sissy
Homosexual’s Film Quarterly Ausgabe eins · März bis Mai 2009 · kostenlos
s Cinema of Dreams: Tilda Swinton und Mark Cousins erfinden das Filmfestival neu s Reich mir Deine Hand: Zwillinge aus Frankreich s Bruce LaBruce: Gloria Swanson in Male Drag s Monika Treut: Drei Frauen. Zwei Kulturen. Eine Liebe. s Frisch ausgepackt: Alle neuen nicht-heterosexuellen DVDs s Landpartie: „Rückenwind“ von Jan Krüger s Film-Flirt mit Tim Staffel
Drei Frauen. Zwei Kulturen. Eine Liebe.
Inga Busch
Huan-Ru Ke
Preview in der L-Filmnacht · Kinostart am 30. April · www.l-filmnacht.de · www.salzgeber.de
Ting-Ting Hu
vorspann
Sissy eins Unser Titelfoto zeigt Tilda Swinton und Mark Cousins im schottischen Nairn vor einer angemieteten Bingohalle, in der die beiden im Sommer 2008 ihr Festival Cinema of Dreams veranstalteten. Tilda trägt den Kilt in den traditionellen Familienfarben und eine Jacke aus dem lokalen Gebrauchtklamotten-Charity-Shop. Es könnte auch umgekehrt gewesen sein. Mark ist ein ganz bemerkenswerter Charakter und ein unermüdlicher Kämpfer für ein anderes Kino. Jemand, der das Kino immer wieder neu erfindet. Mark Cousins wird in diesem Jahr mit dem Manfred-Salzgeber-Preis ausgezeichnet und über Tilda und Mark ist ab Seite 28 mehr zu lesen. Wer oder was eine Sissy ist – das mit der österreichischen Kaiserin lassen wir jetzt mal weg – dürfte bei FilmfreundInnen kein Geheimnis sein. Diese in Hollywood erfundene Nebenfigur versinnbildlicht seit Stummfilmzeiten, dass die Personnage eines guten Films im besten Fall aus mehr als nur einem romantischen Hetero-Liebespaar bestehen muss. Sie ist eine glamuröse, sich verschleudernde Alternative. Oder wie es die glbtq-Enzyklopädie ausdrückt: „Die Sissy steht für eine begehrenswerte Welt aus Raffinesse und purem Vergnügen, weit entfernt vom langweiligen Status Quo.“ In der Sissy stellen wir vierteljährlich die kommenden nicht-heterosexuellen Kinofilme vor und erlauben uns gleichzeitig einen Blick zurück auf schon erhältliche nicht-heterosexuelle DVD-Erscheinungen. Dazwischen bleibt Gefunden: Kenneth Anger in Nairn. für uns und unsere Autoren genug Raum für freiere Erkundungen der homosexuellen Filmkultur – und verstoßen damit gerne gegen jeden Trend. Film ist eben mehr als nur Lifestyle und Unterhaltung, und garantiert verschonen wir unsere Leser mit Fitnesstipps, Kosmetik, dem passenden Auto zur Frisur oder sonstigen Anleitungen zur Metrosexualität. Nicht-heterosexuelle Filmkultur heißt etwas anderes: Blicke über die Grenzen der Konventionen zu werfen, nach neuen Erzählformen zu suchen, Impulse an das Weltkino auszustrahlen, Denkweisen infrage zu stellen, das Spektrum dessen zu vergrößern, was erzählt werden kann. Achten Sie auf die Nebenfiguren – Viel Spaß mit der ersten Sissy!
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mein dvd -regal
Franz Dinda, Schauspieler
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geister von Si lv y Pom m e r en k e
Mit „Ghosted“ kommt endlich ein neuer Spielfilm von Monka Treut in die Kinos. Ein Portrait der Regisseurin.
s Die deutsche Regisseurin Monika Treut ist überwiegend als Dokumentarfilmerin bekannt und hat sich bereits in den achtziger und neunziger Jahren mit Themen wie Transgender, Bondage oder SM filmisch auseinandergesetzt. Das, was heute in den Blättern der Yellow Press kaum noch für Aufsehen sorgt, verstörte vor zwanzig Jahren die Öffentlichkeit, und Monika Treut hat mit ihrem bisweilen surrealistischen – aber immer humorvollen – Stil diese Verstörung noch zusätzlich gefördert. Sie hatte immer schon ein Händchen für die originelle Darstellung von Menschen jenseits des Mainstreams. Beispielsweise produzierte sie den ungewöhnlichen Dokumentarfilm Didn’t Do It for Love über Eva Norvind aka Mistress Ava Taurel aka Eva Johanne Chegodaieva Sakonskaya: Adlige, Schauspielerin, Sexsymbol, Domina und Universitätsdozentin. Ein Leben, wie es eigentlich nur in einem Roman erfunden werden kann, und das Monika Treut wie keine Zweite in eindrucksvollen Bildern nacherzählte. Es tat gut, zu sehen, dass es solche unangepassten Menschen wie Eva Norvind gab, die sich bewusst gegen gesellschaftliche Zwänge stellten und ihr Leben kreativ und grenzüberschreitend inszenierten. Genau so individuell gestaltete sich allerdings auch der Tod der Dominatrix, denn sie ertrank eine Woche nach ihrem 62. Geburtstag an der Küste Mexikos, die für einige Jahre ihre Wahlheimat war und der sie sich immer zugehörig gefühlt hatte. Monika Treut hatte durch ihre internationale Arbeit – wobei die USA hier ihr bevorzugter Tummelplatz war – immer die Gender-Nase vorn, denn sie bearbeitete das Thema Trans* zu einem Zeitpunkt, als es hier in Deutschland in feministischen Kreisen eine absolute NoGo-Area war. Während ihr Dokumentarfilm Female Misbehavior dank eines geschickt eingesetzten Spekulums den tiefen Einblick in Annie Sprinkle gewährte, erklärte Schnellrednerin, Quasselstrippe und Frauentheoretikerin Camille Paglia: „Haltet euch raus aus unserem Sexualleben!“, und F2M Max Valerio war gerade mitten drin, sich zum Mann umbauen zu lassen. Sieben Jahre später konnte man in Gendernauts erfahren, dass in Los Angeles ein reger Transgender-Tourismus eingesetzt hatte, und bei Max wenigstens schon die Brüste ab waren, auch wenn der Schwanz erst eine Länge von fünf Zentimetern erreicht hatte – aber die Länge ist ja bekanntlich nicht so wichtig. Ach, und natürlich nicht zu vergessen die schrägen Spielfilme Die Jungfrauenmaschine oder My Father Is Coming. Was haben wir gelacht!
Gerade hat Monika Treut ihren neuen Spielfilm Ghosted im Berlinale Panorama vorgestellt. Wie bereits in ihrer letzten Arbeit, Den Tigerfrauen wachsen Flügel, beschäftigt sie sich mit Taiwan, und plötzlich hat man das Gefühl, Treut ist sehr, sehr reif geworden. In schönen, bisweilen asketischen Bildern lässt sie ein Beziehungsdrama zwischen Hamburg und Taipeh, zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart entstehen, das als Mixtur aus Krimi, Liebesfilm und Mystery-Thriller inszeniert ist. Erstaunlich brav werden hier zwar die Sexszenen zwischen der Video-Künstlerin Sophie Schmitt (Inga Busch) und der jungen Taiwanesin Ai-Ling (Huan-Ru Ke) gezeigt, die absolut nichts mit Bondage, SM oder Pornographie zu tun haben, aber das ist nicht weiter schlimm, denn Treut scheint sich an diesen Themen in der Vergangenheit mehr als abgearbeitet zu haben. Stattdessen ist ein spannender Spielfilm entstanden – Treut reloaded, aber mit anderer Munition. Die sieht nämlich eine zarte und dennoch leidenschaftliche Beziehung von zwei Frauen vor, die sehr märchenhaft und klischeehaft schön dargestellt wird. Allerdings trübt sich bald der Himmel voller Geigen, da Ai-Ling besessen von der Suche nach ihrem leiblichem Vater ist, und Sophie die Art ihres Zusammenlebens bald zu eng wird. Hier prallen unterschiedliche kulturelle Lebensentwürfe aufeinander, die auch durch die tiefe Liebe kaum aufgehoben werden können. Westlicher Individualismus versus östlichem Gemeinschaftsgefühl führt die beiden Liebenden in ihre erste große Krise. Während Sophie vor der einengenden Symbiose flieht, versucht AiLing sich in ihrer neuen – ungewollten – Freiheit zurechtzufinden. Ein Ausflug in eine Lesbenbar lässt sie auch direkt auf die blondierte Rechtsanwältin Katrin Bendersen (Jana Schulz) treffen, die sofort von ihr entflammt ist. Auf dem gemeinsamen Heimweg geschieht jedoch etwas Unfassbares, und Sophies Anruf auf der Mailbox ist das Letzte, was Ai-Ling noch zu hören bekommt … Die neue Monika Treut tut richtig gut, und sie vermittelt – neben der spannenden und mystischen Rahmenhandlung, die die Grenze von Fiktion und Realität manches Mal verwischt, – ein tiefsinniges Porträt von Taiwan, das zwischen Moderne und Tradition hin- und hergerissen ist. Trotz aller kultureller Unterschiede zeigt der Film jedoch vor allem eines: Liebe ist universell und kümmert sich nicht um gesellschaftliche Normen.
Monika Treut Monika Treut studierte in Marburg Germanistik und Politik (Staatsexamen 1978) und promovierte 1984 mit der Dissertation „Die grausame Frau. Zum Frauenbild bei de Sade und Sacher Masoch“. Im selben Jahr gründete sie mit der Regisseurin und Kamerafrau Elfi Mikesch die Hyäne Filmproduktion in Hamburg. Nach einer TheaterregieAssistenz bei Werner Schroeter am Düsseldorfer Schauspielhaus lebte Monika Treut von 1989 bis 1992 in New York, wo u.a. der Spielfilm „My Father is Coming“ entstand. Ihre Spiel- und Dokumentarfilme erhielten Preise in Italien, Brasilien, England und Griechenland. Retrospektiven haben bisher in Cambridge, Bologna, Los Angeles, Toronto, Mexiko City, Lissabon, Thessaloniki, Sao Paolo, Helsinki, Taipeh, Warschau und Prag stattgefunden. Sie unterrichtet an Universitäten in Kalifornien und New York und schreibt Beiträge für Bücher und Zeitschriften. Monika Treut ist Inhaberin der Produktionsfirma Hyena Films in Hamburg.
Ghosted
von Monika Treut D/TW 2009, 89 Min, OmU Edition Salzgeber, www.salzgeber.de
Im Kino
Bundesstart 30. April 2009 L-Filmnacht im April www.l-filmnacht.de
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„Für mich ist der Reiz beim Dokumentarfilm immer das Abenteuer, eine Reise mit ungewissem Ausgang anzutreten.“
sissy: Du hast Dich in den letzten Jahren ganz auf Deine Dokumentarfilmarbeit konzentriert. Warum hast Du Dich jetzt für einen Spielfilm entschieden? Monika Treut: Für mich ist der Reiz beim Dokumentarfilm immer das Abenteuer, eine Reise mit ungewissem Ausgang anzutreten. Weil der Dokumentarfilm in Deutschland in den letzten Jahren durch die Fernseh-Sender – ohne deren Beteiligung ja fast nichts mehr geht – sehr formatisiert wurde, hatte ich wieder Lust im Spielfilmbereich zu arbeiten. Im Moment scheint mir im Low-Budget-Spielfilm mehr Freiheit zu sein, ungewöhnliche Geschichten zu erzählen. Wie entstand die Idee zu „Ghosted“? Die Idee zu Ghosted ist durch eine der Protagonistinnen meines Dokumentarfilms Den Tigerfrauen wachsen Flügel – die Schriftstellerin Li Ang aus Taiwan – an mich herangetragen worden. Li Ang hatte mich mit taiwanesischen Geistergeschichten bekannt gemacht und regte an, dass ich einen Roman von ihr verfilme. Das Projekt hat sich dann zerschlagen. Zurück in Hamburg ergab es sich durch eine glückliche Fügung, dass die junge Autorin Astrid Ströher mir eine Idee für eine Doppelgänger-Geschichte gab. Daraus hat sich etwas sehr Spannendes entwickelt: eine Vermischung des asiatischen Geistermotivs mit dem Motiv des Doppelgängers, das aus der deutschen Romantik stammt. Kannst Du das Motiv der asiatischen Geistergeschichten noch ein bisschen ausführen? In Asien, speziell auch in Taiwan, gibt es sehr viele Geistergeschichten. Sie beruhen auf der Ahnenverehrung. In Taiwan gibt es in fast allen Wohnungen Altäre mit Fotos der Ahnen. Sie werden besonders im Geistermonat geehrt. Dann versammeln sich die Familien mit Freunden und Nachbarn, um Geistergeld zu verbrennen und Opfergaben für die Verstorbenen darzureichen, Speisen und Früchte, die alle eine bestimmte Bedeutung haben. Es wird den Ahnen etwas gegeben, sodass sie friedlich gestimmt sind. Der Hintergrund für diese Rituale ist eine große Angst. Es ist die Angst, den Vorfahren nicht genug Liebe gegeben zu haben, sich nicht genug um sie gekümmert zu haben, die Angst, dass die Verstorbenen als Geister zurückkehren, um die Lebenden zu verfolgen und sich zu rächen. Mich fasziniert auch das Ritual des Verbrennens von Geistergeld. Es wird nicht nur taiwanesisches Papiergeld verbrannt, sondern auch chinesisches Festlandsgeld, falsche amerikanische Dollars und andere Währungen, die der verstorbene Geist benötigen könnte, um in seiner Zwischenwelt zu existieren. 8
Die Geschichte von „Ghosted“ spielt auf verschiedenen Zeitebenen, die ineinander geschoben werden. Warum hast Du Dich für diese Struktur entschieden? Es geht es um den Tod einer Figur und es geht darum, wie die anderen damit umgehen. Wir beginnen mit der Vergangenheit der jungen Taiwanesin Ai-ling und springen dann mit Sophie in die Gegenwart, nachdem der Todesfall geschehen ist. Die Erinnerungen an die Tote kehren wie ein Trauma zurück und unterbrechen die Struktur der linearen Erzählung. Die Grenzen von Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft werden dadurch aufgehoben und in einen Schwebezustand versetzt. Durch die Figur der geheimnisvollen Journalistin Mei-li entsteht zusätzlich etwas Mehrdeutiges und Geheimnisvolles, was sich nicht restlos aufklären lässt. Die Geschichte dreht sich aber auch um die Liebe. Aus Sophies westlicher Sicht geht es um den Verlust der Geliebten und dass ihr erst dadurch bewusst wird, was sie ihr bedeutet hat. Es geht um Versäumnisse und die Trauer, die aus der Erkenntnis entsteht, etwas nicht gelebt zu haben. Die asiatische Perspektive hat eher mit dem Tod zu tun: Ai-ling ist jung gestorben, sie hat in ihrem Leben noch nichts hinterlassen. Der „Geist“, der sich auf die Spur von Sophie heftet, möchte herausfinden, ob diese junge Frau geliebt wurde. Am Ende des Films werden dann beide Aspekte zusammengeführt, sodass der „Geist“ wieder entschwinden kann: Sophie hat den Prüfungen des Geistes standgehalten – sie hat sich nicht verführen lassen – und der biologische Vater bekennt sich endlich zu seinem Kind. Nun kann die Tote in Frieden ruhen und der „Geist“ hat seine Aufgabe erfüllt. Und die deutsche Sophie kann von ihrer Geliebten Abschied nehmen und hat etwas von der fremden Kultur in sich aufgenommen. War es schwierig, die Liebesszenen zu drehen? In Taiwan gibt es ein spezielles Verhältnis zur Sexualität, und das war beim Drehen der Liebesszene besonders virulent. „Frontal nudity“ war ein Reizwort bei den taiwanesischen Schauspieler-Agenten. Es ging immer sofort darum: Was ist mit „frontal nudity“, was müssen die Schauspielerinnen hier zeigen? Das war immer ein ganz heißes Eisen. Es hat zum Teil mit dem Konfuzianismus zu tun. Man zeigt seinen Körper nicht. Erotik und Sexualität spielen sich sehr privat ab, sehr intim. Man kann sich vorstellen, dass die Liebesszene, so zart sie in ihren Andeutungen ist, für die junge Schauspielerin Huan-Ru ein Problem darstellte. Inga Busch hat dann sehr geholfen mit ihrer entspannten Haltung zu ihrem Körper, aber dennoch war es eine Schwierigkeit. Wir hatten ein „closed set“, wir haben ohne Ton gedreht, weil die beiden Tonmänner nicht dabei sein durften. Wir haben es so einfach wie möglich gemacht für die junge Schauspielerin aus Taiwan, die vorher große Angst hatte. Du gehörst zu den wenigen Filmemachern, die von Drehbuch über Produktion bis zur Regie alle Funktionen übernehmen. Lassen sich Deine Filme nur so realisieren? Es ist aus der Not geboren, diese Personalunion zu übernehmen in diesem Fall, weil die Zutaten des Films – die taiwanesischen Co-Produzenten, die taiwanesischen Mitarbeiter und Schauspieler, die ganze deutsche Seite und auch die Schwierigkeiten bei der Finanzierung – für den normalen deutschen Produzenten viel zu viel Arbeit gewesen und viel zu wenig honoriert worden wären. Und die Durststrecken, die man dabei zu überwinden hat, sind auch nur dann durchzustehen, wenn man von ganzem Herzen überzeugt ist, dass man einen solchen Film machen möchte. Also für junge Leute auf keinen Fall zu empfehlen und für die Älteren… Naja es gibt wahrscheinlich gar nicht mehr viele, die sich auf so etwas einlassen. Ich hab’s nicht bereut. Es gab schon ein paar extrem schwierige Situationen, aber ich bin mit dem Film sehr zufrieden und bin allen dankbar, die sich auf dieses Experiment eingelassen haben. Interview: Doris Bandhold s www.hyenafilms.com
kino
Honey in Action von St e fa n i e Den k e rt
Endlich erscheint Lizzie Bordens „Born in Flames“ auf DVD und ist im Februar in der L-Filmnacht wiederzuentdecken.
