Ausgabe dreizehn · März bis Mai 2012 · kostenlos
s Racheengel: Das blutige Märchen s Umständehalber: Harvey Milk auf Farsi s Feste Größe: Peter Kern s Heimatfilm (1): Too much Berlin s Geschlechterfrage: Ganz konkret zurechtgerückt s Erlösung: Ein Schwuler in Menschengestalt s Pim und Gino: Träume jenseits von Cinecittà s Close Talk: Filmische Naherholung s Gleich und anders: Priscilla im Landkreis Sonneberg s Heimatfilm (2): Schande für Niederbayern s Muskeln und Glamour: Fang an zu drehen! s Hoffnungsloses Beige: Falsch bis zum letzten Augenblick s Dachgeschoss: Zähne zusammenbeißen und durch s Sprechblasenvortrag: Lutsch mir die Ente! s Knutschfleck: Die ExpertInnenjury entscheidet
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vorspann
Sissy dreizehn
Berlinale / Vukasin Veljic
Es war mal wieder Berlinale, im Panorama gab’s mal wieder einen Queer-Schwerpunkt, Queer-Film-Festival-Kuratoren haben als Jurymitglieder Teddys verteilt. Das gibt es auf keinem anderen großen internationalen Filmfestival. Bestürzend und schade (wie immer) aber war, was und wie darüber geredet wurde. Von einer „Timeline“ ist da von den Veranstaltern die Rede, auf der „der Westen“ top Ergebnisse im Bekämpfen der Queer-Diskriminierung erzielt und alle anderen Kulturen zwischen 10 und 30 Jahre hinterher seien. Da wird, wenn überhaupt das Wort „Film“ fällt, das audiovisuelle Medium allenfalls als Gefäß für wichtige Themen angesehen, nämlich, um bedrohte queere Menschen und Szenen vor allem der ‚rückständigen‘ Orte dieser Welt zu zeigen, ganz egal wie. Als „Geschenk“ wird ein serbischer Mainstream-Film vorgestellt und empfohlen, der serbischen Homophoben erklärt, dass Schwule tatsächlich Menschen sind, was dort (Parada war ein Kassenhit) gut funktioniert hat. Schön für die Serben – problematisch für alle anderen, die sich mit flachen Klischees, leidenden und am Ende sterbenden schwulen Figuren und verschämter Körperlichkeit (kein Von Heterosexuellen umarmt: „Parada“ von Srdjan Dragojevic (2011). Kuss, kein Sex, um die homophoben Serben nicht zu verprellen, bevor sie was lernen) auseinandersetzen müssen. Dieses Denke ist überheblich und unqueer – denn sie übersieht, dass Queer-Sein kein globales essentialistisches Phänomen ist, sondern in jeder Kultur und Szene, bei jedem Menschen anders ist und einen anderen (auch filmischen) Ausdruck findet, den zu entdecken ja gerade das Spannende am Queer Cinema ist.
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Davon unbeeindruckt hat die Teddy-Jury wie üblich gute Arbeit geleistet und u.a. einen Film prämiert, der eine private Beziehung in einem Land schildert, in dem queere Menschen nicht mit der Todesstrafe bedroht sind: Keep The Lights On tastet sich sensibel an das Bild einer schwulen Beziehung in New York heran, mit flimmernden Bildern, ätherischen Songs, einer taktilen Kamera, durch die das Thema der Berührbarkeit auch auf filmischer Ebene erkundet wird. Dass er überhaupt im Programm war (zuletzt z.B. Weekend oder das Spielfilmdebüt von Travis Matthews abgelehnt), könnte daran gelegen haben, dass in dem Film eine Figur selbst einen Teddy gewinnt (so viel Schmeichelei muss belohnt werden). Natürlich haben auch wir dieses Jahr wieder viele tolle Entdeckungen gemacht (S. 37). Was das Queer-Cinema-Konzept der Berlinale angeht (eigentlich nur des Panoramas, denn Festivalchef Kosslick geht nach eigenen Worten „diese Trans-Kiste“ sowieso grundsätzlich an der eigenen vorbei), darüber sollte in einer der nächsten SISSYs mal offen gesprochen werden.
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Peter Kern – Regisseur, Schauspieler, Autor
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Peter Kern
Die Ballade von Vassili und Angelo von Sa sch a W e st ph a l
Auf der Suche nach der verlorenen Zeit sind zwei dunkle Engel in Gaël Morels blutigem Märchen „Unser Paradies“. Die beiden Stricher wehren sich mit Gewalt gegen die entwürdigenden Blicke ihrer Freier und steuern auf der Suche nach einem Ort für ihre Liebe immer mehr auf eine Katastrophe zu. Der Spielfilm mit Stéphane Rideau (Porträt in der letzten SISSY) in der Hauptrolle läuft im März in der Gay-Filmnacht und ist ab 5. April in ausgewählten Kinos zu sehen.
Over there / In the cold / Stands the hustler, / His eyes are old – He has seen a million ugly scenes, / Places where men droop with mould, The backrooms / Where soiled goods are sold, Seen with opened eyes since frail fifteen. He has found it hard at first / But on his brow there sits a curse For when the young must suffer / At the hands of men. marc almond: the hustler, 1986
s Nachts im Bois de Boulogne. Vassili streift ziellos umher. Gerade hat ihn ein viel jüngerer Stricher von seiner Ecke an der Straße vertrieben. Einer wie Vassili ist nun mal schlecht für das Geschäft. Die Männer in den Autos suchen nach jungen, attraktiven Begleitern und nicht nach Typen, die vielleicht vor 15 Jahren einmal Könige in der Welt des schnellen, anonymen Sex’ waren. Aber Vassili hat eben nie den Absprung geschafft. Er lebt immer noch so wie am allerersten Tag, damals vor so vielen Jahren, als er in Paris angekommen ist und ihm, dem jungen Schwulen aus einem winzigen, viel zu engen Nest bei Grenoble, die Welt zu Füßen zu liegen schien. Mittlerweile dreht sich so leicht keiner mehr nach ihm um. Die Bewunderung ist aus den Blicken der anderen verschwunden. Nun registrieren sie ihn nur noch distanziert und fragend oder gleich spöttisch und verachtend. Die Jungen, die seine Söhne sein könnten, sehen in ihm höchstens noch ein abschreckendes Beispiel. So etwas darf ihnen nicht passieren. Also geht Vassili nun alleine mit sich und seinen Gedanken, seinen Erinnerungen und seiner Wut durch den Park. Nah am Wasser entdeckt er plötzlich im Gras einen bewusstlosen jungen Mann und holt ihn zurück ins Leben. „Bin ich tot?“, fragt der Fremde, als er die Augen wieder öffnet und in Vassilis leicht aufgedunsenes und schon ziemlich verlebtes Gesicht blickt. „Nein“, versichert ihm sein Retter. Aber der Tod wird trotz allem von nun an sein Begleiter sein. Zunächst will der Namenlose, der überfallen und wohl auch vergewaltigt wurde, Vassilis Hilfe nicht annehmen. Er setzt sich in einer Bushaltestelle auf eine Bank und will nur noch allein sein. Aber Vassili kann seine Augen nicht von dem blonden, aufreizend unschuldig wirkenden Jüngling nehmen. Von der anderen Straßenseite aus beobachtet er ihn und schreitet sofort ein, als ein Freier den Verletzten anspricht. Von diesem Moment an sind die beiden praktisch unzertrennlich. Noch in derselben Nacht wird Vassili seinen Schützling Angelo taufen. Zunächst hatte er es mit Ange und Angel versucht. Doch weder der eine noch der andere Name gefiel seinem 6
Gast. Vielleicht waren sie diesem aus dem Nichts gekommenen, durch die Liebe Vassilis neugeborenen Engel zu offensichtlich und banal. In Angelo schwingen zumindest nicht nur die Erwartungen und Hoffnungen des Älteren mit. Dieser Name ist für den Fremden aus dem Park, der nicht ein einziges Wort über seine Vergangenheit verlieren wird, selbst eine Art Versprechen. Er hat etwas Exotisches an sich, ein Geheimnis, das nicht so ganz zu seinem Äußeren passen will. Eine Begegnung wie in einem Märchen ist dieses erste Zusammentreffen von Vassili und Angelo. Und so setzt sie Gaël Morel auch in Szene. Der Bois de Boulogne, diese Wildnis mitten in der Stadt, in der Nacht für Nacht die Hustler nach Freiern suchen, durch die aber auch homophobe Schläger marodieren, in der ein Leben kaum mehr wert ist als ein Blowjob, erscheint plötzlich in einem anderen Licht, verwandelt sich vom Straßenstrich in einen verwunschenen Märchenwald, in den ein Engel vom Himmel herabsteigen und ein schon vor langer Zeit gefallener Cherub noch einmal eine Chance bekommen kann. Morel nimmt das Wunder und Mysterium der Liebe genauso ernst wie die triste Wirklichkeit eines Lebens als alternder Stricher, in der Vassili zusammen mit Angelo in – wie er sagt – „unser Paradies“ entfliehen will. Wie dieses Paradies aussehen könnte, auch davon wird Morel später noch ganz ohne Kitsch erzählen. Sie finden es schließlich in den verschneiten Bergen und Wäldern rund um die Villa von Vassilis erstem Freier Victor. Für einige kostbare Momente, in denen die beiden ganz bei sich sind, taucht ihre bedingungslose, keine Grenzen akzeptierende Liebe die Welt in ein sanftes, beinahe goldenes Licht und transformiert sie. So könnte es vor dem Sündenfall, der bei Morel der Fall eines und damit aller Männer ist, gewesen sein. Doch das wiedergefundene, das selbst erschaffene Paradies hat keinen Bestand. Die Illusion muss zerplatzen, in einem anderen, neuen Sündenfall, den ein kleiner Junge, der auch Vassili heißt, mit ansieht. Das Paradies lässt sich nicht festhalten so wie die Zeit, die Vassili mit seiner Jagd nach bedeutungslosem Sex vergeudet und verloren hat, sich nicht wiederfinden lässt. Angelo, der Engel aus dem Bois de Boulogne, ist für ihn nun ein Versprechen auf eine zweite Jugend und auf ein Leben, das durch die Liebe doch noch einen Sinn erhält, das alles Gewesene, all das Dunkle und Kaputte, das Geld und die Gewalt transzendieren könnte. Doch die Wirklichkeit hat ihre eigenen Gesetze, an denen das Märchen nur zerbrechen kann. Und so verliert der alternde Hustler, der gelernt hat, seine Freier zu hassen, der sie nur mehr als Zerstörer der Liebe und Korrumpierer von Unschuld sehen kann, auch noch die ihm noch gebliebene Illusion über seine Vergangenheit. Lange galt in Vassilis Augen für Victor genau das, was Pierre Pruez in Avant que j’oublie, Jacques Nolots exquisitem Porträt des Gigolos als altem Mann, über einen seiner ersten Freier sagt: „Er war immer mein Vater, meine Mutter, meine Bank. Wie ein Elternteil, das du nur sehen willst, wenn die Dinge schlecht stehen.“ Doch dieser Vater in der Ferne, der ihm immer noch die Miete für sein Pariser Appartement zahlt, ist eben auch nur ein Mann wie alle anderen, denen er schon in einer Million hässlicher Szenen begegnet ist, ein Mann, der sich einen deutlich jüngeren Geliebten hält, der wiederum Ansprüche auf ihn erhebt. Damit ist das Idyll in den Bergen beschmutzt und die Katastrophe, auf die diese „Ballade von Vassili und Angelo“ schon von Anfang an zusteuert, unausweichlich. Aber nicht nur Vassili sucht nach einer verlorenen, einer ihm zwischen den Fingern davon geronnenen Zeit. Der Film selbst gleicht einer Beschwörung eines vergangenen oder zumindest aus der Mode gekommenen Kinos. Auf den ersten Blick könnte Unser Paradies mit seinem Hustler-Paar, das seine Freier für ihre Verderbtheit, ihre rein materialistische Vorstellung von Nähe und Sexualität richtet, die schwule Variante von Serienkiller-Pärchen à la California, Natural Born Killers oder auch Jean-Marc Barrs und Pascal Arnolds American Translation sein, in dem die amour fou zweier haltloser Twens in mehreren Morden an jungen Strichern kulminiert.
