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Häusliche Gewalt
Wir brauchen Aufklärung!
Trotz der Istanbul-Konvention sind Frauen und Mädchen noch immer von körperlicher, sexualisierter und häuslicher Gewalt durch Männer bedroht. Das zu ändern, geht nur, wenn jeder einzelne Verantwortung übernimmt.
Als sich die 33-jährige Sarah Everard nach einem Treffen bei Freunden am Abend des 3. März im südlichen London auf den Heimweg macht, tut sie genau das, was Mütter ihren Töchtern beibringen: Sie läuft an belebten Straßen entlang, meidet verlassene Gegenden und Grünflächen und telefoniert beim Gehen mit ihrem Freund. Dann verschwindet sie. Eine Woche später wird ihre Leiche gefunden. Ein Polizist wird verdächtigt, sie entführt und getötet zu haben. Bislang äußert er sich nicht zu den Vorwürfen.
Gewalt gegen Frauen ist nichts Neues. Alle Frauen und Mädchen erleben sie irgendwann im Laufe ihres Lebens. Unerwünschte Berührungen, blöde Anmachsprüche, ungebetene Kommentare über Aussehen, Kleidung und Körper, physische Übergriffe. „Gewalt ist Zwang und seine Androhung, Ver- und Behinderung und Ausdruck von Respektlosigkeit, Intoleranz, Geringschätzung“, steht in einem Skript von Dr. Christel BaltesLöhr, Professorin für Erziehungswissenschaften und Geschlechterforschung an der Uni Luxemburg. Ihr Seminar über Gender Studies ist gut besucht, hier lernen Studierende, wie Gewalt entsteht, welche Auswirkungen sie hat und wie man ihr entgegentreten kann.
„Gewalt stößt gesellschaftlich noch immer auf zu viel Akzeptanz“, sagt BaltesLöhr. „Es muss sofort eingegriffen werden, wenn Gewalt geschieht. In der Schule, in der Familie, in den Vereinen, im Freizeitbereich, überall, wo Menschen zusammenkommen.“ Und dann erzählt sie, wie sie vor ein paar Monaten im Vorbeigehen einen kleinen Jungen hörte, der seine Mutter beschimpfte. Dafür benutzte er einen Ausdruck, dessen Bedeutung ihm selbst gar nicht klar war. Er wusste nur, dass das Wort für Aufregung sorgt. „Man muss inhaltlich mit Kindern sprechen, wenn sie solche Ausdrücke benutzen. Sie wissen oft nicht, was sie da sagen.“
Nach dem Verschwinden von Sarah Everard wurde von den britischen Behörden schnell eine Warnung an alle Frauen herausgegeben. Sie beinhaltete den Rat, das Haus in den Abendstunden möglichst nicht mehr zu verlassen, um nicht zum nächsten Opfer zu werden. Offiziell wurde damit den Frauen die
Dr. Christel Baltes-Löhr, Professorin für Erziehungswissenschaften und Geschlechterforschung an der Uni Luxemburg
Verantwortung zugeschoben. Wären sie nicht draußen, würde es auch keine Übergriffe geben, so die Aussage. Was dann folgte, waren ein Aufschrei in den sozialen Medien und Mahnwachen zum Gedenken an eine junge Frau, die nichts anderes getan hatte, als kurz vor halb zehn Uhr abends im öffentlichen Raum unterwegs zu sein. Zudem wurde eine Website eröffnet, auf der Frauen ihre Erlebnisse in Bezug auf sexualisierte Gewalt mitteilen können. Innerhalb weniger Tage kamen dort Hunderte von Texten zusammen.
