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LEITARTIKEL

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IM HEER TUT SICH ETWAS!

von Jürgen Reichardt

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Wenn die Bundeswehr Anlaß zu öffentlichem Spott bietet, werden ihre Soldaten unweigerlich mit Hohn und Häme überschüttet. Ausgerechnet die, welche am wenigsten dafür verantwortlich sind, aber sich dennoch schämen, als wären sie es.

Das war schon immer so. Früher allerdings seltener und eher aus punktuellem oder lokalem Anlaß. Etwa, als einmal zwei Schützenpanzer nach einem

Bahntransport nicht mehr auffindbar waren. Da stellte sich heraus, daß man nicht in der Lage war, festzustellen, wie viele der einst 2.136 SPz MARDER noch im Bestand waren. In den letzten Jahren mußten Soldaten – aktive wie Ehemalige – unablässig bissigen Spott für

Entscheidungen der obersten Befehlsgewalt ertragen, die sie zutiefst abgelehnt haben und gerne korrigiert hätten. Seien es kränkende Werturteile der verantwortlichen Ministerin (Haltungsprobleme), sei es die Einsatzbereitschaft des Großgeräts. Die Ursachen des heutigen Debakels auf so vielen Feldern liegen weit zurück. Nach dem Regierungswechsel 1998 veranlaßte Minister Scharping eine Bestandsaufnahme, der eine erneute Strukturreform folgte – die vierte seit 1992, anhand der Vorschläge der „Weizsäcker-Kommission“. Sie gingen immerhin noch von der zentralen Aufgabe der vom Grundgesetz vorgegebenen Landesverteidigung aus. Die unvermeidlichen höheren Anfangskosten sollte eine allumfassende „Privatisierung“ aufbringen, für die halbstaatliche Gesellschaften des Bundes geschaffen wurden. Die „g.e.b.b.1“ mag noch in Erinnerung sein. Außer fulminanten Gehältern erwirtschaftete sie mit dem Verkauf von Liegenschaften kaum ihre Kosten. Liegenschaften, die heute fehlen, wurden verschleudert. Der Fuhrpark blendete seine Nutzer mit metallisch glänzenden Limousinen, schränkte die Truppe in ihrer Reaktionsfähigkeit jedoch bis zur mobilen Atemnot ein. Das privatisierte „Bekleidungsmanagement“, die „LH Bekleidung“, scheiterte völlig und mußte bankrott zurückgekauft werden. Ebenso erging es der privaten Instandsetzung von Waffen und Gefechtsfahrzeugen und der Verpflegung. Die spätere weitgehende Revision jener Experimente konnte die Fehlentwicklungen nicht korrigieren; nur mildern. Es fehlten die Strukturen, wie z. B. Standortverwaltungen, Instandsetzungseinheiten oder Truppenküchen. Und Geld. Weder für Betrieb noch für Beschaffung reichten die Mittel. Zwei Jahre nach Beginn der Umgliederungen und Auflösungen, „Stationierung“ genannt, erließ Minister Dr. Struck eine neue Weisung für „die Weiterentwicklung der Bundeswehr“. Darin wurde erstmals auf bestimmte Fähigkeiten der Streitkräfte verzichtet und die Planung auf absehbare Auslandseinsätze ausgerichtet, also beschränkt. Das war der Sündenfall der Epoche.