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Doch letzten Endes verbindet Morels Film kaum etwas mit diesem tief in der amerikanischen Popkultur des späten 20. Jahrhunderts verwurzelten Subgenre. Seine Ursprünge liegen viel eher im (französischen) Queer Cinema der 80er und 90er Jahre. Morel kehrt zurück zu den rauen, transgressiven Arbeiten von Filmemachern wie Patrice Chéreau und Cyril Collard. Von L’homme blesse über Wilde Nächte und Vincent Ravalecs ekstatischem Filmpoem Portrait des hommes qui se branlent scheint praktisch eine direkte Linie zu Unser Paradies zu führen, der angesichts der Radikalität und Intensität seiner ungeschminkten Bilder und Szenen aus dem Leben zweier Hustler aus einer anderen Zeit zu stammen scheint. Die Reise der vorbehaltlos Liebenden in Richtung Paradies ist eben auch eine Reise in die Vergangenheit, in die Zeit, in der Vassili noch jung und unwiderstehlich war. Doch die Uhr lässt sich nicht zurück drehen, weder von zwei gestürzten Engeln noch von einem Filmemacher, der sie auf diesen vergeblichen Trip schickt. Davon zeugen alleine schon Stéphane Rideaus Körper und Gesicht. In seinen Augen ist immer noch etwas zu erkennen von dem umwerfenden jungen Mann aus André Téchinés Wilde Herzen, in den man sich einfach verlieben musste. Aber von seinem spektakulären Körper ist nur noch eine Ahnung geblieben. Gleich in der ersten Szene sitzt er nahezu unbeweglich auf der Couch eines wohlhabenden Freiers und versucht nicht einmal, den Bauchansatz zu verstecken. In seinen Anzeigen, im Internet und am Telefon lügt dieser Vassili dreist, wenn es um sein Alter und sein Aussehen geht. Anders könnte er auch kaum noch Kunden finden. Ist er aber erst einmal bei ihnen, stellt er den Niedergang seines Körpers ebenso schamlos aus. Alles an diesem in die Jahre gekommenen rent boy verkündet den Männern, die ihre eigene Jugend noch einmal heraufbeschwören wollen, in dem sie möglichst junge und schöne Männer für Sex bezahlen: Auch ihr seid alt und hässlich, akzeptiert den Lauf der 8
Zeit. Doch das können sie nicht, und so greift er zur nächstbesten Waffe. Den ersten Klienten, der selbstvergessen zu Roy Orbisons „In Dreams“ tanzt und gar nicht aufhören kann, auf Vassili einzureden, will er mit dem Stromkabel eines Plattenspielers erwürgen. Einen erschlägt er, und wieder einen anderen ersticht er in dessen Badewanne und lässt ihn dort in einer Pose zurück, die deutlich an Jacques-Louis Davids Gemälde „Der Tod des Marat“ erinnert. Nur liegt er vor einer Wand aus Panoramafenstern, die den Blick auf ein nächtliches Schneetreiben freigibt. In diesem Blick ins vom Schnee erhellte Dunkel schwingt noch ein anderes Bild mit. In André Téchinés Ich küsse nicht stehen an einem Weihnachtsabend der aus der Provinz nach Paris geflohene Pierre Lacaze und der erfolgreiche Fernsehproduzent und -Moderator Romain an einem Fenster hoch über der Stadt und betrachten den Schnee, der sanft auf die Straßen nieder rieselt. Pierre und Romain sind das Paar, das in Téchinés kristalliner Verfilmung von Jacques Nolots Drehbuch nie zusammenkommt. Selbst als Pierre seine Hemmungen überfunden hat und im Bois de Boulogne, in den es Romain trotz seiner Berühmtheit immer wieder zieht, anschaffen geht, versteckt er sich sofort, wenn er den älteren Mann sieht. Er entzieht sich konsequent der Möglichkeit, in Romain seinen Vater, seine Mutter, seine Bank zu sehen, und wird dafür einen hohen Preis zahlen. Wohin sein Weg führt, lassen Téchiné und Nolot offen, wobei dessen eigene Trilogie, L’arrière pays, La Chatte à deux têtes und Avant que j’oublie, sich durchaus auch als Fortschreibung von Pierres Geschichte lesen lässt. Vor diesem Hintergrund eröffnet sich noch einmal eine andere Facette in Morels lyrischem Märchen von Eros und Thanatos. Zusammen mit UIch küsse nicht und Avant que j’oublie bildet Unser Paradies eine Art von Dreieck, das verschiedene Möglichkeiten einer Biografie vermisst und durchspielt. Gemeinsam zeichnen sie das Bild eines Stri-
chers und Gigolos als filmisches Triptychon, ein Panorama eines Lebens am Rand. Im Zentrum stände dabei Téchinés Bildnis eines jungen Mannes, der keinerlei Emotionen an sich heran lässt, nur um schließlich einer Prostituierten zu verfallen, die sein Spiegelbild sein könnte. Die Seitenflügel offenbaren Varianten seines Weges und ergänzen sich dabei auf eine geradezu unheimliche Weise. Nolots Pierre Pruez phantasiert einmal über Pasolinis Ende am Strand von Ostia und sagt zu einem alten Freund: „Pasolini muss Angst gehabt haben. Dennoch, es war ein schöner Tod.“ Und eben den sucht – zumindest wäre das eine Deutung der irritierenden, von Klängen aus dem ersten Satz von Mahlers Dritter Symphonie begleiteten und in einer Schwarzblende gipfelnden Schlussszene – Pierre schließlich selbst. Morel wirft mit Unser Paradies einen Blick auf die andere Seite: Der alt gewordene Freier, für den es letztlich nur noch den Tod gibt, braucht den zum Mörder gewordenen Stricher. Ihre Wege müssen sich kreuzen und kommen damit zum Ziel. Der tief gestürzte Cherub Vassili ist auch ein Engel des Todes. Seine große, von einer göttlichen Unschuld erfüllte Liebe zu Angelo ist die andere Seite des tödlichen, von gegenseitiger Schuld geprägten Hasses auf seine Opfer. Dieser Nachtseite seiner Existenz entflieht Vassili in den gemeinsamen Traum mit Angelo, seinem Engel des Lichts. „Only in dreams you can live for real“, singt Roy Orbison und verspricht damit den verzweifelten Liebenden ihr Paradies, einen Ort, wo sie nichts trennen oder zerstören kann, weder irgendein Freier noch die Polizei. s Unser Paradies von Gaël Morel FR 2011, 100 Minuten, französische OF mit dt. UT Edition Salzgeber, www.salzgeber.de Im Kino G-Filmnacht im März www.gay-filmnacht.de Kinostart: 12. April 2012
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„Das sind echte Helden“ I n t e rv i ew: T hom a s A be ltsh ause r
sissy: „Unser Paradies“ mit seinen schwulen Antihelden erinnert an das amerikanische New Queer Cinema Anfang der Neunziger Jahre. War das ein bewusster Bezugspunkt? Gaël Morel: Ich war es einfach leid, all diese völlig flachen französischen Filme zu sehen, die aussehen wie Fernsehfilme, die Samstagabend auf den Öffentlich-Rechtlichen laufen. Und dann nennt sich das auch noch Autorenfilm! Dagegen wollte ich aufbegehren. Ich wollte einen schwierigen, radikalen Film machen. Aber bewusst beziehe ich mich nicht auf andere Filme, ich zeige einfach eine Welt, die ich kenne. Französische Filme sind traditionell oft sehr naturalistisch und psychologiebetont und es wird gerne von der Gesellschaft geredet. Und das aus einer ästhetischen Perspektive, die mir sehr unpersönlich vorkommt. Ich dagegen wollte das Düstere betonen. Aber mit dem Begriff Antiheld kann ich nicht viel anfangen. Nehmen Sie die Figuren, die Charlie Chaplin in den Zwanzigern spielte oder Marlon Brando in den Fünfzigern. Das waren auch keine Helden im herkömmlichen Sinne. Ich habe an solche Charaktere gedacht. Es ist doch eine Wohltat, einmal ein schwules Liebespaar auf der Leinwand zu sehen, das Straftaten begeht! Sonst werden Schwule immer nur als beste Freunde irgendwelcher Teeniegören oder als knuffige Haustiere dargestellt. Das interessiert doch keinen. Als ich jung war, wollte ich auch lieber River Phoenix und Keanu Reeves in My Own Private Idaho oder Marlon Brando in Die Faust im Nacken sehen als irgendwelche schwulen Abziehbilder in x-beliebigen Coming-outKomödien. Für mich sind diese Figuren echte Helden. Außer Angelo haben in Ihrem Film im Grunde alle Probleme mit dem Älter werden. Beschreiben Sie damit ein gesellschaftliches Phänomen oder treibt Sie das auch persönlich um? Beides. Älter werden wir alle. Aber wir Schwule haben damit vielleicht noch mehr zu kämpfen. Als älterer Hetero wird man für viele Frauen ja erst richtig interessant. Bei Schwulen zählt dann doch eher das Aussehen. Wie nett oder klug jemand ist, tut weniger zur Sache. Da herrscht ein Anspruchsdenken, was körperliche Attraktivität und Jugend angeht, das man kaum erfüllen kann. Man begehrt und verachtet es zugleich. Sie selbst haben bereits 1994 mit Stéphane Rideau in André Techinés „Wilde Herzen“ vor der Kamera gestanden und seitdem immer wieder mit ihm gedreht. Was ist für Sie das besondere an ihm? Und wie haben Sie ihn überzeugt, doch wieder eine schwule Rolle zu spielen? Er ist einfach ein sehr mutiger Schauspieler, mit dem ich gerne zusammenarbeite. Er ist in der französischen Filmbranche eine einzigartige Erscheinung, alleine schon was seine körperliche Präsenz angeht. Er ist sehr frei und aufgeschlossen und hat keine Angst vor Herausforderungen. Ja, es ist eine Schwulenrolle, aber genau damit wollte er auch brechen. Durch Filme wie Sommer wie Winter … wurde er weltweit
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Gaël Morel über seinen neuen Film. Und über Schwule als knuffige Haustiere, die Schwulenikone Stéphane Rideau und seine Filmfamilie, zu der auch Regisseur Christophe Honoré (siehe Seite 25) gehört.
zur Schwulenikone und Objekt der Begierde für Tausende Schwule. Die Rolle des Vassili gab ihm die Chance, sich neu zu positionieren. Es geht dabei weniger darum, wieder einen Schwulen zu spielen, sondern sich auch in seiner körperlichen Reife als Mann Mitte Dreißig mit Bart und Bauch zu präsentieren. Im Abspann des Films danken Sie Christophe Honoré. Was verbindet Sie? Christophe gehört definitiv zu den französischen Regisseuren, die ich am meisten schätze. Ich finde seine Filme interessant und überraschend. Wir arbeiten schon lange zusammen, ich war bereits bei seinem ersten Kurzfilm vor zehn Jahren dabei. Er hat mir dann bei Après lui und Brüder Liebe geholfen. Er ist für mich Filmemacher und Freund. Es ist uns beiden wichtig, dass wir nicht allein dastehen in dieser Branche, wir bilden eine Art Filmfamilie. Dabei ähneln sich unsere Filme noch nicht einmal, aber wir schätzen, was der jeweils andere macht. Und wir würden auch gerne einen gemeinsamen Film machen.
Für Honoré ist auch relevant, dass Sie beide aus der Provinz stammen. Sehen Sie das ebenso? Mit Sicherheit. Wenn man aus der Provinz nach Paris kommt, geht es darum, die fremde Stadt zu erobern, sie sich anzueignen. Und viele, die in Paris geboren wurden, sehen die Besonderheiten dieser Stadt gar nicht. Das verbindet uns. Eine andere Gemeinsamkeit ist sicherlich unsere Radikalität und unser Anspruch, auch wenn unsere Filme grundverschieden sind. Und noch etwas verbindet uns: das enge Verhältnis zum geschriebenen Wort. Wie ich schreibt Christophe seine Drehbücher selbst und wir lesen gegenseitig unsere Texte. Christophe ist mein erster Leser und mein erster Zuschauer. Er gibt Ratschläge und kritisiert ohne jede Herablassung. Das weiß ich sehr zu schätzen. s
Sommer wie Winter … von Sébastien Lifshitz FR 2011, 100 Minuten, deutsche SF, OmU
Full Speed von Gaël Morel FR 1996, 82 Minuten, französische OF mit dt. UT
Brüderliebe von Sébastien Lifshitz FR 2004, 86 Minuten, französische OF mit dt. UT
Auf DVD bei der Edition Salzgeber, www.salzgeber.de
Auf DVD bei Pro-Fun Media, www.pro-fun.de
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andere umstände von M a i k e Sch u ltz
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Das heimische Wohnzimmer als Schutzraum: „Sharayet – Eine Liebe in Teheran“ erzählt von einer Beziehung in den Zwängen des Mullah-Regimes. Das Spielfilm-Debüt von Maryam Keshavarz gewann den Publikumspreis beim Sundance Festival, läuft im März in der L-Filmnacht und kommt am 24. Mai ins Kino.
s Der Übergang ist fließend. Die beiden Mädchen lachen und weinen zusammen, umarmen sich auf dem Schulhof, gehen mit, wenn die Lehrerin eine von ihnen ausschimpft. Sie tuscheln, rauchen und rangeln miteinander. Und dann, eines Nachts, wandert eine Hand unter das Nachthemd der Anderen. Ganz selbstverständlich, so als hätte sie nie etwas anderes getan. Kein Schlüsselerlebnis, kein sexuelles Erwachen findet statt in Sharayet – Eine Liebe in Teheran. Weil das, worum es geht, schon die ganze Zeit da war: Nicht nur Freundinnen, sondern Liebende sehen wir hier flirten und herumtollen. Von Anfang an werfen sich Shirin und Atafeh Blicke zu, die selbst der Mutter nicht entgehen können. „Sharayet“ heißt „Lebensumstand“. Muss man sein Leben den Umständen anpassen, die der Geburtsort einem vorgibt – mit all dessen gesellschaftlichen und politischen Zwängen? Oder siegt der Wunsch nach Freiheit über die Angst, letztlich auch die familiäre Bindung aufzugeben? Für die beiden Schülerinnen Shirin und Atafeh stellt sich diese Frage zunächst gar nicht. In der liberalen Teheraner Oberschicht aufgewachsen, leben sie in einer Art Grauzone: Nach außen hin passen sie sich den strengen Vorsätzen des öffentlichen Lebens an, doch im Untergrund tanzen sie mit anderen Jugendlichen auf illegalen Techno-Partys, sprühen Graffiti und träumen von einer Popkarriere im Ausland. Die US-amerikanisch-iranische Regisseurin Maryam Keshavarz porträtiert in ihrem Spielfilm-Debüt den privilegierten iranischen Mittelstand. Viele Vertreter dieses gebildeten Bürgertums verteidigen ihre private Freiheit mit öffentlicher Anpassung und Geld: In Atafehs Wohnzimmer herrschen weder Kopftuchzwang noch die Gebetsriten des Islam. Und wenn sie doch einmal von der Moral polizei erwischt wird, reicht meist ein Bündel Scheine vom Vater, um deren Schweigen zu erkaufen. Für die Tochter und ihre beste Freundin bildet dieses Umfeld der Liebe und Akzeptanz einen Schutzraum, in dem sie sich sicher fühlen. Wie brüchig die Zuflucht ist, zeigt Atafehs Bruder Mehran: Seine Exzesse und Eskapaden wider die Konvention haben ihn zu einem Drogensüchtigen gemacht, der nach einem Entzug nun ausgerechnet im Glauben Halt findet. Immer radikaler wandeln sich seine Ansichten und irritieren selbst seine durchaus kritischen Angehörigen. Keshavarz’ fiktive Charaktere agieren in einem Spannungsfeld, das angesichts der aktuellen Debatten um das Atomprogramm des iranischen Präsidenten Ahmadinedschad schon beinahe in Vergessenheit geraten ist. Im Juni 2009 wurden Tausende Iranerinnen und Iraner von der so genannten „Grünen Revolution“ erfasst und protestierten auf den Straßen Teherans: Sie warfen dem Regime vor, die Wahlergebnisse gefälscht zu haben. Die Mullahs reagierten mit 11