s Der nun endlich ab März erhältliche lesbisch-feministische Klassiker Born in Flames von Lizzie Borden aus dem Jahre 1983 zelebriert den Kampfgeist und autonomen Aktionismus, wie wir ihn von den mutigen Frauenrechtlerinnen kennen, die ihren Protest in den späten 1960ern auf die Straße trugen. Born in Flames entwirft allerdings ein utopisches Amerika, das zehn Jahre nach einer Revolution nun in einer sozialistischen Demokratie lebt. Auch in dieser angeblich gerechteren Gesellschaft sind Sexismus und Rassismus weiterhin im alltäglichen Leben fest verankert. Eine Krise auf dem Arbeitsmarkt macht das besonders deutlich: Die ersten, die entlassen werden, sind Frauen und Angehörige ethnischer Minderheiten. Eine militante Gruppe, die sich als die „Army“ bezeichnet, hat sich bereits formiert, um für den Schutz von anderen Frauen zu sorgen. Sie patrouillieren in den Städten auf Fahrrädern und stellen sich den Tätern sexueller Übergriffe in den Weg. Fotos von Vergewaltigern veröffentlichen sie auf Plakaten in der ganzen Stadt, Gebäudemauern besprühen sie mit Wahrheiten über die Unterdrückung von Frauen. Zum zehnten Jahrestag der sozialistisch-demokratischen Revolution soll jedoch der Anschein einer glücklichen Bevölkerung öffentlich demonstriert werden. Der Regierung ist die selbstjustizübende Gruppe somit ein Dorn im Auge, schließlich zeigen die als „Terroristinnen“ denunzierten Frauen die Fehler im System auf. Als deren Anführerin jedoch unter dem Druck der Regierung zusammenbricht und sich im Gefängnis das Leben nimmt, begreifen viele erst, wie ernst die Lage ist. Eine stetig wachsende Anzahl von Frauen will nicht mehr nur darauf hoffen, dass eines Tages Gleichberechtigung in allen Köpfen verankert sein wird, sondern aktiv werden. Immer mehr Frauen schließen sich daher den Aktionen der „Army“ an und beginnen, mit ihnen zu demonstrieren. Die Regierung versucht derweil, gegen die wachsende Unruhe mit einem neuen Programm anzugehen und schlägt als Lösung für die Massenarbeitslosigkeit von Frauen die Entlohnung von Hausarbeit vor. Die Frauen wollen sich jedoch nicht an den Herd zurückdrängen lassen. Mittlerweile sind Radiomoderatorin Honey und ihre Anhängerinnen auch davon überzeugt, den Kampf gegen die Machtinhaber aufnehmen zu müssen. Für Honey als lesbische Afroamerikanerin aus armen Verhältnissen steht dabei fest: Im Kampf gegen Unterdrückung müssen Frauen aller Hautfarben, sozialer Schichten und sexueller Orientierungen sich solidarisch vereinen. Die Revolution beginnt…
Lizzie Borden ist es gelungen, einen feministischen Science-Fiction-Film zu drehen, der sämtliche Kritikpunkte innerhalb und außerhalb der Neuen Frauenbewegung behandelt. Es ist bemerkenswert, wie mit pointierten Dialogen und aussagekräftigen Bildern Rassismus, Klassismus, Sexismus und Heterosexismus thematisiert werden, ohne dass dabei nur an der Oberfläche gekratzt wird. Als Low-Budget-Produktion hat Born in Flames den authentisch anmutenden Look eines Zeitdokuments, der durch seinen dokumentarischen Stil weiter unterstrichen wird. Das utopische Setting des Films ermutigt die ZuschauerInnen, mit einem frischen Blick den Stand der Gleichberechtigung in der Gesellschaft, in der sie leben, neu zu betrachten und zu überdenken. Es überrascht nicht, dass Born in Flames großen Einfluss auch auf spätere Filmemacherinnen hatte. Beispielsweise beschäftigte sich der amerikanische Independentfilm A Gun for Jennifer (1996) mit Deborah Twiss ebenfalls mit feministischer Selbstjustiz. Darin schließt sich die Protagonistin Jennifer einer Frauen-Gang an, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, Vergewaltigungsopfer zu rächen. Und zuletzt hat sich Jamie Babbit mit ihrem Politmärchen Itty Bitty Titty Committee, das 2008 in die deutschen Kinos kam, direkt auf Born in Flames bezogen. Babbit erklärte der L-Mag: „Ich liebe diesen Film. Und sie [Lizzie Borden] ist jemand, die lange vor mir kam und mich total inspiriert hat.“ Itty Bitty Titty Committee greift den revolutionären Gedanken aus Bordens Klassiker auf und setzt dabei feministischen Aktivismus äußerst unterhaltsam in Szene. Im Zentrum des Films steht die radikalfeministische Frauengruppe C(I)A. (Clits in Action), deren post-adoleszente Mitglieder mit jugendlichem Eifer den Kampf gegen das Patriarchat aufnehmen, um ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Wie auch Babbits Film zeigt, kann man leider nur zu dem Schluss kommen, dass die Thematik von Born in Flames immer noch hochaktuell ist und auch heute noch zum Aktivismus inspirieren kann. s
Born in Flames
von Lizze Borden · USA 1983, 80 Minuten, OmU
Lizzie Borden 1958 als Linda Elizabeth Borden geboren. Borden machte ihren Abschluss am Wellesley College in Massachusetts, bevor sie nach New York zog, um als Künstlerin und Kritikerin zu arbeiten. 1976 entstand „Regrouping“, das erste Werk der Autodidaktin, doch erst mit „Born in Flames“ (1983) gelang ihr ein Publikumshit. Drei Jahre später erschien „Working Girls“, ein Film über die lesbische Fotografin Molly, die als Prostituierte arbeitet, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Nach einigen Arbeiten für die Horrorfernsehserie „Monsters“ ging Borden nach Hollywood und filmte mit Sean Young „Love Crimes“ (1991), der sich mit erotischen Fantasien befasst. Die weibliche Sexualität erkundete sie ebenfalls in der Serie „Inside Out“, einer Playboy Produktion, sowie in dem Filmsegment „Let’s Talk About Sex“ über eine Angestellte einer Telefonsex-Hotline.
Itty Bitty Tity Committee
A Gun for Jennifer
Beide Edition Salzgeber, www.salzgeber.de
Indigo, www.goodmovies.de
von Jamie Babbit · USA 2007, 87 Minuten, OmU
von Todd Morris · USA 1996, 91 Minuten, FSK 18
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LANDPARTIE von t hom a s a be ltsh ause r
Mit „Rückenwind“ kommt der neue Spielfilm des Berliner Regisseurs Jan Krüger ins Kino. SISSY hat sich mit ihm getroffen.
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edition salzgeber
s Johann und Robin, zwei Berliner Jungs, fahren mit dem Zug nach Brandenburg, um ein paar Tage durch die einsame Waldlandschaft zu radeln und das Zelt aufzuschlagen, wo es ihnen gerade gefällt. Es ist Sommer, die Luft ist lau und das Leben ist ein Spiel. Zwischen Nacktbaden und Herumtollen wird ihr Ausflug bald zum Abenteuer, je tiefer sie in den Wald eindringen. Dort, wo Fuchs und Hase sich Gute Nacht sagen, passieren merkwürdige Dinge. Plötzlich sind ihre Räder weg, trotz Landkarte verlieren sie immer mehr die Orientierung. Sie nehmen es sportlich, lassen sich treiben, erkunden stattdessen ihre Körper, mal zärtlich, mal wild. Vor allem Robin testet, wie weit er gehen kann – und Johann liefert sich ihm lustvoll aus. Zu Fuß erreichen sie irgendwann einen alten Gutshof, den eine Mutter mit ihrem jugendlichen Sohn bewohnt. Überraschend freundlich werden sie willkommen geheißen und bleiben eine Weile, essen, trinken, erzählen sich Geschichten und machen kleine Ausflüge. Die Welt da draußen ist ganz weit weg, hier gibt es nur die vier. Als die drei Jungs mit dem Boot am Steg anlegen, isst Johann ein paar Beeren, die ihm die Wahrnehmung verschwimmen lassen. Was ist wirklich, was seine Fantasie? Wie nah kommen sich Robin und der Junge da im Gestrüpp? Fiebrig und eifersüchtig zieht sich Johann immer mehr zurück. Die Idylle scheint ein jähes Ende zu finden. Oder ist alles nur ein Spiel? Jan Krügers zweiter Langfilm nach dem preisgekrönten Unterwegs ist eine Reise mit leichtem Gepäck, ein Roadmovie mit kleinem Budget. In einer faszinierenden Mischung aus realistischen Alltagsbeobachtungen und märchenhaft anmutenden Momenten erzählt Rückenwind von einer schwulen Beziehung in einer Auszeit jenseits des Großstadtdschungels. Kurz vor der Weltpremiere auf der Berlinale und inmitten der Postproduktion hat sich Jan Krüger Zeit für ein Gespräch mit SISSY genommen. sissy: Wie ist die Idee zu Rückenwind entstanden? Jan Krüger: Das erste Exposé war noch sehr viel weniger narrativ, ich wollte ganz impressionistisch Bilder und Szenen eines Ausflugs parallel mit Aufnahmen aus der Großstadt zeigen. Im Club, nachts am Märchenbrunnen, so eine Art Reigen, aber ohne durchgehende Geschichte. Die erste Idee war auch gar nicht, einen Spielfilm mit geschlossener Handlung zu erzählen, sondern eher eine offene Collage, einfach aus der Not heraus, mit wenig Geld und Zeit einen Film zu drehen. Als zweite Ebene hätten Zeitungsausschnitte und Tagebucheinträge den Film zusammengehalten. Das will ich auch noch mal probieren, aber so auf halbem Weg merkte ich, dass das über eine Länge von 70, 11
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80 Minuten nicht trägt. Also habe ich angefangen, die Ausflugsgeschichte weiterzuspinnen. Da kamen dann das Haus und die anderen Figuren dazu und auch die Idee, den Film so psychedelisch enden zu lassen. Es wurde mir auch schnell klar, dass die Rückblenden in die Stadt irgendwie bemüht gewirkt hätten und ich habe sie dann ganz weggelassen. Ich habe mich mehr auf die Geschichte verlassen und auch auf das, was auf so einer Reise mit den Schauspielern passiert. Das hat so eine eigene Kraft entwickelt, dass die ganz abstrakten Momente – ursprünglich sollte man auch mal zehn Minuten nur Wassertropfen und krabbelnde Tierchen sehen, dazu Tagebuchaufzeichnungen vorgelesen – fast gar nicht mehr drin sind. Das Ende ist aber noch ein Überbleibsel von diesem ursprünglichen Konzept, oder? Ein bisschen, ja. Es gibt einen Roman von Hervé Guibert, „Das Paradies“, den ich in Motiven schon in dem Kurzfilm Hotel Paradijs verwendet habe. Eine magische Geschichte, die mit dem Tod der imaginierten Freundin beginnt und dem Versuch, diese Liebesgeschichte zu rekonstruieren. Und dabei löst sich die Gewissheit auf, dass das alles so passiert ist. Daraus hatte ich die Idee, die Geschichte nicht von A bis Z zu erzählen und auch diese Realitätsverschiebung am Ende. Wie detailliert war das Drehbuch? Es gab ein Treatment von 30 Seiten, mit großem Zeilenabstand. Das war nicht viel. Zu Beginn standen noch nicht mal alle Drehorte fest. Bei einer größeren Produktion wäre mir der Arsch noch mehr auf Grundeis gegangen, aber wir waren nur fünf Leute und ich habe auch schlecht geschlafen, aber ich wusste, ich muss nicht alles kontrollieren, sondern kann es auch mal laufen lassen und kucken, was passiert. Das Drehbuch war sehr fragmentarisch und es gab auch keinen Ausstatter, wir mussten also die Orte so nehmen, wie wir sie vorfanden und uns darauf einstellen. Da muss man schon ein Risiko eingehen und vertrauen, dass es am Ende zusammenpasst. Warum war es zeitlich und finanziell so knapp? Die Produktionskosten waren so niedrig, weil wir den Ehrgeiz hatten, einen wirtschaftlichen Film zu machen, also einen Film, der sich durch die Kino- und DVD-Erlöse rechnet. Das hieß in diesem Fall 40.000 Euro. Und das bedeutet eine große Einschränkung, aber auch die große Freiheit, dass einem keiner reinredet und man keinen konventionellen Spielfilm erzählen muss. Ein Kompromiss war, dass es kein fertiges Drehbuch gab, denn das hätte mehr Zeit und auch mehr Geld gekostet. Ich habe dafür mehr Zeit fürs Casting verwendet. Mittlerweile habe ich dieses Selbstvertrauen, so zu arbeiten. 12
Wie hast Du die Darsteller gefunden? Ich verfolge schon deutsches Kino und Fernsehen und da fallen mir Leute auf, die ich toll finde. Und ich kucke viel bei Casting-Agenturen. Jetzt hatte ich zunächst den Eindruck, dass ich mit diesem unfertigen Drehbuch und der schwulen Geschichte, in der es auch Nacktszenen geben sollte, Schwierigkeiten haben würde, gestandene Jungstars dafür zu finden. Die haben ja was zu verlieren und dem Druck wollte ich mich nicht auch noch aussetzen. Deswegen habe ich zuerst Laien gesucht, per Anzeige und im Internet, da haben sich 30 Leute gemeldet und davon haben wir 20 eingeladen und Probeaufnahmen gemacht. Aber das war schwierig, so ganz ohne Erfahrung. Also habe ich bei Schauspielschulen Leute angeschaut und bei kleineren Agenturen. Sebastian Schlecht, der den Johann spielt, habe ich an der HFF Potsdam gefunden, wo er im zweiten Jahr Schauspiel studiert, und Eric Golub ist mir in einem Musikvideo aufgefallen. Ich habe sie dann eingeladen und im Park rumtoben und Tango tanzen lassen. Da zeigt sich schon sehr viel, ob jemand einen anderen, den er nicht kennt, souverän anfassen kann. Das ist keine Kleinigkeit. Und die beiden konnten das, das war eine gute Kombination, auch in ihrer Unterschiedlichkeit. Wussten sie, wie weit sie gehen müssen? Sie wussten, dass es um eine schwule Beziehung geht. Wir haben das Drehbuch zusammen gelesen und uns dann überlegt, dass sie seit 6 Wochen zusammen sind, also schon oft miteinander geschlafen haben. Und diese Vertrautheit sollte man auch vor der Kamera sehen, da mussten sie innerhalb von ein paar Tagen hinkommen. Sich küssen und anfassen können, wie zwei Jungs, die schon oft zusammen im Bett waren. Ich will keinen steifen Schwanz sehen, habe ich gesagt, aber ich will schon, dass ihr euch auch mal nackt auszieht und berührt, weil das zur Geschichte gehört. Da muss man einfach sehr konkret sein, dann verschwindet auch das Anrüchige daran. Ich habe sie sich vorher nackt fotografieren lassen. Das hat eine Nähe geschaffen und den beiden auch Selbstvertrauen gegeben. Wie schaffst du die Gratwanderung zwischen authentischer Intimität und Ausbeutung? Das muss jeder für sich entscheiden, denke ich. Man muss bestimmte Grenzen akzeptieren, wenn es den Beteiligten unangenehm ist. Ganz wichtig ist auch sich selbst einzubringen. Zu erzählen, wie es mit dem eigenen Freund ist, zum Beispiel. Man darf nicht glauben, dass man die Schauspieler vorschicken kann und selbst schön in Sicherheit bleibt. Im Gegenteil, man muss sich zumindest im Gespräch entblößen und damit ein paar Tabus brechen. Und sehr genau hinschauen und sie auch ein bisschen pushen. Und den Schauspielern Feedback geben, ihnen sagen, was sie schon gut machen, um so Vertrauen zu schaffen. Und deine eigenen Grenzen? Ich könnte in meinen Filmen sicher noch viel weiter gehen, auch im sexuellen Bereich. Es gab in den letzen Jahren ja einige renommierte Regisseure, die echten Sex gezeigt haben, ob Lars von Trier oder Michael Winterbottom. Da ist aber nicht viel übrig geblieben, finde ich. Sex als expliziter Akt war weder ein ästhetischer Durchbruch noch eine besondere Befriedigung beim Kucken. Larry Clark hat immer was Schlüpfriges, aber auch sehr Hochglanz, diese glatten Jungs, wie eine Art Dirty-„Bravo“. Ich bin noch ziemlich weit davon entfernt, Leute bei echtem Sex zu zeigen. Es hat für mich auch nichts mit Schauspiel zu tun, sondern mit der Kontrolle von Körperfunktionen. Ist das die große Herausforderung? Ich will keine erigierten
