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TITELTHEMA
und umkämpft; beginnend mit Fehden zwischen den unmittelbaren karolingischen Nachkommen des neunten Jahrhunderts. Tausend Jahre lang. Wie stark dabei das Streben nach Wiederherstellung eines universalen abendländischen Reiches die Herrscher beflügelte, wird bereits in der Bezeichnung „Heiliges (also christliches) Römisches
Reich Deutscher Nation“ deutlich, die ab dem 15. Jahrhundert gebräuchlich wurde. Bemerkenswert sind die Bezeichnungen „Deutsch“ und „Nation“ (im Singular!)2. Für die Völker in Italien,
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Frankreich oder Spanien gab es eine entsprechende Bezeichnung damals nicht. Zu diesem Reich gehörten schon bald (ab 962) die nördlichen Gebiete des Mittelreiches3 bis weit nach Westen hinein, westlich der Maas, während südlich davon ein Königreich Burgund bis ans Mittelmeer reichte. Frankreichs
Grenze lag weit westlich des Rheins.
Was die Entwicklung des Deutschen
Reiches im Mittelalter von jener des Königreichs Frankreich unterschied, war die Verwicklung in Jahrhunderte währende kräftezehrende Auseinandersetzungen des Kaisertums mit dem Papsttum um den Anspruch der universalen
Geltung und der Vormacht in Italien. Den Kampf gegen Partikularismus hatte der französische Zentralismus schon früh entschieden. Wo deutsche Kaiser stets um Ausgleich bemüht sein oder Kompromisse mit den mächtigen Landesfürsten suchen mußten, konnten die französischen Könige ihre Macht systematisch festigen und alle Kräfte auf die Verfolgung imperialer Ziele konzentrieren. Die lagen zunächst im Norden, wo England immer ausgreifender Fuß gefaßt hatte, und im Südosten, wo die italienischen Provinzen des einstigen Mittelreiches lockten. Der Entwicklung eines Nationalgefühls war das schon sehr früh förderlich. Mit dem Aufstieg Spaniens zur Weltmacht war ihnen südlich der Pyrenäen ein weiterer gefährlicher Nachbar erwachsen. Um so mehr kam es darauf an, im Osten, wo es keine natürlichen Grenzen gab, Einfluß zu gewinnen. Im Mittelreich.
Kaiser Karl V. – geboren im Jahr 1500
500 Jahre später hatte der spätere Kaiser Maximilian mit der Heirat der burgundischen Erbtochter das Herrschaftsgebiet der Habsburger im Deutschen Reich beträchtlich erweitert und nach Westen ausgedehnt. Sein Sohn Philipp, mächtigster Fürst im Deutschen Reich, heiratete die Tochter des Königs von Kastilien und Aragon, zugleich König von Neapel. Deren beider Sohn Karl beherrschte nun – zu Beginn des 16. Jahrhunderts – ein Reich, das sich von Kaiser Karl V.
der Steiermark bis Flandern, über Mailand und Neapel nach Spanien auf alle reichen Länder von den Alpen bis zur Nordsee und tief in die Donauebene erstreckte. Im Westen grenzte es unmittelbar an Frankreich. Ihn, den neunzehnjährigen König Carlos I. von Spanien, wählten die deutschen Kurfürsten 1519 zum deutschen Kaiser, Karl V4. Er war weder Spanier noch Deutscher, aber immerhin habsburgischer Abstammung und deutscher Reichsfürst5. Den Ausschlag zu seiner Wahl hatte eine andere Bewerbung gegeben: Neben ihm hatte sich u. a. König Franz I. von Frankreich6 beworben. Mit seiner Wahl wäre das Reich Karls des Großen wiedererstanden, jetzt bis an die Oder, allerdings unter französischer Vorherrschaft. Der straff geführte Zentralstaat hätte die Kurfürsten zu Vasallen herabgestuft und die Reformation beendet. Das wollten sie nicht riskieren. Doch die Idee eines solchen Universalreiches blieb in Frankreich lebendig: König Franz ging gegen die Wahl Karls militärisch vor. Je unruhiger die Zeit der Entdeckungen und Erfindungen – die „Neuzeit“, je vielfältiger die Nationalitäten seines Reiches, je heftiger die reformatorischen Bestrebungen im Reich, desto mehr verfolgte auch Karl V. die Idee eines römisch-christlichen Universalreiches mit der Einheit von Staat und Kirche. Nur eben eher als habsburgisch-spanisches Imperium denn als Deutsches Reich. Das führte zu unüberbrückbaren Konflikten mit der großen Herrschergestalt König Franz I. In Frankreich sah man vor allem die Gefahr der Umklammerung. Die daraus erwachsende Feindschaft zum Hause Habsburg veranlaßte Frankreich immer wieder zu Bündnissen mit dessen Feinden. Das waren der Papst und der islamische Sultan7 gleichermaßen, ebenso Polen und Russen. Fast fünfundzwanzig Jahre führten beide Seiten immer wieder Feldzüge gegeneinander; u. a. um Mailand, Burgund und Flandern. Für Kaiser Karl waren es immer Zweifrontenkriege – das deutsche Schicksal der Mittellage. Karl V. glaubte das abendländische Universalreich gegen diese äußeren Bedrohungen festigen zu können, indem er die Reformation zu unterbinden suchte. Den Reichsfürsten war Habsburg indessen zu mächtig, den protestantischen zu dogmatisch-papistisch und zu unnachgiebig, allen der spanische Einfluß zu überwältigend. Sie boten Frankreich die reichseigenen Städte und Bistümer Cambrai, Metz, Toul und Verdun an, wenn dessen König sie als „Protektor der deutschen Libertäten“ gegen den Kaiser und die befürchtete spanische Vorherrschaft unterstützte. Das waren zwar überwiegend Gebiete „nicht teutscher Zunge“. Doch Kaiser Karl hatte damit das Gegenteil dessen erreicht, was er wollte. Längst zielte die Versailler Politik auf Ausdehnung, Einfluß, Vormacht nach Osten. An den Rhein. König Heinrich II.8 schützte die deutschen Protestanten, während er die französischen brutal verfolgte. Dazu hatte es kommen können, weil der Kaiser in ihren Augen eher die Interessen und Erfordernisse der Habsburger Länder verfocht als die des Reiches. Hätte er der Reformation unter seiner Krone freien Lauf gelassen, das Reich hätte vielleicht zusammengehalten. Die Abwehr der Türken war ja keineswegs eine Angelegenheit allein der Donaumonarchie. Hundert Jahre später leitete Frankreich im Westfälischen Frieden einen Anspruch auf Mitsprache in Reichsangelegenheiten ab, einschließlich Thronfolgen. Insofern bildet die Ära Karls V. den Ausgangspunkt des Verhältnisses zwischen Frankreich und dem Deutschen Reich bis ins 20. Jahrhundert. Kaiser Karl war der letzte deutsche Herrscher, der noch einmal versucht hatte, das christliche Universalreich in Europa zu errichten. Es gelang ihm nicht. Was er ererbt hatte, wurde schon zu seinen Lebzeiten wieder geteilt in ein deutsches und ein spanisches Reich. Anders in Frankreich. Dort hat es nie eine Teilung gegeben. Deshalb konnte sich dort die nationalstaatliche Idee anders entfalten als in Deutschland. Natürlich war auch dessen Geschichte nicht linear und ohne Brüche verlaufen. Aufstände, blutige Religionskriege, Attentate9 und langjährige Kriege gegen England warfen das Königreich oft in die Bedeutungslosigkeit und brachten es im 16. Jahrhundert fast unter spanische Vorherrschaft. Als Karl V. gegen protestantische Reichsfürsten, Türken, Papst und Frankreich zugleich kämpfen mußte, hatte Frankreich Vergleichbares bereits hinter sich. Dort hatte die katholische Partei die Hugenotten gewaltsam unterdrückt, während England die spanische See-