Härte auf die Demonstranten. Es gab zahlreiche Opfer wie die Studentin Neda Soltani, die durch ihren gewaltsamen Tod zur Ikone der iranischen Widerstandsbewegung wurde. Ein konkretes Ergebnis der Proteste blieb jedoch aus. Wohl auch, weil die Opposition so heterogen ist: Viele sind gegen einen islamischen Gottesstaat, wollen aber auch kein System nach westlichem Vorbild. Shirin und Atafeh wünschen sich das durchaus. Sie vertreten eine Generation junger Menschen, die sich die Regeln nicht mehr von Mullahs diktieren lassen wollen. „Ihr habt uns das doch erst eingebrockt mit eurer Revolution“, macht Shirin ihren Vater im Streit für die eigene Revolte verantwortlich. Gemeint ist jener Aufstand gegen die Monarchie, der 1979 zur Errichtung eines islamischen Staates geführt hatte. Erst danach wurden die Frauenrechte so stark beschnitten, wie Atafeh es nun täglich zu spüren bekommt. Nicht einmal alleine Taxi fahren kann sie, ohne gleich für eine Prostituierte gehalten zu werden. Mit ihrer rebellischen Art erinnert sie an eine andere berühmte Figur aus Teheran: Die Comic-Heldin in Marjane Satrapis autobiografischer Erzählung Persepolis. Auch sie erzählt von den Umbrüchen der Islamischen Revolution. Und genau wie Satrapi ist auch Keshavarz zwischen den Welten aufgewachsen. Die Schulzeit verbrachte sie in New York, die Sommermonate in Shiraz. Das Drehbuch zu Sharayet entwickelte sie aus dieser Erfahrung, orientierte sich bei ihren Figuren an eigenen Bekannten und ließ sie von einem Schauspieler-Ensemble verkörpern, das nur aus Emigrierten besteht. In Sharayet ist es Atafehs Cousin Hossein, der in Amerika studiert hat und nun mit Befremden auf die eigene Heimat schaut. Mit seinen Freunden will er den Film Milk synchronisieren, der als Hollywood-Porträt eines schwulen Bürgermeisters in Teheran nur unter der Ladentheke verkauft wird – vor allem aber will Hossein damit „eine ernsthafte Diskussion entfachen“. „Politik hat wenig Romantisches“, entgegnet ihm eine desillusionierte Shirin. Als Kind zweier Gelehrter, die wegen revolutionärer Schriften zum Tode verurteilt wurden, steht sie unter besonderer Beobachtung. Shirin wächst bei ihrem Onkel auf, der sie so schnell wie möglich verheiraten will. Sie ist diejenige, die immer wieder vom Auswandern spricht. Und doch ist es auch ausgerechnet sie, die sich letztlich am schwersten aus der Bindung ihrer Ersatzfamilie, nämlich der von Atafeh, lösen kann – vielleicht, weil sie diese nicht noch einmal verlieren will. Um ihrer Geliebten nahe zu sein, gibt sie dem Werben von Atafehs Bruder Mehrat nach. „Ich habe das nur für dich getan“, erklärt sie der sichtlich leidenden Schwester 12
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ihre Entscheidung. Für Shirin ist auch dieser Übergang fließend, denn an ihren heimlichen nächtlichen Besuchen hat sich nichts geändert. Ihre Ehe ist eine Farce, eine weitere öffentliche Anpassung, um ihr Privatleben zu schützen. Doch mit dem drängenden Gatten ist auch die Leichtigkeit aus diesem Mikrokosmos gewichen. Und umso schwerer fällt es den Frauen, den Druck von außen fernzuhalten. Ob sie streiten, warten oder einsam ins Leere starren – immer wieder sehen wir die Darsteller in den körnigen Aufnahmen einer Überwachungskamera. Was zunächst wie ein Regie-Stilmittel wirkt, das die Kontrolle durch den Staat visualisieren soll, entpuppt sich jedoch als realer Beobachtungsapparat. Längst hat das Regime die Familie in Gestalt eines religiösen Fundamentalisten unterwandert. Es ist Mehran, der sich an seinem Computer in Atafehs Schlafzimmer klickt. Wie aus diesem vertrauten, am eigenen Freiheitsstreben gescheiterten Bruder ein
Bösewicht und Konkurrent um die große Liebe wird, ist sicher eine der interessantesten Wendungen des Films. Niemand kann darin der Zerstörung entkommen, auch nicht der Intrigant selbst. Sehenden Auges läuft Mehrat in sein Unglück mit einer Frau, die auch patriarchalisches Machtgehabe nicht umpolen kann. Und sitzt mit in der Falle, die er selbst gebaut hat. „Ich hoffe, der Zuschauer hat genauso viel Mitleid für den Gefängniswärter wie für den Inhaftierten“, sagt Maryam Keshavarz über diese Parabel, die ihr ihm beim Sundance Film Festival 2010 zurecht den Publikumspreis einbrachte. Die Problematisierung von Homosexualität ist darin nur ein Aspekt der Sehnsucht nach einem selbstbestimmten Leben. Für sie findet Keshavarz viele Projektionsflächen: Hollywood etwa, auf das die Jugendlichen mit hartem Alkohol anstoßen, dessen Filme sie bewundern und dessen Traumbilder Pate standen für eine erotische Fantasie, in der
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Shirin und Atafeh sich in einer Villa am Meer lieben. Dabei bleiben die beiden stets in ihrer Kultur verhaftet. In ihren tatsächlichen Fluchtplänen ist das Ziel weit weniger westlich, sexuelle Unabhängigkeit glauben sie auch im vermeintlich weltoffenen Dubai zu finden. Die eine als glitzernder, singender Bauchtanzstar, die andere als ihre Managerin in dunklen Nachtclubs. Selbst ein Emirat, in dem Schwule und Lesben mit Haftstrafen und Ausweisung rechnen müssen, erscheint den Iranerinnen schon als paradiesische Verbesserung. In ihren Tagträumen können sie sich auflösen, frei sein – und immer wieder in der Musik. In Sharayet fungiert sie als eine Art Geigerzähler der Emotionen. Traditionelle arabische Weisen, wie sie Shirins Familie an gesellschaftlichen Abenden anzustimmen pflegt (auch die Frauen, die das öffentlich nicht dürfen); der iranische HipHop im Autoradio der Taxifahrer; die TV-Castingshow, in der die Kandidatin „Total Eclipse of The Heart“ singt; Atafehs Eifersuchts-Amokfahrt, begleitet von Le Tigres „Deceptacon“. All das sind Puzzleteile einer Protestkultur, die sich gegen ein permanentes Klima der Bedrohung, harten Strafen und Unterdrückung richtet. Seit einem Jahr flimmert sie uns wieder auf den Fernsehbildschirmen entgegen, blutig, verbreitet sich dank sozialer Netzwerke über das Internet und stürzt in anderen Ländern bereits Diktatoren: Als Motor der Arabellion. s
Gute Filme. Neu auf DVD! Überall im Handel und auf www.goodmovies.de
Mein Sommer mit Mario Zwei Kinder, ein Mädchen und ein Junge, während eines gemeinsamen Sommers: Jorgelina lernt Mario kennen, mit dem sie durch die Gegend streift und die freie Zeit genießt. Plötzlich jedoch merkt sie, dass bei Mario manches anders ist als bei den anderen Jungen…
Weekend Russell lernt eines Tages Glen kennen. Nach zwei gemeinsamen Nächten merkt Russell: er hat sich verliebt in einen, der Liebe nicht braucht, nicht will und obendrein das Land verlassen wird. Zumindest seine Liebe gestehen will er, und trifft Glen am nächsten Tag am Bahnhof…
Gianni und die Frauen Frührentner Gianni lebt seine Tage im schönen Rom im immergleichen Trott von Besorgungen und Gefälligkeiten für andere. Bis ihm plötzlich eines Tages ein Freund die Augen öffnet: Auch in seinem Alter gibt es genug attraktive Frauen, Zeit für Spaß, Sex… Das lässt sich Gianni nicht zwei Mal sagen und macht sich daran, sein Leben zu ändern!
Sharayet – Eine Liebe in Teheran von Maryam Keshavarz USA/F/IRA 2010, 105 Minuten, farsische OF mit dt. UT Edition Salzgeber, www.salzgeber.de Im Kino L-Filmnacht im März www.l-filmnacht.de Kinostart: 24. Mai 2012
Persepolis von Vincent Paronnaud und Marjane Satrapi FR 2007, 91 Minuten, französische OF, deutsche SF Auf DVD bei Universal/Prokino, www.uphe.de
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Texas liegt am Meer von Pau l Sch u lz
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Bavo Defurne hat zehn Jahre gebraucht, um mit „Nordzee, Texas“ seinen ersten Spielfilm fertigzustellen. Das Warten hat sich gelohnt, denn die zarte Geschichte über die erste Liebe von zwei Jungen ist ein echter Kinotraum geworden. Kinostart ist am 10. Mai, im April kann man ihn bereits in der GayFilmnacht träumen.
s „Über Filme zu sprechen heißt über Träume zu sprechen, weil beide so viel gemein haben: Jahre vergehen in Sekunden und man springt räumlich frei assoziierend von einem Ort zum anderen. Beide sprechen in Bildern zu uns. Und in wirklich guten Filmen hat, genau wie in Träumen, jeder Gegenstand und jeder Lichtstrahl eine Bedeutung“, behauptet Fellini. Der gute Federico. Der eitle Fatzke. Darunter macht er es nicht: Das Kino, ein Traum. Er, ein Träumer für die Welt. Bavo Defurne hängt sein Licht da ein bisschen tiefer: „Ich mag Dialoge nicht besonders, weil ich in Bildern denke. Deswegen wird in meinen Filmen wenig gesprochen. Wenn ihnen deswegen eine traumhafte Qualität zugesprochen wird, freut mich das. Aber ich kann gar nicht anders.“ So geht es auch: Der Filmemacher als ein in seiner Ästhetik beschränkter Bilderbauer. Dabei hätte Defurne so viel Bescheidenheit gar nicht nötig. Er ist erst knapp 40 und wird doch jetzt schon weltweit gefeiert. Der junge Meister hat nach neun Kurzfilmen in zehn Jahren weitere zehn Jahre gebraucht um seinen ersten Spielfilm Noordzee, Texas fertig zu stellen. Seit 2000 hat er daran gearbeitet. Und es hat sich gelohnt. Bavos erster langer ist ein wunderbarer Film geworden, was nicht überrascht, kennt man sein Werk. Denn wenn man Fellinis Traumthese ernst nimmt, gibt es derzeit kaum einen größeren und besseren Träumer als Defurne im europäischen Kino: Farben, Licht, Stimmungen, Blicke, daraus baut er, seit er Anfang Zwanzig ist, eine ganz eigene, immer größer werdende Welt, die Zuschauern doch merkwürdig vertraut ist, weil sie den nächtlichen Bildern in ihrem Kopf nicht unähnlich ist. Und weil sie einen genauso anfasst. Das Grundgefühl in Defurnes Werk ist, auch wenn er das vielleicht nicht gerne hört, der Wunsch danach, die Welt durch Liebe zu heilen. Es geht immer um Schmerz und die Möglichkeit, dass er irgendwann aufhört, um Sehnsucht und den Wunsch danach, dass sie gestillt werden möge, um Schönheit und die wahnwitzige Vorstellung, sie könnte von Dauer sein. Schwule Träume eben. Ein großer Künstler ist er, weil er ein großartiger Querdenker ist und seine technischen Limitierungen zu filmischen Möglichkeiten macht: Wenn er sich kein anständiges Mikrofon leisten kann, wird dann eben gar nicht gesprochen, wenn man kein Geld für Schauspieler hat, arbeitet man mit talentierten Laien, wenn man alles an einem Film selber 15
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machen muss, entwickelt man „eine erotische Beziehung zum Filmmaterial, dessen Handhabung auch erregen kann.“ Er ist nicht mit Absicht kompromisslos, er kann einfach nicht anders. Federico weiß: „Es geht bei Film nicht so sehr um metaphysische Dinge wie Inspiration oder einen Kunstbegriff, es geht um Handwerk. Was wir erzählen, ist weniger entscheidend als das Wie. Ein Filmemacher muss sein Medium beherrschen, nicht umgekehrt.“ Jaja. So kann man vielleicht daherreden, wenn einem ganz Cinecittà zur Verfügung steht und die Welt einen mit Geld bewirft, sobald man ein Exposé fertig hat. Wenn man, wie Defurne, in Belgien Filme macht, muss man sich bescheiden. „Die Finanzierung für dieses Projekt auf die Beine zu stellen hat viele Jahre gedauert. Schließlich ist es mein erster langer Film. Und der Casting-Prozess war anstrengend, weil es erstens nur wenige Schauspieler gab, die überhaupt für die beiden Hauptrollen in Frage kamen und von denen dann wiederum viele diese Rollen nicht spielen wollten oder durften. Es gab einen Jungen, dem sein Vater gesagt hat, er dürfe keine anderen Jungen küssen, nicht mal für einen Film.“ Sowas passiert 2010 in einem der liberalsten Länder Europas. Man stelle sich vor, Giulietta Masinas Vater hätte ihr gesagt, sie dürfe nicht in La Strada mitspielen, weil sie sich dabei dreckig macht. Das ist nicht lustig. Geküsst wird jetzt in Noordzee, Texas aber trotzdem, Jungs küssen andere Jungs, und zwar reichlich. Eines von Defurnes Dauerthemen ist, wie ganz junge Männer ihre Sexualität entdecken. Das hat er mit anderen Filmemachern wie Gregg Araki gemeinsam. Im Gegensatz zu Araki geht es aber nicht um Sexualität als entspannte Freizeitgestaltung. Bei Defurne riskiert man immer gleich das Kippen der Welt, das ein Kuss mit sich bringen kann. Man ist ein anderer danach, für sich und oft auch für die anderen. Die Welt, die in Noordzee, Texas kippt, ist die von Pim, der mit seiner Mutter Yvette in einem windschiefen Haus in einem kleinen Ort an der Nordseeküste wohnt, demselben Kaff, in dem auch Defurne aufgewachsen ist. Yvette ist Akkordeonspielerin und benimmt sich wenig mütterlich. „Willst du wieder die ganze Nacht zeichnen? Normale Jungs sind in deinem Alter mit ihren Freunden unterwegs!“, belehrt sie ihren 15-jährigen, strohblonden Sohn. „Und normale Frauen schlagen sich in deinem Alter nicht mehr die Nächte in Kneipen um die Ohren“, antwortet der Sohn. Yvette ist eine fröhliche Schlampe. Und laut. Vielleicht ist ihr Kind 16
deswegen so still. Sein bester Freund ist drei Jahre älter, heißt Gino und ist genau so, wie man sich jemanden vorstellt, der Gino heißt: Wildes schwarzes Haar über glühenden Augen, Lederjacke, Motorrad, kranke Mutter, die er sehr liebt, um die er sich aber wenig kümmert. Außerdem hat er eine Schwester, Sabrina. Sie ist ziemlich in Pim verliebt. Der merkt davon nichts, denn er hat nur Gino im Kopf, und wenn sie nachts im Zelt am Strand alleine sind oder mit dem Motorrad an einen abgelegenen Küstenstreifen fahren, hat er Gino auch noch ganz woanders. Jelle Florizone als Pim und Mathias Vergels als Gino sind ein hinreißendes Paar und Defurne gestattet ihnen nach allerlei Scherereien (eine Mutter rennt mit einem jungen Mann vom Rummelplatz weg, die andere stirbt, Gino hat zwischendurch eine Freundin, etc.) sogar ein angedeutetes Happy End. Was eher untypisch für ihn ist und daran liegen mag, dass er sich Noordzee, Texas nicht alleine ausgedacht hat. Der Film basiert auf dem Jugendbuch „Nooit gaat dit over“ von André Sollie. „Ich wollte diesen Film unbedingt machen, nachdem ich das Buch gefunden hatte. Und dazu gehörte auch das Ende. Ich finde es gut, dass es zum Schluss Licht am Ende des Tunnels gibt und man zwar im Zweifel, aber hoffnungsfroh entlassen wird“, erklärt Defurne in Interviews. Er wird eben auch älter und vielleicht auch ein bisschen glücklicher. Oder schlicht selbstbewusster. Denn Noordzee, Texas hält, was seine Kurzfilme seit vielen Jahren versprechen: Hier findet jemand zu seinem ganz eigenen Stil. Wo der Auteur in seinen Kurzfilmen noch Anleihen bei so unterschiedlichen Vorbildern wie Dreyer, Eisenstein, Leni Riefenstahl oder dem Fotografenpaar Pierre et Gilles erkennen ließ, mit denen er lustvoll spielte, ist sein erster Spielfilm nun ein in sich geschlossenes ästhetisches Universum, das eine völlig originäre Sprache hat. Deren Quelle ist eine gewisse Zeitlosigkeit. Von Kostümen über die Frisuren und Orte bis zum Licht ist man sich nie sicher, in welchem Jahr der Film denn nun spielt, Anfang der 70er, heute, irgendwo dazwischen? Ein gewollter Kunstgriff. „Wir haben nicht versucht, den Film zeitlich genau zu verorten, sondern uns eher überlegt, was man heute noch tragen, sagen oder tun würde.“ Der Effekt ist berauschend: Als Zuschauer betritt man eine Welt, in der zwar Referenzen an eine bestimmte Periode auftauchen, ist aber bei den Konflikten der Figuren immer hautnah dabei, weil man sie eben nicht historisieren und so von sich wegschieben kann. „Unsere Jungend,
