Fiat 600 Multipla - Der Ur-Van

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FIAT600 MULTIPLA DER UR-VAN Roman Steiner

RETRO KIOSK


Die Geschichte des Multipla

Ab 1956 gab es aber bereits einen Multipla, der mit seinem späteren Namensvetter nur besagten Namen (ital. für „mehr“) gleich hatte. Der erste Multipla ist in der Retrospektive ein bedeutendes Automobil. Ohne das es den Begriff bereits gab, war der Multipla einer der ersten, wenn nicht der erste Van nach heutigen Gesichtspunkten. Auch praktizierte man mit dem Multipla eine Praxis der Weiterentwicklung einer Modellreihe, wie sie heute üblich ist. Die Geschichte des Multipla beginnt in den 1950er Jahren des vergangenen Jahrhunderts mit der Entwicklung der Kleinwagen Nuova 500 und 600 bei Fiat in Turin. Die Wagen sollen preiswert sein und so über einen großen Absatz die Massen mobilisieren, die sich zu jener Zeit kein Auto leisten konnten und mit Mofa und Motorrad unterwegs waren. So ist die Ei-Form des Nuova 500 und des 600 das Ergebnis der Aufgabenstellung, möglichst wenig Blech zu verbrauchen. Das beim 500 standardmäßig vorhandene Dachfenster war aus demselben Grund vorhanden, sparte man doch auch hier den Rohstoff. 1955 startete die Produktion des Fiat 600, 1957 die des Fiat Nuova 500. Unter damals geltenden Ansprüchen stellte der Fiat 600 das Familienauto mit vier vollwertigen Sitzplätzen dar (Maße: 3,29 x 1,40m, Preis 1958 rund 4500 DM). Sein kleiner, billigerer (Preis 1958 rund 3000 DM) Bruder 500 präsentierte in der Werbung vorsichtshalber aufgrund der kleineren Fahrzeugmaße (Maße: 2,97 x 1,32m) nur Kinder auf der Rücksitzbank. Der 500 hatte einen luftgekühlten Heckmotor verbaut, der 600 einen wassergekühlten. Die Elektronik beschränkt sich auf die nötigsten Funktionen, was sich am Armaturenbrett an nur wenigen Schaltern, etwa für Scheibenwischer oder Licht, deutlich zeigt. Während der Nuova 500 zu Beginn noch hinter den Erwartungen zurück blieb und in Preis und Ausstattung nachgebessert werden musste (der Preis wurde gesenkt, die Leistung von 13,5 auf 15 PS erhöht), avancierte der Fiat 600 von Beginn an zu einem

Erfolg für Fiat. Bei Seat in Spanien, seinerzeit ein Staatsunternehmen, fertigte man in Lizenz die FiatAutomobile, so auch den 600 als Seat 600. Im damaligen Jugoslawien fertigte man den 600 als Zastava 600, später als 750 und 850 sogar bis 1986. Auch in Deutschland wurde der 600 eine Zeit lang produziert: Als NSU-Fiat Jagst 600, später 770, produzierte die Neckar Automobilwerke AG, zugehörig zu Fiat, in Heilbronn den Wagen in Lizenz. Der 600 konnte zwar eine Familie ordentlich transportieren, bot jedoch nicht den Platz, um auch dem Handwerker oder dem Händler für den Transport größerer Dinge zu dienen. Die Wünsche der Verbraucher erhörte man in Turin. Konstrukteur Dante Giacosa entwickelte daraufhin aus dem Fiat 600 den 600 Multipla, der 1956 präsentiert wurde und rund 5000 DM kostete.

Wurde ab 1955 produziert: Der Fiat 600.

Bilder: © FCA Press

Spricht man heute vom Fiat Multipla, denken viele an den eigenwillig gestalteten Van des italienischen Herstellers aus den Jahren 1999 bis 2010. Vor allem dessen erste Modelgeneration mit abgesetzter Falte über der Motorhaube spaltet die Geschmäcker.

Der kleine Kugelbruder: Der Fiat 500, 1957.


Bild: © Leoni Pfeiffer


Bilder: Š FCA Press

Der Fiat 600 Multipla auf einen Werksfoto (oben) und als Zeichnung im Querschnitt mit 2 Sitzbänken (unten).