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Schwänze sehen und nichts, was irgendwo reingesteckt wird. Man kann auch ohne das erotisch erzählen. Der Schlüssel liegt doch darin, spielerischer zu sein, auszuprobieren und nicht darin, immer noch expliziter zu werden. Wie bist du überhaupt zum Film gekommen? Du hast zuerst ein sehr unschwules Physikstudium absolviert. Ach ja? Da müsstest du erstmal eine statistische Erhebung in einem Physikjahrgang machen! Ich habe schon immer gern gelötet – falls du einen Kalauer für die Überschrift brauchst. Im Ernst: Zu Beginn des Studiums hatte ich mein Coming-Out und es hatte viel mit Sendungsbewusstsein zu tun, sich auseinanderzusetzen und mitzuteilen. Es war dann aber eher Zufall, dass ich von der Kunsthochschule in Köln hörte. Die Bewerbung war ziemlich aus dem Bauch heraus und auch blauäugig, weil ich zuvor noch nie was mit Film gemacht hatte. Ich glaube, ich wurde ausgewählt, weil ich bereit war, mich sehr persönlich einzubringen. Das waren dann vier nicht leichte Jahre, weil ich künstlerisch nicht vorgebildet war. Ich habe mich dann aber ganz bewusst gegen die Technik entschieden, ich habe bis heute glaube ich nie einen Special Effect verwendet. Ich wollte ja eben nicht Ingenieur werden und das sieht man als Gegenbewegung auch meinen Filmen an. Deine Filme handeln oft von schwulen Beziehungen, die ambivalent sind. Was interessiert dich daran? Ich lasse sie oft wie bei einem Laborversuch durch eine dritte Person in Frage stellen, will sehen, was da passiert. Ich versuche, in Menschen reinzukucken, auch in die Schauspieler selbst, lege auch ihre Gefühle jenseits der Figur offen. Die sind oft sehr nah an ihnen selber, teilweise tragen sie ihre eigenen Klamotten. Vielleicht auch, um es mit mir abzugleichen. Das Zeigen von schwulen Beziehungen hat wie ich finde auch eine politische Komponente, da steht schon eine gesellschaftliche Haltung dahinter. Schwules Leben ist in der öffentlichen Darstellung und Wahrnehmung furchtbar normiert. Als müsste man einen Glücksbeweis antreten, aus der Kränkung des Coming-Outs heraus. Aber es schränkt total ein, wenn man immer stark und selbstbewusst sein muss in seinem Auftreten. Auch als Schwuler hat man Schwächen und Krisen, selbst wenn man in einer funktionierenden Beziehung ist. Aber dahinter kuckt man im populären Film nicht, da endet es eben damit, dass zwei zusammenkommen, aber was danach passiert, wird selten gezeigt. Mir geht es nicht darum zu zeigen, dass es keine Diskriminierung mehr gibt – das würde ich auch nie behaupten. Aber es interessiert mich ganz persönlich mehr, was nach einer ersten ‚Befreiung‘ kommt. Was für spezifische Themen und Schwierigkeiten es auch in ‚emanzipierten‘ schwulen Beziehungen gibt. Zum Beispiel? In Rückenwind sind es zum Beispiel zwei Jungs, die ihre Rollenverteilung finden müssen. Die gleiche Geschichte mit einem Jungen und einem Mädchen würde vielleicht anders aussehen. Ich glaube, Fragen der Macht und Überlegenheit werden unter Jungs anders verhandelt. Oder Sex. Es gibt z.B. kaum Geschichten, in denen es darum geht, dass zwei Jungs vielleicht ganz unterschiedlich Lust auf Sex (oder Lust auf unterschiedlichen Sex) haben. Das sind spezifische Themen jenseits der Frage, ob es richtig und gut ist, schwul zu sein. s
Jan Krüger
Rückenwind
Verführung von Engeln
D 2009, 75 Min
D 1998–2007, 70 Min
von Jan Krüger
Kurzfilme von Jan Krüger
Edition Salzgeber, www.salzgeber.de
Im Kino
Bundesstart 4. Juni 2009 Gay-Filmnacht im Mai www.gay-filmnacht.de
Unterwegs
von Jan Krüger D 2004, 80 Min
Der am 23. März 1973 in Aachen geborene Jan Krüger studierte zunächst Elektrotechnik, Physik und Sozialwissenschaften an der RWTH Aachen, bevor er sich an der Kunsthochschule für Medien Köln bewarb, wo er ab 1996 Film-/ Fernsehregie bei Horst Königstein studierte. Sein erster Kurzfilm „Verführung von Engeln“ war ein Musikvideo mit Udo Lindenberg, der das bekannte Gedicht von Bertold Brecht vertonte („verzieh ihn einfach in den Hauseingang, steck ihm die Zunge in den Hals…“). Sein Abschlussfilm „Freunde“ (2001) über zwei 16-jährige Jungs, deren Freundschaft zunehmend erotische Züge annimmt, lief auf dem Internationalen Filmfest in Venedig und wurde dort mit dem „Silbernen Löwen“ als Bester Kurzfilm ausgezeichnet und war für den Deutschen und Europäischen Filmpreis nominiert. Für seinen ersten Langspielfilm „Unterwegs“ (2004) über ein junges Heteropärchen, das beim Zelten im Sommer einen Jungen kennen lernt, der für kurze Zeit ihr Leben auf den Kopf stellt, erhielt er den „Tiger Award“ des Internationalen Filmfestivals in Rotterdam. Sein gesammeltes Werk mit weiteren Kurzfilmen wie „Tango Apasionada“ über das Ende einer schwulen Beziehung (oder auch nicht?) und „Hotel Paradijs“ über einen jungen Deutschen in Amsterdam, der aus seiner schwulen Beziehung ausbricht, als er ein Mädchen trifft, ist als Doppel-DVD-Box in der Edition Salzgeber erschienen.
Jan-Krüger-Box
beide DVDs im Schuber Edition Salzgeber, www.salzgeber.de
www.jank-home.de 13
geschichte
Harvey, die Erste von pau l sch u l z
edition salzgeber
Die ganze, die wahre Geschichte über den offen schwulen Stadtverordneten Harvey Milk erscheint im März auf DVD.
Harvey Milk: Eitel, medienhörig, jähzornig, starrsinnig – und liebenswürdig.
Harvey Milk – Ein Leben für die Community
von Randy Shilts
Bruno Gmünder, www.brunogmuender.com
The Times of Harvey Milk
von Robert Epstein und Richard Schmiechen
USA 1984, 90 Min, OmU Edition Salzgeber, www.salzgeber.de
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s The Times of Harvey Milk gewann 1985 den Oscar für „Best Documentary“. Damals wurden Oscars noch „gewonnen“ und „gingen“ nicht einfach an jemanden. Während Produzent Richard Schmiechen die Dankesrede hielt, stand Regisseur Rob Epstein lächelnd hinter ihm auf der Bühne und freute sich wohl schon auf den Fortgang seiner Karriere: Er erhielt nur fünf Jahre später für Common Threads: Tales from the Quilt seinen zweiten Acadamy Award und seitdem viele, viele weitere Filmpreise, unter anderem zwei Teddys für The Celluloid Closet und Paragraph 175. Dass Epstein als Dokumentarfilmer nicht so berühmt geworden ist wie Michael Moore, liegt wohl an seinen Themen: Alle seine Filme handeln von der Sichtbarkeit schwulen Lebens oder deren Notwendigkeit, egal ob in der Politik, im Alltag oder im Medium Film selbst. Zusammen mit seinem Produktionspartner Jeffrey Friedman dreht Epstein seit 20 Jahren kulturelle und historische Steine um, unter denen schwules Leben zum Vorschein kommt. The Times of Harvey Milk war Epsteins erste Großtat. Der Dokumentarfilm über den ersten offen schwulen Mann der Welt in einem bedeutenden politischen Amt ist auch heute noch beeindruckend und von erstaunlicher Aktualität. Große Teile von Milk mit Sean Penn lassen sich direkt auf Epsteins Rekonstruktion zurückführen, was Milk-Mastermind Gus van Sant unumwunden zugibt: „Ohne Epsteins Film würde es meinen wahrscheinlich nicht geben“, sagte der Oscarkandidat in Interviews.
Eigentlich wollten Schmiechen und Epstein 1978 eine Dokumentation über Milks Kampf gegen „Proposition 6“ drehen, einen Zusatz zur San Franciscoer Stadtverordnung, der es möglich gemacht hätte, offen schwule Stadtangestellte, Lehrer und Erzieher auf Grund ihrer sexuellen Orientierung fristlos zu entlassen. Dass die Mehrheit der Bevölkerung letztendlich gegen den Zusatz stimmte, war ursächlich Harvey Milks Verdienst und ist sein politisches Vermächtnis. Den Mann dahinter auf Zelluloid zu bannen, machte sich Epstein zur Aufgabe, als Milk erschossen wurde. Das scheint für die Ewigkeit gelungen. Wo van Sant in Milk seinen Hauptprotagonisten zu einem kämpferischen Helden stilisiert, der sich für die Seinen umbringen lässt, blitzen in The Times of Harvey Milk auch die anderen Seiten des Mannes auf: seine Eitelkeit, seine Medienhörigkeit, sein Jähzorn, sein Starrsinn, aber auch sein Sinn für Humor und seine Liebenswürdigkeit. Milk ist ein Denkmal, The Times of Harvey Milk ein Dokument, das Milks Leben in einen größeren Zusammenhang stellt. s
film-flirt
Der Moment von T i m Sta f f e l
Tim Staffel, geboren 1965, ist Schriftsteller und Theaterregisseur. Zuletzt von ihm erschienen: „Jesús und Muhammed. Eine Liebesgeschichte.“
edition salzgeber
s Seattle. Nick sitzt im Sessel, hat sein T-Shirt ausgezogen, die Jeans noch an. Sieht in Richtung der Tür, die zum Bad führt, aus dem Jesse kommt, nackt. Hat sich geduscht, hält sich das Handtuch vor. Nicks Augen können nirgendwo hin, nur zu Jesse. Jesse wendet sich ab, das Handtuch fällt auf den Boden. Jesse zieht sich Shorts an, tut so, als gäbe es Nicks Augen, als gäbe es Nick nicht. Dabei ist seine Selbstverständlichkeit nicht selbstverständlich; Jesse ist verschämt, weil Jesse. Nick liegt so gut es geht im Sessel, fragt nach einer Decke, zieht sie über sich. Nicks Blick umarmt Jesse. Der nimmt es nicht wahr. Als wäre da nichts oder nie, doch Nicks Augen sind nicht stumm. Nur still. Jesse liegt auf dem Bett. Nicks Augen legen sich zu ihm. Nichts passiert. Neuer Tag. Nick sprayt. Lebt in Portland, manchmal in einer Wohnung, vielleicht seiner. Nick ist der Graffiti Artist, sonst zählt nichts. Sprayen. Schreiben. Rapture sein Zeichen, seine Schrift. Und später dann, da hat er Jesse schon getroffen, Elusive. Jesse ist Flip, und Jesse hat Geld, eine Mutter, bei der er lebt, auch noch eine Wohnung in Seattle von der Mutter für ihn und eine Vorstellung davon, wie das abzulaufen hat, mit dem Durch-die-Nacht-laufen. Die Nacht sprayen, den Tag mit seinen Tags beschriften. Innerhalb der Ordnung. Gefahr berechenbar. Ziel ist Kunst. Kunst hat einen Rahmen, ist käuflich. Kunst macht keinen Ärger. Jesse will keinen, ist beschützt durch seine Vorsicht, durch sein Einverständnis. Jesse ist mit Nick in einem SkateboardLaden, da sind sie schon in Seattle. Nick soll sich ein Skateboard aussuchen. Jesse schenkt es ihm. Nick klaut Lebensmittel, da ist er noch
in Portland, hat Jesse noch nicht getroffen. Wenn er Hunger hat, besorgt er sich das, was er braucht. Wenn er Farben braucht, besorgt er sich Farben. Wenn er die Nacht gesprayt hat, schläft er oft auf dem Boden, draußen, dort, wo er müde wird. Nick ist allein, vielleicht weiß er es nicht, kennt das Gefühl überhaupt nicht, aber dann sieht er Jesse. Reist wie Jesse nach Seattle. Entdeckt Jesse in Seattle, ruft ihm hinterher. Jesse wartet auf Nick, dann ziehen sie zusammen los, und Nick besorgt ihnen das, was sie brauchen, wenn sie hungrig sind, wenn sie sprayen wollen. Jesse staunt, findet es aufregend und fürchtet die Gefahr, respektiert die Ordnung, die Nick durchbricht. ‚Weil er nur so leben kann‘, denkt Jesse nicht. Keine Ahnung, ob Jesse Nick liebt, als er ihn berührt, aber Nick liebt Jesse, auch als der ihn nicht mehr berühren will. Liebt ihn mit seinen Augen, nur dass der Blick auf
einmal traurig ist. Vielleicht, weil Nick auf einmal weiß, was traurig ist. Und einsam. Jesse soll es erklären, längst ist jeder für sich zurück in Portland. Warum er ihn wie Scheiße behandelt, warum Nick nicht mehr für ihn existiert, selbst wenn er vor ihm steht. Weil du lebst wie du lebst, sagt Jesse. Weil Nick nicht zahlt für Nicks Leben. Wenn Jesse sprayt und skatet, hat ihn das nicht gewählt. Er atmet noch, auch ohne Farben, ohne Board. Was bleibt. Nicks Augen. Jesse, der in der Menge untergeht. Nick, der sich umdreht, vor einer Wand steht, mit den Farben in der Hand, FREE ART, sein Leben zeichnet. Verzückung, Freudentaumel, nenn mich RAPTURE. Ich bin ELUSIVE, flüchtig, schwer zu fassen. Ich hinterlasse mich, siehst in meine Augen – nichts. Hast keine Ahnung, Antrag schreiben, du darfst, darfst nicht, wirst sanktioniert, weil du dich sanktionierst. Ich träum nicht von Verträgen, bin öffentlich, wo, wann immer ich will. Meine Hand auf jeder Wand, freie Fläche, hab dich mal gekannt, dachte ich, warst einer von mir, bin immer noch hier. Du surfst durchs Wohnzimmer deiner Eltern, zeichnest den Gehaltscheck gegen, auch wenn du keine Arbeit hast. Myspace, facebook, zähl deine Freunde, kennen sich alle, keiner erkennt dich, Stromausfall. Bist dabei, solange keiner sich beschwert. Freies Netz, spray mal das Netz, Idiot. Stellst deine digitalen Bilder rein, bist digital, ich leg die Decke über dich, auch wenn du mich nicht willst, das ist real. Stromausfall. FREE ART. Bist immer schön korrekt. Und gut bezahlt, was denn, deine Arbeit? Kunst ist elitär, machen sie dir weis, bist borniert und intellektuell, weil sie dich nicht verstehen. Will nicht für mich bezahlen, bin also kriminell. FREE ART. Kunst hat mit verstehen nichts zu tun. Warum kapierst du’s nicht? Weil du nichts kapierst. Ist deine Ordnung, schon kapiert. Schön. Affirmativ. Irgendwo muss das Fressen ja herkommen. Schon okay, FLIP. Verhunger nicht, mein Herz. Fragst dich, was ist in fünf Jahren, oder zehn. Frag mich danach. Kannst nicht lesen, bin nicht im Netz, hab keine Freunde, die Programme für mich zählen. Hab keine Jahre. Gibt Sprachen, die benutzen dasselbe Wort für gestern und morgen. Meine Augen. Was ist mit deinen? Hängen als Ausdruck an der Tapete deiner Mutter. Dreh dich nicht um. Bin schon weg. Hast mich nie gesehen. Bin flüchtig wegen dir. An meinem Fenster klebt ein Zettel, von außen. Kam angeflogen, ist hängengeblieben‚ ein roter Stempel drauf – „Mach’s online! Einfach schnell und sicher“. Stromausfall. Irgendwann werden sie uns beide kriegen. Sind nicht schnell genug, haben sie zu spät gesehen. Werden übermalt, weggewischt, gesäubert. Als hätt’s uns nie gegeben. War trotzdem hier. Bin immer noch da. Keine Ahnung, wo du bist. s
The Graffiti Artist
Jesús und Muhammed
USA 2004, 80 Min, OmU
Transit Verlag, www.transit-verlag.de
von Jimmy Bolton
Edition Salzgeber, www.salzgeber.de
von Tim Staffel
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Lizzie Borderline von Pau l Sch u lz
gm films
Eine Hommage an einen Helden des internationalen Independentfilms. Den Kanadier Bruce LaBruce.