Aus ihnen kann man vieles lesen. Unter anderem, wie unsicher sich Frauen oft sind, ob die erlebten Situationen überhaupt als Übergriffe und Gewalt zu bezeichnen sind. Viele Betroffene erklären, sich erst Jahre nach dem Erlebnis darüber klargeworden zu sein, dass ihnen Gewalt angetan wurde. „Wir brauchen Aufklärung“, sagt Christel Baltes-Löhr. „Es wird noch zu viel weggeguckt, zu viel akzeptiert. Und es werden die großen Ereignisse skandalisiert, die Morde und Entführungen. Doch es müssen auch die kleinen Dinge im Alltag skandalisiert werden. Es muss normal sein, dass bestimmte Dinge nicht zulässig sind.“
2011 hat der Europarat eine Konvention zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt, kurz Istanbul-Konvention, ausgearbeitet. 2014 trat sie in Kraft, 34 Länder haben sie inzwischen ratifiziert, Luxemburg am 7. August 2018. Sie soll vor allen Formen von Gewalt schützen, auch häuslicher Gewalt, Zwangsverheiratung, Genitalverstümmelung, Stalking, physischer, psychologischer und sexueller Gewalt. Zudem soll sie verhindern, dass Täter und Täterinnen straffrei ausgehen, sowie Maßnahmen in den Bereichen Prävention, Betreuung und Hilfe, Rechtsschutz und zivil- und strafrechtliche Verfahren gewährleisten. Sie gilt nicht nur für Frauen, sondern für alle Opfer, auch Männer und Kinder. Doch trotz des umfangreichen Programms ist die Häufigkeit von Übergriffen und häuslicher Gewalt nicht gesunken. Auch nicht in Luxemburg.
Die meisten Menschen schämen sich, wenn sie Opfer von sexualisierter Gewalt werden, männliche Opfer oft noch mehr als weibliche. In der Regel behalten sie es für sich oder spielen das Ereignis herunter. Doch die Gesellschaft dürfe keine Räume für Gewalt bieten, sagt Baltes-Löhr. Wenn jeder weiß, dass Gewalt von einer Gesellschaft nicht geduldet wird, dann ist der soziale Druck groß. Dann schauen weniger Menschen weg und vielleicht werden dann auch weniger gewalttätig.
„Durch Gewalterfahrungen entstehen bei den Betroffenen Ängste, psychische Störungen, Misstrauen, verletzte Gefühle und Selbsthass. Doch man muss alle in den Blick nehmen, es reicht nicht aus, die potenziellen Opfer zu schützen. Es sind in der Regel männlich konnotierte Personen, die Gewalt ausüben, an die muss man früh herantreten“, sagt die Wissenschaftlerin. Es geht also nicht darum, den Opfern die Verantwortung zu übertragen, sondern den Tätern selbst. Doch wie soll das funktionieren in einer Welt, in der noch immer stereotypisierte Bilder von Männlichkeit und Weiblichkeit bestehen? Und in der viele wegsehen, wenn anderen Gewalt angetan wird?
„Mit Aufklärung“, sagt Baltes-Löhr erneut. „Die Problematik von sexualisierter Gewalt muss so vergesellschaftet werden, dass wir alle wissen, dass wir als Gesellschaft dafür verantwortlich sind. Und zwar jede und jeder einzelne von uns. Im Großen und im Kleinen, das ist der Punkt.“ Zudem müsse das Thema in die Schulen. „Es muss ein Thema des Alltags werden und nicht bloß mal verschämt und kurz im dritten und dann vielleicht noch mal im siebten oder achten Schuljahr angesprochen werden. Es muss ernsthaft und mit ausgebildeten Fachkräften angegangen werden. Und Jungen müssen lernen, dass es nicht cool ist, Mädchen zu beschimpfen oder zu verletzen. Und dass man keine verletzenden Ausdrücke braucht, um cool zu sein.“
Mädchen und Frauen werden erst dann sicher sein, wenn Täter aufhören, Täter zu sein. Bis es so weit ist, werden Mütter ihren Töchtern weiterhin beibringen, sich zu schützen, auf belebten Straßen zu gehen, dunkle Ecken zu meiden und ihr Glas im Club niemals unbeaufsichtigt zu lassen. Das ist die bittere Realität.