartgummi­ räder auf Beton, Anfeuerungen, Jubel, Abklatschen. Einer der vielen Skater im Park an dem Abend ist der Postbote Craig Brown, ein Freund von Lilys Vater, Mark. Er fährt über die Skatebowl, scherzt mit Kindern, feuert Rice an, als sie gerade über eine steile Passage fährt. Ein paar Stunden später sitzt Brown auf seinem Skateboard. „Die Atmosphäre im Skatepark ist komplett inklusiv“, sagt er. Woran das liegt? „Ich glaube, wir ­Skater sind hier auf eine gewisse Art zu Hause. Außer­halb dieses Parks fühlen wir uns alle ein bisschen verloren. Wir gehören irgendwie zusammen. Wir THE RED BULLETIN


Freestyle

unter­stützen einander, sind füreinander da. So sollte es doch überall sein, oder?“ Schon als Lily Rice das erste Mal über eine Minirampe fuhr, wusste sie, dass WCMX ihr Sport ist. Sie schrieb Fotheringham eine Nachricht auf Instagram, er schickte ihr einen seiner gebrauchten WCMX-Stühle. Später traf sie ihn per­ sönlich, als er mit dem Nitro Circus nach Großbritannien kam. „Es war der Wahnsinn, jemandem persönlich zu begegnen, den man so oft im Internet gesehen hat“, sagt Lily. „Ihn live skaten zu sehen war einfach das Größte.“ Die beiden blieben in Kontakt und nahmen vor der Pandemie gemeinsam bei einigen Wettbewerben in den USA teil. „Lilys Entwicklung ist unfassbar“, lobt Fotheringham. Tatsächlich hat sie besonderes Talent: Schon nach sieben Monaten gelang ihr ein Rückwärtssalto – als erster Frau in Großbritannien. Das Training für das Kunststück war hart: Stundenlang sprang sie mit ihrem Rollstuhl in eine mit Schaumstoff aus­ gepolsterte Grube. Später trainierte sie auf einer weichen, federnden Rampe. Irgend­wann schaffte sie es, nach der

Lily im Skatepark: Rollstuhlfahrer benützen die gleichen Rampen wie alle anderen.

„Im Skatepark fühle ich mich ganz frei. Da sagt dir keiner, wie du sein musst.“ Drehung auf den Rädern zu landen und weiter über die Rampe zu fahren. Der gelungene Rückwärtssalto machte Rice in Großbritannien zu einer kleinen Berühmtheit: Sie spielte in Musik­videos mit, schloss Werbeverträge ab, reiste zu Meisterschaften. Der schottische Schauspieler James McAvoy, der in den „X-Men“-­Filmen einen Rollstuhl­fahrer spielt, spendete 5000 Pfund für e­ inen maßgeschneiderten Rollstuhl. ­Später lief er Rice zufällig auf einem Flughafen in L. A. über den Weg und lud sie zur ­Premiere des neuen „X-Men“-Films ein. Rice er­innert sich, wie unwirklich der Abend war: „Ich traf Katy Perry auf dem Klo und machte Selfies mit Jennifer Lawrence und Orlando Bloom.“ Obwohl seit ihrem schweren Unfall erst wenige Monate vergangen waren, gewann Rice 2019 die WCMX World Championships. Nebenbei bemühte sie sich um den Aufbau der WCMX-Szene in Großbritannien. Sie ermutigte junge Rollstuhlfahrer, ebenfalls mit dem Sport zu beginnen, veranstaltete den ersten WCMX-Jam in Northamptonshire.

A

uch die neunjährige Imogen Ashwell-Lewis, die wegen einer vom Großhirn ausgehenden Lähmung im Rollstuhl sitzt, war dabei. Genau wie Rice war auch Ashwell-­Lewis sofort begeistert von dem Sport. Bei den anderen Sportarten, die sie davor probiert hatte, waren Menschen mit Behinderung von Menschen ohne Behinderung getrennt. Hier ist das anders: Rollstuhl­fahrer fahren gemeinsam mit anderen Skatern über die gleichen Rampen. Keine Barrieren, keine Vorurteile. Imogen probiert einen besonders wilden Sprung – sie stürzt, fällt aus ihrem Rollstuhl. Sofort kommen einige Skater angelaufen, um ihr zu helfen. Aber sie bleibt ganz ruhig: „Alles gut! Helft mir bitte einfach zurück in den Rollstuhl. Ich will’s noch einmal probieren.“

THE RED BULLETIN

Rice weiß, dass sie das Leben von ­ indern wie Imogen Ashwell-Lewis verK ändern kann. Und sie nimmt diese Möglichkeit sehr ernst. Sie geht in Schulen, um über WCMX zu erzählen und dar­über, was der Sport auch für das Zu­sammen­ leben bedeutet. Sie gibt Tipps, wie Skateparks zugänglicher für Rollstuhlfahrer gemacht werden können. A ­ rbeitet mit ­einem Produzenten an Rollstühlen, die für das Fahren auf der Rampe besser ­geeignet sind. Als sie mit dem Sport begann, war sie die einzige WCMX-Fahrerin in Großbritannien – heute umfasst die Community ungefähr fünfzig Leute. Rice möchte auch durchsetzen, dass WCMX eine Disziplin bei den Paralympischen Spielen wird. 2021 in Tokio waren Skateboarden und BMX erstmals Teil der Olympischen Spiele. Es wäre also nur ­logisch, eine ähnliche Disziplin bei den Paralympics einzuführen. Laut Rice ist es eventuell schon in Paris 2024 so weit; spätestens aber 2028 in Los Angeles – der Stadt, in der das Skateboarden seinen Anfang genommen hat. Das genaue Regulativ muss noch festgelegt werden, aber es ist gut möglich, dass wir Athletinnen wie Rice und Ashwell-Lewis schon bald bei den Paralympics sehen. Lily Rice trainiert hart: Sie verbringt Stunden im Skatepark, fährt an freien Tagen zu besonderen Skate-Spots in ganz England, fliegt für Wettbewerbe nach Amerika. Aber es ist nicht die Sehnsucht nach Erfolg oder Anerkennung, die Rice antreibt. Sie liebt den Sport einfach von ganzem Herzen. „Er tut mir gut – nicht nur körperlich. Mir hat es mental sehr geholfen, zu sehen, wozu ich imstande bin“, sagt sie. „Ich weiß gar nicht, wo ich ohne WCMX wäre.“ Lily Rice springt eine Stunde lang für The Red Bulletin in eine mit Schaumstoff gefüllte Grube und macht dabei Rückwärtssalti, wieder und wieder, unermüdlich, bis das Foto endlich perfekt passt. Als sie danach die Knieschoner abnimmt, sagt sie: „Hier fühle ich mich ganz frei. Im Skatepark sagt dir niemand, was du tun musst oder wie du sein sollst. Ich kann meine Gefühle mit meinen Bewegungen ausdrücken. Die anderen Skater motivieren mich, mein Bestes zu geben und dabei ich selbst zu sein. Hier gehöre ich her.“ Instagram: @lilyrice_wcmx

61


Fußball

Charmant, spitzbübisch, brand­ gefährlich: KARIM ADEYEMI, 20, gilt als eines der größten StürmerTalente Europas. Hier erzählen zwei Wegbegleiter, was den deutschen Red Bull SalzburgKicker stark macht. Und warum er sogar seinen Schuldirektor überraschte. Text HANNES KROPIK

Karim Adeyemi blickt auf sein erfolgreichstes Jahr als Fußballprofi zurück: 2021 debütierte er mit seinem Verein Red Bull Salzburg in der UEFA Champions League und wurde von Hansi Flick für die deutsche Nationalmannschaft berufen. Und auch 2022 startet mit einem Highlight: Am 16. Februar trifft Adeyemi mit dem FC Red Bull Salzburg im ChampionsLeague-Achtel­finale auf den FC Bayern. Aber wer ist der pfeilschnelle Jungstar, über den ganz Fußball-Europa spricht? Salzburgs Sportdirektor Christoph Freund und Mentor Manfred Schwabl, Präsident der Spielvereinigung Unter­ haching, erklären uns, warum dem Mittelstürmer in Zukunft alle Tore offen stehen. 62

THE RED BULLETIN: Herr Freund, warum ist Karim Adeyemi in ganz Europa so begehrt? christoph freund: Karim hat seinen Instinkt und sein spitzbübisches Wesen nie verloren. Als Fußballer hat er spezielle Waffen, zum Beispiel seine Schnelligkeit. Seine Bewegungen sind unkonventionell; er ist für seine Gegner kaum greifbar. Als Mensch ist er authentisch und verstellt sich nicht. Karim ist ein Lausbub, der genau weiß, was es heißt, Profifußballer zu sein. Wie zeigt sich das Spitzbübische in der Kabine beziehungsweise ­abseits des Platzes? Wenn es in der Kabine lustig zugeht, steckt Karim immer mittendrin. Seine­ freche – aber nicht zu freche – Art kommt auch bei den älteren Profis und sogar bei den international so ­erfahrenen Spielern der deutschen ­Nationalteams gut an. Diese Mischung aus „Ich scheiß mir nix“ und „Ich geb Gas“, die macht es letztlich aus. Einen wichtigen Anteil an Adeyemis Auf­ stieg hat Christiana Schwabl, die Mutter von Manfred „Manni“ Schwabl. Der frühere Mittelfeldspieler des FC Bayern München ist seit 2012 Präsident der Spielvereinigung Unterhaching und er­innert sich noch ganz genau, wie er auf den Rohdiamanten aufmerksam wurde. „Meine Mama hat ihn von weitem spielen gesehen

DIE INSIDER

Christoph Freund, 44

Der Sportdirektor des österreichischen Fußballmeisters holte Adeyemi 2018 zum FC Red Bull Salzburg.

Manfred Schwabl, 55

Der Präsident der Spielvereinigung Unterhaching gilt als Karim Adeyemis Mentor.