s Ein moderner Held ist einer, dem der Rest der Menschheit eher fremd ist. Ausgestattet mit abnormalen, geheimnisvollen Kräften und in voller, wenn auch meist nach außen hin gut getarnter Kenntnis seiner völligen Absonderlichkeit, durchstreift er die Gegenden der Welt, in die Normalsterbliche aus Angst vor Verletzung nie vorzudringen wagen. Schon früh entwickelt er dabei eine ganz eigene Sicht der Dinge, weil es ihm durch seine Fähigkeit zum geistigen Höhenflug gelingt, Blickwinkel auf das Leben einzunehmen, die dem Rest der Menschheit nicht gegeben sind. Versucht er, seine Ansichten mit anderen zu teilen, wird er oft missverstanden. Nicht mit Absicht, sondern einfach, weil die ihm zugängliche Erfahrungsregion halt nur von seinesgleichen vollständig nachvollzogen werden kann. Das macht Helden einsam. Mehrwert erzeugende Gesellschaften und ihre künstlerischen Zweige, dürstet nach nichts so sehr wie nach Helden. Obwohl die, die am lautesten nach dem außergewöhnlichen, ganz und gar einzigartigen Individuum schreien, wohl am Besten wissen, wie unfähig sie in Wirklichkeit sind, mit der Nichtnormiertheit und Monstrosität echten Heldentums umzugehen. Und wie weit sie selber davon entfernt sind. Das, was sie aushalten, sind Ersatzhelden, die man verpacken, vermarkten und verarbeiten kann. Alles andere geht nicht gut. Denn die so genannten „Normalen“ stehen dem echten Helden genauso furchtsam gegenüber, wie der Held ihnen. Sie wissen, sie können ihn nicht begreifen und werden ihn irgendwann genau dafür hassen. Und er weiß, dass er ihre Zuneigung aus genau diesem Grund fürchten sollte, obwohl er nichts mehr ersehnt als von der breiten Masse geliebt zu werden. Die das auch tut, bis sie ihn mit ihrer Zuneigung erdrückt hat oder lange und oft genug Zugang zu seiner besonderen Beschaffenheit hatte, um den Helden in einem geistig osmotischen Akt Teil ihrer Normalität werden zu lassen. Daran gehen Helden dann ein, weil sie aufhören, ihre eigene Sprache zu verstehen und glauben, sie wären jetzt wirklich normal. Weil es ihnen andauernd gesagt wird. Sie begreifen: Erfolg auf breiter Basis nivelliert immer auch. Dann werden Helden Säufer, Zyniker oder Wim Wenders. Damit ihnen das nicht passiert, verbringen schlaue Helden ihre Zeit mit den Ihren. In der Gemeinschaft der gesellschaftlichen Missfits wird das Ungewöhnliche zum Maßstab. Wer nicht abnormal ist, verirrt sich nie hierher und täte er es, er wandte sich in unverständigem Grauen ab. Einige merken aber auch erst, dass sie Helden sind, wenn sie auf einen anderen Helden treffen. Das ist dann schön für alle Helden, sie sind einer mehr. Bruce LaBruce ist ein großer moderner Held. Was wenig verwundert, wenn man weiß, dass er Kanadier ist. Ein Land, das es in nur wenigen Jahrzehnten schafft, Margaret Atwood, Pamela Anderson, Leonard Cohen, Douglas Coupland, Keanu Reeves, Jeremy Podeswa, k.d. lang und Holly Cole hervorzubringen, ist nichts Anderes als die ideale Heldenbrutstätte der modernen Popkultur. „Canadians could easily dominate the world. But why would you want to do something that boring, when you can paint instead?“ bestätigt Joni Mitchell eine Vermutung, die sittsame Menschen nur hinter vorgehaltener Hand äußern: Wollten sie es, Kanadier könnten mit ihren ungewöhnlichen Fähigkeiten die Welt beherrschen, aber sie haben Besseres zu tun: Kunst. Und sie sind, wie alle echten Helden, egozentrisch und selbstzufrieden genug, sich dafür vor niemandem zu rechtfertigen. LaBruce bringt noch eine andere wichtige Vorraussetzung zum Heldentum mit: er ist schwul und ein bisschen tuntig. Was der moderne Held immer ist, außer er ist eine Frau. (Die Ausnahme ist Tilda Swinton, die einzig Erbberechtigte von Quentin Crisps Vermächtnis. Die ist schwul, ein bisschen tuntig und eine Frau: also das perfekte Lebewesen.) Und er heißt Bruce. (Wayne, anyone?) 17
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gm films
R IN DE T AUCHILMN ACH S: O F G AY- IN E + K IN T.DE T E R MF IL M N AC H G AY
Otto: Von der kulturellen Interpretationsmaschine verschluckt.
AB 26. FEBRUAR IM KINO! Mit freundlicher Unterstützung durch die Filmstiftung Nordrhein-Westfahlen
REICHMIR_sissy_93x127_0902.indd 1
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03.02.2009
Flatterhafte Lebewesen sind auf dem Vormarsch. Sexualität und Geschlecht sind die letzten echten Schlachtfelder. Weil heterosexuelle Männer sich ihres Sieges an diesen Fronten immer sicher sind, werden sie letztendlich verlieren. Sie sind zu faul geworden, um aus der Haut zu fahren, geschweige denn, sich nach gelungener Häutung in Spantex und Cape zu werfen, um die Welt zu retten. Deswegen wird sich ihre heterosexuell maskuline Ganzkörperkostümierung irgendwann um sie schließen und sie werden, darin gefangen, bei lebendigem Leibe verrotten. Vielleicht werden sie als metrosexuelle 11:39:40 Zombies Uhr wieder auferstehen. Bis dahin jedoch sind Zombies schwul und ein bisschen tuntig, wie bei LaBruce. In dessen Werk gibt es keine waschechten Heterosexuellen. Deren Körper und Selbstbild wäre gar nicht formbar genug, um dem Meister Genüge zu tun. Der heterosexuellste Mann in einem von LaBruces Filmen ist Tony Ward, ein Exgeliebter von Madonna, der seine ersten bescheidenen Lorbeeren damit verdient hat, sich als Jugendlicher vor der Linse von Männern auszuziehen, die sehr nett zu ihm waren. Seine Hauptrolle in Hustler White machte Ward weltweit zu einem schwulen Helden, so heterosexuell er auch sein mochte. Schuld war Bruce LaBruce, der das Männermodel als hübsches, freundliches und sehr nacktes Stück Fleisch in das Schaufester seines ersten Underground-Hits gehängt hatte. Hustler White ist Sunset Boulevard auf Speed. LaBruce schrieb das Drehbuch, führte Regie und spielte auch die zweite Hauptrolle: Gloria Swanson in male drag. Mit seiner zutiefst unwichtigen Handlung, aber angefüllt mit spektakulären sexuellen Abweichungen und einem Geschwader schwuler Pornostars, hatten der Film und sein Regisseur vor allem Eins: Spaß am Werteverfall in der westlichen Welt, der sich auf’s Publikum übertrug. Hustler White wurde im Fahrwasser von Indie-Hits wie My own private Idaho auch ein kommerzieller Erfolg für LaBruce. Als der Kanadier damit zum Underground-Star geworden war, hatte er schon ein heldenhaft künstlerisch unabhängiges Stück Leben hinter sich. Sein amerikanischer Wikipedia-Eintrag gibt bekannt, er wäre als „Bryan Bruce“ geboren worden, der deutsche nennt den Namen „Justin Stewart“. (Was stimmt? Warum ist Ihnen das nicht völlig egal?) Der Held studierte an der Filmhochschule Toronto Regie ohne Abschluss und in New York Filmtheorie. Irgendwann begann er seine erste Karriere: Er wurde Fotograf. Während er das queere Punkzine „J.D.s“ herausbrachte, schlief sich sein Auge, immer auf
gm films (l); Jürgen Brüning filmproduktion (R)
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Regisseur Bruce LaBruce: Gloria Swanson in male drag.
The Raspberry Reich: Schlampige RAF-Parodie mit einer Horde schwuler Pornostars.
der Suche nach dem originellsten Schmutz, im Blätterwald vergnügt nach oben. Heute rufen der englische „Guardian“ und das New Yorker „index“-Magazin genauso bei LaBruce an, wenn sie gute Fotos interessanter Körper brauchen, wie „Honcho“ oder „Inches“, zwei sehr bekannte schwule Pornohefte. Was Prüde als Wahllosigkeit begreifen würden, betrachtet LaBruce als größtmögliche künstlerische Freiheit: Sein Geschmack und sein künstlerischer Output ignorieren die Pornografie-Grenze geflissentlich und bewusst. Wofür John Cameron Mitchell 2006 mit Shortbus gefeiert wurde, hatte LaBruce schon 1999 mit Skin Flick/Skin Gang vorgemacht: echter Sex als erzählerisches Mittel. Das kam nur deshalb nicht so spektakulär gut beim heterosexuellen Feuillton an wie Mitchells Film, weil es in Skin Flick nicht um die Orgasmusschwierigkeiten und Seelennöte der New Yorker Bohème, sondern um die Politik hinter Sex und die durch deren Strukturen erzeugte Gewalt unter Männern geht. Kein Stoff für Weichlinge. Dass der Film außerdem eine Satire ist, die mit den Symbolen des Nationalsozialismus hantiert wie andere Filme mit Stadtansichten und Sonnenuntergängen, machte die Sache nicht einfacher. Skin Flick/Skin Gang ist, wie fast alles, was LaBruce macht, eine bewusste Provokation, die mehr Spaß am Fragenstellen als am Antwortengeben hat. Spätestens an dieser Stelle seiner Berufsbiografie wurde Bruce LaBruce von den Seinen auf breiter Front als Held erkannt und freudig schwanzwedelnd vom queeren Underground als die sexuell aktive Version von Andy Warhol adoptiert. Den bisherigen Höhepunkt seines Schaffens lieferte der Kanadier 2004 mit The Raspberry Reich ab: Eine ungeduldige und etwas schlampige RAF-Parodie, für die sich der Bilderstürmer eine Horde deutscher schwuler Pornostars von seinem Produzenten Jürgen Brüning auslieh. Die durften dann, angeleitet von der furchtlosen Susanne Sachße als Gudrun, hübsch kämpferische Texte aufsagen und die sexuelle Revolution ad absurdum führen, indem sie den Klassengedanken nieder zu vögeln versuchen. Das Feuillton war begeistert und Filmfestivals rissen sich um den Streifen und seinen Regisseur. Mit The Raspberry Reich erregte LaBruce genügend weltweite Aufmerksamkeit, um für seinen letzten Film, der jetzt auf DVD erscheint, zum ersten Mal Filmförderung von der kanadischen Regierung zu erhalten. Er hat sich von der Finanzierung durchs Establishment aber
nicht einfangen lassen. Otto; Or, Up with Dead People ist ein (wieder von Jürgen Brüning produzierter) schwuler Zombiefilm. Keine reine Parodie, sondern auch die vielleicht logischste Fortführung des Genres seit langer Zeit. Die Geschichte um Otto, einen jungen Zombie, der sich in einem unwirklich inszenierten Berlin auf die Suche nach seiner Todesursache begibt und dabei fast von der kulturellen Interpretationsmaschine geschluckt wird, ist ein wahres Heldenepos. Das Publikum dringt in Welten vor, die ganz vertraut aber doch unwirklich erscheinen, und kann nie sicher sein, was der Künstler eigentlich genau sagen will, ob es den Film falsch versteht oder ob man Otto… überhaupt richtig verstehen kann. Und ob es nicht vielleicht einzig und allein um das shock-value der Bilder geht, wenn LaBruce seinen essgestört dürren, aber ätherisch schönen Hauptdarsteller an scheinbar echten Hasenleichen herumnagen lässt oder Untote sich in erst durch Verwesung entstandene Körperöffnungen hinein begatten. So sieht heldenhafte Konsequenz aus: für Durchschnittsaugen eben immer auch ein bisschen nach Lizzie Borderline. Schön ist: Mit der Adaption des Horrorgenres, dessen Fans ohnehin gesellschaftlich nicht gelitten sind, gibt der Held den seinen wieder einmal etwas zurück und wird dafür mit Verehrung überhäuft. Schlecht ist: Wie alle Filme von LaBruce ist auch Otto… so begeistert von den eigenen guten Ideen, dass er sie nicht immer zu Ende denkt. Aller Anfang ist schwer, aber das heißt ja nicht, dass man aufhören kann, wenn man den geschafft hat. Der Held wird weitermachen müssen, bis er irgendwann mal fertig ist mit der Weltrettung. Das ist eine gute Sache. s
Otto; or, up with…
Skin Flick
D/CA 2008, 94 Min, OmU GM Films, www.gmfilms.de
D/CA 1999, 67 Min, OmU Pro-Fun Media, www.pro-fun.de
von Bruce LaBruce
von Bruce LaBruce
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kino
bruder² von T hom a s A be ltsh ause r
Roadmovie auf Französisch: Regisseur Pascal-Alex Vincent schickt in „Reich mir deine Hand“ ein Zwillingspaar auf eine gemeinsame Reise zu sich selbst.