herrschaft gebrochen hatte. Als das Deutsche Reich in den Verheerungen des dreißigjährigen Krieges versank, konnte das Königreich Frankreich ungehemmte Macht- und Expansionspolitik verfolgen. Kardinal Richelieu verfolgte für seinen König Ludwig XIII. keine katholische Politik. Sie hätte ihn nach der Landung der Schweden in Pommern auf die Seite Habsburgs zwingen müssen. Sondern er handelte als Franzose: Mit Gustav Adolf gegen Wallenstein. Mit der Besetzung schweizerischer und italienischer Gebiete durchbrach er die Verbindung zwischen Wien, Mailand und Madrid – für alle Zeiten. Im dreißigjährigen Krieg kämpften ausländische Mächte um die Vorherrschaft über Deutschland. Vermutlich war Herzog Wallenstein der einzige Deutsche, der den Bestand des Deutschen Reiches verteidigen wollte, ungeachtet der Konfessionen. Doch er war kein Herrscher eines selbständigen Fürstentums, sondern stand im Dienste des Kaisers. Sein Tod beseitigte ein letztes Hindernis für den Aufstieg Frankreichs zur europäischen Vormacht. Die historische Leistung Kardinal Richelieus bestand darin, eine deutsche Zentralgewalt über das Reich verhindert zu haben, indem er die Interessen der Fürsten und Kirchen gegeneinander ausspielte. Sogar der Gedanke an den Griff nach der Kaiserkrone tauchte wieder auf. Es war Frankreich gewesen, das im Westfälischen Frieden die Souveränität der deutschen Fürsten gegenüber der Reichsgewalt durchgesetzt hat. Sie konnten künftig Bündnisse mit der fremden Großmacht schließen. Das blieb das Muster französischer Europapolitik bis zu Kaiser Napoleon III. im 19. Jahrhundert. Deutsche Fürsten verpflichteten Kaiser Leopold vor dessen Wahl (1657), niemals Krieg gegen Frankreich zu führen, das sich seit Langem im Krieg mit Spanien befand. Dadurch konnte Frankreich gemeinsam mit England in diesem Krieg die Oberhand gewinnen. Spanien büßte – ohne Habsburgs militärische Hilfe hoffnungslos unterlegen – seine Weltgeltung ein10. Sein König mußte seine Tochter dem französischen vermählen11, um damit einen Erbanspruch zu begründen. Diese Hochzeit begründete den künftigen französischen Anspruch auf das Mitspracherecht bei der spanischen Thronfolge, was später den Spanischen Erbfolgekrieg auslösen und auch 1870 noch den Anstoß zum Krieg geben sollte.
Der Sonnenkönig Ludwig XIV.
Waren die regierenden Kardinäle Richelieu und Mazarin noch bestrebt, Frankreichs Gegner zu schwächen, die Umklammerung zu lösen, am Rhein Fuß zu fassen und eine Zentralmacht im Reich zu verhindern, verfolgte König Ludwig XIV. andere, weiter greifende Ziele. Er suchte die bis dahin spanischen oder unabhängigen Niederlande zu unterwerfen. Mit Hilfe deutscher Fürsten ebenso wie gegen solche12. Längst bildete der Rhein nicht mehr das Ziel französischer Absicherung. Der Sonnenkönig griff mit seinen berüchtigten „Raubkriegen“ weit darüber hinaus in deutsches Land. Das einstige Mittelreich ging aus spanischem und Habsburger Besitz Stück für Stück in französischen über und wurde konsequent romanisiert. Niemand hat die europäische Kultur, Architektur, Staatswirtschaft und Zivilisation so beeinflußt wie dieser Herrscher. Seine Neuerungen, das stehende Heer mit einheitlichen Gliederungen, Rängen und Uniformen, wurden zum weltweiten Vorbild bis heute. Mit seinem Dogma „Der Staat, das bin ich!“ schuf er eine Form des Absolutismus, wie sie in deutschen Ländern niemals Fuß fassen konnte. Viele deutsche Fürsten nahmen ihn zum Vorbild. Er ließ sogen. Spruchkammern Nachweise über die Rechtmäßigkeit französischer Ansprüche auf deutsches Gebiet erarbeiten13. Saarbrücken, Freiburg, schließlich Straßburg und zahlreiche Gebiete gelangten so unter französische Herrschaft. In jener Epoche entwickelten sich Verhältnisse, die in ihrer Wirkung bis 1870 reichten.
Sonnenkönig Ludwig XIV.