MARKUS BERGER/FC RED BULL SALZBURG, RED BULL SALZBURG VIA GETTY IMAGES, PICTUREDESK.COM (2) TIM MARRS/CENTRALILLUSTRATION.COM

Der AdeyemiCode


EIN MANN MIT VIELEN FACETTEN

Karim Adeyemi ist ein unkonventioneller Fußballer. Für seine Gegner ist er kaum greif­bar, weil er es schafft, immer wieder zu über­raschen. Freunde, Mitspieler und Trainer schätzen ihn als gut gelaunten Spitzbuben.


und nach wenigen Minuten gesagt: ‚Wer ist das? Auf den musst aufpassen!‘ Karim war damals erst kurze Zeit bei uns, hatte aber schon als Zehnjähriger geniale Momente auf dem Platz.“ Manni Schwabl hat sich an den mütterlichen Rat gehalten. Leicht gequälter Nachsatz: „Dafür kann ich mir von ihr heute praktisch jeden Tag anhören, dass sie es ja gleich gewusst hat …“

Karims Vertrag läuft bis Sommer 2024, sein aktueller Marktwert wird auf 35 Millionen Euro geschätzt, Tendenz: steigend. Wie geht er selbst mit diesen Summen um? Karim hat ein richtig gutes familiäres Umfeld, das ihn immer wieder am Boden­ hält. Ich schätze sehr an ihm, dass er sich durch den Erfolg als Typ nicht verändert hat. Das ist sicher nicht leicht, wenn in den Medien spekuliert wird, ob Liverpool, Bayern oder Dortmund den Zuschlag erhält. Es sind riesengroße Summen im Gespräch, aber er lässt sich davon nicht beeindrucken. Das ist, ­glaube ich, seiner Erziehung geschuldet. Wenn es der straffe Zeitplan zwischen Bundesliga, Cup, Champions League und Nationalteam zulässt, fährt Karim Adeyemi heim nach Unterhaching. Papa 64

DAS ERSTE MAL

Adeyemi bei seinem Debüt für die Nationalmannschaft. Am 5. September 2021 wird er im WM-Quali-Spiel gegen Armenien in der 72. Minute eingewechselt und erzielt in der Nachspielzeit das 6:0.

„Frech, jagt den Ball, ist für den Verteidiger schwer zu fassen.“ Salzburg-Sportdirektor Christoph Freund zitiert aus dem Scouting-Report über den 16-jährigen Karim Adeyemi.

Abbey, früher in Nigeria selbst als Fuß­ baller aktiv (Schwabl: „Er sagt, er war noch schneller als der Karim“), arbeitet als Scout für die SpVgg Unterhaching, Mama Alexandra kümmert sich beim Viertligisten (Regionalliga Bayern) um die administrative Koordination zwischen Ärzten, Physiotherapeuten und Kranken­ kassen: „Wir haben für die Adeyemis schon vor Jahren eine Doppelhaushälfte angemietet“, erinnert sich Manni Schwabl,­ „damit sie nicht zu jedem Training aus der Münchner Innenstadt herfahren müssen.“ In diesem Haus, in dem Karim immer noch sein Zimmer hat, gibt es drei weitere Räu­ me, in denen andere Top-Talente wohnen: „Burschen, die von weiter weg kommen – momentan einer aus der Oberpfalz und einer aus Südafrika. Die Adeyemis sind ihre Gastfamilie, Karims Mama ist quasi die Mutter der Nation in Unterhaching.“ An Selbstvertrauen hat es Karim ­Ade­yemi nie gemangelt. Ist er als deut­ scher Nationalspieler, der auch in der Champions League regelmäßig trifft, noch selbstbewusster geworden? christoph freund: Sein Selbstvertrauen ist nicht größer, aber gefestigter geworden. Er bestätigt sich selbst immer wieder, dass er auf höchstem Level THE RED BULLETIN

ALAMY

Der FC Red Bull Salzburg hat Adeyemi 2018 um kolportierte drei Millionen Euro von der Spielvereinigung Unter­ haching gekauft. Was stand denn im Scouting-Report über den jungen ­Karim Adeyemi? (Christoph Freund sucht am Laptop den Bericht über den damals 16-jährigen Junioren-Stürmer.) Wir hatten ihn schon länger beobachtet, Unterhaching ist von Salzburg ja nicht so weit weg. Wir kannten seine Vorgeschichte: zum Beispiel, dass er als blutjunger Spieler bei Bayern München disziplinäre Probleme hatte. Aber er hat sich inzwischen zum absoluten Vorzeigeprofi entwickelt. So, da haben wir den Report: „Frech, jagt den Ball, ist für den Verteidiger schwer zu fassen“, steht da unter anderem. Seine größte Waffe war schon damals sein Tempo. Er ist ein Instinktfußballer. Er macht Dinge nicht einfach nur aus einer Intuition heraus, sondern – und das ist das Wichtigste dabei – er macht diese Dinge aus der Intuition heraus richtig.


Fußball

spielen kann. Vor seinem Debüt in der Nationalmannschaft war er nervös. Er hat sich gefragt, ob er an einen Thomas Müller, einen Joshua Kimmich heran­ reichen würde, die er zuvor nur aus dem Fernsehen gekannt hat. Aber er hat sich auch dort sehr schnell eingefügt. Bei ihm sind Selbstvertrauen und Respekt vor der Aufgabe, den Fans und den Mitspielern sehr gut ausbalanciert. Wie geht es Ihnen als Sportdirektor und als Fußballfan, wenn Sie Karim bei einem Spiel zaubern sehen? Wenn du die Jungs schon länger kennst und eine Beziehung zu ihnen und ihrem Umfeld aufgebaut hast und wenn du dann siehst, wie die auf einer so großen Bühne funktionieren, dann geht dir das Herz auf vor Freude. Und darum macht es momentan in der ganzen Mannschaft, im ganzen Verein so großen Spaß. Nicht nur mit dem Karim; aber er ist momentan unser spektakulärster Spieler. Karim Adeyemi weiß genau, woher er kommt. Das Trikot, in dem er im September­ sein Nationalteamdebüt gegen Armenien mit einem Tor krönte, hat er seinem Förderer Manni Schwabl geschenkt: „Seine Entwicklung motiviert unsere jungen Spieler sehr. Wenn sie zu mir ins Büro kommen, sehen sie an der Wand Karims Teamtrikot­ und wissen, welche Karrierewege von Unterhaching aus möglich sind.“ Entscheidend für Karims Persönlichkeitsentwicklung war nicht zuletzt Manni Schwabls Strenge in Sachen schulischer Disziplin: „Mit dreizehn, vierzehn hatte Karim nur Fußball im Kopf. Nachdem er zum dritten Mal bei mir gesessen ist, weil es Beschwerden seiner Lehrer und Rektoren gab, habe ich ein Trainingsverbot verhängt. Er hat zum Beispiel zum Mathe-Test kein Geodreieck mitgehabt, die Schule hat ihn einfach nicht interessiert. Seine Trainer wollten ihn trotzdem am Wochenende einsetzen, weil er ja Tore geschossen hat. Ich habe gesagt: ‚Jungs, wenn er nicht trainiert, darf er auch nicht spielen.‘“ Wichtig, so Schwabl, war die Unterstützung durch Karims Eltern: „Sie haben meine Entscheidung bedingungslos mitgetragen. Nach ein paar Wochen hat der Rektor wieder angerufen: ‚Was ist denn mit dem Karim los? Auf einmal passt er auf, lernt mit, kümmert sich um seine Mitschüler …‘“ THE RED BULLETIN

„Er ist, wie man in Bayern sagt, ein Bazi.“ Mentor Manni Schwabl über Adeyemis Qualitäten als Charmeur

Sein Tempo haben wir schon angesprochen. Was macht ihn so schnell? christoph freund: Karim war von Kindesbeinen an ein unkonventionelles Bewegungstalent. Bei ihm funktionieren alle Bewegungsabläufe extrem schnell, weil er auch mental sehr flink ist. Auffällig ist, wie oft Karim im gegnerischen Strafraum gefoult wird. Allein im ersten Champions-League-Spiel in Sevilla gab es drei Elfmeter nach Fouls an ihm … Er ist eben enorm zielstrebig. Es schafft es immer wieder, seinen Körper irgend­ wie in die richtige Position zu bringen. Zum Beispiel bekommt er einen Fuß gerade noch so weit nach vorne, dass ihn der Verteidiger foulen muss. Er kann solche Situationen – nicht zuletzt dank seiner Schnelligkeit – erzwingen. Karim ist erst zwanzig geworden – seine fußballerische Entwicklung ist wohl noch nicht ganz abgeschlossen? Er ist ein Typ, der immer wieder klare Ansagen braucht und gefordert werden will. Und damit passt er perfekt zu un­ serem Trainer Matthias Jaissle. Denn natürlich ist er der coole Karim Adeyemi, dem momentan alles aufgeht – aber gerade in so einer Situation brauchst du immer wieder einen Tritt in den Aller­ wertesten. Und damit geht er auch rich­ tig gut um. Er weiß, dass bei ihm immer noch Luft nach oben zu dem Level ist, das er erreichen kann. Karims familiäre Wurzeln – die Mutter Rumänin, der Vater Nigerianer – sind für München durchaus ungewöhnlich. „Seine Hautfarbe und seine Herkunft waren bei den anderen Kindern immer irgendwie ein Thema. Ich glaube schon, dass ihn das manchmal belastet hat. Wenn dann einmal ein Wutausbruch kommt, dann ist das doch nur menschlich“, sagt Manni

Schwabl. Umso mehr beeindruckt ihn ­Karims freundliche, spitzbübische Ausstrahlung: „Er ist, wie man in Bayern sagt, ein Bazi. Er hat es faustdick hinter den Ohren, ist aber ein Typ mit so viel Charme, dass man ihn einfach mögen muss.“ Vergangene Saison hat er für den FC Red Bull Salzburg in 29 Meisterschaftsspielen sieben Tore erzielt und neun Assists geleistet. In der aktuellen Saison waren es bis Redaktionsschluss in 17 Spielen 14 Tore, aber nur zwei Torvorlagen – ist er am Ende egois­ tischer geworden? christoph freund: Karim ist einfach ein frecher Spieler. Er hat diesen ge­ sunden Egoismus, den du als Stürmer brauchst. Aber er weiß, dass Fußball ein Teamsport ist. Er ist ein absoluter Teamplayer, sonst hätte er nicht diese hohe Akzeptanz in der Mannschaft. Aber natürlich steht er auf dem Platz, um Tore zu schießen. Das ist doch das Coolste für einen Stürmer: Tore schießen! Er wirkt, was das Toreschießen ­angeht, unersättlich. Seinen Hunger, Tore zu schießen, kannst du in jedem Training spüren. Du merkst aber auch, dass er und seine Kollegen sehr viel Spaß haben. Mit ihrer Energie schaukeln sie sich hoch. Sie geben nie auf und sind nie zufrieden. Was diese junge Mannschaft so auszeichnet: Sie hüpfen nicht so hoch, wie sie müssen, sie hüpfen so hoch, wie sie können. Was sich viele Fußball-Fans nun ­natürlich fragen: Wie lange bleibt ­Karim Adeyemi in Salzburg? Das klare Ziel, das wir mit seinem Umfeld abgesprochen haben, ist, dass er die ge­ samte Saison bei uns fertig spielt. Es ist seine erste Saison als absoluter Stamm­ spieler und Leistungsträger; für seine Entwicklung ist diese neue Rolle sehr wichtig. Wir wissen, dass es im Sommer sicher nicht leicht sein wird, ihn in Salz­ burg zu halten. Aber vielleicht ist es auch gesund, wenn er den nächsten großen Schritt macht. Wenn er mit so viel Spaß weiterspielt, stehen ihm alle Tore offen. FC Salzburg vs. Bayern München ist live bei DAZN zu sehen – am Mittwoch, 16. Februar, 21 Uhr; Karim auf Instagram: @karim_adeyemi