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edition salzgeber
kino
s Antoine und Quentin sind 18 Jahre alt und Zwillingsbrüder, die sich fast zum Verwechseln ähnlich sehen. Gemeinsam hauen sie von zu Hause ab, um nach Spanien zur Beerdigung ihrer Mutter zu trampen, die sie nicht gekannt haben. Vom Norden Frankreichs, wo sie bei ihrem Vater, einem Bäcker, aufgewachsen sind, fahren die beiden Jungs per Anhalter, als blinde Passagiere auf einem LKW und im Zug Richtung Süden. Doch ihre Reise verläuft alles andere als harmonisch, immer wieder kriegen sich die zwei grundverschiedenen Brüder in die Haare, provoziert einer den anderen. Diese Aggressionsausbrüche wechseln sich ab mit Momenten der tiefen Verbundenheit, die ganz ohne Worte auskommt. Wenn einer vom Laufen müde ist, trägt der andere ihn ein Stück auf dem Rücken. Sie sind Rivalen und Vertraute, vereint in inniger Hassliebe. Lange Zeit erwecken sie den Eindruck, als bräuchten sie nur sich auf der Welt. Zugleich üben sie auf die Mädchen, Jungs und Männer, denen sie begegnen, einen eigenartigen Reiz aus. So wie Clementine, das Mädchen, mit dem Quentin im Laderaum eines LKWs schläft, während Antoine vorne bei der Fahrerin sitzt und schmollt. Abends, am Lagerfeuer, als Quentin verschwindet, schläft Clementine auch mit Antoine. Was zwischen den Brüdern läuft, ist von außen nicht klar zu erkennen. Als Antoine am nächsten Tag nackt im Fluss badet, beobachtet ihn Quentin dabei. Sie lernen weitere Menschen kennen, haben flüchtigen Sex mit Mädchen, streiten und vertragen sich wieder, bis Antoine keine Lust mehr hat zu trampen und sie schließlich bei einer Heuernte mithelfen, um Geld für ein Zugticket zu verdienen. Ein anderer Erntehelfer, Hakim, flirtet mit Quentin, der sich darauf einlässt. Als sie nachts miteinander schlafen, beobachtet sie Antoine heimlich dabei. Am nächsten Morgen schweigen sich die Brüder an, die letzte Nacht wird nicht thematisiert. In einer Kneipe wird Antoine von einem Mann angemacht und Antoine bietet ihm für 100 Euro Sex mit dem nichtsahnenden Quentin, der auf der Toilette von dem Alten überrumpelt wird und flüchtet. Antoine findet nur noch den Rucksack seines Bruders. Er fährt allein weiter nach Spanien, trifft im Zug eine mysteriöse Frau (Katrin Saß in ihrer ersten Nebenrolle in einem französischen Film) und kommt gerade noch rechtzeitig zur Beerdigung der Mutter. Dort sieht er Quentin wieder, der verändert wirkt. Später, am Strand, versucht Antoine seinen Bruder zur Rückkehr zu überreden, sie prügeln sich wieder. Doch Quentin weiß, dass ihr Bündnis ein Ende hat, für ihn ist es Zeit zu gehen. Reich mir Deine Hand, das poetisch-atmosphärische Langfilmdebüt des französischen Filmemachers Pascal-Alex Vincent, ist auch eine Hommage an die amerikanischen Filme der 70er Jahre, dem so genannten „New Hollywood“, und wie diese ein Roadmovie. Das Unterwegssein der Figuren ist dabei ganz wörtlich zu verstehen: Sie gehen auf eine Reise, sind auf der Suche – nach Liebe, nach Orientierung, nach Glück, nach dem Leben und nach sich selbst. Am Ende werden die Erfahrungen sie verändert haben. Wie bei jedem Roadmovie geht es nicht um das Ziel der Reise, sondern um die Reise selbst, geprägt von zufälligen Begegnungen und Erlebnissen. Die Landschaft wird fast zu einer dritten Hauptfigur, die die Reisenden einverleibt, abstößt, ihre Gefühle spiegelt und sie immer wieder herausfordert. Die beiden Jungs müssen sich selbst behaupten und hinterfragen, gegen den anderen durch- und absetzen. „Wer bin ich?“ – diese Frage wird für die beiden auf dieser Reise existenziell. Auf der Suche nach einer Antwort werden sie ein Stück weit erwachsen. Reich mir Deine Hand ist geprägt von der ambivalenten, widersprüchlichen Beziehung der Zwillingsbrüder, die zwischen wortlosem Vertrauen und dem Wunsch nach Emanzipation vom Anderen pendelt und dabei immer wieder gewaltsam aufbricht. Zwillinge üben auf ihr Umfeld oft eine eigenartige Faszination aus, zumal wenn sie eineiig sind, sich also sehr ähnlich sehen. Für viele, wie die Mädchen oder den Mann in der Kneipe, sind sie eine erotische Fantasie. Aus schwuler Sicht kommt noch ein weiterer Aspekt dazu: Das Brüderpaar spiegelt in Vielem Aspekte einer Beziehung zwischen 21
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zwei Männern – den Wunsch, im Anderen sich selbst zu entdecken, Gemeinsames zu teilen und sich dabei trotzdem nicht selbst aufgeben. Überhöht wird das Zwillingsthema, etwa im schwulen Porno, dann sogar zum Fetisch. Zwei Jungs, die sich bis aufs Haar gleichen, verheißen zumindest in der Fantasie auch doppelten Genuss. Und es kommt noch etwas dazu: Der Reiz des Verbotenen, die Möglichkeit, dass die beiden Jungs einander begehren. Zwillinge sind ein Mythos – im doppelten Sinn. In der griechischen Sagenwelt z.B. Castor und Pollux, die Söhne Ledas, von denen aber nur Pollux der Sohn des Zeus und somit unsterblich ist. Als Castor stirbt, bittet Pollux seinen Vater, ebenfalls sterblich und so im Tod mit seinem geliebten Bruder vereint zu sein. Zeus ist so gerührt von dem Wunsch, dass er Castor ins Leben zurückholt und die beiden unzertrennlich zwischen Hades und Olymp wandern lässt. Die Verbundenheit ist also weniger eine biologische als eine emotionale, nicht das Blut verbindet sie, sondern die Liebe zueinander. Vor diesem Hintergrund entwickelte Pascal-Alex Vincent die Geschichte seines ersten langen Spielfilms. Am 18. Oktober 1968 im französischen Montargis geboren und in Rochefort an der Atlantikküste aufgewachsen, studierte Pascal-Alex Filmgeschichte in Paris und arbeitete im Anschluss bei einem Filmverleih für japanisches Kino in Frankreich. Ab 2001 drehte er sechs Kurzfilme, darunter Far West, mit dem er 2003 beim Kurzfilmfest in Oberhausen den Nachwuchspreis gewann, Candy Boy, einem 15-minütigen Anime als Hommage an die japanische Kultserie Candy der Siebziger Jahre und Baby Shark , der auf dem Filmfest in Cannes Premiere feierte und in dem bereits Victor und Alexandre Carril, die Hauptdarsteller aus Reich mir Deine Hand, mitspielen. In diesen Jahren entwickelt Pascal-Alex Vincent seine Themen, denen er nun auch in seinem Kinodebüt treu bleibt: Das Erwachsenwerden, sexuelles Erwachen und schwules Begehren. Und auch sein Faible für Animationen findet sich im Film wieder: Reich mir Deine Hand beginnt mit einer Zeichentricksequenz, in der die Brüder von zu Hause ausreißen. Und wie sich später herausstellt, sind sie auch ein Verweis auf die Comics, die Quentin zeichnet. Pascal-Alex, der auch das Drehbuch geschrieben hat, hat sich dabei von der Bruderbeziehung seiner Hauptdarsteller und ihren Erfahrungen inspirieren lassen. Die 1988 geborenen eineiigen Zwillinge Victor und Alexandre sind in Paris aufgewachsen, in der Nachbarschaft von Pascal-Alex, wo sie mit ihren lautstarken und gewalttätigen Auseinandersetzungen berühmt-berüchtigt waren. SISSY hat die beiden Brüder und ihren Regisseur in Berlin getroffen. 22
Pascal-Alex, Du hast mit „Reich mir Deine Hand“ einen Film über das intensive, oft problematische Verhältnis zweier Zwillingsbrüder gedreht, von denen einer schwul ist. Was hat Dich an dem Thema so gereizt? Pascal-Alex: Mich interessiert die Frage, warum zwei Brüder, die genau gleich aufgewachsen sind, die gleiche Erziehung, dieselben Eltern haben, so grundverschieden sein können. Bei Zwillingen ist das noch deutlicher, es war also ein Glücksfall, dass ich Victor und Alex gefunden habe. Schon 2005 habe ich einen Kurzfilm mit ihnen gedreht, Baby Shark , und ich wurde immer wieder auf die beiden angesprochen, die Leute waren genauso fasziniert von den Zwillingen wie ich. Und ich lasse mich von ihnen inspirieren, von ihren Persönlichkeiten, ihren Erlebnissen. Hast Du selbst Geschwister? Pascal-Alex: Eine jüngere Schwester. Aber unsere Eltern ließen sich früh scheiden und haben beide neue Familien gegründet. Wir sind also eine große Patchworkfamilie. Nur ich bin der einzige Schwule, was mich schon auch beschäftigt. Warum gerade ich? Warum nicht auch meine Schwester? Ich finde das spannend. Alex und Victor, könnt Ihr diese Faszination verstehen, die Zwillinge auf viele ausüben? Alex: Versteh ich gut, weil es mich selbst fasziniert, was für eine Bindung ich zu meinem Zwilling habe. Unser Verhältnis ist so tief, dass vieles selbst uns ein Geheimnis bleibt. Victor: Eine der ersten Fragen, die uns Leute stellen, ist: Was unterscheidet euch? Darauf haben wir selbst noch keine Antwort. Erkennt Ihr Euch im Film wieder? Oder sind Eure Erfahrungen ganz andere? Victor: Es ist eher eine Mischung aus dem, was wir sind und welches Bild sich Pascal-Alex von uns macht. Vieles stimmt, in einigen Teilen erkennen wir uns aber gar nicht wieder. Was ist wahr daran? Victor: Im Film ist Alex’ Figur sehr viel selbstbewusster, er ist der Anführer der beiden. Im realen Leben ist es viel ausgeglichener, eher wie bei einer Waage: Wenn einer mal dominanter ist, lässt sich der andere mitziehen. Lebt Ihr zusammen? Alex: Ich habe das letzte Jahr in Buenos Aires Architektur studiert. Es war die längste Zeit, die wir jemals getrennt waren. Mir hat das richtig gut getan, mich mal auf mich zu konzentrieren. Ich bin dadurch gewachsen.
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Reich mir deine Hand
Jungs von nebenan
Junge Rebellen
FR/D 2008, 80 Min, DF oder OmU
D, F, NOR, USA 2002–2003, 61 Min, dt. OF und OmU
Edition Salzgeber, www.salzgeber.de
Mit „Far West“ von Pascal-Alex Vincent
FR/D/AU/USA/UK 2005– 2006, 83 Min, dt. OF und OmU
von Pascal-Alex Vincent
Im Kino
Bundesstart am 26. Februar
schwule Kurzfilme
schwule Kurzfilme
Mit „Baby Shark“ von Pascal-Alex Vincent Beide Edition Salzgeber, www.salzgeber.de
Gay-Filmnacht im Februar www.gay-filmnacht.de
Victor: Die Trennung war für uns beide wichtig, aber nach einer Weile habe ich gemerkt, wie mir die Kräfte schwinden, weil mein Bruder so weit weg war. Ich musste ihn wieder sehen. Alex: Als er mich dann nach sechs Monaten besuchen kam, half er mir bei einem Projekt, das ich alleine so gar nicht geschafft hätte. Wir ergänzen uns perfekt. Inwiefern? Victor: Alex hat immer tausend Ideen, aber er weiß nicht, wie er sie umsetzen soll. Ich bringe da Struktur rein. Der Kreative und der Rationale? Victor: Ja. Alex: Nein. Seid Ihr Euch oft uneinig? Im Film kriegt Ihr Euch ja regelmäßig in die Haare. Pascal-Axel: Die beiden wohnen in meiner Nachbarschaft und dort sind sie berühmt-berüchtigt für ihre lautstarken Streitereien und brutalen Kämpfe. Victor: Die Fights im Film sind nichts dagegen. Ist das der Mythos, den Ihr Euch zurechtgelegt habt, um noch interessanter zu wirken? Alex: Nein, das ist alles wahr. Pascal-Alex: Die Nachbarn haben richtig Angst, wenn sie kämpfen, weil es wirklich gefährlich wird. Sogar ihre Eltern machen sich große Sorgen, dass mal etwas furchtbar schief läuft. Einmal hat Victor seinen Bruder mit einer Schere angegriffen und sie ihm ins Genick gerammt. Alex hat heute noch eine Narbe dort. Ihr kommt mir vor wie ein altes Ehepaar, das nicht mit und nicht ohne einander kann. Ist da überhaupt Platz für jemand anderen? Victor: Jeder macht auch sein eigenes Ding. Im Grunde sind wir doch wie alle Geschwister, die sich mal in die Haare kriegen. Alex: Aber weil wir Zwillinge sind, ist alles ein bisschen größer und dramatischer. Pascal-Alex, siehst Du Dich als eine Art großer Bruder der beiden? Pascal-Alex: Das sagen ihre Eltern auch immer. Sie sind froh darüber, dass ich den Film mit ihren Söhnen gemacht habe, denn seitdem kämpfen sie nicht mehr so viel. Ich kenne sie einfach seit Jahren, wir wohnen alle im schwulen Viertel von Paris, im Marais, und sie gehen bei mir ein und aus, fragen mich um Rat. Wie habt Ihr Euch kennen gelernt? Pascal-Alex: Sie waren einfach die bildhübschen Zwillingsbrüder im Viertel, die sich dauernd prügeln. Ich habe eines Tages meinen Mut
zusammengenommen und sie angesprochen. Und sie haben einfach „Ja, klar!“ gesagt. Hattet Ihr Bedenken wegen der schwulen Geschichte? Alex: Wir sind hetero, aber wir sind im Marais aufgewachsen. Das war nie ein Problem. Pascal-Alex: Aber es war ein Riesending, wer von beiden den schwulen Bruder spielen soll. Wer hat es entschieden? Pascal-Alex: Ich natürlich! Ich habe die Rolle Victor gegeben, weil er ein bisschen weicher, sensibler wirkt als sein Bruder. Die beiden sind straight, aber sie werden dauernd auf der Straße angesprochen. Vielleicht haben sie ihre Erfahrungen, aber darüber reden wir nicht. Hat einer von Euch eine Beziehung außerhalb? Alex: Klar, so symbiotisch sind wir auch nicht. Wir haben unterschiedliche Freundeskreise. Braucht ihr bei einer ernsthaften Liebesbeziehung die Zustimmung des anderen? Victor: Wenn ich jemanden liebe, ist mir egal, was mein Bruder davon hält. Alex: Das stimmt doch überhaupt nicht! Im Film tauscht Ihr mal Rollen und gebt Euch für den anderen aus. Macht Ihr das im realen Leben auch, um etwas oder jemanden zu bekommen? Alex & Victor: Nein! Alex: Was der andere hat, kann man nicht stehlen. Aber man kann teilen. Victor: Aber nicht alles. Im Film geht es viel um Eifersucht. Seid Ihr auch oft neidisch auf das, was der andere hat oder macht? Alex: Das Wichtigste für uns ist, das wir gleichberechtigt sind, es muss immer eine Balance herrschen. Es wird sofort zum Problem, wenn einer von uns etwas hat oder macht und der andere nicht. Treibt Euch das an oder behindert es Euch eher? Alex: Mit der Eifersucht wird erst Schluss sein, wenn einer von uns beiden irgendwann einmal völlig unabhängig vom anderen seine eigene Identität entwickelt hat und glücklich ist. Victor: Das wird nicht passieren, denn dann wird der andere kommen und seinen Anteil daran haben wollen. Einer allein kann nicht glücklich werden. Alex: Da hast Du Recht. s 23
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Women, have more drama! von sh a ron a dl e r
pro-fun media
„Out at the Wedding“ von Lee Friedlander in der L-Filmnacht.
s Dieser Film ist beste Screwball-Comedy. Regisseurin Lee Friedlander und ihre Autorin und Produzentin Paula Goldberg wissen genau, wie man sich in diesem Genre bewegt. Mittlerweile auf diversen großen Festivals weltweit gezeigt und preisgekrönt, wird das deutsche Publikum zur L-Filmnacht im März in den Genuss dieser filmischen und emotionalen Achterbahnfahrt kommen. Erzählt wird die rasante Story um Alex „Lexie“ Houston (Andrea Marcellus) und deren jüngere Schwester Jeannie (Desi Lydic). Einen nicht unwesentlichen Einfluss auf den Verlauf des Geschehens nehmen ferner der Verlobte der älteren Schwester, der frischgebackene Ehemann der jüngeren, der schwule Freund von Alex, schließlich der Familienclan der jeweils Beteiligten und deren skurrile Eigenarten. Allen voran aber eine äußerst anziehende lesbische Künstlerin! Eigentlich führt Lexie ein gesetteltes Leben, sie lebt in Manhattan, ist beruflich erfolgreich und unabhängig. Dass sie mit ihren dreißig Jahren noch nicht verheiratet ist, wird sich bald ändern, denn ihr Freund Dana steckt ihr beim Dinner im Restaurant überraschend einen Verlobungsring an den Finger und stellt die entscheidende Frage. Es könnte alles so schön sein. Wäre da nicht die Tatsache, dass Dana schwarz ist. Schlimmer noch: Er ist der Sohn eines Afroamerikaners und einer jüdischen Mutter. Felsenfest davon überzeugt, dass es zwischen seiner unkonventionellen New Yorker und ihrer konservativen South-Carolina-Mischpoche nur Probleme geben wird, hat Lexie dem Verlobten gegenüber während ihrer immerhin schon dreimonatigen Beziehung ihre eigene Familie kurzerhand für tot erklärt. Richtig kompliziert wird es aber erst auf der Hochzeit von Lexies jüngerer Schwester Jeannie, zu der sie von ihrem schwulen Freund Jonathan begleitet wird. Ein kleiner Scherz reicht, und Lexie gilt in 24
ihrer Familie plötzlich als Lesbe, Dana als ihre neue „Freundin“ und das Familienfoto hält eine äußerst pikiert dreinschauende Hochzeitsgesellschaft fest. Zurück in New York wird die unfreiwillig geoutete Hetera Lexie erneut mit ihrer vermeintlichen lesbischen Identität konfrontiert, denn Jeannie will sie nach ihrem Tahiti-Honeymoon besuchen und unbedingt ihren Lebensstil begutachten. Verzweifelt sucht Lexie nach einer Lösung und findet sie in Gestalt der attraktiven Risa, die ihr buchstäblich vor die Füße fällt und kurzerhand von Lexie und Jonathan als Alibi-Geliebte angeheuert wird. Risa, eine echte Vorzeigelesbe, liebt das Risiko und lebt das Motto „I can’t even think straight“. Die zwangsläufig folgenden Verwicklungen stellen alle vor große Herausforderungen, und ausgerechnet während ihres ersten ‚Ausflugs‘ als Lesbe läuft Lexie ihrem zukünftigen Schwiegervater in die Arme. Katastrophe! Da hilft nur eins: das Spiel mit noch größerem Einsatz weiterspielen… Geistreich, selbstironisch, turbulent, scharf beobachtend und herrlich schräg spielt Out at the Wedding mit Klischees und entlarvt genau diese äußerst charmant. Besonders deutlich wird dies, als Alex bei ihrem Debut in der Szene versucht, wie eine Lesbe auszusehen und dabei leider total danebenliegt. Wirklich dramatisch aber wird das Ganze, als Jeannie auf Risa trifft, und die beiden (un)glücklicherweise magnetisch voneinander angezogen werden… Bevor der Film auf sein fulminantes Ende und einen großartigen Showdown zusteuert, müssen noch einige Klippen umschifft und harte Schläge eingesteckt werden, bis am Ende alle etwas Elementares dazu gelernt haben und jede das bekommt, was sie immer schon wollte, auch wenn das nicht vorhersehbar war. Regisseurin Lee Friedlander hatte zuvor bereits mit dem genialen Survival-Guide für Lesben Die zehn Regeln (The Ten Rules) und der tragisch-komischen Liebesgeschichte Girl Play eindrucksvoll bewiesen, dass Dyke-Drama erstens zum (lesbischen) Leben dazu gehört, und dass das zweitens nicht unbedingt bierernst sein muss. Out at the Wedding funktioniert jedenfalls wie ein heißes Schaumbad im Winter: Man muss nur eintauchen und genießen. s
Out at the Wedding von Lee Friedlander
USA 2007, 96 Min, OmU Pro-Fun Media www.pro-fun.de www.outatthewedding.com
Im Kino
L-Filmnacht im März www.l-filmnacht.de
kino
L-Filmnacht
Kurz und gut.