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irgendwann in den letzten Jahren“, so beschreibt es Defurne selbst. Der Film scheint aus der Zeit gefallen und an jedem Ort, an dem es Meer gibt, spielen zu können. Wie in Träumen oder im Märchen, aber eben so, dass man nicht umhin kommt, die Parabel auch auf sich zu beziehen. Noordzee, Texas ist nicht Die fabelhafte Welt der Amélie, aber schon eher dem französisch magischen Realismus verhaftet als deutschen Sozialdramen, in denen nicht weniger, aber viel ernsthafter geschwiegen wird. Das ist bei Defurne immer so, weil all seine Protagonisten, vom heiligen Sebastian zu jungen Männern an Lagerfeuern, diese lose Perspektive zulassen. Schließlich befinden sich alle seine Charaktere auf einem Gleis irgendwo zwischen kindlicher Naivität und dem Ernst des Lebens. Dem Ort also, wo wir darauf hoffen, dass irgendjemand, zum Beispiel wir selbst, am richtigen Hebel zieht und es dann ab geht in eine schönere Zukunft, von der aus wir gelassen und voller sentimentaler Erinnerung auf die Zeit zurückblicken können, in der wir uns gerade befinden. Was nicht heißen muss, wir hätten gerade keinen Spaß. Defurne versteht es wie viele große schwule Regisseure vor ihm, seine schwebende Weltsicht durch seine Frauenfiguren zu verankern. Wie die wunderbare Eva van der Gucht ihre gesamte, beachtliche Körperlichkeit benutzt, um Pims Mutter Yvette eben nicht zu einem Monster zu machen, das letztendlich ihr Kind sitzen lässt, sondern zu einer Frau, die so viel mehr vorhat, als zu Hause herumzusitzen und auf den Tod zu warten, wie Katelijne Damen als Ginos Mutter Marcella ihr immer kleiner werdendes Lebenslicht nur aus ihren müden Augen hell scheinen lässt, wie Nina Marie Kortekaas ihrer Sabrina trotz deren enttäuschter Liebe keinerlei Bitterkeit mitgibt, dass alles braucht und hat einen Regisseur, der Frauen als mehr betrachtet, als als Stellschrauben für die Liebesgeschichte seiner beiden jungen Helden. Und das ist ein feministisches Fest, wie es im Kino in dieser leichtfüßigen Komplexität selten eines zu sehen gibt. Keine weiblichen Abziehbilder wie bei Ozon, echte Frauen in echten Körpern in einer traumhaften Umgebung. Bleibt noch der Sex. Der schwierig sein könnte, wenn man ihn ironisieren würde, oder anstrengend, wenn er zu voyeuristisch betrachtend inszeniert wäre. Aber auch hier macht Defurne wirklich alles richtig. Die erste Liebe zwischen Pim und Gino ist tapsig, ungeschickt, gierig und wird an den passenden Stellen ausgeblendet, weil sie sonst die Erzählung beschädigen würde. Auch die sexuelle Überinszenierung einiger seiner früheren Filme, die auch eine Scham im Umgang mit Körpern bedeuten kann, löst sich in Noordzee, Texas in liebevolles Wohlgefallen auf. Auf Defurnes nächsten Film werden wir wohl nicht wieder zehn Jahre warten müssen. Souvenir befindet sich, nachdem Noordzee, Texas ein weltweiter Festivalerfolg ist, schon in der Produktion. Er erzählt die Geschichte einer ehemaligen Teilnehmerin am Grand Prix de la Chanson, die sich mit Anfang 50 in einen 18-jährigen Boxer verliebt. Ein Traum, oder? Wir können es kaum erwarten. s
Noordzee, Texas von Bavo Defurne BE 2011, 94 Minuten, flämische OF mit dt. UT Edition Salzgeber, www.salzgeber.de Im Kino Gay-Filmnacht im April www.gay-filmnacht.de Kinostart: 10. Mai 2012
Kurzfilme von Bavo Defurne BE 1995–2000, 94 Minuten, flämische OF mit dt. UT Auf DVD bei der Edition Salzgeber, www.salzgeber.de
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Geschlechterriten im Präliminarfrieden von Bi ru Dav id Bi n de r
Die zehnjährige Laure ist mit ihrer Familie umgezogen und nutzt die Chance, sich ihren neuen Freunden als „Michael“ vorzustellen. Die meisten halten sie ohnehin für einen Jungen. Céline Sciammas („Waterlilies“) zweiter Spielfilm „Tomboy“ erhielt auf der 2011er Berlinale den Spezialpreis der Teddy-Jury, kommt am 3. Mai ins Kino und läuft vorab in der April-Ausgabe der L-Filmnacht.
s „Du bist nicht wie die andren …“, stellt Lisa (Jeanne Disson) in einer Mischung aus Ernst, Überraschung und Anerkennung fest, als sie mit dem neuen Nachbarsjungen Michael (Zoé Heran) am Rande des Fußballfeldes steht. „Ich spiele nicht, ich schaue lieber zu …“, hatte der zuvor gesagt. Für den zweiten Kinofilm nach ihrem Debut Naissance des pieuvres (Wasserlilien) im Jahr 2007 ging die 1978 geborene und in einem Pariser Vorort aufgewachsene Regisseurin und Drehbuchautorin Céline Sciamma gleich mehrere vermeintliche Schritte zurück: mit 18
einem Budget von mickrigen 500.000 Euro, einer 15-köpfigen Crew, in einem Zwanzig-Tage-Dreh im August 2010, nachdem sie das Skript Ende März des selben Jahres begonnen hatte. ‚A philosophy‘, nannte Sciamma diese Radikalität ihres Projektes Tomboy, die dem Mythos vom zweiten und schwersten aller Filme einer Regiekarriere ein Schnippchen schlagen solle. Also vier zurück, um acht Schritte vorangekommen zu sein? Tomboy ist ein Film, der mit einer Handvoll von Erwachsenen in Nebenrollen auskommt – ob’s deshalb ein „Kinderfilm“ ist, sollten Kinder
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selbst entscheiden (dürfen). Und deshalb ergo wohl eher fünf Schritte zurück in einer auf Erwachsene(nrollen) fokussierten (Film-)Welt. Dabei ist Sciammas Regiearbeit, aber vor allem das Spiel der Kinder so atemberaubend, dass sich einem die Armhärchen aufstellen vor Erinnerung oder Schreck, ihnen beiwohnen zu dürfen und qua dieser Reaktion ein wenig schmerzhaft und schmollend erkennen zu müssen, wohl eben das: kein Kind mehr zu sein. „Das Kind“ – im Deutschen ein Neutrum – mag mensch sich bei Tomboy besinnen, hat zuvorderst keinen Schnipsel eines irgendwie „natürlich“ gearteten Bezugs zu den Erwartungen seiner nicht-kindlichen Umwelt an sein Verhalten aufgrund eines ihm bei der Geburt zugewiesenen Geschlechts. „Das Kind“ verhält sich zuvorderst wie’s ihm gefällt und mag damit, o glücksversprechender Zufall, ebensolchen Erwartungen gerecht werden, wofür es zumeist wiederholt und ausgiebig belohnt wird. Wurde „das Kind“ – so in Tomboy – von seinen Eltern Laure genannt, lautet demnach die Vereinbarung der allermeisten (Nicht-Kinder): Das Kind Laure hat sich Laure zu nennen und als Mädchen zu erkennen zu geben. Wie aber nur, wenn das Konzept „Mädchen“ dem Kind erst einmal so abstrakt ist wie, sagen wir, „Kapitalismus“? Nennt sich dieses Kind namens Laure aber selbst Michael und nennt es sich nicht „Mädchen“ vor den anderen Kindern, dann gibt’s Ärger mit, sprich: Bestrafung durch seine nicht-kindliche Umgebung. Wie sehr dieses etwas stumpf-simpel anmutende Belohnungs-/ Bestrafungsgebaren selbst bei Zehnjährigen bereits verinnerlicht sein kann und reproduziert wird, so und so sehr, dass diese selbst die an ihnen verübten oder zumindest vorgelebten Bestrafungsmechanismen an Gleichaltrigen ausüben, auch dies zeigt Tomboy in einer seiner grausamsten Sequenzen. Was aber soll das ganze „Spiel“ der nicht-kindlichen Umgebung? „Ich muss das tun!“, behauptet die Mutter (Sophie Cattani) Michaels/Laures, nachdem sie ihn in ein Kleid gezwungen und zur Nachbarschaft gezerrt hat, um in seiner Anwesenheit vor ausgesuchten Müttern mit ihren jeweiligen Kindern im von Foucault so eingehend beschriebenen, vorbildlichsten Sinne nicht etwa nur zu sagen, sondern zu gestehen, dass ihre Tochter ein Mädchen sei und sie keinen Sohn namens Michael habe [ah, zwei weiße Schimmel?]. Nee, klar … Was offenbar wird in diesen Sequenzen, ist eben nicht die „story of a lie“ als die Sciamma ihren Film zusammenfasste. Geschlecht „muss“ überhaupt und hier ganz konkret offensichtlich zurechtgerückt und „klar“ gestellt werden, damit es „wahr“ wird, damit die basale (kindlich-)geschlechtliche Tendenz zur Uneindeutigkeit vermeintlichen Eindeutigkeiten von Mädchen/Junge und richtig/falsch zugeführt werden kann. Gibt es sie, die Geschichte einer „Lüge“ in Tomboy? Wessen Lüge ist das? Gibt es sie, die „wahre“ Geschichte? Falls ja, wessen Geschichte ist das? An dieser Stelle gesteht der Autor freimütig ein, sich für den Part der Mutter Michaels/Laures aufs Unangenehmste fremdgeschämt zu haben. Die mit einem weiteren Male in einer Ohrfeige physisch werdende Gewalt der Mutter wirft die Frage auf: Wie groß muss die Angst dieser Mutter gewesen sein? Womöglich panischen Ausmaßes, sei es aus Angst um ihr Kind, vor ihrem Kind und seiner „Tat“, vor deren Zeugen, vor sich selbst oder
einer Gemengelage aus der Summe mindestens dieser einzelnen Teile. Die zur Herrschaft erstarrte, in physische Bestrafung geronnene (Ohn)Macht (im Angesicht) der binären Geschlechterordnung wird hier beispielhaft greifbar. Da wird auch nichts versöhnt durch einen Mutter-Liebesschwur samt „Ist doch für mich total okay, wenn du dich jungenhaft benimmst!“. Denn: Ist dieses erzwungen inszenierte Geständnis gleichermaßen „total okay“ für Michael? Ist tatsächlich kein anderer Umgang mit einem Kind denkbar, das offenbar erfolgreich (siehe
Die Geschichte eines geschlechtereigenwillig agierenden Kindes auch die ersten fast 15 Minuten für die Zuschauenden) wie glücklich als Michael über einen Sommer lang lebt? Mysteriös erscheint der filmtitelgebende Ausdruck „Tomboy“ selbst, auf den sich der Autor noch nie einen Reim machen konnte, auch nach diesem Film nicht – ein Tomboy, ein JungeJunge also? Noch mysteriöser wird der Ausdruck, denkt mensch an sein vermeintliches Pendant „Sissyboy“ – der Referenzpunkt scheint auf Gedeih und Verderb der Junge zu sein. Warum dann im ersten Fall nicht Tomgirl, wenn das (angebliche) Girl ein „falscher (?) Tom“ ist oder sein mag? Das kann sich kaum ein „Girl“ ausgedacht haben … Ganz grantig konsequent weitergedacht, mag der Begriff „Tomboy“ (und nicht Tomgirl) dann auf Tomboys Michael zutreffen, der spielt zwar „Mädchen“ mit Lisa und ganz famos Fußball mit den Jungs, nur Michael, den spielt er nicht. Durch Tomboys bewussten und auf diese Weise wohl bislang einzigartigen Fokus auf die Geschichte eines geschlechtereigenwillig agierenden Kindes (und, möchte mensch hinzufügen, seiner Schwester Jeanne, hinreißend gespielt von Malonn Lévana) wird eine Offenheit an Interpretationsfläche gespannt, die sich jeglichem Schablonieren in ‚weibliche Hete auf Abwegen‘ versus ‚Butch-Lesbe‘ versus ‚Trans*‘ konsequent zu entziehen vermag. Die Hauptdarstellerin Zoé Heran, die laut Sciamma vor ihrer Rolle in Tomboy selbst mit ihren langen Haare Schwierigkeiten hatte, aufgrund ihrer Ausstrahlung gebucht zu werden, erhielt in New York den Newfest Best Actress Award [sic!]. Und doch: Das Film-Ende erscheint banal-feige und wird aufgrund der impliziten Entlassung der Zuschauenden in die Harmlosigkeit einer kindlichen „Sommerlüge“ die Angepasste(re)n, die rar Zweifelnden und die Gewalt des binären Geschlechterdispositivs leugnenden Gemüter auf- und ausatmen lassen. Auf den zweiten Blick erscheint die letzte Szene vielleicht aber als das, was sie wohl ebenso sein mag: als ein Präliminarfrieden. Denn, gezeigt zum Beispiel in Klassenzimmern, wird sich vielleicht die ein oder andere Stimme erheben und daran erinnern, dass die Hauptfigur erst zehn Jahre alt ist und darum gewiss geneigt, der Mutter hinterherzuplappern, was Muttern gefällt, denn ohne Ohrfeigen lebt’s sich schlicht unbeschwerter, ganz gleich welchen Geschlechts. Ob’s beim Hinterherplappern der Perlen mütterlicher Weisheit bleibt, ist wohl mehr als ungewiss. s
Tomboy von Céline Sciamma FR 2011, 82 Minuten, dt SF Alamode, www.alamodefilm.de Im Kino L-Filmnacht im April www.l-filmnacht.de Kinostart: 3. Mai 2012
Water Lilies von Céline Sciamma FR 2006, 81 Minuten, französische OF mit dt. UT Auf DVD bei Pro-Fun Media, www.pro-fun.de
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Siehe da: ein Penis! von Pau l Sch u l z
s Als ich noch Protestant war, so mit fünf, habe ich mich immer darüber gewundert, wie wenig Jesus meistens anhat. Links vom Taufbecken in unserer Dorfkirche hing ein Bild von seiner Geburt, auf dem Mama Maria den fröhlichen Säugling (später Weltenretter) so festhält, dass sie ihm dabei auf den Bauch drückt. Von meinen winzigen Cousins wusste ich schon: keine gute Idee. Nachdem dir ein grinsender Cherubin mal mit voller Wucht in dein interessiertes Kindergesicht gestrullt hat, lernst du ganz schnell, dass man Babys am Kopf und am Po, aber nicht in der Mitte anfasst. Nachdem ich einige langweilige Predigten damit zugebracht hatte, mir vorzustellen, wie Gottes Söhnchen sich vor der versammelten Gemeinde in hohem Bogen ins Taufbecken entleert und danach seine Mutter triumphierend anguckt, fiel mir auf: der Kleine war nackt, im Dezember, in Judäa: Maria war eine ganz schlechte Mutter. Nachdem ich unseren Pfarrer darauf aufmerksam gemacht hatte, bekam ich die Auskunft, das hätte schon Gründe, dass Jesus nichts anhat, ich würde das, wenn ich groß wäre, schon verstehen. Und so geschah es auch. Denn kaum 15 Jahre später, erklärte mir ein Professor für Kunstgeschichte in einem Seminar, das einer Predigt nicht unähnlich war, dass es sehr wichtig sei, dass man Jesus’ „Männlichkeit“ sähe, nur so würde seine Menschwerdung veranschaulicht. Erwachsene Engel beispielsweise hätten, genau wie Barbies, keine primären Geschlechtsmerkmale. Der Sohn Gottes sei da anders. Er käme, um die Welt in Menschengestalt zu erlösen: „Und siehe da, ein Penis.“ Ähnlich scheinen die Macher amerikanischer Sex-Comedys ihre Protagonisten zu sehen: Niemand scheint wirklich schwul zu sein, bevor er sich nicht untenrum frei macht. Angefangen damit hat 2004 Q. Allan 20
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Müssen schwule Männer erst ihre Hosen ausziehen, um sich zueinander bekennen zu können? Ein kulturtheoretischer Diskurs über den Schwanz als Merkmal der Menschwerdung am Beispiel der Sexcomedy „Longhorns“ (Gay-Filmnacht im Mai).