65


Nightlife

Die Macht der Nacht Street-Partys, Champagner-Duschen, 15 Millionen Menschen: Der nigerianische Fotograf ANDREW ESIEBO dokumentiert seit neun Jahren das vibrierende Nachtleben seiner Heimat Lagos. Ein Insider-Report aus der Welthauptstadt des Afrobeat. Text und Fotos ANDREW ESIEBO


SEHEN UND GESEHEN WERDEN

„Diese Frau ist mir auf einer Party im Lagos-IslandViertel aufgefallen. Gegen Ende jedes Jahres ver­ anstalten die Einwohner dort Block-Partys, auf denen ziemlich laut Rockmusik gespielt wird. Die Stimmung ist immer energiegeladen, weil sich jeder seinen Platz in der Masse erkämpfen will. Normalerweise versuche ich, für meine Fotomotive unsichtbar zu sein, aber diese Frau wollte gesehen werden, auch wenn sie Augenkontakt vermied.“

67


Nightlife

„Ich will von Nigerias lebendiger Kultur erzählen“

Andrew Esiebo, 43, heute ein international angesehener Fotograf, stammt aus Lagos und lernte sein Handwerk, als er vor mehr als zwanzig Jahren damit anfing, Menschen in seinem Wohnviertel auf Film festzuhalten. „Lagos ist berüch­ tigt für Kriminalität“, sagt Esiebo. „Geschichten über Lagos ­behandeln immer dieses Thema. Selten erzählen internatio­ nale Medien über die lebendige Kultur und das Nacht­leben.“ Esiebo begann die Partyszene 2013 zu dokumentieren. „Ich wurde auf die Kraft von DJs und Afrobeat aufmerksam“, sagt er. „Mit dem Wechsel zur Demokratie (1999, nach Jahrzehnten einer Militärdiktatur; Anm.) boomte die Wirtschaft, und die Leute hatten mehr Geld. Ein Weg, den neuen Wohlstand ­auszudrücken, waren Partys.“ Esiebos Fotos zeigen auch die rasante Entwicklung der nigerianischen Gesellschaft. „Es gibt eine wachsende Mittelklasse, wenngleich das Streben nach mehr Lebensqualität zu großer Ungleichheit geführt hat. Aber alle wollen das Gleiche. Sogar Typen ohne Geld wollen Champagner trinken.“ Die Coronapandemie hat die Party­ szene in ­Lagos viel weniger getroffen, als man annehmen möchte. „Klar, so lebendig ist das Nachtleben nicht mehr wie vor 2020. Aber zum Erliegen gekommen ist es keineswegs.“

SCHAMPUS FÜR ALLE!

„Wir trinken ziemlich viel Cham­ pagner hier in Nigeria. 2016 war Lagos nach Paris die Stadt mit dem zweithöchsten Konsum weltweit. Bei Partys gibt es Menschen, die sich bis zum Schluss an einer Schampusflasche festhalten, auch wenn sie längst leer ist. Den Typ auf dem Foto rechts habe ich in Ikeja foto­grafiert – das ist nicht wirklich ein armes Viertel, es zählt aber auch nicht zu den reichsten Gegenden. Je teurer der Schampus ist, den du kaufst, desto besser ist der Platz, den du im VIP-Bereich bekommst. Ich habe heraus­ gefunden, dass die Leute eher bei Arbeiter- und Mittelklasse-Festen zu so einem Ver­halten neigen, weil sie sich auf diese Art aufwerten. Sie wollen wie die großen Jungs sein. Bei den Reichen hingegen wird bei weitem nicht so viel getrunken.“

Mehr Reportagen aus Afrika: andrewesiebo.com

DRAUSSEN VOR DER TÜR

68

BAPTISTE DE VILLE D’AVRAY

„Das ist der Eingang zum Club und Restaurant Spice Route in der wohlhabenden Gegend von ­Victoria Island. Ich habe dieses Foto gemacht, weil ich die Tür mochte – ihr Ethno-Design zeigt die in Lagos gängige Ästhetik. Außerdem wollte ich die Tür­ steher im Bild festhalten. Früher gab es sie nur in gehobenen Clubs, aber jetzt sind Türkontrollen fast überall zu finden. Sie sind typisch für die Partys der Stadt.“ THE RED BULLETIN


FRAUEN EROBERN EINE MACHO-ZONE

„Einmal im Jahr findet Jimmy’s Jump Off statt – ein Fest, das die nigerianische Hip-Hop-Szene feiert. Bevor das Genre Afrobeat ex­plodierte, waren Reggae und Hip-Hop die beliebtesten Musikstile hier, und zu dieser Zeit hat sich DJ Jimmy Jatt einen Namen ge­macht. Jetzt führt er den Spirit mit dieser Party fort. Dieses Foto zeigt DJ Nana. Das ist mir wichtig, weil die DJ-Szene in Nigeria ein ziemliches Macho-Ding ist; da gibt es kaum Frauen – von den Top-DJs sind nicht mehr als vier oder fünf weiblich. Ich wollte zeigen, dass Frauen jetzt diese Domäne erobern.“



Nightlife

DIE WÜRZE DES LEBENS

„Diese Buddha-Statue steht im Mittelpunkt des Spice Route Asian Restaurant and Bar auf Victoria Island, einem wohlhabenden ­Viertel von Lagos. Die Attraktion dieses Abends war allerdings nicht asiatische Kontemplation, sondern DJ Obi, einer der berühmteren seiner Profession in Nigeria, links oben im Bild. Obinna Levi Ajuonuma, wie der heute 36-Jährige mit bürgerlichem Namen heißt, hat in den USA studiert und wurde bei den Nigeria Entertainment Awards 2011 zum besten DJ der Welt gekürt.“

71


Nightlife

EIN FAST ECHTES VERSACE-OUTFIT

„Dieses Foto illustriert den Traum vom ­sozialen Aufstieg. Das T-Shirt des Mannes schaut irgendwie nach Versace aus, aber man kann es auf den ersten Blick als Fake erkennen. Obwohl: Er trägt es mit Selbstbewusstsein. Einerseits lieben die Leute Versace, aber es ist zu teuer. Also bleibt ihnen nichts anderes übrig, als zu Kopien zu greifen. Andererseits verkünden Blick und Körpersprache, dass er das T-Shirt mit einem Stolz trägt, als wäre es echt.“


RAUCHZEICHEN AUS AMERIKA

„Zigarren sind auf den Straßen von Lagos nicht wirklich verbreitet, aber die Leute rauchen sie, weil sie nach dem streben, was sie im Fernsehen und bei Hip-Hop-Idolen sehen. Wenn Stars wie Jay-Z und andere Zigarren paffen, dann ­wollen es ihnen in Lagos alle nach­machen. Für mich erzählt dieses Bild deshalb nicht nur vom Konsum auf ­Partys, s­ ondern auch davon, wie sich die Leute sozial neu erfinden.“

73


PARTY-FIEBER AUF DER INSEL

„Dieses Foto entstand auf Ilashe Island – einer Gegend, die berühmt ist für ihre Strandhäuser. Luxusmarken sponsern hier High-End-Partys, in diesem Fall ein Cognac-Fabrikant. Das Event hieß ‚All White Privilege Party‘. Der Dresscode lautete: ganz in Weiß. Es war mit Sicherheit keine Veranstaltung für arme Leute. Ich wollte die Tanzenden porträtieren und die Spannungen ­zwischen ihnen zeigen.“ 74


Nightlife


76

THE RED BULLETIN


Nightlife

PARTYSANEN

„Diese beiden Frauen auf der ‚Jimmy’s Jump Off‘-Party waren Zwillinge, und es sah aus, als trügen sie eine Party-Uniform. Das gleiche Outfit, die High Heels – ihr Stil war einzigartig. Die Leute in Lagos lieben es, sich so zu kleiden, mit kräf­tigen Farben und auf­fälligen Accessoires, aber ich habe noch nie zwei von der völlig ­gleichen Sorte neben­ einander gesehen.“

HOCHZEITEN IM GELDREGEN

„Ich mache normalerweise keine Hochzeitsfotos, aber ich wollte diesen Bereich für mein Projekt er­forschen. Nigerianische Hochzeiten sind riesig und super überdrüber, und was wir auf dem Bild oben sehen, ist ein gutes Beispiel dafür. Es zeigt, wie die Gäste mit Musik und Tanz in Ekstase geraten. Sie tragen traditionelle nigerianische Kleidung, wie es bei Hochzeiten und in der Kirche üblich ist. Einige Unternehmen lassen so was an Freitagen auch im Büro zu. Freitag ist der Tag, um kulturelle Identitäten zu zeigen.“ „Bei Hochzeitsfesten in Nigeria ist es Brauch, große Mengen Papiergeld über die gesamte Tanzfläche zu verstreuen (Foto unten). Damit wollen die Menschen ihren Reichtum ausdrücken. Jeder, der zu einer Hochzeit eingeladen ist, kann das tun. Ärgerlicherweise versucht die Regierung gerade, das gesetzlich zu verbieten – sie behauptet, das würde die Währung entwerten. Dieses Foto zeigt einen kleinen Ausschnitt dessen, was auf Hochzeiten im ganzen Land geschieht. Manchmal ist die ganze Tanzfläche mit Geld bedeckt.“ THE RED BULLETIN

77


DIE WOCHE BEI DEN HÖRNERN PACKEN?


GUIDE Tipps für ein Leben abseits des Alltäglichen

ADOBE STOCK

ACHTUNG, HEISS!

Die Globe­trotterin Ulla Lohmann bittet zur Fotosafari auf die Vulkane Ätna und Stromboli. 79


GUIDE Reisen

„Im Bauch von Mutter Erde fühlst du dich winzig klein. Du weißt: Du bist am Ursprung von allem.“ Ulla Lohmann, Reise-Guide und Fotografin, erzählt hier über die Magie von Vulkanen.