Die Abkehr vom Auftrag

Grundlage waren neue „Verteidigungspolitische Richtlinien“ (VPR) vom Mai 2003. Die Weisung räumte das völlige Scheitern der letzten Reform ein. Die neue Struktur war zwar auftragsgerecht und durchaus praxistauglich. Allein es fehlte das Geld. Die Konsequenz: Abbau militärischer Fähigkeiten. Die Begründung lautete: „Eine Gefährdung deutschen Territoriums durch konventionelle Streitkräfte gibt es derzeit und auf absehbare Zeit nicht.“ Das traf zwar zu und gilt auch heute noch. Jedoch wurde daraus gefolgert: „Die herkömmliche Landesverteidigung gegen einen konventionellen Angriff als allein strukturbestimmende Aufgabe der Bundeswehr entspricht nicht mehr den aktuellen sicherheitspolitischen Erfordernissen. Die nur für diesen Zweck bereitgehaltenen Fähigkeiten werden nicht länger benötigt.“ Damit waren vor allem gepanzerte Kräfte und Waffensysteme der Kampfunterstützung, also Artillerie, gemeint. Zur Beschwichtigung wurde versprochen: „Der Wiederaufbau der Befähigung zur Landesverteidigung gegen einen Angriff mit konventionellen Streitkräfte innerhalb eines überschaubaren längeren Zeitrahmens - Rekonstitution - muss jedoch gewährleistet sein.“ Das unterblieb jedoch und ging verloren. In diesen Vorgaben der VPR von 2003 liegen die Wurzeln des heutigen Übels. Nachfolger zu Guttenberg beseitigte alle Grundlagen einer verantwortungsvollen Streitkräfteplanung mit seiner Erklärung: „Der Haushalt bestimmt die Struktur!“ Zur Bestätigung dieses Dogmas bot er gleich 8 Mrd. Euro zur Rückgabe an. Öffentliche Aufmerksamkeit war ihm sicher. Fortan jagten eine Reform und Neuausrichtung die andere, mit immer wohlklingenderen Bezeichnungen versehen. Das Heer wurde immer neuer, wozu eigens ein „Veränderungsmanagement“ eingerichtet wurde. Minister De Maizière sah, auf Grundlage nochmals neuer VPR, das Heil in einer vollständigen Auflösung bestehender Führungs- und Organisationsstrukturen, zeitgleich zu Auflösungen, Umgliederungen und Unterstellungswechseln (2012). Immerhin erschien die Landes- und Bündnisverteidigung wieder als Aufgabe der Bundeswehr, sogar an erster Stelle. In den 15 „Eckpunkten“ seiner Neuausrichtung kommen allerdings Kampfkraft und Durchhaltefähigkeit nicht vor. Versprochen wird sehr bescheiden: „Für das intensive Gefecht im Rahmen der Landes- und Bündnisverteidigung kann ein streitkräftegemeinsames Kräftedispositiv von bis zu einem Jahr Dauer bereitgestellt werden.“ Seitdem leihen sich die Heeresverbände ihr Gerät bundesweit für ihr „Kräftedispositiv“ zusammen, was noch dadurch erschwert wird, daß nennenswerte Heeres-„Dispositive“ der Streitkräftebasis zugeordnet sind. „Modularität“ heißt das. Erheblich zugenommen haben seitdem Zahl und Umfang höherer Kommandobehörden und Dienststellen, begleitet von einer Orgie modischer Umbenennungen traditionsreicher Einrichtungen wie der Truppenschulen und unaussprechlicher Abkürzungen zusammengewürfelter Dienststellen. Das alles hatte natürlich verhängnisvolle Auswirkungen auf die Führungslehre, die Ausbildung und die Aufgabenbeschreibung im Heer. Die Orientierung ging verloren. Der von der SED nahtlos übernommene „Kampf gegen rechts“ scheint inzwischen auch in den Streitkräften alle anderen Herausforderungen an militärische Führung zu überlagern. Die Folge ist, daß sich eine Scheu entwickelt hat, über zeitlose Werte des Soldatentums und Grundlagen militärischer Führung zu sprechen. Die politische Führung sieht darin keinen Mangel. Unter dem Eindruck strategischer Veränderungen in Europa konnte sich die Bundesregierung den Forderungen der NATO allerdings nicht länger verschließen. Seit 2014 zeichnet sich eine Rückbesinnung auf den Zweck von Streitkräften ab. Es gibt mehr Geld, es besteht eine konkrete Planung für einen stetigen Aufwuchs präsenter und voll ausgestatteter Heeresverbände. Bis 2027 soll eine Division mit drei Brigaden vollständig ausgerüstet einsatzbereit sein; bis 2032 zwei Divisionen.

Der Wandel zurück zur militärischen Natur

sung des Inspekteurs, Generalleutnant Alfons Mais. Man hat sich endlich wieder darauf besonnen, daß der Zweck von Landstreitkräften der erfolgreiche Kampf gegen gleichwertige modern ausgerüstete Gegner ist. Alles andere läßt sich entweder davon ableiten oder ist zu verwerfen. Natürlich liegen die größten Probleme im Bereich der materiellen Einsatzbereitschaft und des Modernisierungsstaus, verstärkt durch die unzureichenden Stückzahlen und die Mängel in der Materialerhaltung. Was sich da tut, bleibt abzuwarten. Doch daneben wurden Maßnahmen eingeleitet oder getroffen, die erhebliche Verbesserungen in der Führerausbildung versprechen und leidige Mängel in der grundsätzlichen geistigen Ausrichtung abstellen. Die OA-Bataillone werden aufgelöst. Offizieranwärter werden künftig wieder in der

Truppe ausgebildet, in ihrer Truppengattung und mit den anderen Rekruten.