Der Multipla im Detail

Der Fahrgastraum bot die Variabilität, die noch heute Kundenwünschen entspricht: Eine Variante mit drei

Sitzreihen und Platz für 6 Personen, eine mit zwei Sitzreihen als umklappbare Einzelsitze. Die Heizung war damals bei 600 und Nuova 500 immer separat zu kalkulieren. Die Sitzbänke ließen sich entfernen und gaben so einen geräumigen Laderaum frei. Alternativ ließen sich die Bänke auch fast eben umklappen und zum durchaus komfortablen Übernachten im Wagen nutzen, fertig war der Campingbus. Auch gab es aufgrund der günstigen Größenverhältnisse eine Taxivariante. Mit rund 700 kg Leergewicht und einer Zulademöglichkeit von rund 400 kg verbrauchte der Wagen zwischen 7 und 8 Litern auf 100 km. So konnte man, je nach Beladung, bis zu 110 km/h Spitze auf der Autobahn erreichen. Zwischen 130.000 und 160.000 Stück von Fiat 600 Multipla und 600 D Multipla enstanden bis 1965, vom Ursprungswagen, dem Fiat 600 entstanden allein bis 1960 950.000 Einheiten. Trotz seiner teils einmaligen Eigenschaften blieb der Multipla ein Randprodukt. Aus heutiger Sicht war der Wagen seiner Zeit wohl voraus. Die Front wirkte ungewohnt, Variabilität, Platz und Komfort auf möglichst kompaktem Raum sind heute wichtige Kriterien beim Fahrzeugkauf. Früher waren diese eher noch dem Preis untergeordnet, der letztlich wohl vielen zu teuer erschien. Heute sind der 600 Multipla und der 600 D Multipla gesuchte Fahrzeuge. Die Seltenheit der Wagen wirkt sich hier auf den Preis aus. Rund 40.000 $ und mehr zahlten Käufer bei Auktionen des Auktionshauses RM Sothebys für Multipla-Modelle.

Bild: © Leoni Pfeiffer

Das Heck behielt den Motor (anfangs 633 ccm und 22 PS, später, ab 1960 als 600 D Multipla 770 ccm 25 PS) und das Design des 600. Um mehr Platz zu bieten wurde der Wagen entsprechend länger, rund 25 cm, und etwas breiter, 5 cm. Mit der Verlängerung wurde eine neue Vorderachskonstruktion nötig. Die Fahrer- und Beifahrertür blieb hinten angeschlagen (sogenannte Selbstmördertüren), zusätzlich gab es noch an jeder Seite Türen in den Fahrgastraum, diese ebenfalls an der B-Säule angeschlagen, also nach vorne öffnend. Ein Merkmal, das heute für irritierte Blicke sorgt. Fahrer und Beifahrer sitzen auf der Vorderachse, der Wagen ist in Frontlenkerbauweise selbsttragend realisiert, einen Vorbau mit Kofferraum im Vergleich zum regulären 600 gibt es nicht. Dementsprechend präsentiert sich die Front des Multipla in neuem Design mit markanten runden Leuchten und viel Chrom, ganz im Stile der damals vorherrschenden Gestaltungsmode. Der direkte Blick von der Fahrerposition auf die Straße regte in zeitgenößischen Kritiken gerne zum Vergleich mit Nutzfahrzeugen wie dem VW T1 an. Der Multipla präsentierte sich aber höherwertiger mit den Komfortmerkmalen eines Personenwagens, etwa mit Heizung und bequemer Sitze oder Einzelradaufhängung der hinteren Räder in Kombination mit Schraubenfedern und Teleskopstossdämpfern. Auch dies eine Reminiszenz an heutige Familien-Vans mit deren Komfort-Ansprüchen.


Das Frontlenkerkonzept und die damit verbundene Front waren für damalige Automobilkäufer noch ungewohnt.

Auch als Campingmobil machte der Multipla eine gute Figur. Neben dem Platz im Wageninneren konnte auch Gepäck auf dem Dachständer transportiert werden.

Der 600 hat wie der kleine Bruder 500 den Motor im Heck verbaut. Durch die große Klappe ist dieser bestens zugänglich.

Bilder: © Darin Schnabel 2015 © Courtesy of RM Sothebys

Die Elektronik beschränkte sich auf die nötigsten Funktionen, was sich im Armaturenbrett an nur wenigen Schaltern deutlich zeigt.


Variabilität eines heutigen Vans: Die Rückbank ergibt einen großen Ladebereich, der gut zugängig ist. Alternativ gab es auch noch eine dritte Sitzbank.

Ungewohnt, aber aus Platzgründen ist der Ersatzreifen beim Beifahrer in der Front angebracht. Fahrer und Beifahrer sitzen zudem auf Höhe der Achse.