V

ulkane haben mich schon immer fasziniert. Mit 18 Jahren habe ich beim Wettbewerb „­ Jugend forscht“ ge­ wonnen. Das Preisgeld habe ich in eine Weltreise investiert. So stand ich eines Tages mit meinem Rucksack auf Vanuatu im Südpazifik und habe in einen Krater reingeguckt. Der Lavasee des Vulkans war zwar beeindruckend, aber ziemlich klein. Dennoch war ich gefesselt. Die Leiden­schaft für Vulkane hatte mich ge­ packt und hat mich seither nicht wieder losgelassen. Jeder Vulkan hat seinen eigenen Cha­ rakter, finde ich. Nehmen wir den Ätna. Er erinnert mich an eine nervöse Frau – ­immer knapp am Ausbruch: Sie geht kurz in die Luft, und dann ist wieder alles okay, bis sie das nächste Mal überkocht. Gleich nebenan findet sich das exakte G ­ egenteil: Der Stromboli ist für mich wie ein älterer Herr, der verlässlich sein Ding macht und gemütlich vor sich hin spuckt. Dass sich diese beiden so unterschiedlichen Vul­kane in unmittelbarer Nähe voneinander be­ finden, macht eine Fotosafari nach Si­zilien und zum Stromboli so interessant.

Lavastrom am Stromboli: Das flüssige Gestein fließt über die Sciara del Fuoco („Feuerrutsche“) ins Meer.

Wo die Lava brodelt Ich fotografiere nun schon seit über zwei Jahrzehnten. Ich habe zwar Geografie studiert, meine Leidenschaft war aber stets die Fotografie, das Abenteuerleben. Ich sehe mich als Geschichtenerzählerin, und eines meiner Werkzeuge dafür ist die 80

Das Schiff verbindet die Inseln auf dieser Reise: Sizilien, Stromboli und Vulcano (im Bild) THE RED BULLETIN


Gran Cratere auf Vulcano (li.): Sizilien und die Liparischen Inseln sind von Vulkanen geprägt.

Anreise Mit Flugzeug, Zug oder Auto; vor Ort ist man auf Fähren und Schiffe an­­ gewie­sen. Sowohl Ätna als auch Stromboli liegen im äußersten Süden Italiens. Stromboli ist eine kleine Insel, die Sizilien vor­ gelagert ist. Über Catania und den Hafen von Mi­laz­ zo ­erreicht man sie per Fähre. Auf den Gipfel des Vulkans führen mehrere Wege. Ulla Lohmann ­empfiehlt die malerische Ginostra-Route.

ULLA LOHMANN (2), ADOBE STOCK (2) WERNER JESSNER

Der Ätna ist vergleichsweise einfach zu be­­ steigen, ist der untere Teil doch per Seilbahn erschlossen: Die Funivia

Kamera. Ich bin immer unterwegs. Um mir meine Reisen finanzieren zu können, habe ich einst auf einem Schiff als Köchin angeheuert. Auf diese Art habe ich die Welt bereist, und das mache ich bis ­heute. Gemeinsam mit meinem Mann halte ich übrigens auch den Weltrekord für das tiefste Abseilen in einen aktiven Vulkan: 600 Meter! Das war ein sehr intensiver Moment in meinem Leben. Man fühlt sich tatsächlich wie im Inneren der Erde. Das ist im ersten Moment gar nicht so schön, aber irrsinnig intensiv. Es gibt so viele Sinnes­eindrücke: Die Erde bebt; die Gase stechen in der Nase; der Lavasee brodelt und ist wahnsinnig laut. Ganz oben siehst du ein winziges Loch – das ist der blaue Himmel, und er ist so weit weg. Hier u ­ nten, im Bauch von Mutter Erde, fühlst du dich THE RED BULLETIN

Italien

Rom

dell’Etna bringt Passa­ giere bis auf 2504 Meter Höhe. Der Gipfel selbst liegt auf 3357 Metern. Ganz Be­queme lassen sich mit Allradbussen bis auf rund 3000 Meter chauffieren. Mit Ulla Lohmann auf Ätna und Stromboli: destination.redbull.com

Stromboli Vulcano Ätna SIZILIEN

Catania

Gut zu wissen

Ausbruch am Ätna: Der Vulkan hat die Seele einer nervösen Frau, sagt Ulla Lohmann.

Der Ätna ist mit 3357 Metern der höchste aktive Vulkan Europas, er hat vier Gipfel- und rund vier­ hundert Nebenkrater. Seit Jahr­ tausenden aktiv, hat er etwa die an seinem Fuß ge­legene Stadt Catania im Lauf der Geschichte mehrfach zerstört. Sein Ausbruch im Jahr 44 v. Chr. soll so gewaltig gewesen sein, dass die Aschewolke den Himmel über Rom verdunkelt hat und Missernten bis Ägypten und China darauf zurück­geführt werden. Der bislang letzte Ausbruch er­ eig­nete sich im Oktober 2021, wobei Asche­wolken bis auf 9000 Meter ­geschleudert wurden.

81


GUIDE Reisen

Die Vulkan-Packliste Wer sich bei meiner Destination Red BullReise mit mir zu Ätna und Stromboli auf­ macht, sollte ein paar Dinge beherzigen. Vulkane sind Berge, die sich ihr eigenes Klima schaffen. Ihre aufsteigenden Gase begünstigen Wolkenbildung, daher ist es rund um den Gipfel gern nass. Ein guter Regenschutz sowie ein wetterfester Rucksack für Kamera und Objektive sind also zu empfehlen! Apropos: Für VulkanFotografie sind Zoom-Linsen Pflicht, denn

„Je mehr man über einen Vulkan weiß, desto besser kann man seine Seele abbilden.“

man kommt sehr oft nicht so nahe heran, wie man gern möchte. Ich verwende ein Standard-Zoom mit 24 bis 105 Millimeter Brennweite. Zusätzlich habe ich noch ein 100–500-Millimeter-Teleobjektiv dabei, das ­allerdings verdammt schwer ist. Am Berg ist Gewicht immer ein Thema. Daher finde ich auch, dass kein besonders tolles Stativ nötig ist (aber ein Stativ braucht man; damit entstehen ganz andere Auf­ nahmen als aus der freien Hand). Bilder sollen neugierig machen, mehr zu erfahren. Dazu muss der Fotograf wis­ sen, was er fotografiert. Daher erkläre ich meinen Gästen, was ich für wichtig halte: Was ist der Unterschied zwischen Magma und Lava? Wann sind die Lavaströme ent­ standen? Welche Gase sind in welchem Vulkan? Je mehr man weiß, desto besser kann man die Seele des Vulkans abbilden.

AUSGABE 4 SAISON 2022/23

Fotografin Ulla Lohmann, 44, gibt ihr Wissen gern an ihre Reisegäste weiter.

DANIEL BÆKKEGÅRD Mit Dänemarks Ironman ins Gute-LauneTriathlon-Camp auf Fuerteventura

KOMM, FAHR MIT!

JETZT BUCHEN: Unvergessliche Abenteuer-Reisen

mit Red Bull-Athleten und Legenden

TR AVEL EDITION

001_TRB01-TRB- 1

82

TRAILRUNNING | SURFEN | MOUNTAINBIKEN | SEGELN FREERIDE SKIING | KAJAK | FOTOGRAFIE | FORMEL 1 | FOILING

Noch mehr Reisen abseits des Alltäg­lichen mit Red Bull-Athleten als Begleitern gibt’s im neuen Destination Red Bull-Magazin. Alle Infos zum Programm: destination.redbull.com

18.10.2021 15:31:35

THE RED BULLETIN

ADOBE STOCK, SEBASTIAN KAYSER

winzig klein. Du weißt, du bist am Ur­ sprung von allem. Alles Leben auf un­ serem Planeten ist durch die Vulkane ­entstanden. In diesem Moment da unten habe ich Dankbarkeit empfunden. Man muss einem Vulkan aber gar nicht so nahe kommen, um seine Magie zu spüren. Dieser Schwefelduft in der ­Nase, diese explosionsartige Energie! ­Dabei bin ich kein Adrenalinjunkie, im ­Gegenteil. Meine Expeditionen sind sorg­ fältig geplant. Sie sind kalkuliertes Risiko. Vulkane besteige ich nur, wenn es sicher ist. Daher arbeite ich in der Vorbereitung viel mit Wissenschaftlern und Observa­ torien zusammen. Ich habe auch noch Umweltmanagement studiert, mein Mann ist Geologe. Wir wissen, was wir tun.

WERNER JESSNER

In Catania, der Stadt am Fuße des Ätna (im Hintergrund), nimmt die spannende Reise zu den Vulkanen Süditaliens ihren Anfang.


Spitz die Ohren The Red Bulletin gibt’s nun auch zum Anhören: inspirierende Interviews, scharfe Porträts, abenteuerliche Reportagen. Jeden Mittwoch ­– überall, wo es Podcasts gibt. Jetzt reinhören und gleich abonnieren.

Plus:

MICHAEL KÖHLMEIERS Kolumne Boulevard der Helden als Podcast-Serie


GUIDE Gaming „Pac-Man Museum+“ ist auf diversen Plattformen erhältlich. Die Spieler können an einem virtuellen Automaten 14 Versionen des Kult-Games zocken.

Die Fehler Der Mensch liebe es, Fehler aufzuspüren. „Ein Beispiel ist das ursprüngliche ‚Super Mario Bros‘. Wenn man am Ende eines der Levels richtig auf ein grünes Rohr springt, katapultiert das Spiel Mario in ein Level, in das er eigentlich nie kommen sollte: die Minuswelt. Die Farbpalette stammt von einem Level, die Gegenstände und Gegner von einem anderen. Auch Jahrzehnte später entdeckt man an diesen Spielen noch neue Dinge.“

Die Technik

Worin liegt die Faszination von Video-Games? Der britische Gaming-­ Professor James Newman kennt die Antwort. Videospiele sind längst ein Mega-Geschäft. 2020 erwirtschafteten sie 144 Milliarden Euro, mehr als die Filmbranche 2019, vor der Pandemie (91 Milliarden). Aber warum sind wir so süchtig nach Gaming? Damit befasst sich Professor James Newman vom britischen National Videogame Museum (NVM) seit einem Vierteljahrhundert. „Sind Videospiele für uns wie Filme oder eher wie traditionelle Spiele mit Regeln?“, fragt er. „Die Beziehung des Publikums zum Spiel ist ständig in Entwicklung.“ Von „Pac-Man“ bis „Fortnite“ hat Newman Hinweise auf den Schlüssel zum anhaltenden Reiz des Gamings entdeckt. 84

Die Psychologie Heutige Gamer können sich gar nicht vorstellen, wie beliebt „Pac-Man“ war, als es 1980 auftauchte. Binnen eines Jahres wurde mehr als eine Milliarde an Vierteldollar-