Brocka in Eating Out, einer Reihe, die seitdem in sechs (!) fröhlichen Teilen postuliert: Zeig mir deinen Schwanz und ich sage dir, was du bist. Der aktuelle Beleg für diese Maxime heißt Longhorns, was sich entweder lose mit „Büffel“ oder als Vorschlaghammermetapher mit „Langhörner“ übersetzen lässt. Erzählt wird die komplett nebensächliche, aber amüsante Geschichte von Kevin, der in den 1980ern an einem amerikanischen Provinz-College sein Coming-Out hat, weil er sich ganz furchtbar in einen Mitstudenten verliebt. Auf der Flucht vor seinem wahren Ich, zieht er sich kurzzeitig mit zwei Freunden auf eine Ranch im Nirgendwo zurück und masturbiert sehr unterhaltsam. Es gibt die üblichen Sprüche, die üblichen Komplikationen, und das filmemacherische Niveau der Angelegenheit liegt nicht spürbar über, aber auch nicht unter dem von Porgys oder American Pie, nur eben in schwul. Wer das subversive Potential dreckiger Witze schätzt, und wer täte das nicht, hat sehr unterhaltsame anderthalb Stunden mit Longhorns. Nur die Anzahl der gezeigten Schwänze liegt eben deutlich über dem ähnlich gelagerter heterosexueller Kost. Die Frage ist: Warum? Ich wage zu behaupten: Das ist wie bei Jesus. Schwule Sexualität, deren Ausleben enormen Anteil an der selbstbewussten Menschwerdung jedes schwulen Mannes hat, ihn eigentlich erst zu dem werden lässt, was er ist, und mit ihr das offensichtliche Begehren eines baugleichen Körpers, lässt sich eben am besten darstellen, indem man einen Schwanz zeigt oder zwei. So retten wir uns selbst die Welt, ganz ohne Hilfe von oben. Das ist bei Heteros nicht nötig, Küsse, okay, Hände, feine Sache, Ärsche, selbstverständlich, Brüste, wenn ihr euch das traut, aber Schwänze? Fehlanzeige. Man muss das gesellschaftlich dominierende Steckspiel nicht mehr en detail erklären, es
ist in den letzten 5000 Jahren millionenfach erläutert worden. Für das sexuelle Vergnügen der Minderheit gilt das nicht. Und für Mainstreamschauspieler auch nicht. Jeder volle Frontalauftritt eines männlichen Stars lässt das Internet für ein paar Tage erzittern und es gibt Bücher, Webpages und jede Menge notgeiler Nerds, die sich mit nichts weiterem beschäftigen, als dem kanonischen Erfassen jedes künstlerisch gerechtfertigten Untenohne männlicher Darsteller. Und das ist gut so. Denn die scheinbar nutzlose und nur der Erotisierung des Publikums hinterhergeiernde Sexszene in schwulen Filmen ist eine echte Notwendigkeit. Weil der schwule Mann nach Ansicht vieler Filmemacher wohl wirklich erst dann zum schwulen Menschen wird, wenn er sich zu seinem Penis und dem anderer Männer bekennt, ihn betrachtet und offen begehrt. Und wenn Schwule in ihren 30ern jesusgleich nur in eine Windel gehüllt an Kreuzen hängen, ist das freiwillig und eine zutiefst gottlose Angelegenheit. Longhorns fügt diesem zutiefst freiheitlichen Gedanken fünf weitere Belege hinzu. Und das ist doch prima. s
Longhorns von David Lewis US 2011, 74 Minuten, englische OF mit dt. UT Edition Salzgeber, www.salzgeber.de Im Kino Gay-Filmnacht im Mai www.gay-filmnacht.de
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Komm her, geh weg! von Rich a r d Ga r ay
Mit der vielfach ausgezeichneten lesbischen Altersromanze „Hannah Free“ machte die Regisseuren Wendy Jo Carlton 2009 auf sich aufmerksam. Mit ihrem neuen Film „Jamie und Jessie sind nicht zusammen“ wagt sie sich auf leichteres Terrain und erzählt die Geschichte einer besonderen Freundschaft, die viel zu eng für Gefühle ist. Im Mai läuft der Film in der L-Filmnacht.
s Zu viel Nähe kann ganz schön unangenehm sein. Mir war z.B. neu, dass es im Amerikanischen den Begriff „close talker“ für Menschen gibt, die einem beim Reden zu nahe rücken („one who leaves little space in face-to-face chatter“, Urban Dictionary). Einander genug Raum lassen – das ist ohnehin nicht die Stärke von Close-Talkerinnen Jamie und Jessie, die sich in Chicago ein Apartment teilen. Jessie denkt, dass sie eigentlich in Jamie verliebt ist. Aber wie soll Liebe entstehen, geschürt und schließlich gestanden werden, wenn man die Mitbewohnerin sogar an der eigenen Wäsche riechen lässt, um zu entscheiden, ob ein Waschgang nötig ist? Was einem so nah ist, kann nicht mehr erobert werden. Ok, wir sind unter kreativen, hübschen, intelligenten Indie-Mädchen in Chicago, die sich zugute halten, ziemlich neurotisch zu sein. Die sich grundsätzlich zu nah sind und immer im entscheidenden Moment auf Abstand gehen. Die Angst vor Spinnen haben, allergisch auf Gras (also den natürlichen Bodenbelag) reagieren, sich begrüßen mit „You look like Shit!“, und schon mal nach einem Kuss (Vorsicht: Nähe!) angewidert feststellen: „Du rauchst ja!“
Jessie ist da ein besonderes Exemplar, die um ihre Neurosen weiß und trotzdem instinktiv zwei Schritte nach vorne macht, wenn sie eigentlich zurückweichen will. Toll, wie Jessica London-Shields das spielt: einen Großstadt-Tolpatsch mit ständig verwirrtem Gesichtsausdruck und einer irritierend explosiven Lache, die ihre hysterischen Redeanfälle rhythmisch strukturiert. Jessies Eigentlich-Beziehung zu Jamie ist ziemlich gemein vom Drehbuch angelegt, denn ständig steht sie im Schatten ihrer burschikosen Freundin, ständig ist sie drei Schritte hinterher, ob es nun die Schauspielkarriere ist, der bevorstehende Umzug nach New York oder die sexuellen Affären. Aber da findet der Film auch sein Thema, denn es ist eine besondere Emanzipationgeschichte, die er erzählen will: von einer, die ihre große Liebe verlässt, um endlich selbst liebenswert zu werden. Jamie sitzt auf Umzugskartons und wird bald die Stadt verlassen. Jessie muss wissen, ob sie ihr fehlen wird. Jessie versucht, sich zu entziehen, um Nähe zu provozieren, stattdessen gelingt ihr endlich der Sprung aus dem Schatten und eigentlich alles, was sie sonst noch so will. Auf ganz tölpelhafte,
neurotische und sehr witzige Weise. Wir freuen uns für sie, denn gelitten hat sie wirklich genug. Wie gemein ist das denn, wenn man zum Vorsprechen für eine Lieblingsrolle eingeladen wird, die Mitbewohnerin zur Unterstützung mitnimmt, diese aber dann ungewollt vom Fleck weg engagiert wird? Schon sehr gemein. Aber es geht noch gemeiner – als der Anruf mit dem Rollenangebot für Jamie kommt, kann sich die Kamera an Jessies Verletzung nicht sattsehen. Und als Jamie pflichtschuldig die Rolle ablehnt, klingelt Sekunden später Jessies Telefon mit den schönen Nachrichten. Und jetzt sehen wir die milde lächelnde Jamie. So sieht Erniedrigung aus … „Manche kriegen einfach alles, was sie wollen!“, stöhnt Jessie, kurz bevor sie selbst vom Drehbuch alles kriegt, was sie will. Jetzt können alle queer-aktivistischen Festivalkurator_Innen wieder stöhnen und sich fragen, was diese überdrehten Mädchen in einem Chicago, das so schön fotografiert ist und so viele schöne Frauen beherbergt (sehr sexy z.B. Fawzia Mirza als Jamies Freundin Rhonda), dass man gar nicht versteht, warum Jamie und Jessie nach New York abhauen wollen, eigentlich für Probleme haben. Die sie so ausgiebig diskutieren und gerne auch mal in plötzlichen MusicalNummern vorsingen. Aber das ist ziemlicher Unsinn, denn warum darf man nicht 90 Minuten mit süßen und etwas verwirrten Frauen verbringen, die wie alle anderen ihre kleinen Dramen durchstehen müssen und immer wieder auch ihr kleines Glück finden. Warum sollte man vor einer „lesbian Musical Romantic Comedy with a big fat heart!“ (Webseite) davonlaufen? Hiergeblieben! Jamie und Jassie sind nicht zusammen ist eine filmische Naherholung. s
Jamie und Jessie sind nicht zusammen von Wendy Jo Carlton US 2011, 95 Minuten, englische OF mit dt. UT Edition Salzgeber, www.salzgeber.de Im Kino L-Filmnacht im Mai www.l-filmnacht.de
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Ostler In „Unter Männern“ macht sich der junge Filmemacher Ringo Rösener auf die Suche nach seinen Vorvätern: Schwulen in der DDR. Er findet sie und mit ihnen auch ein Stück von sich selbst. Der Film wurde nach der Uraufführung auf der Berlinale für den Teddy Award nominiert und startet am 26. April in den Kinos. Zwei Autoren, die als Schwule die DDR er-lebt haben, haben sich den Film angesehen und dazu positioniert.