Das monatliche Filmevent für Lesben.
von e di na l au t ensch l äge r
Augsburg, Berlin, Bielefeld, Bremen, Dresden, Essen, Freiburg, Hamburg, Kiel, MÜNCHEN, Oldenburg, Regensburg, Stuttgart, Trier, Wuppertal, Würzburg
Kurzfilme bei der L-Filmnacht.
www.l-filmnacht.de s Ein ganzer Abend mit Kurzfilmen, wollen das die Frauen sehen? Und dann das: eine komplett ausverkaufte Vorstellung, der Umzug in größere Säle und eine super Stimmung. Die Bilanz der ersten L-Filmnacht: 700 Berliner Lesben in einem Raum, wann hat man schon mal soviel Auswahl… Bevor es in die Sommerpause geht, findet im Mai die fünfte L-Kurzfilmnacht in den CinemaxX-Kinos statt. Das Programm, zusammengestellt von Mitarbeitern der L-Mag und der Edition Salzgeber, stand zum Redaktionsschluss noch nicht fest, aber man ist entspannt, denn man kann aus einer Fülle von Filmen auswählen und vielleicht auch den einen oder anderen Film frisch von der Berlinale mitbringen. Was ist so faszinierend an Kurzfilmen? Liegt es daran, dass für jeden Geschmack etwas dabei ist? Oder dass nicht ganz so gelungene Filme einfach schnell vorbei sind und der nächste gleich hinterher kommt? Kurzfilme erzählen ihre Geschichten im Idealfall frisch, kompakt und pointiert und verdienen es, als eigene Gattung begriffen zu werden. Wenn überhaupt, zeigt das Fernsehen Kurzfilme zu nachtschlafender Zeit und selbst Festivals fällt die Beschäftigung mit dem Genre immer schwerer. Groß war der Schock, als die Berlinale mit ihre Tradition, vor dem Langfilm einen Kurzfilm zu zeigen, brach. Meist am Anfang der Karriere gedreht, mit wenigen Mitteln, ist das Genre Kurzfilm auch ein Experimentierfeld, um den eigenen Stil zu entwickeln und eigene Themen aufzugreifen. Schwierig wird es allerdings, wenn gerade Frauen (die es in der Medienbranche immer noch schwerer haben als Männer) den gewünschten Schritt von der kurzen zur langen Form aus rein ökonomischen Gründen nicht schaffen. Aber das wäre ein ganz weites Feld, das wir sicherlich noch in einer der folgenden Ausgaben der Sissy aufgreifen werden. Bis auf weiteres darf sich die Besucherin einer L-Kurzfilmnacht als innovative Konsumentin begreifen, die sich völlig entgegen eines jeden Marktgeschehens verhält und sich hoffentlich einfach an guten, spannenden und eben kurzen Geschichten erfreut. s
Gay-Filmnacht Das monatliche Filmevent für Schwule. Augsburg, Berlin, Bielefeld, Bremen, dresden, Essen, Freiburg, Hamburg, Kiel, München, mülheim, offenbach, Oldenburg, Regensburg, Stuttgart, trier, Wuppertal, Würzburg
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kino
Dass auch Liebende ertrinken von Ja n Gy m pe l
„Mit geschlossenen Augen“ von Bodewijn Koole in der Gay-Filmnacht.
s Die Suche nach dem verschollenen Vater scheint ein sehr bewegender Stoff zu sein. Jedenfalls sollte es allen Erfahrungen nach keine großen Probleme bereiten, öffentliches Geld zu erhalten für einen schönen, langen Film: Über die Suche nach dem Mann, der eigentlich nur Ihr Miterzeuger ist, und mit dem Sie nicht mehr verbindet als ein paar Gene. Da die Fahndung nach dem unbekannten Samenspender ein so beliebtes Kinothema ist, erwartet man von diesem fünfzigminütigen Werk des Niederländers Boudewijn Koole wenig Neues. Doch der Regisseur, der bislang mit Dokumentationen auf sich aufmerksam gemacht hat, schildert in seinem ersten Spielfilm eine ungewöhnliche Vatersuche auf ungewöhnliche Art. Felix, vermutlich in seinen frühen Zwanzigern und bei seiner Oma lebend, will vor Antritt einer langen, gefährlichen Motorradtour in ferner Fremde endlich seinen Vater kennenlernen und so eine Leerstelle in seiner Biographie ausfüllen – auf eigenwillige 26
Weise, wie sich bald zeigt. Er weiß: Johan, der mit Felix’ verstorbener Mutter nur eine kurze Affäre hatte, führt eine kleine Kneipe, in der viel Jazz gespielt und dazu, wie es sich gehört, viel geraucht wird. Und er ist schwul, wohl im Gegensatz zu Felix, der zwischendurch mit einer Arbeitskollegin im Bett landet. Letzterer versucht, seinem alten Herrn – der von seiner Vaterschaft gar nichts weiß, geschweige denn, wer der junge Biker ist, welcher da seine Aufmerksamkeit erregen möchte – zunächst durch demonstratives Interesse an Jazz und alten Vinylscheiben nahezukommen. Und dann, als dies nicht recht fruchtet, ihn zu verführen. Oder ist vielleicht alles ganz anders? Boudewijn Koole erzählt seine Geschichte eher bruchstückhaft und deutet vieles nur an. So bleibt Raum für die Fantasie des Zuschauers, der andererseits womöglich auf falsche Fährten gelockt und dazu gebracht wird, Verbindungen herzustellen, die es gar nicht gibt, und sich Falsches zusammenzureimen. Ist Johan beispielsweise wirklich allein und
will er dies womöglich bleiben, zumal nach dem zwanzig Jahre zurückliegenden Tod eines Jazzmusikers, mit dem er eng befreundet war – auf welche Weise auch immer? Dessen Ertrinken spielt an auf das Schicksal des bedeutenden Free-Jazz-Saxophonisten Albert Ayler, der 1970 aus New Yorks East River gezogen wurde, wobei die näheren Umstände seines Ablebens nie geklärt werden konnten. Von Ayler gespielte Musik ist in Mit geschlossenen Augen zu hören, von einem ertrunkenen Liebespaar wird erzählt, William Butler Yeats’ Gedicht „Die Nixe“ von Johan rezitiert. Andererseits trifft dieser sich wiederholt mit einem netten, nicht mehr ganz jungen Schwarzen. Nur auf geschäftlicher Basis? Letztendlich bleibt vieles offen in diesem Film und die Neugierde des Zuschauers in mancher Hinsicht ungestillt. Immerhin bekommt Felix nicht nur höchst intimen Kontakt mit Johan. Er kann auch erleben, wie dieser sich bei einem Mädchen aus der Nachbarschaft doch als guter Vater erweist, und so seine Suche zu einem befriedigenden Ende bringen. s Mit geschlossenen Augen von Bodewijn Koole
NL 2007, 52 Minuten, OmU Edition Salzgeber, www.salzgeber.de
Im Kino Gay-Filmnacht im März www.gay-filmnacht.de
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Zuflucht von Ja n Gy m pe l
„Shelter“ von Jonah Markowitz in der Gay-Filmnacht.
s Zu entspannten Gitarrenklängen rollt ein junger Mann mit seinem Skateboard durch eine amerikanische Vorstadtlandschaft. Hier und da bleibt er stehen und sprüht Graffiti an Hauswände – mit Hilfe einer Schablone, die, wie sich herausstellt, den Ausblick von dem Haus zeigt, in dem er lebt: auf die Vincent Thomas Bridge von San Pedro, im Hafenareal von Los Angeles. Diese Aussicht scheint allerdings auch schon das Schönste am Leben des jungen Mannes, weshalb sie im weiteren Verlauf des Films keine Rolle mehr spielt. Auch kann jener Zach nicht das Leben eines unbekümmerten US-Westküstenteenagers führen: Der kleine Junge im Haus ist zwar nur sein Neffe, doch Zachs Schwester hat mit Männern so ihre Probleme, deshalb hat ihr Bruder nicht nur häufig als Babysitter herzuhalten, sondern wird konsequenterweise von dem Kind auch als Vater betrachtet. Zachs Dasein, das dahindümpelt zwischen dem Job als Küchenhilfe in einem Diner, etwas mutlos verfolgten zeichen-
künstlerischen Ambitionen und eben der ständigen Sorge um den Neffen, erfährt eine entscheidende Wendung, als er beim Surfen einen alten Bekannten trifft: Der große Bruder seines wohlhabenderen besten Freundes will in der alten Heimat Abstand von seinen Problemen als Autor finden. Eigentlich ist Zach gewarnt oder könnte es zumindest sein: Shaun, hat man ihn wissen lassen, steht auf Männer. Trotzdem hängt Zach viel mit ihm herum, und so geschieht schließlich, was unvermeidlich scheint, zumal nach einem langen Abend mit viel Bier. Zunächst reagiert Zach verstört, zumal er spürt: Was er für Shaun empfindet, ist etwas ganz anderes als die zunehmend lustlos verfolgte Beziehung zu seiner Freundin. Dann gibt er seiner frisch entfachten Leidenschaft nach. Und bei einem romantischen Abendessen, zu welchem Zach notgedrungen seinen Neffen mitbringt, erweist sich Shaun als hervorragender zweiter ErsatzDaddy. Doch allzu lang bleibt die Romanze der beiden Männer ihrer Umgebung nicht
verborgen. Und Zachs Schwester zeigt sich wenig begeistert von der neu entdeckten Neigung ihres Bruders, zumal dieser seinem Neffen als Vorbild dienen soll. Allerdings hat sie ihrerseits gerade einen neuen Mann gefunden und dieser bald darauf eine Stelle im fernen Oregon. Wie sich schließlich alles für alle Beteiligten trefflich fügt, mag man als große Gunst des Schicksals betrachten – oder auch als unbedingten Willen des Drehbuchautors Jonah Markowitz zu einem umfassenden Happy End. Doch darüber sieht man gern hinweg, nicht nur wegen der – zumal in den von Kulturkämpfen geschüttelten USA – ausgesprochen politischen Botschaft, derzufolge Familie und ein ideales Umfeld für Kinder nicht unbedingt aus Mama und Papa zu bestehen brauchen. Auch erzählt Markowitz in seinem Spielfilmregieerstling seine Geschichte von einem Coming out, generellem Selbstfinden und Erwachsenenwerden, Aufopferung und Verantwortung einfühlsam und mit einer schönen Balance aus Zurückhaltung und Direktheit. Am Ende können Zach und seine Schwester das enge, wenig behaglich wirkende Heim verlassen, welches nichtsdestoweniger Sicherheit vermittelte. Als Ort des Schutzes und der Zuflucht, von dem der Titel des Films spricht, hat nicht nur Zachs Neffe etwas Besseres gefunden. s Shelter
von Jonah Markowitz USA 2007, 90 Minuten Pro-Fun Media, www.pro-fun.de
Im Kino Gay-Filmnacht im April www.gay-filmnacht.de
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wir verreisen
Tobi in Wonderland von t obi a s r ausch e r
brigitte dummer (L); sehr privat (R)
Pathos und Politik, Liebe und Lametta: Eine Liebeserklärung an das Filmfestival Cinema of Dreams von Tilda Swinton und Mark Cousins.
Pretty in pink. Tilda Swinton beim TEDDY Award 2008 (links), unser Autor Tobias Rauscher in Nairn (rechts).
s Am 14. August 2008 besuchen drei von vielen BesucherInnen aus aller Welt das erste Mal in ihrem Leben das Dorf Nairn an der schottischen Atlantikküste. Sie verlassen die sonnendurchflutete High Street, um an einer kleinen Straßenkreuzung zwischen einem Buchladen und einem schmucklosen Friseursalon ein altes viktorianisches Reihenhaus zu betreten, dessen Frontfenster mit langen Lamettafäden geschmückt sind. „Welcome“ ist an der Fassade in wehenden Plastikbuchstaben befestigt. „Das hat ein Pfund gekostet“, wird Mark Cousins später noch lachend erzählen und gibt schon vor Betreten des Ballrooms einen Eindruck von dem, was in den nächsten Tagen passieren soll: mit wenig Geld und einer Menge Begeisterung etwas schaffen, das auf den ersten Blick ziemlich provisorisch wirkt, aber danach seine volle Magie entfaltet. Mark Cousins ist Dokumentarfilmer, Filmkritiker, ehemaliger Leiter des Edinburgh Film Festivals, Filmjournalist und vor allem leidenschaftlicher Kinoliebhaber. Aufgewachsen in einer irischen Arbeiterfamilie hat er sich als kleiner Junge in das Kino verliebt. Dass Cousins mit „The Story of Film“ ein Standardwerk der Filmgeschichte verfasst hat und für die BBC mit seiner Interviewreihe Scene by Scene Maßstäbe für den Filmjournalismus gesetzt hat, spielt in den nächsten 8 ½ Tagen keine Rolle. Er ist vielmehr wieder der kleine Junge, dessen Augen bei jeder Filmvorführung aufs Neue funkeln. Sein Charme ist ansteckend und seine Energie wird höchstens noch von Tilda Swinton überboten. Als wir die Räume das erste Mal betreten und sich nach dem langen Eingangsflur der Hauptraum erstreckt, riecht es nach neuem Teppich und frischer Farbe. Eine Heerschar von freiwilligen HelferInnen schwirrt durch die Räume. John Byrne malt noch im Nebenraum in naiv-expressionistischer Manier die letzten Namen an die Wand, während 28
wir verreisen
Staubsauger die letzten Sägespäne beseitigen und die riesigen Spiegelblitze an die bunten Wände geklebt werden. Am Ende des Raumes ist eine Leinwand aus Bettlaken aufgespannt, davor erstrecken sich drei Reihen aus großen Samtkissen und quietschbunten Sitzsäcken, Spenden von Ikea. Nach zwei Reihen mit gestreiften Strandliegestühlen beginnen die Plastikstuhlreihen, die auf einer kleinen mit silbernen Heliumballons geschmückten Erhöhung enden, wo Matt Lloyd, der einzige bezahlte Mitarbeiter und Festivalmanager, die Technik verwaltet. Björn und Stefan von der Edition Salzgeber installieren an der Decke einen riesigen Projektor, mit dessen Hilfe alle Filme in den nächsten Tagen zum Leben erweckt werden. Nach wenigen Minuten beginnt der Testlauf. Das Licht geht aus. Nur das rote Schimmern der chinesischen Lampions leuchtet noch matt von den Seiten. Gene Kellys Singin’ in the Rain strahlt durch den Raum. Das Bild wird kurz justiert, der Ton ist klar. „It’s fantaaaaastic!“ schallt es schrill durch den Raum. Nach einem Hund und zwei Kindern betritt eine mit Tupperdosen beladene Frau in alten Jeans, Holzfällerhemd, Turnschuhen und übergroßer weißer Strickjacke den Raum. Tilda Swinton ist Schauspielerin, nennt sich selbst aber lieber Aktivistin oder Performerin. Bekannt wurde sie durch Derek Jarmans Filme Caravaggio, Edward II und The Last of England. Mit unabhängigen Filmemacherinnen wie Cynthia Beatt, Lynn Hershmann oder Sally Potter drehte sie Kunst- und Experimentalfilme. Später produzierte sie in den USA unabhängige Filme wie Thumbsucker oder Ste-
„Einen Lieblingsfilm zu haben, ist wie einen neuen Film zu entdecken, einer der wahren Reichtümer des Lebens. Egal in welchem Alter man ihn entdeckt und egal aus welchem Grund. So ein Schatz währt ewig.“ phanie Daley. Mit den Chroniken von Narnia oder Danny Boyles The Beach „spielte sie in Hollywood Spion“. Ach ja, und einen Oscar hat sie im letzten Jahr auch gewonnen – und ihn gleich an ihren Agenten verschenkt. Tilda Swinton gehört einer der ältesten Familien Schottlands an, studierte in Cambridge Politik- und Sozialwissenschaften und war 2009 die Präsidentin der Berlinale-Jury. Das alles spielt aber in den nächsten 8 ½ Tagen keine Rolle. Eher wirkt Tilda Swinton wie ein kleines Mädchen, wenn sie vor lauter Aufregung durch den Raum rennt und ihr Gesicht bei jeder Filmvorführung zu lächeln beginnt. Tildas positive Energie ist überwältigend, ihre Großzügigkeit und ihr Elan sind beneidenswert. Die Vorbereitungen laufen auf Hochtouren und man bekommt das Gefühl, als sei man mitten in die Generalprobe zu einer Schulfete geplatzt. Bis jetzt ist nicht klar, wie die nächsten Tage ablaufen werden. Dass fast jede Vorstellung ausverkauft sein und es beinahe täglich Zusatzvorstellungen geben wird, weiß momentan noch niemand. „I’m so excited“ ruft Tilda, „I feel a bit shaky, I feel a bit frightened“ antwortet Mark. John Byrne malt die letzten Buchstaben des „State of Cinema“-Schriftzuges auf eine blau-rote Stoffplane, die Tilda und Mark vor jeder Filmvorführung als Ersatz für einen richtigen Vor-