„Spieler suchen in Algorithmen nach Persönlichkeit.“ Gaming-Experte James Newman

Münzen in die Spielautomaten gesteckt. Der Pillen fressende Protagonist war der erste Superstar in der Welt des Gamings, aber die Gespenster, die ihn jagten, spielten eine ebenso wichtige Rolle. Ein Grund dafür: Wir suchen in allem, was uns unterkommt, nach einer Persönlichkeit. „Nehmen Sie das rote Gespenst, Blinky. Es heißt oft, er sei der Anführer, weil er so ,gemein‘ sei. Aber das liegt einfach nur an den Algorithmen, die seine Bewegungen steuern. Er nimmt die direkteste Route, also läuft er dem Spieler oft über den Weg. Aus einer simplen, programmierten Routine wird eine Persönlichkeit abgeleitet.“

Der Nutzen Bei „Animal Crossing“ (Nintendo Switch) gibt es keine Explosionen. Es geht um Hypotheken und Unkraut­ jäten. Dafür hatte das im ersten Lockdown veröffentlichte Spiel etwas anderes zu bieten: Es wurde zu einem Raum, in dem man Kontakt halten konnte mit Mitspielern. „Es ist faszinierend, wie das Spiel fernab seiner ursprünglichen Intention genutzt wird.“ Mehr Forschung: thenvm.org THE RED BULLETIN

STU KENNY

Aus Liebe zum Spiel

BANDAI NAMCO ENTERTAINMENT

SPURENSUCHE

„The Legend of Zelda“ (1986) auf dem NES war das erste Spiel, auf dem sich der Spielfortschritt speichern ließ. Das ermöglichte längere Spielhandlungen. Das war aber noch nichts gegen das spätere CD-Format. „Die Soundtracks hatten CD-Qualität“, erinnert sich Newman. „Da gab es Spiele wie ‚Wipeout‘ (1995) mit Musik von den Chemical Brothers. Derlei VideogameMusik hat mein Interesse an dem Thema überhaupt erweckt.“


GUIDE Playlist YELLO

„Da musst du einfach chillen“ Zum 40. Jubiläum des Schweizer Elektropop-Duos präsentiert Gründer Boris Blank vier Songs, ohne die er nicht kann.

BENJAMIN STAFFE

MARCEL ANDERS

Boris Blank ist der Typ im Hintergrund – der seinem Partner, dem wortgewandten Dieter Meier, gern das mediale Rampenlicht überlässt, dessen Kreativität aber essenziell für Yello ist. Der heute 70-jährige Zürcher lieferte für Meiers tiefen Bariton das musikalische Fundament – das abenteuerliche Puzzle aus wilden Samples, Loops und allerhand elektronischen Spielereien, das inzwischen 14 Alben gefüllt und Yello zum erfolgreichsten Schweizer Musikexport gemacht hat. Gerade feierte das Duo sein 40. Jubiläum mit dem Bildband „Oh Yeah – Yello 40“, der rare Fotos, Posters und Souvenirs der Bandgeschichte ver­sammelt. Für The Red Bulletin wählt Blank vier Songs aus, die ihn von damals bis heute geprägt und inspiriert haben.

„Oh Yeah“: Boris Blank (re.) und Yello-Partner Dieter Meier. yello.com

THE STOOGES

HERBIE HANCOCK

THE NORMAL

BIGA*RANX & LIL SLOW

DOWN ON THE STREET (1970)

RAIN DANCE (1973)

WARM LEATHERETTE (1978)

OVA (2020)

„Als ich in den Siebzigern in die Musik eingetaucht bin, standen für mich Cream, Frank Zappa und vor allem The Stooges im Vordergrund. Das Stück ‚Down On The Street‘ von ­Letzteren war Aufbruchsstimmung, ­Anarchie – und der Grund, warum ich in den Achtzigern nicht total auf Punk abgefahren bin. Denn ihr Punk war schon da, bevor Punk da war – es war quasi Proto-Punk.“

„Auf dem Album ‚Sextant‘ von ­Herbie Hancock findet sich das Stück ‚Rain Dance‘, das meine Ohren für elektronische Musik geöffnet hat. Da spielen sich Szenen ab wie von einem anderen Planeten: Herbie hat die Mischung aus Jazz und synthetischen Klängen so perfekt inszeniert, dass sie bis heute zeitlos ist. Deshalb habe ich mir einen ARP-Odyssey-Synthesizer gekauft. Seitdem mache ich Musik.“

„Ein weiteres Stück, das mich absolut fasziniert hat und einer der Auslöser dafür war, selbst Musik zu machen: The-Normal-Mastermind Daniel ­Miller war der elektronischen Musik – für mein Empfinden – seinerzeit ­ungefähr 30 Jahre voraus. Wenn ich die Nummer heute höre, erinnert mich das total an die Zeit Ende der Siebzigerjahre. Gleichzeitig ist es aber immer noch sehr modern.“

„Es gibt auch heute noch Musik, die mich inspiriert, so wie dieser Song. Ein Stück, das mir unter die Haut geht. Eine moderne Interpretation von Reggae, von Soul, von Stimme, von Euphorie, von Melancholie, Energie und Lebendigkeit. Und es hat ­etwas Echtes, was heute schon eine Seltenheit ist. Ich würde sagen: Da musst du einfach chillen, ein Hinhörer erster Klasse.“

THE RED BULLETIN

85


GUIDE Lesestoff

Kugelblitz auf Acid US-Autor Matt Ruff hat in den 33 Jahren seiner Karriere nur sieben Romane ­geschrieben. Keiner ist wie der andere, bis auf eins: Sie sind alle irre gut. Text JAKOB HÜBNER

M

att Ruff eilt ein gewisser Ruf voraus: Ausnahmetalent, Wenigschreiber, Kultautor. Was die Wahl seiner Themen, Zugänge und Stilmittel betrifft, ist der 1965 in New York geborene US-Amerikaner in etwa so berechenbar wie ein Kugelblitz auf Acid. Am Beginn dieser verwegenen Werkschau steht „Fool on the Hill“ aus dem Jahr 1988. Offenbar konnte sich Ruff, damals gerade einmal 23 Jahre alt, nicht recht entscheiden, ob er ein Zaubermärchen,

86

­ ine Campus-Komödie, eine e Liebesgeschichte, eine Tier­ fabel oder einen Horror-­ Slasher schreiben sollte. Also tat er ­alles auf einmal – und ver­fasste damit einen der besten Debüt­romane, die je ver­ öffentlicht wurden. Die Kritiker kamen aus dem Jauchzen kaum noch heraus, und alle fieberten ­erwartungsvoll dem zweiten Werk dieses jungen Super­talents entgegen. Ruff ließ sie zehn Jahre lang fiebern, ehe er 1998 mit „G.A.S.“ eine wahnwitzige ­Sci-Fi-Operette nachreichte,

die sich wie eine Verbeugung vor Douglas Adams (z. B. „Per ­Anhalter durch die Galaxis“) liest und allerbeste Voraus­ setzungen bietet, sich nachhaltig das Hirn zu verrenken. Diesem skurrilen KamikazeKlamauk ließ Ruff dann fünf Jahre später sein bisher feinfühligstes Buch folgen. „Ich und die a ­ nderen“ (2003) ist eine als Thriller getarnte Seelenromanze, in deren Mittelpunkt Penny und ­Andrew stehen – zwei Menschen, die selbst ­allerdings keinen Mittelpunkt haben, da sie beide an multi­ pler Persönlichkeitsstörung leiden. Ein wundervoller ­Roman, der sich via Zwerchfell tief ins Herz schleicht. Der nächste Halt auf dieser literarischen Achterbahnfahrt heißt „Bad Monkeys“ und stammt aus dem Jahr 2007: THE RED BULLETIN

VINZ SCHWARZBAUER

GENRE-QUERSCHLÄGER


„88 Namen“, Kapitel 1, Erste Vorbemerkung

BUCHTIPPS

SHERPA – wird bezahlt, um Spieler durch ein Massive Multiplayer Online Role-Playing Game (MMORPG) zu führen. ­Sherpas stellen ihren Kunden Charaktere, Ausrüstung und ­fähige Teamkameraden zur Verfügung und ermöglichen es ­ihnen, Spielinhalte für erfahrene Spieler zu erleben, ohne Hunderte von Stunden investieren zu müssen. Sherpas sind oft Freiberufler und haben mit den Unternehmen, die das ­jeweilige Spiel veröffentlicht haben, nichts zu tun.

In einer Verhörzelle im ge­ schlossenen Trakt einer Voll­ zugsanstalt in Las Vegas tischt die des Mordes an­ geklagte Jane Charlotte dem ihr zugeteilten Psycho-Weiß­ kittel eine sagenhafte Lebens­ geschichte auf, die nicht nur komplett irre, sondern auch ­irre komplett ist. Ruff insze­ niert dieses subtile Duell als paranoides Kammerspiel, in dem sich Wahn und Wirklich­ keit gefährlich nahe kommen. Noch einen Gang höher im Zwischengetriebe der Rea­ lität schaltet Ruff 2012 mit „Mirage“. Das Setting: Am 9. 11. 2001 krachen zwei Flug­ zeuge in die Türme des Welt­ handelszen­trums von Bagdad, ein drittes in das saudi-arabi­ sche Verteidigungsministeri­ um in R ­ iad. Das Erstaunlichste an dieser radikalen Alternativ­ weltgeschichte (à la Philip K. Dick) ist, dass Ruff den Zerr­ spiegel eines christ­lichen ­Fundamentalismus durchaus humorvoll aufzieht, ohne ­einen Tropfen Zynismus aus­ zuschütten. Wer nun glaubt, damit wäre des Wahnsinns fetteste Beute dieser Liste bereits eingefah­ ren, der irrt: Denn 2016 er­ scheint „Lovecraft Country“. Wie man auf die abstruse Idee kommt, die Schrecken der US‑Rassen­diskriminierung der Fünfziger­jahre zusammen mit gruse­ligen Versatzstücken aus den Horrorgeschichten H. P. Lovecrafts in einen schun­ digen Pulp-Episodenroman zu packen, weiß wohl nur einer. THE RED BULLETIN

Dass man diese Idee grandios umsetzen kann, wissen (auch dank der gleichnamigen TVSerie) mittlerweile sehr viele. Womit wir beim vorerst letz­ ten Streich Matthew Theron Ruffs wären: „88 Namen“. Wie­ der begibt er sich auf neues Terrain, diesfalls in die virtuelle Welt der Massive Multi­player Online Role-Playing Games, in der es der professionelle Sherpa John Chu mit e ­ inem undurchsichtigen Kunden zu tun bekommt, hinter dessen Game-Charakter sich mögli­ cherweise der nordkoreanische Diktator Kim Jong-un ver­ steckt. Was jedoch angesichts der Rachegelüste seiner mas­ siv überhitzten Exfreundin Darla nur Johns zweitgrößtes Problem ist … „Pure geek gold“ urteilte das renommierte New Yorker Branchenblatt „Publishers Weekly“. Fazit: Ein Buchregal, in dem kein einziger Roman von Matt Ruff steht, den kann man literarisch nicht wirklich ernst nehmen.