Das Ungesagte, aber Mitgedachte
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von Paul Schulz s Will man Irgendetwas über persönliche Beziehungen in der DDR erfahren, gibt es dafür eigentlich nur zwei Quellen: Stasi-Akten und persönliche Gespräche mit denen, die dabei waren. Wobei die Stasi-Akten die verlässlicheren Auskünfte geben. Die Akribie und Wahllosigkeit, mit der der Apparat auch die kleinsten Details aus dem Leben seiner Beobachtungsobjekte katalogisierte, hilft hier, wenn man selbst in der Lage ist, eine Sortierung vorzunehmen – und ähnlich viel Zeit mitbringt wie die Sammler des Materials. Ansonsten gibt es wenig, was man gebrauchen könnte, um zu erfahren, wie es so war. Das ist so, weil sich über alles andere die staatstragend repressive Patina des Arbeiter- und Bauernstaates, die freundlich kolonialisierende Attitüde westdeutscher Berichterstattung über denselben oder der weichzeichnende Schleier der Erinnerung ans eigene Leben legt. Jedes Buch, jeder Artikel, jedes Foto, jeder Schnipsel Film, mit dem man heute historisch betrachtend arbeiten möchte, wurde in seinem Herstellungsprozess sanft oder unsanft auf seine Propaganda-Verwendbarkeit für die eine oder andere Seite abgeklopft. So ist das in Kriegen, zumal in kalten, die öffentlich eben hauptsächlich über Medien geführt wurden. Und die oft strikte Trennung zwischen privaten und öffentlichen Räumen im Bewusstsein von DDR-Bürgern ist zwar gut für die Reinerhaltung der einzelnen Auskünfte aus dem jeweiligen Gebiet, macht es für Außenstehende aber schwer, gedankliche Verbindungen zwischen ihnen herzustellen und zu belegen, wie genau sich staatliche Politik aufs Zwischenmenschliche ausgewirkt hat. Jeder, der in der DDR groß geworden ist, kennt das Phänomen des Ungesagten, aber Mitgedachten, das seine besten Ausdrücke deswegen in Metaphern, Witzen und Fabeln fand, weil man es umschreiben musste, um es überhaupt erfassen zu können. Aus diesem Grund reden Ostdeutsche und Westdeutsche auch 22 Jahre nach der Wende oft aneinander vorbei. Schwule in der DDR waren eine staatlich geduldete Untergrundkultur. Nicht so verfolgt wie andere, aber auch alles andere als gefördert. Die Artikel, Bücher und Filme über sie von vor 1989 passen bequem auf ein Regalbrett. Deswegen ist das Reden über sie und mit ihnen erst einmal eine Sammlung von Fakten, die sich wohl nicht einmal allen Interviewten in Unter Männern – Schwul in der DDR von Ringo Rösener und Markus Stein zu einem Gesamtbild erschließen wird, obwohl die beiden jungen „Unter der Dusche“ (Jürgen Wittdorf, 1964, Ausschnitt)
Filmemacher ihr Möglichstes versuchen. Rösener wurde 1983 in Anklam geboren, wusste nichts über schwules Leben in der DDR, wollte das ändern und begibt sich vor der Kamera auf die Suche nach seinen Vorvätern. Er bedient sich mit seinem filmisch autobiografischen Bericht über eigene Erkenntnisse eines im DDR-Kulturbetrieb gern genutzten Mittels, zu erzählen, was zu erzählen nicht erlaubt ist, weil man das Persönliche exemplarisch wiedergibt, während man parallel durch die postulierte „eigene“ Perspektive versucht, der politischen Instrumentalisierung des Gesagten zuvorzukommen. Was in Nachdenken über Christa T. geklappt hat, gelingt auch in Unter Männern hervorragend. Rösener und Stein lassen ihre völlig unterschiedlichen Protagonisten (vom punkig schillernden StarFriseur bis zum verbitterten 80-Jährigen ist alles dabei) ihre eigenen Geschichten erzählen und so verdeutlichen: „Das schwule Leben“ in der DDR gab es gar nicht. Es gab eine Menge Einzelschicksale, die ihre Gemeinsamkeit nur daraus bezogen, anders als der Durchschnitt zu sein und so mit dem System in Konflikt zu geraten. Wenn Coiffeur Frank Schäfer fröhlich davon berichtet, wie er von einem Stasioffizier „quasi vergewaltigt“ wurde, hat das mit der Biografie von Eduard Stapels, dem „Homopfarrer“ des wilden Ostens, der einer der ersten war, der innerhalb der Kirche Schwulengruppen gründete, in der persönlichen Wahrnehmung des jeweils Erzählenden nichts zu tun. Beide stehen aber für eine ganze Reihe ähnlicher Schicksale Die filmische Klammer, die Rösener für seine Suche findet, Ausschnitte aus Coming Out von 1989 mit seiner eigenen Perspektive des Spätgeborenen abzugleichen, funktioniert hinreichend, weil sie die Veränderung der letzten zwanzig Jahre gut illustriert, verdeutlicht aber auch, dass man den Film nicht einmal als Laser für die sechs Männer benutzen kann, die in Unter Männern beschrieben werden. Das Coming-out des ostdeutschen Schwulen wird durch diesen Widerspruch in seiner Verschiedenheit hübsch illustriert. Es wird spannend sein zu beobachten, wie Ost- und Westdeutsche den Film aufnehmen. Die Unterschiede werden groß sein, denn wo bei den einen ein Wiedererkennen möglich ist, bleibt den anderen immer noch und immer wieder nur ein Besuch im Zoo der Geschichte, in dem man den Tieren, die man betrachtet, mit größtmöglichem, aber beschränktem Einfühlungsgefühl begegnet. Dass klar zu erkennen ist, dass Rösener zur ersten Gruppe gehört, ist vielleicht das Spannendste an Unter Männern, weil es andeutet, dass es wohl eine Sehnsucht nach historisch stringenter Gemeinsamkeit gibt, die sich aus mehr als nur Sexualität speist. Das „Sehr wertvoll“ für Unter Männern gab es schon während seiner Weltpremiere auf der Berlinale und zwar ganz zu Recht. s 23
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Friseur Frank Schäfer (links), Künstler Jürgen Wittdorf
Naivität ist ’ne groSSe Kraft von Michael Sollorz s Zu Beginn sehen wir den Hauptdarsteller in Heiner Carows Coming Out 1989 auf seinem Fahrrad, und hineingeschnitten, dieselbe Strecke radelnd, kommt anno heute der junge Filmemacher. „Ich glaube, ich bin ein verhinderter Ossi.“ Sinnlicher, schöner Beginn, wie ein Versprechen. Beim Mauerfall war Rösener sechs, und angeblich will er nun wissen: „Wie hat man als Schwuler in der DDR leben können?“ So strampelt er los, um ein paar Antworten einzusammeln, raus aufs Minenfeld Geschichte. Gerührt folgt ihm der Betrachter, und nach dem Abspann kommen die Fragen. Was bedeutet der Titel, geht’s auf ein Kriegsschiff? Was erhellt es, dass der privilegierte Prominenten-Sohn Frank Schäfer als schriller Szene-Friseur im vergleichsweise aufgeklärten Ostberlin der Vorwendezeit andere Erfahrungen machte als ein schüchterner Schullehrer im Sachsen der 70er? Soll hier Vielfalt vermittelt werden? Wenngleich das „Sammelgebiet“ als abgeschlossen gilt – empfähle sich nicht eine stärkere Fokussierung, um der Beliebigkeit Herr zu werden? Und wo streifte der Film, als DDR-Kennzeichen erster Güte, auch nur ein einziges Mal den Konflikt zwischen Individuum und Kollektiv, wie ihn westlich der Elbe nach dem Krieg keine Seele mehr vergleichbar auszutragen hatte? Waren nicht auch die Schwulen zunächst einmal Staatsbürger? Versprochen wurde ein besseres Leben, frei von Ausbeutung. Ganze Generationen glaubten daran, legten sich ins Zeug. Ein schwerer gemeinsamer Weg, die Mühen der Ebene, und als Lohn winkte eine radikal neue Gesellschaft, in der das Geld abgeschafft war und sich jede einzelne Persönlichkeit nach ihren Fähigkeiten frei entfalten würde. Bis dahin galt es, sich zu bescheiden, zurückzutreten hinter die Erfordernisse des Fortschritts. Bediente die Forderung nicht treffsicher das verheerende Muster schwuler Selbstablehnung, den Wunsch, wie jedermann zu sein? Wurden nicht andere ebenfalls unentwegt vertröstet, man werde sich ihrer Bedürfnisse annehmen, sobald erst vorrangigere Probleme des Aufbaus gelöst wären? Soufflierte nicht Hegel selbst der EinheitsPartei, Freiheit sei Einsicht in die Notwendigkeit? Etwas diesem Gemeinschafts-Pathos vergleichbar Wirkmächtiges existiert für den Westen heute nicht mehr und wird seit über 20 Jahren in Betrachtung des sozialistischen Experiments als Drangsal dargestellt, als pathologisch diffamiert oder der Einfachheit halber völlig ausgeblendet. Im Ergebnis wird die DDR hinter dieser „Aufarbeitung“ zunehmend unkenntlicher, und nicht erst Unter Männern 24
provoziert die Frage, ob unter Verzicht auf die ideelle Dimension in der Lebenserfahrung des Einzelnen überhaupt irgendwas herausgefunden werden kann, das nicht ebenso anderswo zuträfe. Auf andere Leute. Zu anderer Zeit. Warum, ausgerechnet, findet der Film erst in der Gegenwart erzählerische Sicherheit, in seinem starken Schlussbild von der ewigen Provinz? Im thüringischen Glasbläser-Kaff Lauscha geht ein Mittvierziger im weißen Ballkleid seine steile Straße runter, aus ihren Fenstern glotzende Nachbarn grüßend. Priscilla im Landkreis Sonneberg, eine derbe Fee aus unser aller Hinterwald, bevölkert von immer den gleichen Zwergen. „Naivität ist ja auch ’ne große Macht und ’ne große Kraft“, erinnert sich der Grafiker Jürgen Wittdorf. Nimmt Rösener sie als Arbeits-Haltung für sich in Anspruch? Was eine Klappe sei, fragt er seinen mehr als doppelt so alten Interviewpartner. Meint er das ernst oder geht es um den O-Ton? Funktioniert Ahnungslosigkeit als produktives Prinzip? Was sollte man mitbringen, will man von Menschen etwas erfahren und Dritten mitteilen? Gegen Ende bekennt der alte Lehrer: „Ich denke, wenn ich mich geoutet hätte, wäre das besser gewesen. Da war ich zu feige.“ Ein Moment, der Stille verlangt, schon aus Respekt. „Aber weswegen ist man denn feige?“ kommt es prompt aus dem dem Off, und dem Betrachter verschlägt es die Sprache. Kann ein junger Mann 2012 wirklich schon so herausgewachsen sein aus der „Geschichte der eigenen Geschichte“? Erfüllt sie sich womöglich doch noch, die unausrottbare These vom Verschwinden der Homosexualität mit dem Verschwinden ihrer Verfolgung? Naht uns der Tag, da erstaunt gefragt wird, was das denn überhaupt sei, ein Schwuler? Sind wir nicht heute schon alle queer? s
Unter Männern – Schwul in der DDR von Ringo Rösener und Markus Stein DE 2012, 91 Minuten, dt. OF Edition Salzgeber, www.salzgeber.de Im Kino ab 26. April 2012
Coming Out von Heiner Carow DDR 1989, 108 Minuten, dt. OF
Westler von Wieland Speck DE 1985, 96 Minuten, dt. OF
Auf DVD bei Icestorm Entertainment, www.icestorm.de
Auf DVD bei der Edition Salzgeber, www.salzgeber.de
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sissy: In „Die Liebenden“ ist eine Nostalgie für eine Ära zu spüren, in der Sie noch nicht einmal geboren waren. Christophe Honoré: Oh, ich hoffe nicht, dass ich nostalgisch bin! Was mich interessiert hat, war die Epochenwende, die sich da vollzogen hat. Deshalb habe ich die Zeit, als meine Eltern jung waren, mit meiner eigenen Jugend verglichen. Anfangs wollte ich einen Film über die Liebe machen und was sie auszeichnet. Denn der große Unterschied zwischen meinen Eltern und mir ist nicht Politik oder Ideologie oder wie gut wir mit Computern umgehen können, sondern was wir unter Liebe verstehen. Für sie ist Liebe, Sex und Verlangen immer mit Hoffung verbunden. Denn Hoffnung gab es in den 1960er Jahren, selbst wenn es manchmal schwierig war, z.B. für Mädchen, die ungewollt schwanger wurden. Mitte der Achtziger dagegen, als ich ins Alter kam, mich für Liebe und Sex zu interessieren, war das Klima geprägt von Angst. Unsere Eltern haben uns vor anonymem Sex und ungeschütztem Geschlechtsverkehr gewarnt. Durch Aids hatte es alles Spielerische verloren, Sex wurde zu einer tödlichen Gefahr, man konnte davon sterben. Ich glaube unsere Generation, und ich rede nicht nur von den Schwulen, hat in ihrer Jugend Liebe und Tod sehr eng miteinander verknüpft. Und das haben wir immer noch im Kopf, auch wenn wir damit umzugehen gelernt haben. Deshalb kann man vielleicht den Eindruck gewinnen, dass mein Film nostalgisch ist, aber ich beschreibe nur.
Nostalgie und Exorzismus I n t e rv i ew: T hom a s A be ltsh ause r
Neben Chéreau, Ozon, Lifshitz und Morel ist Christophe Honoré der wichtigste und unter ihnen wahrscheinlich unberechenbarste Filmemacher des französischen Queer Cinema. Demnächst erscheint seine jüngste große Kinoproduktion „Die Liebenden“, Abschlussfilm Cannes 2011 mit Cathérine Deneuve und Ludivine Sagnier, im Kino und kurz darauf der radikale No-Budget-Film „Man at Bath“ mit François Sagat auf DVD. SISSY hat mit ihm über beide und ihren notwendigen Zusammenhang gesprochen.
Sind Liebe und Beziehungen auch komplizierter geworden? Unser Klischee von den Sechzigern ist ja das der freien Liebe … Was natürlich eine Illusion ist! Aber ich male mir die Zeit, als meine Eltern jung waren, so schön aus. Es muss toll gewesen sein damals, schließlich haben sie mich gezeugt. Aber mir ist schon klar, dass es auch eine rückständige Zeit war und ich bin sehr froh, heute zu leben. Allerdings nicht als Filmemacher, die Goldene Ära des französischen Kinos waren die Sechziger. Ich bevorzuge die Nouvelle Vague gegenüber den Regisseuren meiner Generation. Da habe ich keine andere Wahl … Aber haben Sie heute nicht viel größere Freiheiten als Filmemacher? Ich glaube nicht. Wir sind in Frankreich natürlich sehr privilegiert, was unsere Filmindustrie und Filmförderung angeht. Aber als Künstler ist es doch viel anregender, einer Gruppe anzugehören, die man verehrt und auf die alle Welt schaut, weil von hier die Innovationen ausgehen. Das ist in Frankreich schon lange nicht mehr der Fall. Wenn wir pro Jahr zehn gute Filme produzieren, ist es schon viel. Und die heute erfolgreich 25
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„Die Liebenden“ (2011)
sind, interessieren mich nicht. Damals machten Leute wie Godard, Chabrol und Rivette Filme, weil sie Cinephile waren. Wenn man sich heute auf sie bezieht, wird einem gleich Nostalgie vorgeworfen. Die Probleme draußen auf der Straße soll man filmen, aber dieser Realismus ist doch bloße Konvention. Realismus und Wahrheit sind nicht dasselbe! Sie nehmen sich doch aber zumindest die Freiheit, neben einem großen Mainstream-Film mit Starbesetzung auch einen kleinen Experimentalfilm wie „Man at Bath“ zu drehen. Ich wusste, dass mich Die Liebenden lange in Anspruch nehmen würde, deswegen wollte ich davor etwas ganz anderes machen. Ich habe Man at Bath in einer Woche gedreht, ohne Drehbuch und mit Darstellern, die ich auf der Straße oder in einer Homobar gefunden habe. Es stimmt, dass ich diese Freiheit nutze. Aber in dem Film steckt auch kein Geld, deswegen habe ich da auch keinen Druck. Man at Bath ist sehr viel näher an den Filmen der Sechziger, vielleicht ist der Film sehr viel nostalgischer als Die Liebenden, in der Art wie er gedreht wurde. Stell deine Freundin oder deinen Freund vor die Kamera und fang an zu drehen, das reicht. Das ist für mich das Ideal der Nouvelle Vague. Man braucht kein großes Thema, um einen guten Film zu machen. Aber viele haben Man at Bath nicht verstanden. Sie haben nach Chanson der Liebe einen anderen Film erwartet. Aber für mich ist es sehr wichtig, beide Arten von Filmen machen zu können. Ich brauche diese kleinen Filme als Exorzismus. Und es ist beruhigend zu 26
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wissen, dass, wenn ich nächstes Jahr kein Geld für einen neuen Film bekommen sollte, ich immer Filme wie Man at Bath machen kann. Und wer weiß, vielleicht bin ich damit sogar glücklicher. Verstehen Sie mich nicht falsch, ich mag Die Liebenden wirklich sehr, aber in Man at Bath steckt viel Risiko. Und auch in Bezug auf Liebe und Beziehungen ist „Man at Bath“ ein Gegenstück zu „Die Liebenden“. Er zeigt, dass Beziehungen heute sehr viel komplizierter, aber auch freier sind, was etwa Geschlechterrollen angeht. Stimme ich voll zu. Mir ging es bei Die Liebenden um einen Vergleich zwischen der Generation meiner Eltern und meiner. Und Man at Bath wiederum handelt von einer neuen Generation, in der François Sagat wie ein Dinosaurier ist, ein altmodisches Modell aus den Neunzigern mit seinem muskulös überdefinierten Körper. Die heute Zwanzigjährigen definieren sich ganz anders, sie haben ein anderes Verständnis davon, was männlich ist. Und sie gehen sehr offen mit ihrer Sexualität um, die Orientierung ist da eher zweitrangig. Ich war sehr überrascht, als ich Jungs auf der Straße für den Film ansprach. Ich sagte, er ist mit einem Pornostar als Hauptdarsteller und etlichen Nacktszenen und stieß damit gleich auf große Begeisterung. Ist der Filmemacher Omar in „Man at Bath“ Ihr alter Ego? Ich wäre gerne wie Omar, aber er hat definitiv mehr Glamour als ich. Ich habe die Figur auch als Filmemacher angelegt, um Aufnahmen,
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alamode film
„Man at Bath“ (2010)
die ich selbst in New York gedreht hatte, als eine Art Tagebuch in den Film einzubauen. Neben Ihren eigenen Filmen haben Sie auch die Drehbücher zu Gaël Morels Filme „Brüder Liebe“ und „Après lui“ verfasst. Wie würden Sie ihr Verhältnis beschreiben? Ich habe nicht viele Freunde in der Branche und Gaël ist einer von ihnen. Ich mag ihn sehr. Wir sind beide nicht ursprünglich aus Paris, wir kommen beide aus der Provinz und sind in recht einfachen Verhältnissen aufgewachsen. Wir teilen also das Gefühl, in der französischen Filmfamilie nie so richtig dazuzugehören. Wir machen ganz unterschiedliche Filme, schätzen einander und das Urteil des anderen aber sehr. Und ich glaube auch, dass Man at Bath Gaël ermutigt hat, Unser Paradies zu drehen. Sie schreiben auch Romane und Kinderbücher. Gibt es einen roten Faden, der Ihre unterschiedlichen Werke zusammenhält? Literatur spielt auch in meinen Filmen eine große Rolle. Chanson der Liebe etwa habe ich basierend auf Liedtexten geschrieben, Ma mère ist nach einem Roman von George Bataille, Dans Paris von Salinger beeinflusst und auch in Die Liebenden sind Lieder sehr wichtig. Umgekehrt vergesse ich beim Schreiben eines Romans ganz den Filmemacher, weil es mir nicht weiterhilft. s
DIE LIEBENDEN
Man At Bath
Von 1963 bis 2008 geht der Reigen der Liebesaffären mehrerer Figuren in Honorés aktuellstem Spielfilm. Gegenübergestellt werden die Elterngeneration, die sich in den 1960ern sexuell emanzipiert, und die Generation des Autors und Regisseurs, deren sexuelles Erwachen unter dem Fanal von Aids stattfand. Honoré lässt Motive aus vielen seiner Filme zusammenfließen und variiert sie neu: Der Umgang mit Aids war schon das Thema seines ersten Spielfilms „Mein Bruder Leo“, Gesangseinlagen gab es schon in „Chansons der Liebe“, die Beziehungen von Frauen zu schwulen Männern interessierte Honoré bereits in „17 Mal Cécile Cassard“. Auch in „Die Liebenden“ glaubt er an die Kraft des Kinos, nicht an sozialrealistische Beschreibungen. Nur so kann er die disparaten Elemente seiner Erzählung in einen einzigen Film einfließen lassen.