Gewohntes Heck: Das Heck des Multipla blieb dem des „regulären“ 600 gleich.

Bilder: © Otis Clay 2013 © RM Auctions Inc.

Angesichts der Abmessungen heutiger Fahrzeuge erscheint der Multipla mit seinen knapp 1,50 m Breite zierlich, kann aber bis zu 6 Personen transportieren.


Leidenschaft Multipla Interview mit Multipla-Fahrer Hermann Herfurtner Herr Herfurtner, wie sind Sie zu Ihrem 600 Multipla gekommen?

Gibt es mit Ihrem 600 Multipla ein besonderes Erlebnis, an das Sie sich gern zurück erinnern?

Mein Multipla wurde mir auf der Veterama in Mannheim von einem Polen angeboten. Das Fahrzeug war in Polen restauriert worden, was mir anhand von Bildern gezeigt wurde. Ich hatte weder Geld noch einen Anhänger dabei, so einigte ich mich auf eine direkte Lieferung am darauffolgenden Sonntag zu mir nach Hause. Der Verkäufer vertraute mir und hängte einen „Verkauft“-Vermerk in den Wagen. Ich war sehr froh, einen fertigen Multipla gefunden zu haben. Ich besaß zuvor bereits 3 Karosserien, von denen eine über 4 Jahre geschweißt wurde. Ich verlor dann die Lust und verkaufte alles.

Ein besonderes Ereignis war der Einsatz des Multipla als Hochzeitsfahrzeug für meinen Sohn. Er heiratete eine Italienerin, die sehr stolz auf dieses Fahrzeug ist und mir schon drohte, dass ich ihn nie verkaufen dürfte! Dazu fand die gesamte Familie mit dem Hochzeitspaar, 3 Kindern und mir als Fahrer Platz in dieser Hochzeitskutsche!

Wie gut eignet sich der 600 Multipla als Oldtimer?

Der Multipla eignet sich sehr gut als Oldtimer, er wird regelmäßig bestaunt! Ich höre dann immer wieder, dass der neue Multipla im Vergleich zum 600 Multipla hässlich wäre.

Zum Fiat 600 gibt es ja eine sehr engagierte Fanszene. Welche Bedeutung hat der Multipla unter 600Fans?

Der Multipla wird gerne in unserem Fiat 600 Club und von anderen Fans gesehen, da es nur sowenige davon noch gibt. Hinzu wird man wegen der Lademöglichkeiten beneidet.

Der Multipla bot ja damals bereits viel von dem, was heute einen „Van“ ausmachen soll. Wie „praktisch“ ist der Wagen in Ihren Augen heute im Vergleich zu modernen Fahrzeugen?

Er soll der Vorläufer der heutigen Vans, wenn nicht sogar der erste Van überhaupt gewesen sein. Er eignet sich sehr gut als Wagen für 6 Personen oder als Transportfahrzeug mit vier umgelegten Sitzen. Nur der Motor ist etwas zu schwach dimensioniert. Was gefällt Ihnen besonders an diesem Wagen?

Mir gefällt der Multipla wegen seiner besonderen und ausgefallenen Form. Trotz seiner funktionalen Eigenschaften blieb der Multipla ja eine Randerscheinung. Glauben Sie, dass der Wagen zu modern für seine Zeit war?

Zu modern war er, glaube ich, nicht. Da die Sitze beispielsweise jedoch nicht besonders bequem waren wurde er schnell von mehr komfortableren Autos abgelöst.

Hermann Herfurtner in seinem Fiat 600 Multipla.


Bilder: Š Hermann Herfurtner

Bild oben: Hochzeit im Multipla, Multipla im Urlaub (Mitte). Unten: 600-Familie: Oranger Seat 600, Fiat 600 Multipla, Fiat 600, Fiat 600 Jolly, Seat 600 Formichetta, Fiat 600 in der Abarth-Version und ein Moretti 600 auf Fiat-Basis.


Bild: © Hermann Herfurtner (Titelbild, Rückseite)

Impressum: Herausgeber/Redaktion/V.i.S.d.P: Roman Steiner, Stötthamerstr. 12, 83339 Chieming. E-Mail: kontakt@retrokiosk.net, Fax: +49 3222 3945980, impressum.retrokiosk.net. Diese Publikation ist ein nicht-kommerzielles Projekt. Genannte Marken gehören den jeweiligen Eigentümern. Alle Rechte vorbehalten. Technische Angaben sind ohne Gewähr. Wir danken den Fiat 600 Freunden Deutschland für die freundliche Unterstützung.


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