MATT RUFF „88 Namen“ Deutsch von Alexandra Jordan (Fischer Tor)

Sie wollen nur spielen Cyber-Schreiber: wie man in virtuelle Welten abtauchen kann, ohne den Computer hochzufahren.

DANIEL SUAREZ Exakt in der Sekunde, in der das Computerspielgenie ­Matthew Sobol stirbt, erwacht sein digitales Vermächtnis zum Leben: ein viraler Trojaner, der mit der menschlichen Zivilisation – im wahrsten Sinne des Wortes – abrechnet. Warnung: Bevor man diesen Hightech-Thriller oder den Nachfolger „Darknet“ ­aufschlägt, sollte man sich mit Proviant für mindestens zwei Tage eindecken. „Daemon“ (rororo)

ERNEST CLINE Mit dem Weltbestseller „Ready Player One“ (verfilmt von Steven Spielberg) gelang Ernest Cline das virtuose Kunststück, eine rund 540 Seiten starke Reminiszenz an die Achtzigerjahre in ein hochkomplexes GameSetting aus dem Jahr 2045 zu katapultieren. Leider konnte die Fortsetzung „Ready Player Two“ mit dieser rasanten krachbunten „Easter egg ­rallye“ nicht ganz mithalten. „Ready Player One“ (Fischer Tor)

TAD WILLIAMS Ein Genre-Meilenstein aus der digitalen Steinzeit: „Stadt der goldenen Schatten“, Teil 1 der legendären „Otherland“Tetralogie des US-Autors Tad ­Williams. Das Werk erschien bereits 1996 und gilt als eine Art literarischer Quelltext für die Erforschung virtueller Parallelwelten. Eine gewisse Liebe zum Detail sollte man angesichts der insgesamt fast 4.000 Seiten allerdings mitbringen. „Otherland“ (Klett-Cotta)

CORY DOCTOROW Aktivist, Blogger, Autor – der kanadische Internetguru Cory Doctorow hat sich den Ver­ heißungen der Digitalisierung bereits an mehreren Fronten gestellt. Herausragend sind seine „Little Brother“-Romane, in denen er in allerbester ­Orwell-Manier den Kampf ­gegen den totalen Über­ wachungsstaat aufnimmt. Das Vorwort der 2021er-­ Neuauflage stammt übrigens von Edward Snowden. „Little Brother: Aufstand“ (Heyne)

87


KÖNIGSKLASSE XXL MOTOGP IN KATAR Die MotoGP startet in die neue Saison. Diesmal mit 21 Rennen. Damit wird der Wettbewerb die umfangreichste Weltmeisterschaft in der Geschichte der Motorrad-Königsklasse sein. Den Auftakt macht Katar am 6. März mit einem Nachtrennen. ­ServusTV überträgt die Qualifyings, das vierte freie Training und die Rennen aller drei Klassen. servustv.com/motogp

MISSION EUROPA RB LEIPZIG VS. REAL SOCIEDAD Nach dem Ausscheiden aus der Champions League kämpft RB Leipzig (im Bild: Christopher Nkunku) nun im Play-off-Hinspiel (17. 2.) gegen Real Sociedad aus Spanien um den Einzug ins Achtelfinale der Europa League. dierotenbullen.com

„ WAIT A MINUTE, THIS LOVE ­STARTED OUT SO TENDER, SO SWEET, BUT NOW SHE GOT ME ­SMOKIN’ OUT THE WINDOW.“ Bruno Mars und Anderson .Paak, zusammen Silk Sonic, trauern in ihrem neuen Song ­ihrer ­Liebe nach, weshalb sie jetzt beim Fenster hinausrauchen müssen. Q ­ R-Code zum Video scannen: Wie die beiden ihre Z ­ igaretten halten, entlarvt sie als Nicht­raucher.

Richtig gutes Zeug Ein Lob der Zeitlosigkeit: Wir preisen Avril Lavigne, eine „Matrix“-Uhr und eine Brille für lange Gaming-Nächte.

AB IN DIE MATRIX! HAMILTON PSR MTX Nach Jahrzehnten des Wartens durften wir uns dieser Tage an Teil 4 der „Matrix“-Saga erfreuen. Dem ewigen Rätsel um Wirklichkeit oder Illusion verdanken wir eine Uhr, die Motive von „Matrix“ aufnimmt: etwa das leuch­tende Grün der Digitalanzeige. Oder das Regenmuster aus dem Film auf dem Gehäuseboden. hamiltonwatch.com

88

THE RED BULLETIN


GUIDE Tipps & Trends BLAULICHT-ALARM! RED BULL SPECT ELF RX Wer ein echter Gamer ist, widmet sich seinen Lieblingsspielen mit der gebotenen Hingabe. Was aber, wenn der Durchblick schwindet, weil der hohe Blaulichtanteil der Schirme ermüdet? Aufhören? Nein, Brille mit Blaulichtfilter aufsetzen – nicht ­umsonst tragen die gelben Gläser die Bezeichnung „Warrior“. Bei United Optics. unitedoptics.de

ZEITREISE IN DER KÜCHE Mit dieser Uhr macht Kochen gleich mehr Spaß.

BISSFEST „BITE ME“ VON AVRIL LAVIGNE Dass die kanadische Sängerin Avril Lavigne knapp 20 Jahre nach ihrem Welthit „Sk8er Boi“ auf ihrem neuen Album „Bite Me“ so klingt wie 2002, über­ rascht uns nicht wirklich (aber es gefällt uns!). Was aber ab­ solut erstaunlich ist: Sie sieht praktisch genauso aus wie ­damals. Wer’s überprüfen will: Anfang März kommt sie für mehrere Auftritte nach Deutschland. avrillavigne.com

LASST BLUMEN SPRECHEN GETY IMAGES (2)

KLEID VON ETRO Wenn das Blumenkind zur Dame gereift ist, schlüpft es in ein Kleid wie dieses. Es stammt aus der Sommerkollektion von Etro und kündet von „Freiheit, Achtsamkeit und kleinen Fluchten“. Creative Director Veronica Etro empfiehlt den ­Trägerinnen: „Let the sunshine in!“ Und wir kugeln inzwischen friedlich über bunte Wiesen. etro.com

THE RED BULLETIN

PUNKTGENAU MAX BILL KÜCHENUHR Der große Schweizer Architekt, Künstler, Hochschullehrer und ­Politiker Max Bill (1908–1994) hat uns viele wunderschöne Dinge hinterlassen, die von zeitloser Eleganz sind. Wie ­diese Küchenuhr, die Bill 1956 vorstellte und mit der man ­heute ­wieder mit Geschmack und auf den Punkt kochen kann. junghans.de

89


Weil ich die Zukunft unseres Landes nicht nur verfolgen, sondern mitgestalten will. Jetzt die F.A.Z. abonnieren und Deutschlands Zukunft gestalten. Ab 30,90 Euro/4 Wochen. Mehr auf freiheitimkopf.de


Freiheit beginnt im Kopf.


B O U L E VARD DER HEL DEN

ERIKA FUCHS

„DEM INGENIÖR IST NICHTS ZU SCHWÖR“

Serie: MICHAEL KÖHLMEIER erzählt die außergewöhnlichen Geschichten inspirierender Figuren – faktentreu, aber mit literarischer Freiheit. Folge 10: Die Frau, die Donald Duck zu literarischer Qualität verhalf.

92

THE RED BULLETIN

BENE ROHLMANN, CLAUDIA MEITERT MICHAEL KÖHLMEIER

A

IMAGO, GETTY IMAGES, PICTUREDESK.COM

D

er Panzerknacker 176-7/6 emeiner Erzählung von Charles Dickens pört sich, weil niemand da ist, nachgestalteten Figur Scrooge McDuck der zur Verteidigung seines Begibt sie in der Übersetzung den Namen rufsstandes die Stimme erhebt: Dagobert Duck; Gyro Gearloose, den „Wozu sind wir Mitglieder ­genialen Erfinder – den Ingeniör, dem im ­Interessenverband der Ein- und Aus­ nichts zu schwör ist –, tauft sie um in brecher?“ Sein Kollege 176-6/7 ant­ ­Daniel Düsentrieb, eine der genialsten wortet, ebenfalls empört: „Ja, und dem Wortschöpfungen aus ihrer Werkstatt. MICHAEL KÖHLMEIER Der Vorarlberger Ring­verein der Fälscher, Forstfrevler und Und aus dem vom Zeichner Carl Barks Bestsellerautor gilt Fassadenkletterer gehören wir auch an.“ Duckburg genannten Städtchen wird als bester Erzähler Im englischen Original heißen die das weit über unsere Sprache hinaus bedeutscher Zunge. rühmte Entenhausen. Die umliegenden Burschen mit den ewigen schwarzen Zuletzt erschienen: Ortschaften übrigens haben so wunderTarnbrillen „Beagle Boys“. Beagle ist der der Roman „Matou“, bar sprechende Namen wie Kummersdorf Name einer Hunderasse, Jagdhunde. 960 Seiten, Hanser Verlag. oder Quakenbrück an der Schnatter. Frau Dr. Erika Fuchs, die Übersetzerin der Donald-Duck-Geschichten, hat die ber nicht nur mit den Namen verfuhr Frau Namen der Einwohner einer von bunten Tieren Fuchs frei und nach ihrem Geschmack, auch ­bevölkerten Stadt ins Deutsche übertragen, und dies die Dialoge der Sprechblasen gestaltete sie um mit sehr freier Hand. Dass Walt Disney dazu die oder erfand sie frischweg neu. In einem Interview, ­Erlaubnis gab, ist erstaunlich, wo er doch sonst in da war sie schon weit über achtzig, konfrontierte sie Urheberrechtssachen unerbittlich streng sein konnte. der Journalist mit seinem – und nicht nur seinem – Der Großmeister der amerikanischen Comics und Urteil, sie habe aus den relativ schwachen T ­ exten des Zeichentrickfilme hat wohl sehr bald begriffen, dass amerikanischen Originals in ihren Übersetzungen er mit der Literaturwissenschaftlerin, Kunsthistorikerin und Archäologin ein außerordentliches Talent große moderne Literatur gemacht. Tatsächlich blitzt gewonnen hatte, das man nützen, aber nicht ein­ der Witz, den wir als so typisch für diese Geschichten­ engen konnte. Sie durfte in ihren Übersetzungen der bezeichnen, nur in den deutschen Ausgaben auf. Bildergeschichten, die zum größten Teil von dem Frau Fuchs wehrte sich charmant gegen diese Einschätzung – auch um ihren Freund Carl Barks in anderen außerordentlichen Talent, dem Zeichner Schutz zu nehmen. Witz sei nicht übersetzbar, sagte Carl Barks, stammten, schalten und walten, wie es sie. „Die Amerikaner lachen über andere Dinge ihr beliebte. Aus Donalds Neffen Huey, Dewey und als wir.“ Außerdem fänden sich Anspielungen auf Louie machte sie Tick, Trick und Track; der geizigen,