Der Film schildert in losen Bruchstücken das Nachspiel einer zu Bruch gegangenen Beziehung zweier Männer, die sich beide beweisen müssen, dass sie auch ohne den anderen leben können. Während der eine (Omar Ben Sellem) nach New York fliegt, um seinen Film dort zu präsentieren, hat sein Partner (François Sagat) Zeit, aus der gemeinsamen Wohnung auszuziehen. In Nebenrollen sind u.a. Chiara Mastroianni und die Ikone der US-amerikanischen QueerLiteratur Dennis Cooper zu sehen. Man at Bath von Christophe Honoré FR 2010, 72 Minuten, OmU Auf DVD ab 22. Juni 2012 bei Pierrot Le Fou, www.alamodefilm.de. Mehr dazu im nächsten Heft.
Die Liebenden von Christophe Honoré FR 2011, 139 Minuten, deutsche SF Senator, www.senator.de Im Kino ab 3. Mai 2012
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Der kalte Blick Von A n dr é W en dl e r
Im ohnehin schon etwas schrägen Milieu der konservativen weißen Oberschicht Südafrikas spielt Olivier Hermanus’ Spielfilm „Beauty“, der im letzten Jahr in Cannes die „Queer Palm“ gewann. Noch schräger ist der Verlauf der Geschichte, in der ein voyeuristisch auf einen jungen Mann fixierter Familienvater kein Ventil für Begierde und Aggression findet. Die handgreifliche Tod-in-Venedig-Variante startet am 8. März in den Kinos.
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teiligt. Sie nimmt den verrauschten Porno, in dem zwei gut aussehende Boys mechanisch miteinander ficken, mit der selben Gleichgültigkeit zur Kenntnis wie die animalisch grunzenden Männer, die es vor dem Fernseher miteinander treiben. Bevor die Figuren des Films irgendeinen Ort in einen Schauplatz von Gefühlen, Hoffnungen, Ängsten verwandeln, ist die Kamera oft schon da: sie liegt in einem Auto, in das gleich jemand einsteigen wird, sie steht in einem Büro, das gleich einer betritt, sie hat sich schon in einem noch leeren Hotelzimmer niedergelassen. Und wenn die Filmfiguren längst schon wieder weg sind, glotzt die Kamera mit der gleichen Neutralität in die Gegend: ob hier gerade etwas geschehen ist, oder ob gleich etwas geschehen wird, spielt für automatische Bildaufzeichnung keine Rolle. Die erfüllten oder enttäuschten Konventionen der Montage und die erfüllten oder enttäuschten Erwartungen der Zuschauer_innen sind es, die all das mit Sinn überfluten. Dem Film gelingt es, beide Seiten dieses sehr schmalen Grades gleichermaßen zu denken und zu erfüllen. Während man ihn nämlich oberflächlich als eine jener schlimmsten filmischen Katastrophen sehen könnte, die ihre Zuschauer_innen dazu nötigt, sich mit den Motiven und Gedanken eines Vergewaltigers zu identifizieren oder sie nachzuvollziehen, tut er genau das Gegenteil. Man glaubt nur, seine Blicke zu teilen. Was wie Point-of-View-Shots aussieht, sind in Wirklichkeit die Bilder einer Kamera und eine Montage, die nur deshalb den Mut und die Kraft finden, das Schrecklichste festzuhalten, weil sie dem blutenden und fast toten Gesicht Christians mit der selben Kälte begegnen, wie den Maschinen eines Sägewerks, Wassertanks vor einem Farmhaus oder Tankern in der Bucht von Kapstadt. Die filmisch falsche Nähe zu den Blicken und dem leeren Starren des Täters erlaubt uns, ihn zu sehen, ohne uns unfreiwillig mit ihm zu verbünden. Man kann in diesem Film etwas verstehen: dass sich das Unmenschliche, was sich dort auf der Leinwand abspielt, nicht allein mit Menschlichkeit begreifen lässt. Dass die Unterschiede winzig klein werden, wenn wir es dennoch versuchen, und dass wir die Hilfe des Kinos dankbar annehmen sollten bei dem Versuch, zu verstehen, was Menschen allein nicht begreifen können. s
Beauty von Oliver Hermanus ZA/FR 2011, 105 Minuten, Englisch-Afrikaans mit dt. UT Pro-Fun Media, www.pro-fun.de Im Kino ab 8. März 2012 pro-fun media
s Alles beginnt auf einer unauffälligen Hochzeit: schön gekleidete Gäste, Blumensträuße, Sektgläser, Frauen mit etwas ausgefalleneren Frisuren, Männer in belanglos-feierlichen Krawatten, ein Brautpaar, Geschenke, Küsschen. Es könnte alles ganz normal sein, das Glück der heterosexuellen Mittelschicht. Noch bevor ich aber weiß, in welchen Abgrund mich der Film gleich schauen lässt, ahne ich, dass es mit der Normalität hier nicht so weit her sein kann, wie es auf den ersten Blick scheint. Die Farben sind, wie später im ganzen Film, auffällig matt, ertränkt in einem hoffnungslosen Beige und verwaschenem Taubenblau. All das Lächeln, all die zauberhaften Kleider sehen irgendwie falsch aus. Die Kamera schwenkt sehr langsam und sehr gleichmäßig nach links, überblickt die ankommenden Gäste und kommt auf einer geöffneten Doppeltür zum stehen, vor der das Hochzeitspaar Glückwünsche entgegen nimmt. Kurz bleibt das symmetrische Bild mit der Tür in der Mitte stehen, bevor ein Zoom sehr langsam auf die Mitte des Bildes zielt. Gleichzeitig verlagert sich die Schärfe hinter all die fröhlichen Menschen, die das schrumpfende Bildfeld bevölkern. Immer weniger beige Menschen sind in diesem Bild und wir sehen, was sich in dem Mittelpunkt befindet, auf den sich das Bild zu bewegt. Es ist ein etwas pausbäckiger und ziemlich gutaussehender junger Mann, der gerade mit zwei blonden Frauen spricht und scherzt. Er sieht sich um, grüßt hierhin und zwinkert dorthin. Schnitt. Ein anderer, älterer Mann in Nahaufnahme blickt ebenfalls in die Richtung der Kamera und ich bin genötigt, die vorherige Einstellung als seinen Blick zu interpretieren. Schnitt zurück. Der junge Mann schaut nach rechts, nach links und plötzlich direkt in die Kamera. Sofort Schnitt auf den anderen Mann. Dieser wendet sich unmittelbar ab und vermeidet es, wieder in die Richtung der Kamera, in die Richtung dieser anderen Einstellung und also in Richtung des jungen Mannes zu blicken. Ich weiß nach diesen knappen vier Minuten noch nicht, was der ältere François dem jüngeren Christian später antun wird, aber ich weiß aus den präzise gefilmten Bildern, dass alles an dieser Begegnung vom ersten Moment an falsch ist und bis zum letzten Augenblick falsch bleiben wird. Ich weiß, dass es mit Liebe nichts zu tun hat, ich weiß, dass es mich schrecklich peinigen wird und ich weiß, dass ich vor diesen Bildern am liebsten flüchten würde, so wie Christian das unbedingt tun sollte. Die maschinenhafte Gleichförmigkeit des Schwenks und des Zooms, die im Schnitt als Blick eines Menschen ausgegeben werden, haben nichts Menschliches an sich, so wie François jede Menschlichkeit verlieren wird. Die Vorstellung, ein so präzise geführter Kamerablick sei eine menschliche Wahrnehmung, ist eine so offensichtliche und mit Ruhe vorgetragene Lüge, wie François sie ständig an seine Mitmenschen verteilt. Immer wieder verknüpft der Film ähnliche Überwachungsbilder mit dem Blick von François: am Strand, an dem Christian mit einer jungen Frau liegt, in einem Restaurant, wo zwei Männer miteinander sprechen und sich küssen. Die Kamera bleibt jederzeit kalt und unbe-
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GM-FIlms / Jürgen Brüning Filmproduktion / Emilie Jouvet
spiele lediglich lustvoll mit dem Berlin-Hype. Dieses Werk ist jedenfalls auf beiden Seiten der Kamera ein Mikrokosmos der nicht-heterosexuellen Underground-Szene der Stadt.
Muttis Berliner Bergtour Von M a n u e l Sch u be rt
Lange Texte über kurze Filme, in diesem Fall zügige 64 Minuten, sind eine Herausforderung. Unser SISSY-Autor stellt sich ihr. Denn „Mommy Is Coming“, der neue Film von Cheryl Dunye, startet am 8. März in den Kinos und muss empfohlen werden.
s Voluptuous Panic. Über die Story von Mommy Is Coming gibt’s nur wenig zu schreiben. Ein junges Lesben-Paar streunt getrennt voneinander durch Berlin auf der Suche nach sexueller Selbsterfahrung. Die Mutter einer der beiden Frauen reist überraschend an, nur vordergründig besorgt um das seelische Wohl ihrer Tochter. Sie sucht eigentlich nach jener sexuellen Erfüllung, die sie von ihrem Ehemann nicht mehr bekommt. Es gibt ein schrilles Finale und Happy End. Abspann. Ok, ein bisschen mehr passiert doch noch. Aber erzählen wir stattdessen besser andere Geschichten. Mommy is coming. Ich sah einige Szenen dieses Films erstmals im August 2011. Der Regisseur, Schauspieler und Sektionsleiter des Berlinale-Panoramas, Wieland Speck, feierte im Berliner Kino Arsenal seinen Geburtstag nach. Einen Monat lang „Speck-Schau“. Private Memorabilien, Gespräche, Filme. Sogar jene Pflanzen, die Speck 30 Jahre zuvor an derselben Stelle ausgegraben und anschließend auf seinem Balkon kultiviert hatte, schleppte er ins Foyer des Arsenals. Zu erleben war auch ein Filmschnipsel-Vortrag über die kurze Vita des Schauspielers Speck. Unter 30
anderem spielte er Nebenrollen für Ulrike Ottinger und im letzten Film von Marlene Dietrich. Es blieb bei Nebenrollen. Die amerikanische Underground-Regisseurin Cheryl Dunye bat Speck, nun einen Part in ihrem neuen Film zu übernehmen. In Mommy Is Coming erscheint er in der (Neben-)Figur des Hans Eberhardt. Ein heterosexueller Mann, der Wert auf die Feststellung legt, erst 59 Jahre alt zu sein. Der seiner Frau sexuelle Apathie simuliert und heimlich mit zwei Geliebten davon fährt. Paraderolle. Fuck London. Mommy Is Coming ist eine Art moderner Heimatfilm. Heimatfilme kommen qua Definition nicht ohne Klischees und Berge aus. Hier heißen die Berge Kreuzberg und Schöneberg. Die Klischees sind jene des billigen, dreckigen, wilden Berlin – in dem natürlich alles geht. „Berlin is where your dreams come true“, sagt Regisseurin Cheryl Dunye in ihrer Rolle als alles verbindende Taxifahrerin. „Berlin ist wie San Francisco, nur besser“, heißt es in einer der inszenierten Interview-Sequenzen, die diesen Film narrativ durchsetzen. Too much Berlin, möchte man ihnen antworten. Zu ihrer Verteidigung könnte man aber auch behaupten, der Film
Interstellar Love. Kaum Innovationskraft, das Internet, Amateure und ihre Smartphones. Der schwule Porno ist vor einigen Jahren zugrunde gegangen. Die explizite Darstellung von Männersex zählt heute zu den abgekautesten Formen des Bewegtbilds. Die festgefahrenen Rollenklischees des schwulen Pornos wurden inzwischen von progressiven lesbischen Regisseurinnen wie Courtney Trouble oder hier Cheryl Dunye in die sexuelle Performance on screen transferiert. Das ist nur auf den ersten Blick ein Paradox. Zwar ähnlich im Erscheinungsbild, verfügt lesbischer und genderqueerer Porno über eine komplett andere Energie. Es scheint sichtbar mehr Aktionsfreude bei den Darstellerinnen zu geben und fühlbaren Spaß an der Zitierung und Überzeichnung von Rollen und Geschlechternormen des Genres. Lesbischer Porno brodelt und begeistert, auch in Mommy Is Coming. Das Ende kommt zum Schluss. Trash, zentrales Element des nicht-heterosexuellen Filmschaffens. Dieser Streifen reiht sich ein in eine endlose Liste von Filmen, deren Hauptmerkmal ihr hoher Gehalt an gezielter Überzeichnung von allem ist, Ernsthaftigkeit oder Talent ausgenommen. Logisch: Auch Wieland Specks Performance ist ganz dem Trash verpflichtet. Und selbstverständlich ist der Filmtitel doppeldeutig zu lesen. In diesem Sinne und als Abschluss eine Frage: Wann haben Sie, liebe Leser und Leserinnen, zuletzt über Sex mit ihrer Mutter nachgedacht? Mommy Is Coming – schrille Absurdität. Wunderbar. s
Mommy Is Coming von Cheryl Dunye DE 2012, 65 Minuten, englische OF mit dt. UT GMFilms, www.gmfilms.de Im Kino ab 8. März 2012
The Watermelon Woman von Cheryl Dunye US 1996, 80 Minuten, englische OF mit dt. UT Auf DVD bei der Edition Salzgeber, www.salzgeber.de
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Der Prototyp Von Ja n K ü n em u n d
„König des Comics“ ist ein dokumentarisches Porträt von Rosa von Praunheim über Ralf König. Nicht mehr, nicht weniger. Ein schwuler Promi, der was geleistet hat, wird der Filmgeschichte hinzugefügt. Das lief selbstverständlich im Panorama der Berlinale. Und gleich anschließend (seit 23. Februar) im Kino. Und selbstverständlich wird das von uns empfohlen.