hang fallen lassen. Dazu klettern sie auf zwei alte Leitern, die links und rechts vom weißen Laken aufgestellt sind und es bis zum Ende des Festivals auch bleiben werden. Der Charme des Improvisierten könnte nicht deutlicher strahlen als hier. Nichts ist perfekt und nichts soll perfekt sein. Als „big mish-mash“ bezeichnet Tilda später das Konzept der Inneneinrichtung und dieses große Mish-Mash trägt wesentlich zum Zauber dieses Filmfestivals bei, das auf alles verzichtet, was große Festivals in den Augen vieler auszeichnet: die neuesten Filme, der rote Teppich, Glamour und Glanz, Ego und Prestige, Stars und Preise. Zwei Dinge sind im „Cinema of Dreams“ wichtig: die Filme und die Menschen, die sie sehen und vor allem sehen wollen. Hier haben sich zwei Enthusiasten und Aktivisten einen Traum erfüllt, das wird schon vor dem ersten, oder besser gesagt „einhalbten“ Tag deutlich. Dass ein kleiner Traum vom großen Kino von so vielen Menschen und allen voran den BewohnerInnen eines kleinen Rentnerdomizils im schottischen Hochland so breite Unterstützung findet und ein kleines, kulturelles Großereignis als kommunales Projekt möglich ist, verlangt schon sehr viel ideellen Enthusiasmus. Und sicherlich eine große Portion Naivität, die das Träumen erst zulässt. Am 15. August 2008 werden die Pforten geöffnet. Die Spielregeln stehen fest und haben sich herumgesprochen: Wer keine drei Pfund oder ermäßigt zwei Pfund zahlen will, backt einen Kuchen und kommt umsonst rein. Früh bildet sich eine lange Schlange, die mit britischer Disziplin verharrt und ausgestattet mit Törtchen, Pies und Muffins auf Einlass wartet. Es wird voll und schließlich ausverkauft. Der erste Film am einhalbten Tag, Peter Ibbetson (1935) von Henry Hathaway mit Cary Grant, gibt gleich die Richtung für das Festival vor. Die magische Liebesgeschichte von zwei Menschen, die nicht zueinander dürfen und nur über Träume und halluzinoide Fantasien vereint werden können, stammt aus der frühen Zeit des Tonfilms und ist einer der Lieblingsfilme von Tilda Swinton. Die anfangs konventionelle Geschichte kippt in der zweiten Hälfte in einen surrealistischen Bildersturm, und macht gleich zu Anfang deutlich, welche Magie Kinobilder auf einer großen Leinwand entfalten können – selbst wenn der Film von einer DVD kommt und die Leinwand ein Bettlaken ist. Doch bevor der Film beginnt, als sich das Publikum endlich eingefunden hat, und die letzen Wartenden von Tilda und Mark vertröstet werden, beginnt die Prozedur, die sich zu jeder Filmvorführung und jeder Zusatzvorstellung wiederholen soll. Das Hauptlicht geht aus, ein Raunen erfüllt den Saal, das Licht der roten Lampions erlischt und Musik ertönt. Heute ist es Over The Rainbow, später sollen Space Oddity und sogar Personal Jesus von Marilyn Manson folgen. Hauptsache, die Lieder passen nicht zu gut zum entsprechenden Film, sagt Mark Cousins spätabends, als die Diskussionen um die Eröffnungssongs voller Ironie und Erleichterung über den ersten Tag in eine Grundsatzdebatte ausarten. An einer bestimmten Stelle jedes Liedes setzt dann ein schwerfälliger Scheinwerfer ein, der zuerst das Publikum und dann den Raum abtastet, dem richtigen Takt immer ein bisschen hinterher hinkt und schließlich bei Tilda und Mark stehen bleibt, die nie ganz unbemerkt auf ihre Leitern klettern können, um mit dem bemalten Vorhang das magische noch weiße Viereck zu verstecken. „Welcome to the State of Cinema“, sagt Tilda Swinton und hält heute – wie an allen anderen Tagen – eine kleine Begrüßungsrede, die von Mark Cousins übernommen und meist um einige historische Anekdoten zum Film ergänzt wird. Der „State of Cinema“ ist im Ballerina Ballroom zweideutig. Einmal ist es ein Staat, der keine Grenzen kennt und niemanden ausschließt. Die cineastische Utopie der Blackbox als Traumland, in dem alle willkommen sind und in das alle hinein können, wenn sie wollen. Sicherlich auch der Gedanke einer Gruppe, deren Identität sich über das Kino und ihre Liebe dazu definiert, nicht aber über Staatsbürgerschaft, Nationalität, Klasse, Rasse, Alter oder Sexualität. Betrachtet man die internationale Filmauswahl, das Weltkino, das in 29
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den nächsten Tagen präsentiert wird mit einer Parabel aus dem Senegal, einem Kinderfilm aus Kanada, einem ukrainischen Liebesdrama oder einem Thriller aus Japan, wird deutlich, dass wir uns im Land des Kinos befinden und mit den Filmen und in die Filme reisen. Zum anderen heißt „state“ Zustand und verweist damit auf eine Einstellung oder einen Seelenzustand. Dass es hier um die Seele des Kinos im romantischen Sinne gehen muss, ist allen Beteiligten spätestens nach Betreten des Ballerina Ballrooms klar. Dass es Tilda und Mark um die Erhaltung einer Seele geht, unterstreichen sie in den folgenden Tagen mehrfach. Denn so positiv das Festival in seiner altmodischen Essenz auch ist, geht es sehr deutlich und politisch auch gegen etwas. Gegen Multiplexe zum Beispiel und gegen hypermoderne, aseptische Kinosäle und Kino als Kommerzfest. Es geht um das gemeinsame Erleben und gegen eine anonyme, gewinnorientierte Industrie. Es geht um alte und vergessene Filme, und gegen den neuesten Blockbuster, der gesehen werden muss, um mitreden zu können. Es geht um das Genießen und gegen den Konsum. Es geht um die Liebe zum Kino und gegen das Profitieren am Kino. „Einen Lieblingsfilm zu haben, ist wie einen neuen Film zu entdecken, einer der wahren Reichtümer des Lebens. Egal in welchem Alter man ihn entdeckt und egal aus welchem Grund. So ein Schatz währt ewig“, steht einleitend auf jedem Programm. Das Pathos ist hier politisch, die Nostalgie nie konservativ und immer ernst gemeint. Mit ihrer Filmauswahl von Yasujiro Ozu bis Bill Douglas über Roman Polanski zu Akira Kurosawa, Derek Jarman und Rainer Werner Fassbinder werden Tilda Swinton und Mark Cousins Bildungsbeauftragte in eigener Sache und Leidenschaft. Denn wer in Nairn wohnt, ist von Filmgeschichte weit entfernt. Vor circa 20 Jahren haben die beiden letzten Kinos geschlossen und neue wurden nicht eröffnet. Die Anekdote, die einem als Tourist hier ständig erzählt wird, von Charlie Chaplin, der regelmäßig in Nairn Kururlaub gemacht hat, wirkt fast wie blanker Zynismus angesichts des mangelnden Kulturangebotes im Ort. Gerade mal eine Videothek und eine Stadtbücherei gibt es, die nächst größere Stadt ist Inverness und begrüßt jeden Besucher mit einem Geschwür aus Shopping Malls, das dem amerikanischen Vorbild in nichts nachsteht. Multiplex inklusive. „Diese Stadt ist tot!“, sagt ein betrunkener Passant im Vorbeigehen, „Die Leute kommen hier doch zum Sterben hin!“ Und tatsächlich gibt es außerhalb der High Street kaum noch Straßenleben. Verlassene Läden und verwahrloste Schaufenster an allen Ecken. Alte Menschen prägen das Stadtbild. Umso dankbarer zeigen sich die BewohnerInnen für ein bisschen Abwechslung und einen neuen Impuls. Viele der älteren BesucherInnen kennen die Filme wie All About Eve oder I Know Where I’m Going noch von früher, sind aber umso begeisterter, alte Klassiker noch einmal auf einer großen Leinwand zu sehen. „Es ist so schön wie beim ersten Mal“, sagt eine Seniorin gerührt. Viele kennen den Ballerina Ballroom auch noch als Bingohalle oder Festsaal, in dem in den 1960ern und 70ern Pink Floyd und The Who spielten.
„Das hier ist jeden Tag besser als Kirche!“ In den 8 ½ Tagen im August 2008 spielen hier Federico Fellini und Joseph Mankiewicz, Franceso Stefani und Michael Powell. Das Programm setzt sich aus persönlichen Lieblingsfilmen (The Adventures of Sherlock Holmes), und internationalem Arthaus („Shadows of Our Forgotten Ancestors / Feuerpferde“) zusammen. Am Tag 2 ½ wird für Tilda Swinton ein Traum war, wie sie später noch einem ungläubigen David Letterman vor laufenden Kameras erzählen wird. Das „Cinema of Dreams“ verspricht freien Eintritt für alle, die zur 10.30 Uhr Vorstellung von Miss Marple: Murder Most 30
Foul / Vier Frauen und ein Mord im Schlafanzug kommen. Den besten Preis verleiht Tilda schon vor dem finalen Gruppenfoto an zwei betagte Damen in aufwändigen Zweiteilern („Das beste, was Marks & Spencer zu bieten hat!“). Eine kleine Gruppe pastellfarben gekleideter Rentnerinnen versammelt sich vor dem Eingang und unterhält sich: „Nun Ethel, jetzt wissen aber alle, dass du heute nicht in der Kirche bist!“ – „Das hier ist jeden Tag besser als Kirche!“. Um die Flamme der Kinomagie über 8 ½ Tage am Lodern zu halten, denken sich Tilda und Mark noch weitere Sondervorführungen aus. Eine davon ist allerdings nicht abgesprochen. Am dreieinhalbten Tag steht plötzlich Kenneth Anger vor der Leinwand. Der Pionier des Underground Cinema, der als Zwanzigjähriger mit Fireworks (1947) queere Filmgeschichte schrieb und durch Experimentalfilme wie Scorpio Rising oder Invocation of My Demon Brother bekannt wurde, kam von einer Ausstellung in Dundee spontan vorbei und signierte im Gehen gleich noch die Ausgangstür mit den Worten „This is like Caligari in Technicolor“. Um am nächsten Tag sicher zu sein, dass sie es nicht geträumt haben, lackieren sich Tilda und Mark abends am Küchentisch noch einen Nagel mit Glitzerlack. Doch bevor das Programm am letzten Tag mit Fellinis Otto e mezzo / 8 ½ schließt, wird der siebeneinhalbte Tag – passend zu Angers Kommentar – zum Technicolor-Day erklärt. Um zwei Uhr nachmittags beginnen die Farbexplosionen auf der Leinwand mit dem deutschen Märchenklassiker Das singende, klingende Bäumchen / The Singing Ringing Tree von 1957, in der deutschen Originalversion, über die aber eine englische Erzählstimme gelegt wurde, welche die Dialoge wiedergibt. „Das macht den Film noch merkwürdiger als er ohnehin schon ist“, merkt Mark Cousins dazu lachend an. Die Spezialeffekte zum Publikumsliebling Singin’ In the Rain / Du sollst mein Glücksstern sein am Abend werden von allen Beteiligten bereits am Vortag einstudiert. Pünktlich zu Gene Kellys Titelnummer positionieren sich Tilda und Mark neben der Leinwand und öffnen vor sich zwei Regenschirme, die von zwei Taschenlampen angeleuchtet werden. Das Publikum applaudiert wild. Lamettafäden wehen als Kunstregen ums Publikum und silbernes Konfetti regnet magisch auf die Zuschauerschar. Der charmante Dilletantismus des Filmfestivals hat seinen Höhepunkt erreicht und die sprühenden Funken der Filmliebe haben bei den BesucherInnen endgültig ein Feuer entfacht. Dementsprechend bedrückt ist die Atmosphäre am letzten Abend, nachdem ein wildgewordener Regisseur mit Identitätskrise über die Leinwand getobt ist und auf den Punkt bringt, worum es beim Film eigentlich geht: um alles und nichts. Mit 8 ½ findet das „Cinema of Dreams“ zu seinem Anfang zurück, zu seinem Titel, zur Reflexion über das Kino im Kino zum Film im Film über den Film und zu einer Dokumentation, die bereits am einhalbten Tag gezeigt wurde. The Right to Freedom of Thought von Tilda Swinton und Mark Cousins. Ein Film über die Entstehung des „Cinema of Dreams“ und gleichzeitig eine endgültige Liebeserklärung an das Medium, den Ort und seine Magie. Mit 8 ½ Jahren wurde Tilda Swinton von ihrem Sohn gefragt, wovon die Leute geträumt haben , bevor es Filme gab. Tilda antwortete in einem Brief, den sie vor laufender Kamera vorliest. Mark schreibt als Antwort einen Brief an sein achteinhalbjähriges Ich und liest den Brief ebenfalls vor. Zusammen haben sie sich überlegt die „8 ½ Foundation“ ins Leben zu rufen, um Kindern an ihrem achteinhalbten Geburtstag mit Hilfe einiger Kinderfilmklassiker auf DVD die Liebe zum Film und somit zum Kino zu wecken. Am Ende, lange nachdem Tilda Swinton gesagt hat, dass wir noch viele Ballerina Ballrooms in der Welt brauchen, und lange nachdem Überraschungsgast Brian Cox gefordert hat, das Kino zu den Menschen zurück zubringen, noch bevor die Musik laut wird und die ersten Weinkorken auf dem Boden liegen, sagt Tilda den entscheidenden Satz: „I don’t see this as an end, I see it as a beginning.“ s
frisch ausgepack t
Neu auf DVD von ja n k ü n em u n d
DREAM BOY USA 2008, Regie: James Bolton, Pro-Fun Media Das Schönste ist die erste halbe Stunde. Da verliebt sich der schüchterne Nathan in Roy, den Jungen von der Nachbarfarm. Roy fährt den Schulbus und sammelt jeden Tag die Kids in der schwülen Einöde North Carolinas ein. Und so haben die beiden am Anfang und am Ende eines jeden Schultages zwei verzauberte Momente allein in dem großen Bus. Wie sich das langsam aufbaut als Choreographie linkischer Gesten und heimlicher Blicke in den Rückspiegel, wie Nathan langsam von den hinteren Busreihen auf den Platz direkt hinter Roy aufrückt, wie sie Mathe- gegen Englischaufgaben tauschen, sich heimlich treffen, zum Sound von Grillenzirpen und Kirchengesängen – das ist schon ein ganz klein wenig herzzerreißend. Später dringt dann die ganze Schwere des Südstaatendramas in die zarte Romanze ein, der Soundtrack von Richard Bruckner erigiert und die schwülstige Sinnlichkeit der Natur kippt ins Gespenstische. Doch wie immer in den Filmen von James Bolton (Eban und Charly, The Graffiti Artist – siehe S. 15) ist die Melancholie, die die Jungs umgibt, nicht ganz greifbar, nicht restlos zu entschlüsseln. Boltons Jugendliche leben in einem prekären Zustand, sind verletzlich, gefährdet, und haben kaum eine Sprache für ihre Welt. Ein fragiles Kino der Gesten und Blicke. Vorlage für Dream Boy ist der großartige Roman von Jim Grimsley. Und man sollte noch erwähnen, dass man in einer kleinen Rolle Ricky Lee Jones bewundern kann.
FERFIÁKT – DER NACKTE JUNGE HU 2006, Regie: Károly Esztergályos, Pro-Fun Media In diesem Drama aus Ungarn, bislang ein leerer Fleck auf der Landkarte des homoerotischen Films, betritt man eine vertraute, doch lange nicht mehr bereiste Welt – jene der feingeistigen Künstler, die ihre verheimlich-
ten Gefühle in ihren Werken ausleben, sich in großbürgerlichen Verhältnissen einen Platz für ihr Doppelleben einrichten – und dann plötzlich vor einer erotischen Herausforderung kapitulieren. Der schöne Junge, der den beinahe 50-jährigen Schriftsteller aus seiner Welt aus Mann-Tagebüchern, Schubertliedern und Viscontischer Melancholie herausreißt, ist eine moderne Budapester Variante Tadzios, Franz Westermeiers und Helmut Bergers. Und so bricht all das über den Mann herein, was er vorher sorgsam künstlerisch sublimiert hatte. Regisseur Károly Esztergályos gehört noch einer Generation an, die weiß, welches Potential diese Geschichten einer nicht ausgelebten Homosexualität haben – und er ist klug genug, selbst nicht auf der sicheren Ebene feingeistiger Verschämtheit zu bleiben. Wenn der alternde Dichter dem Stricher, der ihn gerade oral befriedigt, laut aus dem „Tod in Venedig“ vorliest, dann ist das ein selbstironisches und dabei sehr komplexes Bild der schwulen Kulturgeschichte…
FRISK USA 1995, Regie: Todd Verow, CMV Laservision, FSK 18 Endlich ist dieser Film auf DVD raus, endlich kann man Todd Verows Bebilderung von Dennis Coopers Roman fernab seiner Skandalwirkung betrachten (bekanntlich gab es ja wüste Szenen anlässlich seiner Premiere beim SF G&L Film Festival 1996). Ein Versuch über die dunklen Aspekte der schwulen Sexualität, ein Set an wüsten Phantasien, das gleichermaßen unscharf mal als „cold porn“, mal als „queercore“ bezeichnet wurde. Dabei belässt es Verow genau wie Cooper in Andeutungen, die so kompliziert verschachtelt sind, dass man eben nie weiß, was davon Fantasie und was davon Serienkillerrealität sein soll. Worum es nämlich eigentlich geht, sind mit Sex, Gewalt und Geheimnissen aufgeladene Bilder, die man nicht mehr los wird. Und die mit einfachsten Mitteln eher heraufzubeschwören als zu zeigen, gelingt Verow in seinem Debüt ganz großartig. Dazu gibt es als Extras den schönen Kurzfilm Nob Hill und den informativen Audiokommentar mit Produzent und Regis-
seur, der u.a. erzählt, dass er Coopers Roman beim ersten Lesen so widerwärtig fand, dass er ihn erst mal durch den Raum geschleudert hat.
licht und schatten – Between Something and nothing USA 2008, Regie: Todd Verow, Edition Salzgeber Gleichzeitig zu seinem Erstling Frisk erscheint auch Todd Verows aktueller Film Licht und Schatten auf DVD. Und es ist schön zu sehen, dass da jemand bei seiner Underground-Ästhetik geblieben ist. Denn bei Verow hat die Verweigerung von Glätte und schöner Oberfläche System – der Ton ist direkt, das Licht ist natürlich, die Schauspieler sind Freunde und alles wird schnell abgedreht, damit erst gar keine filmischen Überhöhung der dreckigen kleinen Geschichte stattfinden kann. Man ist nah dran, und das ist hierbei insbesondere ein Geschenk, da Verow nach Vacationland zum zweiten Mal die Geschichte seiner eigenen Jugend erzählt – ein atemloses Dahintreiben zwischen Kunstakademie, Strich und Nachtleben, das sich genauso atemlos im Film überträgt. Man möchte hier nicht von „Authentizität“ sprechen – eher von einer sehr persönlichen Art, eine sehr persönliche Geschichte zu erzählen.