Kaiser und Reichsfürsten zogen wegen des Überfalls auf Straßburg zu Felde. Schlagkräftigster Kurfürst war der Brandenburger, gegen den Ludwig XIV. die Schweden mobilisieren konnte14. Dadurch war das preußische Heer an der Ostsee gebunden und konnte nur schwache Kräfte an den Rhein entsenden, wo Besitzungen15 zu verteidigen waren. Ohne Abstimmung mit Kurfürst Friedrich Wilhelm trat Kaiser Leopold im Frieden zu Nymwegen üppige Reichsgebiete an Frankreich ab. „Nimm Weg!“ nannte der Volksmund diesen Frieden. Brandenburg stand plötzlich allein gegen Schweden und Frankreich. Der „Große Kurfürst“ sah sich gezwungen, seinerseits mit Frankreich Frieden zu schließen – um den Preis der Abtretung Straßburgs und weiterer elsässischer Gebiete. Aus dieser Zeit rühren die Wurzeln des Konflikts zwischen Hohenzollern und Habsburgern, von denen Frankreich immer wieder zu profitieren wußte – bis 1866. Alte deutsche Schulatlanten weisen noch die fortwährenden französischen Gebietsgewinne zwischen Maas und Rhein anschaulich auf. –Mit den Erwerbungen gewann der Sonnenkönig, der sich wie schon König Franz I. als Nachfolger Karls des Großen sah und ein bourbonisches Universalreich anstrebte – einschließlich der Kaiserwürde – auch protestantische Gebiete. Das veranlaßte ihn, das „Toleranz-Edikt von Nantes16“ aufzuheben, welches allen Franzosen Glaubensfreiheit zugesichert hatte. Fortan fand er keine protestantischen Verbündeten mehr, während tüchtige Untertanen das Land verließen17 . Bei seinem dritten Raubkrieg nach Osten18 nutzte er die von ihm mit herbeigeführte Gelegenheit, als der Kaiser um den Bestand des Reiches gegen die Türken kämpfen mußte, die vor Wien standen. Dennoch stand ihm eine mächtige Koalition der Reichsfürsten gegenüber. Zugleich hatten sich England und die Niederlande zur See gegen Frankreich verbündet. Verhaftet in seinem Drang nach Osten, geleitet von dem Wunschbild eines bourbonischen Universalreiches von Gibraltar19 bis an die Ostsee, hatte König Ludwig XIV. seine durchaus tüchtige Flotte vernachlässigt. Anstatt mit aller Macht auf ein Kolonialreich in Übersee hinzuwirken, griff er nach Spanien und verlor sich in Kämpfen um Städte und Provinzen in der Pfalz und in Baden. Die Ruine des Schlosses Heidelberg zeugt noch von den barbarischen Verwüstungen. Zum ersten Mal marschierten französische Truppen in Köln ein. Oft hat man später geurteilt, daß er sich besser mit dem deutschen Kaiser hätte verbünden sollen, anstatt nach dessen Krone zu streben, um mit aller Macht England daran zu hindern, ungestört nach den fernen Kontinenten zu greifen. Eine nationale Tragödie, die sich im Siebenjährigen Krieg wiederholte: Französische Truppen bluteten auf deutschen Kriegsschauplätzen für die Behauptung deutscher Provinzen am Rhein und damit für Habsburgs Vormacht, während ihre Kameraden in Nordamerika und Indien der englischen Übermacht verlustreich weichen mußten. Nur durch die geschickte französische Diplomatie, die auf bewährte Weise partikularistische Interessen zu wecken wußte, und dank des Türkenkrieges blieben ihm Gebietsverluste erspart; stattdessen wurden
ihm schon besetzte deutsche Städte und Gebiete links des Rheins im Frieden von Riswijk zugesprochen. „Reiß weg!“ hieß dieser Frieden im Volksmund. Prinz Eugen hatte sich beim Kaiser nicht durchsetzen können, mit dem Sultan Frieden zu schließen und alle Macht gegen Frankreich aufzubringen. Kaiser Leopold war Ungarn, das dann wohl für immer an die Osmanen gefallen wäre, wichtiger als Elsaß, das bei Frankreich verblieb. Indirekt hat König Ludwig zur Entstehung des Vielvölkerstaates Habsburg20 beigetragen, das immerhin gut zwei Jahrhunderte als Großmacht bestanden hat.