THE RED BULLETIN

93


B OU L EVAR D DE R HE L D E N

literarische und andere Traditionen in der ameri­ kanischen Kultur viel seltener als bei uns. Also sei ihr nichts anderes übrig geblieben, als zu den vor­ gegebenen Geschichten und Figuren neue Dialoge zu schreiben. Und neue Worte zu erfinden, müsste man hinzu­ fügen. Sie erfand Wörter, die Geräusche sprachlich wiedergeben sollten – zum Beispiel sehen wir, wenn Donald in die Steckdose greift, quer über das Bild ein grafisch schmerzhaft gezacktes Spratzel-­Spratzel! Darüber hinaus gilt Erika Fuchs als Begründerin einer in der deutschen Sprache neuen Verbform: des nach ihr benannten „Erikativs“. Diese sprach­ liche Form ist inzwischen längst in den allgemeinen Sprachschatz übergegangen – ächz, grübel, würg, schluck, knirsch …

A

propos Anspielungen: Ich weiß nicht, wie viele Dissertationen und andere wissenschaftliche Arbeiten geschrieben wurden, in denen den unzähligen historischen und literarischen Anspie­ lungen in den Übersetzungen von Erika Fuchs nach­ geforscht wird. Der Ingeniör-Spruch zum Beispiel ist eine satirische Nadel auf das seinerzeit berühmte­ „Ingenieurlied“ von Heinrich Seidel: „Dem Ingenieur ist nichts zu schwere – / Er lacht und spricht: / ‚Wenn dieses nicht, so geht doch das!‘ / Er überbrückt die Flüsse und die Meere, / Die Berge unverfroren zu durchbohren ist ihm Spaß …“ Oder wenn Tick, Trick und Track, die ebenso drolligen wie besser­ wisserischen Drillinge, schwören, dass sie sich bei aller ­Unbill beistehen wollen, dann lesen wir: „Wir wollen sein ein einig Volk von Brüdern, in keiner Not uns waschen und Gefahr.“ Das ist dem grimmi­ gen Rütlischwur aus Friedrich Schillers „Wilhelm Tell“ nachgeredet; statt „trennen“, wie es bei Schiller heißt, sagen sie „waschen“ – da sieht der humorfreie Schiller ziemlich baff aus. Oder wenn Daniel Düsen­ trieb, dem wieder einmal eine seiner Erfindungen nicht gehorcht, resigniert feststellt, er wolle stets das Gute, schaffe aber meistens nur Böses, dann bleibt uns nichts anderes übrig, als an Mephisto in Goethes „Faust“ zu denken, dem es genau umgekehrt geht; aber auch an Albert Einstein denken wir, der mitten im Krieg den damaligen amerikanischen Präsidenten­ Roosevelt bat, so schnell wie möglich die Atom­ bombe zu bauen, um Hitler zuvorzukommen, und der nach dem Krieg zu einem vehementen Warner vor der atomaren Aufrüstung wurde.

Erika Fuchs hat der deutschen Sprache den Erikativ geschenkt: ächz, grübel, würg, schluck! 94

Der Literaturkritiker Denis Scheck schreibt: „Die Comic-Texte der Erika Fuchs haben die deutsche Sprache bereichert wie keine zweite literarische Übersetzung seit dem Zweiten Weltkrieg.“ Sie selbst gibt sich bescheiden: „Ach, ich habe nur versucht, die Personen sprachlich zu unterscheiden als Ver­ treter von einer bestimmten Klasse und Generation. Und so redet eben Onkel Dagobert sehr korrekt, mit Konjunktiv und mit dem echten Genitiv, mit sehr vielen Sprichwörtern, sehr autoritär auch. Donald, der ja keinen Erfolg im Leben hat, der wetzt das aus, indem er oft blumig spricht und manchmal fast ­poetisch wird. Das habe ich mir so allmählich aus­ gedacht, dass man dadurch die Sache bereichern könnte. Das ist ja im Amerikanischen eigentlich nicht so möglich, weil da jeder im selben Stil spricht, die Unterschiede sind nicht so groß wie bei uns.“ Erika Fuchs, die Spracherneuerin – damit reiht sie sich ein neben die großen Übersetzer, die den Horizont der deutschen Sprache manchmal weiter spannten als ihre originären Dichterkollegen: Luther mit seiner Bibelübersetzung, Heinrich Voß mit dem Homer und Schlegel/Tieck mit Shakespeare.

I

n den Fünfzigerjahren des vorigen Jahrhunderts wurden Comics in Deutschland noch als Schund bezeichnet, und die meisten Hefte, die im Um­ lauf waren, wurden diesem Urteil durchaus gerecht. Die ersten Übersetzungen von Hergés genialen Bild­ romanen „Les aventures de Tintin“ kamen etwa zur gleichen Zeit heraus – als „Tim und Struppi“. Sie stießen ebenso auf Unverständnis wie die DonaldGeschichten. Man warf alles, was bunt g ­ ezeichnet und mit Sprechblasen versehen war, in einen Topf. An manchen Schulen sollen Lehrer sogar Heft­ verbrennungen im Schulhof organisiert haben. Die Kinder, so hieß es in mitunter hysterischen Aufrufen,­ würden durch die Lektüre verdorben, ihre Seele ­lebenslang geschädigt. Um das Image der bunten Hefte aufzupolieren, suchte der Disney-Konzern nach einem angesehenen Übersetzer, promoviert sollte er sein, am besten ein Professor. Die männ­ lichen Honoratioren winkten allerdings alle ab. Da trat man eben an Frau Dr. Fuchs heran, und sie war bereit, sich der damals wenig geachteten Auf­gabe anzunehmen. Zu den Nasenrümpfern soll sie ge­ sagt haben, sie zahle für jeden falschen Konjunktiv, der ihr in ihren Übersetzungen nachgewiesen werde. Sie musste nicht zahlen. Im Jahr 2001 erhielt sie den Sonderpreis zum Heimito von Doderer-Literaturpreis. Dass Comics endlich auch in Deutschland als die „9. Kunst“ anerkannt wurden, ist nicht nur, aber vor allem das Verdienst von Erika Fuchs. Donald Duck, der kleine Erpel im Matrosenanzug, der nur ein Thema in seinem Leben kennt, nämlich das Geld, ­respektive den Mangel desselben, wurde im deutsch­ sprachigen Raum zu einem der großen, unvergleich­ lichen literarischen Charaktere des 20. Jahrhunderts. Diesen jähzornigen, aber auch überschwänglich

THE RED BULLETIN


Donald Duck wurde zu einem der großen literarischen Charaktere des 20. Jahrhunderts. ­ ptimistischen, dann wieder tieftraurig räsonierenden o Charakter – „ich bin ein Niemand, der allernichtigste Niemand in ganz Entenhausen“ –, der uns in Tier­ gestalt Menschliches, Allzu­menschliches vorführt, wir verdanken ihn dieser Frau.

köstliche Szene, in der Ing. Düsentrieb Butter macht, indem er, das Butterfass mit der Milch am Rücken, auf Sprungstelzen durch Entenhausen hüpft. Erika Fuchs war ein bescheidener Mensch, eine Frau mit einem abgrundtiefen Witz, wie er in der deutschen Literatur gerade noch bei Georg Christoph Lichtenberg zu finden ist. Ihr letzter Wunsch war, neben ihrem Mann, den sie um einundzwanzig Jahre überlebt hatte, beigesetzt zu werden. In einen einfachen Stein sind ihre beiden Namen gemeißelt, nur ihre Namen. Die Kommentare geben wir ab. Wer diese Erika Fuchs war und was sie geleistet hat, das weiß jeder.

E

rika Fuchs wurde neunundneunzig Jahre alt, am 22. April 2005 ist sie in München gestorben. Verheiratet war sie mit einem Techniker und Erfinder – gefinkelte „Donaldisten“ glauben heraus­ gefunden zu haben, dass Frau Fuchs in ihren Briefen­ und Telefonaten dem Zeichner Carl Barks allerlei­ Anregungen zu der Figur des Daniel Düsentrieb­ ­gegeben hat, das sie wiederum von ihrem Mann Günter Fuchs zugesteckt bekam – zum Beispiel die

Michael Köhlmeiers Geschichten gibt es auch zum Anhören im Podcast-Kanal von The Red Bulletin. Zu finden auf allen gängigen Plattformen wie Spotify, auf redbulletin.com/podcast oder einfach den QR-Code scannen.