BUTTERFLY – HU DIE CN 2004, Regie: Yan Yan Mak, Edition Salzgeber Das ist ein bekanntes poetisches Bild für einen Emanzipationsprozess: den (gesellschaftlichen) Kokon aufbrechen und als schöner Schmetterling in die Welt hinausflattern. Das erzählt die junge Filmemacherin Yan Yan Mak in ihrem zweiten Spielfilm Butterfly – Hu Die. Verwoben ist das lesbische Coming-Out ihrer Heldin allerdings mit einer zweiten Zeitebene, in der ihr dieses Schmetterling-Werden nicht gelingt, und mit einer präzisen Kokon-Beschreibung, die auf allgemeine politische Unterdrückung und den Kampf um Menschenrechte verweist. 31
frisch ausgepack t
Eine kritische Untersuchung Hongkong-chinesischer Verhältnisse, nach einer taiwanesischen Kurzgeschichte, eine doppelte lesbische Liebesgeschichte, die als Sinnbild für die Selbstverständlichkeit von Menschenrechten inszeniert ist – darin entwickelt Butterfly seine äußerst filmisch aufgelöste Komplexität, die nicht von ungefähr mit einer Einladung zu den Filmfestspielen von Venedig im Jahr 2004 belohnt wurde.
LANDLIEBE – Jungs in der Provinz
sucht er nur etwas menschliche Wärme. Und beschließt schließlich aus lauter Enttäuschung, am Weihnachtsabend aus dem Leben zu scheiden (wobei seine eigentliche Traurigkeit daher rührt, dass es niemandem auffallen wird). Das alles ist tragisch und komisch zugleich, hingebungsvoll von Nick May gespielt, mit sehr vielen skurrilen Episoden angereichert und im Ton völlig originell. Ein Film, der wunderbar ohne großes Budget auskommt und dafür ganz bei sich bleibt.
ANOTHER GAY SEQUEL – GAYS GONE WILD
Fünf deutschsprachige Kurzfilme, die eine Fantasie umkreisen – um in ihrer Unterschiedlichkeit und Vielschichtigkeit dann sehr konkret zu werden. Das Leben von Jungs außerhalb der schwulen Szenen ist ja aus der Großstadtperspektive oft unvorstellbar oder – wie in vielen Fällen – mit unangenehmen eigenen Erinnerungen verbunden. Aber wo die meisten dieser filmischen Peripheriebegehungen tatsächlich zu der Erkenntnis kommen, dass man als Schwuler dort, wo man aufwächst, zwar seine Freunde hat, für alles, was darüber hinaus gehen soll, aber dort weg muss – steigt Cowboy von Til Kleinert tief in die schwulen Projektionen einer versauten Landjugend ein – und geht dann weit über alles Vorstellbare hinaus. Da wo angeblich nichts passiert, ist in Wahrheit die Hölle los, kann man daraus schließen. Oder genau hinsehen, wie es die anderen Filme tun. Mit den Filmen Landleben (Lukas Egger), Nachmittage (Nicholas Hessenkamp), Anfänger! (Nicolas Wackerbarth), Freunde die du hast (Haik Büchsenschuss) und Cowboy (Till Kleinert).
USA/D 2008, Regie: Todd Stephens, Pro-Fun Media
USA 2007, Regie: Spencer Schilly, Bildkraft
Noch ein schwuler Film, noch eine Film-Fortsetzung, another gay sunshine day. Zweite Runde für Nico, Andy, Jarod und Griff auf dem Spielplatz der schwulen Nischenproduktionen. Dieser Film ist, wie sein Vorgänger Another Gay Movie, der Versuch, SCHWUL SEIN in filmischen Großbuchstaben zu schreiben. Also hat ein Spektrum schwuler Jungs ein Spektrum an schwulem Sex, alle Nebenfiguren kommen aus der schwulen Kult-Ecke (Ru Paul, Amanda Lepore), es hagelt Zitate zu anderen schwulen Filmen – und das Ganze ist vor allem eins: eine Komödie. Eine, vor allem was die Ausstattung und die Präzision der geschriebenen Gags angeht, ziemlich liebevoll produzierte. Und sie ermöglicht die Befriedigung zweier Grundbedürfnisse des schwulen Mannes: über sich selbst zu lachen und 99 Minuten lang auf pralle Badehosen zu schauen. Die ‚unbeschnittene‘ DVD-Ausgabe hat sich die Mühe einer deutschen Fassung gemacht und kann außerdem umfangreiches Bonusmaterial bieten.
IN THE BLOOD – Die dunkle Gabe USA 2007, Regie: Lou Peterson, Edition Salzgeber
Ein kleiner aufregender Film, mit einfachsten Mitteln hergestellt. Über Ricky, der einem älteren schwulen Paar als Spielzeug dient und über Weihnachten ihr Haus hüten soll. Und eigentlich schon weiß, dass er bald durch einen neuen Jungen ersetzt wird. Jetzt sitzt er in einem mit bunter Weihnachtsdekoration aus allen Nähten platzenden Apartment, unter Katzen, Kaninchen, Schildkröten und Fischen, und bestellt sich ein gefühlloses Sexdate nach dem nächsten in das fremde Apartment. Eigentlich 32
XXY AR 2007, Regie: Lucía Puenzo, Kool
CH & D 2004–2008, Edition Salzgeber
THE HOUSEBOY
ausfinden, was es damit auf sich hat. Ansonsten werden hier Genre-Fans bedient – Serienkiller gehen um, mit unerwarteten narrativen Twists werden immer dann neue Aspekte präsentiert, wenn man sich schon zu sicher ist, und mit großer Lust verfolgt man, wie die kleine Welt eines College-Studenten in einem Strudel von Verdrängung, Wahn, Ängsten und Verdächtigungen versinkt.
Ein neuer Aspekt des Queer Cinema ist, dass es nach und nach auch in die klassischen Filmgenres eindringt. Das Interessante an diesem Psychothriller mit seinen Mystery- und Horror-Elementen ist, dass er dort, wo er am tiefsten in den Genregesetzen steckt, seinen narrativen Auslöser in einem rein schwulen Thema findet. Es sind die Coming-Out-Probleme Cassidys, die bei ihm blutige Visionen auslösen und erst über den schwulen Sex kann er her-
Das junge argentinische Kino macht gerade sehr auf sich aufmerksam. In einer Gesellschaft, in der in den letzten Jahren fast sämtliche Sicherheiten ins Wanken gekommen sind, scheinen auch die Konzepte der Sexualität zu schweben (man denke an Glue von Alexis dos Santos oder La León von Santiago Otheguy). Der Festivalerfolg XXY ist ein außergewöhnlich sinnlicher Film über die Gefühlswelt von Teenagern, von denen eine(r) intersexuell ist. Mit diesem medizinischen Begriff sind Leidensgeschichten vieler Menschen verbunden, deren Geschlecht nach der Geburt operativ vereindeutigt wurde, auf Betreiben der Eltern und – indirekt – der Gesellschaft. Lucía Puenzos Zugang zu dieser Problematik führt tief in die Erlebniswelt der Jugendlichen, die sexuelles Erwachen mit dem Neuentdecken des eigenen Körpers in Einklang zu bringen versuchen. Und stellt die gewagte These auf, dass sich Menschen ineinander verlieben, nicht biologische Geschlechtsträger. Und die phänomenale Kamera von Natasha Braier stellt eine Nähe zu den nicht minder phänomenalen Gesichtern der Schauspieler her, die jeglichen medizinischen Identitäts-Diskurs lebensfremd erscheinen lässt.
CHANSON DER LIEBE – Les Chansons d’amour FR 2007, Regie: Christoph Honoré, Pro-Fun Media Das fängt alles sehr nervig an – eine großbürgerliche Familie trifft sich und es wird bis zur Schmerzgrenze geplaudert. Ein junges Paar hat mit einem anderen Mädchen eine Dreierkiste (wie französisch!). Außerdem wird in diesem Film viel gesungen und gelesen. Doch plötzlich gibt es einen Riss. Eins der beiden Mädchen stirbt – und plötzlich ver-
frisch ausgepack t
schieben sich die Konstellationen, die Gefühle und die bürgerlichen Grundfesten. Christoph Honorés Film ist ausgesprochen mutig in seiner Verbindung von Leichtigkeit und Ernst, von Pop und Drama. Er scheut weder Emotionen noch Kitsch. Alles dreht sich um die Frage (wie sie in einem Chanson gestellt wird), ob man bei der Liebe nicht immer in das Verliebtsein selbst verliebt ist. Und in seinen künstlichsten Augenblicken, wenn die heftigsten Gefühle auf die klarsten Bilder und die naivsten Poplieder treffen, ist Chanson der Liebe am meisten bei sich und genau so schön wie rätselhaft.
SEBASTIANE UK 1976, Regie: Derek Jarman, Edition Salzgeber Man weiß das mittlerweile alles: Sebastiane ist das Debüt von Derek Jarman, der einzige jemals auf Latein gedrehte Film, ein Softporno, ein schwuler Kultfilm über einen schwulen Mythos. Wie bei Jarman üblich, wird kein Historiendrama inszeniert, sondern Vergangenes mit aktuellem Interesse aufgeladen. Ganze 70 Minuten davon langweilen sich die römischen Soldaten unter sengender Sonne und treiben laszive Späße miteinander. Dazwischen trifft der Sadist Severus auf den Masochisten Sebastian, der zeitgemäß seine Qualen als Zeichen göttlicher Liebe versteht. Wir lernen etwas über Männergruppen im Ausnahmezustand, sehen diese heute wieder so attraktiven 70er-Jahre-Männerkörper und verstehen, warum der Heilige Sebastian durch die schwule Bildertradition wandert. Einen schönen Vergleich bietet der Kurzfilm Saint von Bavo Defurne, als Bonusmaterial in der DVD enthalten. Ein nicht weniger ästhetisierender Zugang, in poetischem Schwarzweiß, in dem die Hinrichtung als geheimnisvolle Sexszene mitten im Wald inszeniert ist. Hier lassen die Soldaten im Angesicht von männlicher Schönheit sogar die Bogen wieder sinken und aus gewittrigem Himmel regnet es auf den nicht tot zu kriegenden Sebastian nieder.
DEREK UK 2007, Regie: Isaac Julien, Edition Salzgeber Dafür Sorge tragen, dass Derek Jarman nicht vergessen wird – das ist das Anliegen seiner ehemaligen Freunde, Mitstreiter und Nachfolger. Tilda Swinton, Isaac Julien, Colin McCabe, Simon Fisher Turner und andere haben ein Porträt über den 1994 verstorbenen Künstler gemacht, das weit über ein handelsübliches Biopic hinausgeht. Ein Medium wählen, es mit Wut, Liebe und Witz aufladen, die üblichen
Produktionsbedingungen ignorieren, sich eine Familie suchen und einfach machen. Dass ist das, was dieser Film als den lebendigen Spirit des Künstlers herausarbeitet – und weiterträgt. Wie einst Jarman hält Tilda Swinton in ihrem Off-Kommentar ein pointiertes Pamphlet gegen die bürokratische Filmindustrie. Wie einst Jarman lässt Isaac Julien assoziative Bildmontagen den Filmrhythmus bestimmen, lädt die ‚guten alten‘ Jarman-Zeiten mit einem aktuellen Blick auf. Wie in Jarmans Filmen erzeugt Simon Fisher Turners Musik eine atmosphärische Tiefe, ist harmoniesüchtig und gebrochen zugleich. Dieses Jarman-Porträt ist voll und ganz in dessen Sinn. Es ist Erinnerung und Aufruf, Archiv und kreatives Störmoment zugleich. Aber vor allem: eine Liebeserklärung.
the times of harvey milk USA 1985, Regie: Robert Epstein, Edition Salzgeber Rob Epsteins Dokumentarfilm war schon zu Milks Lebzeiten geplant. Seine Ermordung fiel in die Dreharbeiten und ließ den Film zu einem einflussreichen Porträt eines Helden der Schwulenbewegung werden – mittlerweile selbst schon ein filmgeschichtlicher Klassiker. Mehr dazu auf Seite 14.
STRAIGHT D 2007, Regie: Nicolas Flessa, Edition Salzgeber Wenn Deutschtürken und deutsche Schwule aufeinander treffen, kollidieren traditionell die Vorstellungen von Männlichkeit. Vorurteile, Ängste, erotische Fantasien entstehen, wo man nah beieinander ist, sich aber trotzdem kaum kennt. In St. Georg oder Kreuzberg z.B. ist man im selben Kiez unterwegs. Nicolas Flessa siedelt seine Dreiecks-Liebesgeschichte um zwei Männer und eine Frau, um straighten und schwulen Sex, um drei verschiedene kulturelle Hintergünde in Berlin-Neukölln an. Meist nachts und auf der Straße, wo Blicke unterwegs sind und Fremde sich treffen. Und so hat ein Hetero plötzlich eine Affäre mit einem Mann, ist eine Frau mit zwei Liebha-
bern plötzlich fünftes Rad am Wagen und ein deutschtürkischer Dealer erlebt etwas, das er seinen Kumpels verheimlichen muss. Großes Kapital des Films ist natürlich, dass TeenieIdol Eralp Uzun sich auf eine solche Rolle einlässt. Aber darüber hinaus weiß auch der Regisseur, wie man eine solche Story erzählen kann: vor Ort, direkt, und mit Raum für Improvisation. (Inklusive Kurzfilm The City von Nicolas Flessa.)
FRÜHSTÜCK MIT SCOT CA 2007, Regie: Laurie Lynd, Pro-Fun Media Familienunterhaltung. Und Familie selbst ist auch das Thema. Allerdings wird hier in Form einer mainstreamigen Fe el- G o o d-Komö d ie der Familienbegriff nicht nur erweitert (es geht um ein schwules Paar, das plötzlich Verantwortung für ein Kind übernehmen muss), sondern eigentlich ein rein schwules Problem thematisiert. Da sind zwei Männer, die ihr ganzes Leben damit verbracht haben, straight zu wirken, auf dem Eishockeyplatz und in der Anwaltskanzlei den Heteromännern gegenüber nicht zurückzustecken. Und dann steht da ein schwuler Junge auf der Matte, der sich offensichtlich selbst noch nie die Frage gestellt hat, ob er ausreichend männlich wirkt. Scot ist bunt, unangepasst und gender-resistent. Was prekärerweise dazu führt, dass die schwulen Ersatzeltern erst mal versuchen, einen richtigen Jungen aus ihm zu machen – bzw. zu dem, was sie darunter verstehen. Man enthüllt kein Geheimnis, wenn man verrät, dass der Erziehungsprozess schließlich umgekehrt verläuft. So erscheint das traditionelle Thema der fehlenden Akzeptanz von Homosexuellen in der heteronormativen Gesellschaft auf interessante Weise variiert: als schwule Selbstbespiegelung und Selbstkritik. Das gleichwohl produziert für ein so breit wie möglich gedachtes Publikum.
Born in flames USA 1983, Regie: Lizzie Bordon, Edition Salzgeber Lizzie Bordons radikalfeministischer Klassiker aus einem revolut ion ä r -ut opi s c hen US-Amerika erscheint nach seinem L-Filmnacht-Einsatz natürlich auch auf DVD. Mehr dazu auf Seite 9.
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Bezugsquellen
Edita Gruberova in „Roberto Devereux“
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Art Director
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Autoren dieser Ausgabe Lektorat Anzeigenleitung
Thomas Abeltshauser, Sharon Adler, Doris Bandhold, Stefanie Denkert, Franz Dinda, Jan Gympel, Jan Künemund, Edina Lautenschläger, Silvy Pommerenke, Tobias Rauscher, Paul Schulz, Tim Staffel Rut Ferner Jan Nurja, nurja@salzgeber.de
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