Der Weg zum Rhein
Was dem Reich im Westen verlorengegangen war, hatte Habsburg im Osten, in Italien und auf dem Balkan um so reichlicher gewonnen. Habsburger regierten in Wien und in Madrid. Dort jedoch starb das Geschlecht aus. Kaiser Leopold erhob Ansprüche für seinen Sohn. Der Sonnenkönig hatte sich allerdings frühzeitig die spanische Thronfolge gesichert und setzte einen bourbonischen Prinzen als König von Spanien ein. Eine Großmacht von Gibraltar bis an die Nordsee mitsamt dem spanischen Kolonialreich konnten aber weder die Niederlande noch England dulden. Der folgende spanische Erbfolgekrieg dauerte doppelt so lange wie der zweite Weltkrieg. An seinem Ende war Frankreich militärisch überfordert und wirtschaftlich ruiniert. Nur wenige Jahre hatte es in sieben Jahrzehnten keinen Krieg geführt. Gerettet hat den Sonnenkönig, daß während des Krieges Kaiser Josef kinderlos starb und eben jener Sohn des Vorgängers Leopold nun die Nachfolge hätte antreten sollen: König von Spanien und Kaiser des Reiches. Das hätte das Reich Kaiser Karls V. wieder hergestellt, veranlaßte also England zum Waffenstillstand. Im Frieden von Utrecht setzte Britannien durch, daß Spanien und Frankreich niemals vereinigt werden dürften. Dafür blieb der Bourbone König. Das geschlagene Frankreich erbte die überseeischen Besitzungen Spaniens in Amerika, Afrika und Ostindien. England besetzte Gibraltar, übernahm wesentliche Kolonien im Osten Nordamerikas und ging aus diesem Krieg als führende Macht in Europa hervor. Ein kontinentales Bündnis mit Habsburg, den Niederlanden und den Reichsfürsten hätte Frankreich möglicherweise befähigt, England in Übersee erfolgreich entgegenzutreten. Stattdessen wandte sich Versailles um so eifriger dem Rhein zu, ließ England seine Politik der „Balance of Power“ entwickeln und fortan über die Geschicke Europas entscheiden. Die europäische Geschichte ist zu vielschichtig, widersprüchlich und wechselhaft, als daß sich bestimmte Zwangsläufigkeiten nachweisen lassen. Die Kompromisse erbitterter Erbstreitigkeiten haben ebenso überraschende Wendungen herbeigeführt wie der Tod von Herrschern, Feldherren oder Ehegemahlinnen und mitunter weltpolitische Wandlungen eingeleitet. Dennoch: „Die Geschichte in ihrer Revision ist noch unerbittlicher als die preußische Oberrechnungskammer“, wußte Bismarck. Im polnischen Erbfolgekrieg etwa erzwang Rußland (1735) die Wahl August von Sachsens zum polnischen König. Dem anderen, vorher gewählten polnischen Bewerber, Stanislaus L., wurde stattdessen das Herzogtum Lothringen übergeben. Er war Schwiegervater des Königs21 von Frankreich. Deshalb konnte dieser ihn später beerben und Lothringen, aus dem einst deutsche Kaiser hervorgegangen waren, endgültig dem Reich entreißen. Der Herzog Franz Stephan22 erhielt dafür die Toskana. Im Zeitalter der „Kabinettskriege“ wurden Länder und Völker gehandelt wie Ware. Volkstum und Sprachgebiete spielten nur eine geringe Rolle. – Bald darauf der österreichische Erbfolgekrieg. Vor allem Frankreich, aber auch weitere Fürsten wollten den Tod des letzten Habsburgers nutzen, dessen Reich zu zerschlagen und aufzuteilen. Preußen handelte und besetzte Schlesien. Ein Blick auf die Landkarte zeigt die strategische Bedeutung dieses reichen Landes, die sich 1866 erweisen sollte. Mehr wollte König Friedrich II. aber nicht; keinesfalls Österreich zerschlagen. Denn daß dessen Fall nur die französische Vorherrschaft über Deutschland bedeuten konnte, sah er klarer als alle anderen. Die Gegensätze führten letztlich zum Siebenjährigen Krieg; einem ersten Weltkrieg. Frankreich, das zunächst Friedrich unterstützt hatte, war auf die Seite des Erzfeindes Habsburg getreten, weil England, das vorher Habsburg unterstützt hatte, Preußen – gegen Vergütung – als Schutzmacht des Kurfürstentums Hannover gewonnen hatte23, wo die Briten ihre Rekruten einzogen. Bei Zusage von Teilen des so oft umkämpften Belgiens. Der Gegensatz zwischen Frankreich und England war eigentlicher Kern der Konflikte auf dem europäischen Kontinent. Der Krieg wütete zwischen Weichsel, Maas und Donau, kostete vor allem deutsches Blut, brachte die deutschen Parteien an den Rand des Ruins – Kühe zogen preußische Feldkanonen, Kadetten führten Truppe – und war doch der Krieg der Seemächte um die Kolonien in Amerika und Indien; um die Weltherrschaft. England ging als Weltmacht aus den Kämpfen am Mississippi hervor, Preußen als zweite deutsche Großmacht. Frankreich hatte in Übersee wie an der Elbe verloren. Wer weiß schon, daß der englische Minister Pitt seine maßgeblichen Anregungen zur Seekriegführung von
Ergebnisse der Friedensschlüsse 18. Jhdt.