DAS JAHRESABO FÜR NUR €25,90

12 The Red Bulletin Ausgaben

getredbulletin.com

Erhältlich am Kiosk, im Abo, als E-Paper, auf theredbulletin.com oder als Beilage in einer Teilauflage von:


IMPRESSUM

THE RED BULLETIN WELTWEIT

Aktuell erscheint The Red Bulletin in sechs Ländern. Das ­Cover der März-Ausgabe unserer Schweizer Kol­ legen zeigt den EishockeyNationaltrainer Patrick ­Fischer, der von den Ureinwohnern Amerikas lernte, wie man ein Team führt und motiviert. Mehr Geschichten abseits des Alltäglichen findest du auf: ­redbulletin.com

96

Gesamtleitung Alexander Müller-Macheck, Sara Car-Varming (Stv.) Chefredaktion Andreas Rottenschlager, Andreas Wollinger (Stv.) Creative Direction Erik Turek, Kasimir Reimann (Stv.) Art Direction Marion Bernert-Thomann, Miles English, Tara Thompson Grafik Martina de Carvalho-Hutter, Kevin Faustmann-Goll, Cornelia Gleichweit Fotoredaktion Eva Kerschbaum (Ltg.), Marion Batty (Stv.), Susie Forman, Tahira Mirza, Rudi Übelhör Digitalredaktion Christian Eberle-Abasolo (Ltg.), Marie-Maxime Dricot, Melissa Gordon, Lisa Hechenberger, Elena Rodríguez Angelina Head of Audio Florian Obkircher Chefin vom Dienst Marion Lukas-Wildmann Managing Editor Ulrich Corazza Publishing Management Ivona Glibusic, Bernhard Schmied, Melissa Stutz, Anna Wilczek Managing Director Stefan Ebner Head of Media Sales & Partnerships Lukas Scharmbacher Head of Co-Publishing Susanne Degn-Pfleger Projektmanagement Co-Publishing, B2B-Marketing & Communication Katrin Sigl (Ltg.), Katrin Dollenz, Thomas Hammerschmied, Sophia Wahl, Teresa Kronreif (B2B), Eva Pech, Valentina Pierer, Stefan Portenkirchner (Communication), Jennifer Silberschneider Creative Services Verena Schörkhuber-Zöhrer (Ltg.), Sara Wonka, Julia Bianca Zmek, Edith Zöchling-Marchart, Tanja Zimmermann Commercial Management Co-Publishing Alexandra Ita Editorial Co-Publishing Raffael Fritz (Ltg.), Gundi Bittermann, Mariella Reithoffer, Wolfgang Wieser Executive Creative Director Markus Kietreiber Senior Manager Creative Elisabeth Kopanz Art Direction Commercial & Co-Publishing Peter Knehtl (Ltg.), Luana Baumann-Fonseca, Erwin Edtmayer, Simone Fischer, Andreea Gschwandtner, Lisa Jeschko, Araksya Manukjan, Carina Schaitten­ berger, Julia Schinzel, Florian Solly, Dominik Uhl, Sophie Weidinger, Stephan Zenz Abo & Vertrieb Peter Schiffer (Ltg.), Marija Althajm, Nicole Glaser, Victoria Schwärzler, Yoldaş Yarar Anzeigenservice Manuela Brandstätter, Monika Spitaler Herstellung & Produktion Veronika Felder (Ltg.), Friedrich Indich, Walter O. Sádaba, Sabine Wessig Lithografie Clemens Ragotzky (Ltg.), Claudia Heis, Nenad Isailović, Sandra Maiko Krutz, Josef Mühlbacher Finanzen Mariia Gerutska (Ltg.), Simone Kratochwill, Klaus Pleninger MIT Christoph Kocsisek, Michael Thaler IT Service Desk Maximilian Auerbach Operations Alice Gafitanu, Melanie Grasserbauer, Alexander Peham, Thomas Platzer Projekt Management Dominik Debriacher, Gabriela-Teresa Humer Assistant to General Management Sandra Artacker Herausgeber & Geschäftsführer Andreas Kornhofer Verlagsanschrift Am Grünen Prater 3, A-1020 Wien Telefon +43 1 90221-0 Fax +43 1 90221-28809 Web redbulletin.com Medieninhaber, Verlag & Herausgeber Red Bull Media House GmbH, Oberst-LepperdingerStraße 11–15, A-5071 Wals bei Salzburg, FN 297115i, Landesgericht Salzburg, ATU63611700 Geschäftsführer Dkfm. Dietrich Mateschitz, Dietmar Otti, Christopher Reindl, Marcus Weber

THE RED BULLETIN Deutschland, ISSN 2079-4258 Länderredaktion Maximilian Reich Lektorat Hans Fleißner (Ltg.), Petra Hannert, Monika Hasleder, Billy Kirnbauer-Walek, Belinda Mautner, Klaus Peham, Vera Pink Country Project Management Nina Hahn Media Sales & Partnerships Thomas Hutterer (Markenlead), Michael Baidinger, Franz Fellner, Ines Gruber, Wolfgang Kröll, Gabriele Matijevic-Beisteiner, Alfred Vrej Minassian, Nicole Okasek-Lang, Britta Pucher, Jennifer Sabejew, Johannes Wahrmann-Schär, Ellen Wittmann-Sochor, Ute Wolker, Christian Wörndle, Sabine Zölß Abo Abopreis: 21,90 EUR, 10 Ausgaben /Jahr, getredbulletin.com, abo@de.redbulletin.com Druck Quad/Graphics Europe Sp. z o. o., Pułtuska 120, 07-200 Wyszków, Polen

THE RED BULLETIN Frankreich, ISSN 2225-4722 Länderredaktion Pierre-Henri Camy Country Coordinator Christine Vitel Country Project Management Alexis Bulteau

THE RED BULLETIN Großbritannien, ISSN 2308-5894 Länderredaktion Tom Guise (Ltg.), Lou Boyd Lektorat Davydd Chong Publishing Management Ollie Stretton Media Sales Mark Bishop, mark.bishop@redbull.com

THE RED BULLETIN Österreich, ISSN 1995-8838 Länderredaktion Wolfgang Wieser Lektorat siehe entsprechenden Eintrag bei Deutschland Publishing Management Bernhard Schmied Media Sales & Partnerships Thomas Hutterer (Markenlead), Michael Baidinger, Franz Fellner, Ines Gruber, Wolfgang Kröll, Gabriele Matijevic-Beisteiner, Alfred Vrej Minassian, Nicole Okasek-Lang, Britta Pucher, Jennifer Sabejew, Johannes Wahrmann-Schär, Ellen Wittmann-Sochor, Ute Wolker, Christian Wörndle, Sabine Zölß Sales Operations & Development Anna Schönauer (Ltg.), David Mühlbacher

THE RED BULLETIN Schweiz, ISSN 2308-5886 Länderredaktion Stefania Telesca Lektorat siehe entsprechenden Eintrag bei Deutschland Country Project Management Meike Koch Media Sales & Brand Partnerships Christian Bürgi (Ltg.), christian.buergi@redbull.com Marcel Bannwart, marcel.bannwart@redbull.com Jessica Pünchera, jessica.puenchera@redbull.com Goldbach Publishing Marco Nicoli, marco.nicoli@goldbach.com

THE RED BULLETIN USA ISSN 2308-586X Länderredaktion Peter Flax (Ltg.), Nora O’Donnell Lektorat Catherine Auer, David Caplan Publishing Management Branden Peters Media Sales Todd Peters, todd.peters@redbull.com Dave Szych, dave.szych@redbull.com Tanya Foster, tanya.foster@redbull.com

THE RED BULLETIN


Ernährung

Bewegung

Erholung

Bewusstsein

Gesund genießen.

Den Körper spüren.

Durchatmen, loslassen.

Dir selbst vertrauen.

carpe diem carpe diem carpe diem LEBEN ZEIT FÜR EIN GUTES

05/21

01/22

ZEIT FÜR EIN GUTES LEBEN

Feine Forelle, zarter Zander: 6 leichte Sommerrezepte

NUR DIE LIEBE IM GEPÄCK

ZEIT FÜR EIN GUTES LEBEN

EUR 5,80

5,80 FLÜSSIGES EUR GLÜCK

DAS KIND IN DIR

So vielfältig ist Honig: Rezepte für den Bären in dir

FISCH AHOI!

06/21

Wie du es findest und von ihm lernen kannst

EUR 5,80

PLACEBO FÜR ANFÄNGER

GUT GESCHÜTZT Mit TCM gegen Kälte, Wind und Schnupfen

Der wundersame Effekt und seine Grenzen

Geschichte einer Weltreise, die zur Paar-Therapie wurde

Pflanz mich! Heute mach ich nichts Komm mit zu dir selbst! Grüne Lebensfreunde –

Entscheidung zwischendurch die beste Warum der kleine Leerlauf wirklich ist. Plus: So geht gut schlafen fürs Gehirn und die Welt

wie Zimmerpflanzen uns stärken und entspannen. Plus: Welcher Baum passt in welchen Raum?

Diefünf unterschätzte nutzen So werden sie zu unseren Herzen heilte Kraft der Meditation und einfache Wege, sie zuHORMONE

ein Vogel UND PINGUIN Wie wir mögen was in uns steckt LEBENSMUT Warum wir mögen, was GENIALE GENE Nützen, GESCHMACKSSACHE Sport mit Gartenschlauch SPRÜHENDES GLÜCK

GANZ BEI SICH BLEIBEN

INTUITIV ESSEN Gesund ist, was schmeckt! GELIEBTER MOND Die schönsten Gedichte zur Nacht

Verbündeten PARKOUR Wenn die Stadt zum Spielplatz wird Wie geht das? PAUSEN-JAUS E Die gesunde Genuss-Box für unterwegs

SPÜRNASE Auf Trüffelsuche in Umbrien TURNSAAL-LEGENDEN Was Reck, Seil & Co wirklich bringen

Podcast

Magazin

Online

Zeit zum Zuhören

6× im Jahr

Zeit für Inspiration

carpediem.life


NICOLAS MAHLER

N IC OL AS M A HL ERS SPI T ZF ED ERL ICHES CHA R A K T ER-K A BINE T T

Die nächste Ausgabe des RED BULLETIN erscheint am 8. März 2022.

98

THE RED BULLETIN


Give wings to your career

Fernanda Maciel, Ultraläuferin

„Meine größte Stärke ist meine Intuition.“ Finde auch du heraus, worin deine wahren Stärken liegen und lerne diese mit gezieltem Coaching auszubauen.

redbull.com/wingfinder


SO LAUT KANN LEISE SEIN. Der vollelektrische Ford Mustang Mach-E. Bis zu 610 km Reichweite.1 Verbrauchswerte nach § 2 Nrn. 5, 6, 6 a Pkw-EnVKV in der jeweils geltenden Fassung: n. v.* Verbrauchswerte nach WLTP: Stromverbrauch: 20–16,5 kWh/100 km (kombiniert); CO2-Emissionen im Fahrbetrieb: 0 g/ km (kombiniert). * n. v. = Daten nicht verfügbar. Der Gesetzgeber arbeitet an einer Novellierung der Pkw-EnVKV und empfiehlt in der Zwischenzeit für Fahrzeuge, die nicht mehr auf Grundlage des Neuen Europäischen Fahrzyklus (NEFZ) homologiert werden können, die Angabe der realitätsnäheren WLTP-Werte. Diese sind in der nachfolgenden Zeile zu finden. 1 Gemäß Worldwide Harmonised Light Vehicles Test Procedure (WLTP) können bis zu 610 km Reichweite bei voll aufgeladener Batterie erreicht werden – je nach vorhandener Konfiguration. Die tatsächliche Reichweite kann aufgrund unterschiedlicher Faktoren (Wetterbedingungen, Fahrverhalten, Fahrzeugzustand, Alter der Lithium-Ionen-Batterie) variieren.


ABSEITS DES ALLTÄGLICHEN

THE RED BULLETIN 03/2022


Turn static files into dynamic content formats.

Create a flipbook
Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.