Auch der Fahnenjunkerlehrgang findet in der Truppengattung statt. Ein Schritt nach vorn mit einem Griff auf alte Erfahrungen.

So wissen die Offizieranwärter immerhin vor dem Studium, wohin sie gehören, und wohin sie zurückkehren werden. Auf der Grundausbildung baut die Spezialgrundausbildung auf. Wiederum mit anderen Rekruten. Das frühzeitige Erleben in der Besatzung oder Gruppe der endgültigen Truppengattung, der methodisch vernünftige Aufbau – alles das ist nun wieder sachgerecht und am Bedarf der Truppe orientiert. Ein mutiger, verdienstvoller Schritt vorwärts.

Der frühe Zeitpunkt des Studiums (nach fünfzehn Monaten) setzt weiteren Ausbildungsstufen Grenzen. Die Beförderung zum Leutnant findet nach wie vor an der Universität statt. Hauptleute werden wieder ab einem bestimmten Dienstalter in einer „Heereseinheitlichen taktischen Weiterbildung“ geschult. Mit der bewährten HTW erfährt die Taktik des Führens im Gefecht der verbundenen Waffen wieder den ihr gebührenden Rang. Führungsgrundlagen, Führungsbegriffe und Führungsverfahren werden geübt. Auch eine Fernaufgabe ist zu lösen. Damit wird ein ganz wesentlicher Beitrag geleistet zu einheitlichem Verständnis von Taktik und ihren zeitlosen Grundlagen. Dazu werden auch Anstrengungen unternommen, die

Grundsätze und Begriffe aus der alten „TF“ – der Heeresdienstvorschrift „Truppenführung“ (HDv 100/100) – zu lernen und anzuwenden. Ihre Ursprünge lassen sich bis auf Friedrich dem Großen zurückführen, der wiederrum die Feldzüge des

Altertums sorgfältig studiert hatte. Eine wichtige Voraussetzung dafür, daß wieder vom Fahnenjunker bis zum Divisionskommandeur die gleiche Sprache gewird es geben, tendenzielle Rufe nach völliger Ausgewogenheit sind gewiß, und dringende Forderungen nach Einfluß auf die Auswahl oder Einschaltung von Beiräten werden nicht lange auf sich warten lassen. Wesentlich ist gar nicht so sehr, was angeboten wird – darüber kann es nie völligen Konsens geben, sondern daß es geschieht. Der Versuch, junge Menschen dazu zu bringen, gelegentlich nach einem Buch zu greifen und wirklich zu lesen, anstatt sich im Internet planlos zu verzetteln oder sich seine selektiven Kenntnisse bei Wikipedia zu holen, ist zwingend notwendig zur Überwindung der Scheu und erfolgversprechend in der Anregung. Ohne grundlegende Kenntnisse in der „Heeresgeschichte“ gibt es keine Urteilsfähigkeit in militärischen Angelegenheiten. Die erwirbt nicht, wer sich allein auf zeitgenössische Fachhistoriker verläßt. Die Wißbegierde wird manchen dazu bringen, auch die Berichte aller Zeitalter jener zu lesen, die Kriege erlebt und aus ihrer Sicht geschildert haben. Im Fach „Ethik“, wo es um Haltung, Selbstdisziplin und Gewissenhaftigkeit, aber auch Opfermut geht, also um soldatische Ethik, kommt man um ein Studium bestimmter Lagen der Weltkriege nicht herum. Warum Divisionen untergingen, warum andere erfolgreich aus Kesseln ausbrechen konnten, wie und womit Unterlegenheit ausgeglichen wurde, warum Soldaten in höchster Lebensgefahr ihre Vorgesetzten nicht im Stich ließen, was Truppe zu ertragen im Stande ist, welche Voraussetzungen dazu in einzelnen Fällen vorherrschten – das alles kann eben nur der unvoreingenommene, aber mitfühlende Blick in die Geschichte lehren. In Bücher. Mancher mag jetzt meinen, das alles sei nicht genug. Er sollte sich jedoch erinnern: Wer vor zehn oder fünfzehn Jahren diese Impulse vorgeschlagen hätte, wäre unweigerlich als „Ewiggestriger“ abgetan worden, dessen rückwärtsgewandte Nörgelei nur offenbarten, die Zeichen der neuen Zeit nicht erkannt zu haben. Das Heer ist mit den eingeleiteten Maßnahmen auf gutem Wege. Das konnte man schon lange nicht mehr guten Gewissens sagen.