Friedrich dem Großen erhielt? England hatte Preußen und somit Deutschland gerettet. König Ludwig XV. hätte anders handeln können: Mit Habsburg und Preußen die Verhältnisse im einstigen Mittelreich und am Rhein einvernehmlich und gütlich regeln, um mit allen Mitteln England in Übersee entgegenzutreten. Dort wären Habsburg und Preußen nicht als Konkurrenz aufgetreten. Ihnen fehlte jede Voraussetzung zur Seemacht. Stimmen in Versailles, die so dachten, konnten sich nicht durchsetzen. Es bleibt jeglicher Phantasie überlassen, sich vorzustellen, wie die nächsten Jahrhunderte verlaufen wären, was alles nicht geschehen wäre – einschließlich der Ereignisse in Nordamerika, der französischen Revolution samt ihren Folgen und den späteren Kriegen. Die Zeit war dazu nicht reif. Nach dem Siebenjährigen Krieg aber war Frankreich zu schwach, um aktiv in die Entwicklungen im Osten einzugreifen, wo sich zwischen Rußland, der Türkei und Habsburg die Gewichte verschoben. England baute ungehindert sein Weltreich auf. An Balance war Albion nur auf dem europäischen Kontinent interessiert. (wird fortgesetzt) Abbildungen, soweit nicht anders angegeben, Archiv Reichardt.
Anmerkungen:
1 sofern keine alliierte Neugründung 2 was die These von der „Verspäteten Nation“ ab 1870 Lügen straft 3 Inzwischen „Lothringen“, doch wesentlich weiter als heute: Mit Belgien, den Niederlanden, Luxemburg und der Bourgogne 4 Die Krönung nahmen die Erzbischöfe vor 5 Erzherzog von Österreich, Herzog von Burgund, König von Spanien samt Niederlanden und Amerika 6 Neben ihm hatte sich auch König Heinrich VIII. von England beworben, so wie später auch
Zar Peter d. Gr. 7 1529 belagerten die Türken Wien und verwüsteten das Umland. 8 Nachf. von König Franz 9 Dreimal in vierzig Jahren wurden französische
Könige ermordet, die sich gegen das katholische Spanien gewen-det hatten. 10 1659, zehn Jahre nach Unterzeichnung des
Westfälischen Friedens 11 der sich seinerseits bemühte, deutscher Kaiser zu werden 12 Brandenburg, Wilhelm von Oranien 13 „Reunionskammern“, die angebliche Rechte auf „Wiedervereinigung“ nachweisen sollten 14 Die er bei Fehrbellin besiegte 15 Kleve, Mark (Westfalen) 16 Von 1598 17 Allein 20 000 Hugenotten gingen nach Brandenburg und trugen maßgeblich zu dessen
Entwicklung und Aufstieg bei 18 Der pfälzische Erbfolgekrieg 1688–97 19 Spanien sollte ihm durch die Thronfolge zufallen 20 Deutsche, Slawen, Ungarn, Italiener 21 Ludwig XV. 22 Als Gemahl Maria Theresias wurde er später
Deutscher Kaiser 23 Ein Gebiet zwischen Weser, Werra und Elbe, nahezu das heutige Niedersachsen
Zum Autor:
Generalmajor a.D. Jürgen Reichardt ist Präsident der Arbeitsgemeinschaft der Reservisten-, Soldaten- und Traditionsverbände in Bayern (ARST) und Ehrenpräsident des Bayerischen Soldatenbundes 1874 e.V..