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Der permanente Revolutionär: Biografie von Jean-Luc Godard
Godards Welt
Zum 90. Geburtstag von Jean-Luc Godard hat Bert Rebhandl eine Biografie des großen Cineasten und Filmemachers veröffentlicht. Mit „Der permanente Revolutionär“ ist ihm ein lesenswertes Porträt gelungen.
Mit Jean-Luc Godard verbinde ich das Münchner „Arena Filmtheater“. Von meiner Wohnung zu dem kleinen Kino im Glockenbachviertel waren es nur ein paar hundert Meter. Mehr als ein Vierteljahrhundert ist es schon her. Damals hieß das seit 1912 bestehende Kino noch „Neues Arena“. Gezeigt wurden nicht nur die neuesten Streifen von Regisseuren wie Kaurismäki und Jarmusch, sondern auch Retrospektiven von modernen Klassikern. Der kleine Kinosaal an einer Straßenecke wurde mein zweites Zuhause, ebenso wie das kaum zehn Minuten entfernte Filmmuseum. In Matineen und Nachmittagsvorstellungen schaute ich mir die Filme von Bergman, Buñuel und Fellini an – ebenso wie jene von Chabrol, Rivette, Rohmer, Truffaut und eben Godard: die der Nouvelle Vague.
Film sei „24mal die Wahrheit pro Sekunde“ heißt es in Godards 1960 gedrehtem „Le petit soldat“, der von den Folgen des Algerienkriegs handelt. Doch handelt es sich immer um das Konstrukt einer Wahrheit, das auch eine Lüge sein konnte. Oder um eine Geschichte. Der bessere filmische Geschichtenerzähler war gewiss François Truffaut. Er war mir vertrauter, ebenso sein Alter Ego Antoine Doinel. Bei Godard war es anders. Die Vorfreude auf seine Filme war kein „Warten auf Godard“, sondern die Erwartung eines filmischen Experiments. Aus den Vorstellungen der Filme beider Regisseure kam ich mit dem Gefühl ans grelle Tageslicht, geträumt zu haben. Der Ursprung des Films sei ein Traum, hat Wim Wenders gesagt, und die Aufgabe des Kinos sei es, die Frage „Wie soll man leben?“ zu beantworten.
Godard hat sich immer wieder neu erfunden und dabei eine Zeit lang das Medium Film geprägt wie kaum ein anderer.
des Regisseurs am 3. Dezember 2020 erschien, wie sich Godard und Truffaut 1948 erstmals begegneten – zwei Halbwüchsige „in einer Epoche des Aufbruchs“. Rebhandl fasst es folgendermaßen zusammen: „Truffaut, ein Sensibler, trifft Godard, einen Unruhigen.“ Truffaut schreibt später in der Zeitschrift Cahiers du Cinéma, die ab April 1951, von seinem Mentor André Bazin und Jacques Doniol-Valcroze ins Leben gerufen, Sprachrohr der jungen Cineasten ist: „Was mir am meisten an ihm auffiel, war die Weise, wie er Bücher verschlang.“ Godard ist im Gegensatz zu Truffaut behütet aufgewachsen: Schweizer Nationalität, Sohn eines Arztes, der am Genfer See ein Krankenhaus für betuchte Patienten betrieb, und einer großbürgerlichen Französin. 1946 kehrt er nach Paris zurück, wo er die ersten vier Jahre seines Lebens verbracht hat. Die Ciné-Clubs und die Cinémathèque française werden für ihn „zu einer Art alternativen Bildungsanstalt“.
Die Nouvelle Vague kündigt sich in den Texten an: Die oft als „jeunes Turcs“ bezeichneten Filmkritiker, zu denen auch Claude Chabrol, Jacques Rivette und Eric Rohmer gehören, propagieren eine Erneuerung des französischen Kinos. Sie orientieren sich an Individualisten wie Howard Hawks, Alfred Hitchcock und Orson Welles, Jean Renoir und Roberto Rossellini. In seiner Polemik „Eine bestimmte Tendenz des französischen Kinos“ greift Truffaut das etablierte „cinéma de qualité“ an. Er unterscheidet dessen psychologischen Realismus vom „cinéma d’auteurs“, für das er fordert, dass sich ein Regisseur an allen Schritten der Filmproduktion beteiligt, um einen eigenen Stil zu entwickeln. An den Filmen soll die Handschrift des Regisseurs zu erkennen sein.
