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Die Confrérie du Guillon in vorgezogener Zukunft

Text: Luc del Rizzo, héraut Illustration: Camilla Maraschin

Ein sehr schöner Tag neigt sich an diesem Freitag, 4. November 2050, seinem Ende entgegen. Die Temperatur bleibt mit 35 Grad annehmbar und für einmal hat sich der Teilchendunst rasch aufgelöst. So oder so, es könnte – wie im August – Quecksilberfäden regnen, das würde meiner Freude keinen Abbruch tun. An diesem Abend werde ich zum ersten Mal Gast des Guillon sein. Davon träume ich schon lange. Es braucht schon eine Prise Originalität, um noch Lust zu verspüren, die Freundschaft, die Rebe und den Wein zu feiern. Schliesslich bleibt nur noch das Lavaux-Museum inmitten des neuen Geschäftszentrums gleichen Namens. Aber heute Abend organisiert sich der Widerstand und für ein paar Originale wie mich ist es ein Festtag. Mit gesenktem Kopf eile ich neben einem der vier Radstreifen nach Hause. Dort angekommen entledige ich mich der Maske und der Handschuhe, desinfiziere mich, dusche und desinfiziere mich erneut. Bei meinem Grossvater habe ich das Kleid gefunden, das er am damals letzten Ressat im 2032 trug, an dem er mit etwas Glück teilnehmen konnte, trotz der Begrenzung auf 14 Compagnons, 2 Conseillers, den Gouverneur und den Connétable. Seither hat sich vieles verändert und heute gibt es keine Teilnahmebeschränkung mehr. Obschon es nicht eigentlich nötig ist, ziehe ich mir das wertvolle Erbstück über und installiere mich auf dem Sofa. Es ist Zeit. Ich verbinde mich mit der Plattform «Roussymobile» und erhalte umgehend meinen Zugangscode, die Tischregeln sowie einen Text in einer unverständlichen Sprache – offenbar französisch – über die Rebe und

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den Wein. Gleichzeitig werfe ich mir eine Chasselas-Pille ein, um mich in Stimmung zu bringen, setze meinen Sichthelm auf und gebe das Kryptogramm ein. Und schon bin ich dabei. Vor Schloss Chillon. Alles wie gehabt. Die Türme, die Zugbrücke und ein Conseiller in roter Robe, der mich willkommen heisst. Auf gut Glück geht es weiter. Der Gouverneur grüsst, gefolgt von anderen Robenträgern und auch Robenträgerinnen, die mich zur Inthronisierungsfeier führen. Kaum eingetreten bleibt mein Bildschirm hängen und das Bild bleibt stehen. Eine Verbotstafel mit folgender Inschrift taucht auf: «Die Confrérie du Guillon und die Virtual Global Wine Company erinnern daran, dass der Zutritt zum weiteren Programm Krawattenträgern vorbehalten ist. Für 150 Euro können Sie eine erwerben, indem Sie auf das angezeigte Symbol klicken.» Etwas teuer zwar, aber die Teilnahme an einem ausserordentlichen Moment hat keinen Preis. Und ich bin nicht enttäuscht: Die Inthronisierungen mit dem legendären Kelch, aus dem alle trinken, das Essen, die Fanchettes mit ihren Spitzenhandschuhen (nie wieder gesehen seit Covid 32), die Hologramme der ältesten Chantres und Clavendiers (dieser Albert Munier, ein richtiger Künstler!), die Gais Compagnons, die Trompeten, offensichtlich hat sich in den letzten dreissig Jahren nichts verändert. Gut genährt, leicht besäuselt sehe ich das Ende des Ressats näherkommen. Diese virtuelle Erfahrung ist definitiv ein Erfolg. Der Héraut leiert seine letzten Empfehlungen herunter. Ich habe heiss, bin völlig benebelt, stehe vom Tisch auf, schwanke… und erwache. Meine Frau ist besorgt. Ich schwitze und fühle mich wie einer tiefen Ohnmacht entkommen. Immer zuvorkommend beruhigt mich meine Gattin: «Da kannst du ruhig sein, der Guillon wir nicht so schnell untergehen.» Misstrauisch werfe ich einen Blick aus dem Fenster. Die Reben sind – nach der Lese – immer noch da. Meine Agenda 2021 lässt keine Zweifel, die Confrérie trifft sich auf Schloss Chillon, Roben und Schnauz am Empfang. Beruhigt und erheitert nehme ich zur Kenntnis, dass der Guillon mit seiner Vergangenheit eine grosse Zukunft hat.

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