sprochen wird und modische, oft auslegbare Vokabeln zurückgedrängt werden. Das Gefecht der verbundenen Waffen gelangt somit wieder ins Zentrum des militärischen Denkens, die Verfahren der

Lagebeurteilung und der Entschlußfassung prägen es. Es entspringt alter Erfahrung, solche Bildungsgänge mit Anforderungen und

Prüfungen zu gestalten. Das weckt ungeahnte Kräfte und fördert sonst leicht übersehbare Talente. Verzichtet man darauf, so erschöpfen sich die kreativen

Fähigkeiten der Teilnehmer alsbald in der

Kritik an Komfort, Lehrangebot und

Lehrpersonal. Deshalb wird das Abschneiden in der HTW wieder beurteilungsrelevant und nimmt Einfluß auf

Auswahl und Laufbahngestaltung. Bei aller Digitalisierung und Einführung von Monitoren allenthalben gelangt auch die Geländebesprechung wieder zu Ehren. Sie bildet künftig einen wesentlichen

Abschnitt in der Weiterbildung, nicht nur in der HTW. Welcher Kommandeur hat nicht schon Einheitsführer in längeren

Gefechtsübungen erlebt, die im Führungspanzer am Bildschirm präzise die

Stellungen ihrer Züge ansprechen konnten. Draußen, im Dunkeln, waren sie ratlos über die genaue Lage ihrer Kompanie. „Das erste Orakel, das man befragen muß, ist das Gelände!“ lehrte Friedrich der Große seine Generäle. Keine Digitalisierung kann diese Erfahrung entkräften. Jeder Soldat weiß: Wenn fachfremde auslegbare oder fremdsprachige Begriffe verwendet werden, herrscht entweder Unsicherheit, oder es gibt etwas zu verschleiern. Deshalb gilt im Heer künftig wieder das Gebot, „Eindeutige Begriffe“ in der Taktik zu verwenden. Bei aller Internationalität der aktuellen Einsätze zeigt sich doch, daß in der Ausbildung und Führung die bei uns bewährten Begriffe unserer Führungsgrundlagen und der Befehlsgebung den aus Fremdsprachen abgeleiteten Phrasen überlegen sind. Unsere Truppengliederung wird bis zum Korps hinauf in Ziffern angegeben. Ein “Charly-Zug“ ist deshalb ein Fremdkörper. Keineswegs nebensächlich ist die Maßgabe „Literatur im Heer“ – die der Inspekteur ins Leben gerufen hat. „Die Führer des deutschen Heeres sollten mehr lesen!“ fordert er. Auch das knüpft an eine alte Tradition an: In den ersten Jahren der Bundeswehr erhielt jeder Offizier sechs Bände „Schicksalsfragen der Gegenwart“. Mit zeitgeschichtlichen Beiträgen zu allen Themen, die junge Menschen damals bewegten. Sie haben uns ein Leben lang begleitet. Eine begrenzte Zahl beispielhafter Bücher aus drei Bereichen sollen empfohlen werden: „Ethik“, „Herausforderung Zukunft“ und – ganz ausdrücklich – „Heeresgeschichte“. Auch das ein mutiger Schritt. Kritik an der Auswahl

Zum Autor:

Generalmajor a.D. Jürgen Reichardt (*1938) hatte in der Bundeswehr verschiedenste Verwendungen in der Führung (bis hin zum Kommandeur der 4. Panzerdivision und Amtschef des Heeresamtes) und in Stäben/BMVg (u.a. Sprecher im Informations- und Pressestab, Planungsstab BMVg) inne. Er ist Präsident der Arbeitsgemeinschaft der Reservisten-, Soldaten- und Traditionsverbände in Bayern (ARST) und Ehrenpräsident des Bayerischen Soldatenbundes 1874 e.V.

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