In der Schweiz dreht Godard seinen ersten Film „Opération Béton“ (1954), eine kurze Doku über einen Staudammbau in den Alpen. 1956 ist der Mittzwanziger wieder in Paris und für die Cahiers aktiv. In „Schnitt, meine schöne Sorge“ schreibt er: „Wenn Inszenieren ein Blick ist, dann ist Schneiden der Herzschlag.“ Erst mit dem Schnitt beginne der Film, Film zu werden. Später wird vor allem die Montage Godards filmisches Schaffen prägen. Den Kurzfilm „Une histoire d’eau“, den Truffaut gedreht, aber nicht fertiggestellt hat, montiert er zu einem zwölfminütigen Streifen. Im Mai 1959 bringt er seinen dritten, schon 1957 gedrehten Kurzfilm heraus: „Tous les garçons s’appellent Patrick“, dessen Drehbuch von Rohmer stammt und in dem Jean-Claude Brialy, wie auch in Claude Chabrols erstem Werk „Le Beau Serge“ (1958), die Hauptrolle spielt. Der Film kann bereits zur Nouvelle Vague gezählt werden.
Der Einsatz von leichten Kameras, oft Handkameras, dazu viele Außenaufnahmen, natürliches statt Studiolicht, Jump Cuts, dazu sind Dialoge und Schnitte nicht selten asynchron, vieles wirkt spielerisch leicht, aber auch improvisiert.
Stilprägend: Jean-Paul Belmondo und Jean Seberg in „À bout de souffle“.
Als ersten Film der neuen Stilrichtung hat Truffaut Jacques Rivettes „Paris nous appartient“ (1958) bezeichnet. Sein eigener erster langer Spielfilm „Les quatre cents coups“ kommt 1959 heraus. Truffaut gewinnt damit in Cannes den Preis als bester Regisseur, nachdem er im Jahr zuvor noch als Kritiker bei von dem Filmfestival ausgeschlossen wurde. Godard folgte 1960 mit „À bout de souffle“, das Drehbuch hat Truffaut verfasst. Der Film beinhaltet zahlreiche der genannten Neuerungen. In den folgenden Jahren bis 1967 dreht Godard Schlag auf Schlag Filme wie „Une femme est une femme“, „Vivre sa vie“, „Les Carabiniers“, „Le Mépris“, „Bande à part“, „Une femme mariée“, „Alphaville“, „Pierrot le fou“, „Made in U.S.A.“, „La Chinoise“ und „Weekend“, mit denen der Regisseur das Medium Film prägte. Sein Werk hat schon zu dieser Zeit einen stark essayistischen Charakter.
„Weekend“ stellt einen Wendepunkt in seiner Karriere dar. Fortan will Godard das Kino von dem kapitalistisch deformierten und kolonialistischen Blick befreien und zu einer neuen Praxis der Produktion filmischer Zeichen gelangen. Er dekonstruiert, ähnlich wie die Philosophen Jacques Derrida, Michel Foucault und Gilles Deleuze, um politisch zu intervenieren. Seine Schaffenszeit von 1968 bis 1978 wird als „Periode des Radikalismus“ bezeichnet, aber auch als „unsichtbare Filme“, weil sie vom herkömmlichen Vertriebssystem kaum noch zugänglich gemacht werden. Einer der Streifen, „Eins plus eins“ (1968) mit den Rolling Stones, der von den Black Panther handelte, hatte immerhin Premiere in London. Godard gründete die „Gruppe Dziga Vertov“, benannt nach dem sowjetischen Filmavantgardisten. Mitte der 70er arbeitete er verstärkt mit der neuen Videotechnik. Auch diese Station, in der der Regisseur „zuerst revolutionäres Kino und dann Fernsehen gegen das Fernsehen machte“, behandelt Rebhandl in seinem Buch. Ab etwa 1980 kehrt Godard ins Kino zurück. Filme wie „Sauve qui peut (la vie)“, „Détective“ und „Nouvelle Vague“ finden wieder – unter anderem wegen Stars wie Isabelle Huppert, Claude Brasseur, Johnny Hallyday und Alain Delon – ein Publikum. Danach werden Godards Filme wieder essayistischer.
Rebhandl, als Filmkritker für Zeitungen wie die FAZ oder den Wiener Standard tätig, wollte nach eigenem Bekunden keine neue Godard-Biografie schaffen. Er widerstand auch der Versuchung, selbst zu „godadisieren“, wie es Georg Seeßlen nannte. Rebhandl interpretiert Godards Werk und ordnet es historisch ein. Ihm sei es darum gegangen, schreibt er, „JLG“ als Jahrhundertchiffre zu begreifen, als „Kippfigur“ zwischen Subjektivität und Politik, moderner Kunst und digitalem Zeitalter: „eine Schlüsselfigur des Kinos als Schlüssel zu Fragen und Themen des 20. und 21. Jahrhunderts“. Godard hat sich immer wieder neu erfunden, als „permanenter Revolutionär“ und als radikaler, subjektiver Künstler war er auf der ständigen Suche nach Unabhängigkeit. Er experimentierte mit Hilfe von Parolen, Zitaten und Inserts – und zerlegte die Form des Spielfilms „wie ein Kind, das ein Spielzeug mit dem Hammer untersucht“, so der Filmemacher Hartmut Bitomsky. Lange wurde er wie ein Popstar gefeiert. Und noch immer wird er verehrt.
Text: Stefan Kunzmann Fotos: Paul Zsolnay Verlag, UGC