König des Comics von Rosa von Praunheim DE 2012, 80 Minuten, deutsche OF Basis-Film, www.basisfilm.de
basis-film verleih
Im Kino seit 23. Februar 2012
s Das erste Bild dauert gerade mal 9 Sekunden: Ralf König zeichnet. Das reicht nicht, um zu sehen, wie er zeichnet. Es reicht nur für die Information: Ralf König zeichnet. In Rosas Dokumentarfilmen kann man sich das Beobachten wie üblich abschminken. Information, intimpersönlichprivate Frage, weiter geht’s. Zack, Schnitt, Dom: ah, Köln. Ralf Morgenstern sagt was, Hella von Sinnen sagt was. Die Kölner Szene hat eine Meinung zum Kölner Szenemitglied König. Der Ralf. Mal gleich vorwegschicken, dass der bewegte Mann ein schwuler Comic war, der zum Mainstream-Hetenfilm verbogen wurde. Der „Producer“ von der Ufa sieht das anders. Ralf Königs schöne Leseperformances (eine Diashow der Panels mit Sprechblasenvortrag) sind Rosas Steilvorlage, auch die Comics filmisch einzusetzen. Naheliegend und gut. Zuschauer werden befragt und ein Comicladenbesitzer. Rosa fragt nicht: Welche Bedeutung hat das Werk Ralf Königs? Rosa fragt den Comicladenbesitzer: Kannst du darüber auch als Hete lachen? Und den Heterozuschauer fragt er: Machen Ralf Königs Zeichnungen schwul? (Nach rasanten 15 Minuten:) Jetzt aber mal Biografie. Als ich gehört habe, Rosa macht einen Film über Ralf König, im Auftrag von ZDF/
Arte, dachte ich: naja. Alle mögen Ralf König, Ralf König ist schwul. Reicht das? Das Übliche also: aufgewachsen in, gelebt in, erster Erfolg durch, Krise während, Geld, Freunde, Karriere, zurückblickend heute … Alte Schulfreundinnen werden besucht, Joachim Król hat bewegte Dreharbeiten erlebt, dann kommen die besten KönigPointen (Suck my Duck!), Knollennase und Prototyp, der 50. Geburtstag wird gefeiert, der neue Beziehungspartner darf „Ich liebe dich“ sagen, Abspann. Steht irgendwie alles auch auf Wikipedia. Rosa hat die rosa Brille auf: Und, wie war DEIN Coming-Out, warst AUCH DU schwulenbewegt, wie war das in DEINEM Freundeskreis mit Aids, und findest du die katholische Kirche und die Islamisten nicht AUCH bescheuert? Und wie hast du mit deinen Zeichnungen auf all das reagiert? (Mutig, selbstbewusst, kontrovers, mit Humor.) Ein bewegtes schwules Familientreffen. Und dann kommen sie doch, die Bilder. Im Kopf. Der „Sauerkrautbach“ (ein stinkendes Rinnsaal in Westönnen, in das die nahe Fabrik was einleitet und wo Ralf die ersten sexuellen Erfahrungen macht). „Elvira Brunftschrei“ im „Kommunikationszentrum Ruhr“ (erste Theatererfahrungen in Dortmund).
Die Düsseldorfer Kunstakademie-Lehrer, die drei ungeordnete Knollennasen sehen und den jungen Bewerber sofort annehmen. Die spitzen Finger der Rowohlt-Sekretärin, die ihrem Chef angewidert das erste Manuskript überreicht. „Der Brasilianer“ (kein Name und kein Bild) und die leidenschaftlichsten Jahre. Der Karikaturenstreit, gerade, als „Dschinn Dschinn“ in Vorbereitung ist. Das größte Kompliment: „Ich habe mir auf deinen Comic einen runtergeholt.“ Und dann ein typischer Rosa-Einfall: Statt selbst zu fragen, setzt er Ralf König einen Fan aufs Sofa, einen promisken Zahnarzt aus Zürich, der ein knappes T-Shirt angezogen hat und den Herrn König nach seinem „Männertyp“ ausfragt. Der Herr König ist charmant verlegen. Und nach 80 Minuten ist einem das Familienmitglied sehr ans Herz gewachsen. Ende der 70er entdeckt Herr König aus Westönnen bei seinem Sohn im Buchregal „Sex & Karriere“ von Rosa von Praunheim. Konflikt, Coming-Out und erzwungene Nestflucht waren die Folge. 2012 fragt Rosa den Ralf über Sex & Karriere aus. Auf Rosa ist eben Verlass. Findet auch Arte. So habe ich das schon öfters gesehen. Macht aber nichts. s 31
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Der Schmutz von außen Von F r itz G ö t t l e r
Vielleicht im Fahrwasser des Erfolgs von „Das weiße Band“ ist nun endlich „Jagdszenen aus Niederbayern“ auf DVD erschienen, Peter Fleischmanns 1969er Verfilmung des berühmten Stücks von Martin Sperr, über die Ausgrenzung eines jungen Schwulen aus der heilen Welt eines selbstgefälligen süddeutschen Dorfs. „Eine Schande für Niederbayern“ war das damals für viele – nicht die Handlung, sondern der Film.
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s Ein Erfolgsrezept, gleich zu Beginn des Films: Wir stehen früh auf und leben gesund … So erklärt einer der gstandenen niederbayerischen Mannsbilder gleich zu Beginn des Films den Drive seines Dorfes, und dann legt er gleich noch einen ganz konkreten Tipp drauf: Nicht so viel in der Horizontale arbeiten! Die Sinnenlust wird groß geschrieben, das Derblecken und der Sex, und keiner kann sicher sein, dass er im nächsten Augenblick nicht das Opfer von Spottlust, Vorurteilen und geilem Begehren wird. Eins der begehrtesten Opfer ist die junge Hannelore, gespielt von Angela Winkler, ein Mädel, das unbedarft und frech ist, von einer koketten Naivität, der keiner widerstehen kann. Sie hat ein Kind vom spröden Abram, sagt sie, der nach einiger Zeit zurück ist im Dorf, er sei im Gefängnis gewesen in Landshut, heißt es, er hätte merkwürdige Sachen gemacht, er sei anders, ein Schwuler. Eine Sauerei sei der Film, eine Schande für Niederbayern, hieß es damals nach der Uraufführung, Juni 1969, in Leserbriefen in der Landshuter Zeitung. Begriffe wie heiliger Zorn und Entartung, gesundes Empfinden und Vätersitte fanden spontan ihren Weg in die Diskussion zurück. Er habe den Film aus Liebe zu Bayern gemacht, sagt dagegen der Produzent Rob Houwer. Es sind Lausbubengeschichten der bösen Art, die der Film präsentiert. Verachtung und Diskriminierung, Stichelei und Denunziation, Lynchmobstimmung und Menschenjagd. Die Mobilisierung der Gesellschaft. Gewaltige Mähdrescher drücken sich bedrohlich durch die engen Dorfstraßen. Starfighter durchschneiden regelmäßig den Himmel über dem Dorf. Der Film sei Kitsch, hieß es in einem der Leserbriefe, „größerer Kitsch als der kitschigste Heimatfilm seligen Angedenkens“. Auch das Dumpfe und Derbe hat seinen Kitsch, die Geilheit und der Dreck. Ein Begriff, mit dessen Hilfe in der ästhetischen Diskussion der Nach-
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kriegszeit Diskriminierung an die Stelle der Analyse gesetzt wurde. Kitsch, das Gegenstück zur echten, wahren, tiefen Kunst. Kitsch ist nicht der Rede, des Nachdenkens wert, der Intellekt ist nicht gefordert. Mit der Kitsch-Blindheit hat dann in den Siebzigern das junge deutsche Kino Schluss gemacht, das auf die Oberflächen schaut und auf die Emotionen. Kurz nach den Jagdszenen fingen Schlöndorff,
Kitsch ist nicht der Rede, des Nachdenkens wert, der Intellekt ist nicht gefordert. Hauff, Vogeler, Brandner mit ihren neuen Heimatfilmen an, andere Jagdszenen, mit Outlaws, am Western orientiert. Auch bei Fleischmann schimmern amerikanische Muster durch, die Provinzmelodramen der Fünfziger, von Picnic bis Some Came Running – der Bus, der in das Dorf einfährt und auf dem Marktplatz Station macht, das ist eine klassische Szene des Genres. Der Junge, der von draußen zurückkommt und nicht mehr in die Gemeinschaft zurückfindet. Der Außenseiter, der bestraft wird für sein Anderssein, für das Wagnis, anders zu sein – und die Lust, die das bedeutet. Beim Wiedersehen wird Abrams Schicksal von dem Martin Sperrs überlagert, der das Stück schrieb und im Film selbst den Abram spielt. Er hatte innerhalb weniger Jahre eine aufregende Karriere gestartet, die jäh abgebrochen wurde nach einer Gehirnblutung, von der er sich nie wieder restlos erholte. Die Jagdszenen sind in Schwarzweiß gedreht, mit einem sanften, liebevollen Blick fürs Detail, ein Stillleben, in dem jedes Fenster ein feines Blumengesteck aufweist. Das Natürliche und das Künstliche
sind manchmal nicht mehr zu unterscheiden, das Normale und das Abartige – so wie man es aus den Filmen von Buñuel kennt, Las Hurdes, aber auch den Spielfilmen. Die Bewohner des Dorfes Unholzing im Landkreis Landshut spielen mit, und selbst in den hässlichsten Momenten – das hebt den Film dann doch über simple Denunziation hinaus – meint man irgendwie den Geist der Commedia dell’arte zu spüren. In langen Kamerafahrten bringt der Film seine Figuren zusammen, beim Kirchgang, beim Sauschlachten, beim Erntefest, dabei kriegt das Dorf einen gemeinsamen Körper, wird community. Die Bösartigkeit, Grausamkeit, Gemeinheit, die hier sich auswirken, wurzeln in einer urtümlichen Anarchie, die Peter Fleischmann in seinen weiteren Filmen immer stärker beschworen hat. Sie mag eine Gesellschaft degenerieren lassen, aber sie garantiert ihr auch einen Rest an Vitalität. s
Jagdszenen aus Niederbayern von Peter Fleischmann DE 1969, 85 Minuten, deutsche OF Auf DVD bei EuroVideo, www.eurovideo.de
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Sex und Gewalt und die Sehnsucht nach Liebe Von Ja n Gy m pe l
Eigentlich ist Peter Kern seit Jahrzehnten eine feste Größe im deutschsprachigen Kino. Als Schauspieler, aber in mindestens dem gleichen Maße auch als Filmemacher. Doch wie viele seiner Werke sind wirklich präsent, zumal außerhalb seiner österreichischen Heimat? Sind seine Arbeiten zu quer und vielleicht auch zu queer, um in die Kinos zu kommen und im Fernsehen zu laufen? Überprüfen kann man dies an Hand einiger von Peter Kerns Filmen, die immerhin auf DVD verfügbar sind.
s Es gibt Regisseure, die drehen fleißig Filme, und dies nicht unter komfortablen Bedingungen, denn sie sind Außenseiter geblieben. Sie erhalten nicht leicht eine Förderung nach der anderen und einen Fernsehauftrag nach dem nächsten, haben keine Aufnahme gefunden in jene Branchenzirkel, wo man sich gern gegenseitig Preise verleiht – und dennoch bekommen sie nicht einmal als Exoten die ihnen gebührende Aufmerksamkeit. Einer dieser ebenso unermüdlichen wie unabhängigen Außenseiter ist Peter Kern. In den Siebzigern hinterließ der 1949 geborene Wiener schon dank seines leicht wiedererkennbaren Äußeren – (sehr) runde Körperformen, rundes Gesicht, Kulleraugen – in vielen Filmen einen bleibenden Eindruck, ob mit kurzen Auftritten wie als übertölpelter Blumenhändler in Fassbinders Schwulendrama Faustrecht der Freiheit oder mit Hauptrollen wie in Walter Bockmayers und Rolf Bührmanns Frühwerk Flammende Herzen, wo er 1977 an der Seite von Barbara Valentin – und einer echten Kuh – agierte. Für Letzteres und für seine Mitwirkung in Hans-Jürgen Syberbergs Hitler – Ein Film aus Deutschland erhielt Peter Kern den Bundesfilmpreis in Gold. 1975 war er damit bereits als Mitglied des Ensembles von Wim Wenders’ Goethe-Adaption Falsche Bewegung ausgezeichnet worden. In den Achtzigern begann Kern, der auch bei Hans W. Geißendörfer, Daniel Schmid oder Helmut Dietl spielte – sehr schön sein Part in der ersten und wohl besten Kir Royal-Folge als Wirt des einfallslosen Nouvelle-Cuisine-Restaurants, das von Baby Schimmerlos am Ende 34
notgedrungen zum neuen In-Lokal hochgeschrieben wird –, selbst Filme zu drehen. Was bei ihm seither meist bedeutete: Er schrieb, produzierte und inszenierte sie. Eine Handvoll Vergnügen – Crazy Boys, 1987 im Berlinale-Panorama gezeigt, war seine erste Spielfilmregie. Nach eigenem Drehbuch schilderte Kern die Rettung der angeschlagenen Hamburger Szenebühne „Pulverfass“ durch eine damals noch relativ neuartige und originelle Idee: Beim Striptease mal die Rollen zu vertauschen und schmucke Männer sich zum Vergnügen von Frauen entblättern zu lassen. In diesem Streifen fanden sich bereits viele Elemente, die für Peter Kerns Filmschaffen typisch werden sollten. Etwa die Vermischung von Realität und Fiktion: Kerns Spielfilme spielen gern mit der Wirklichkeit (allen voran bei der Polit- und Medienfarce Haider lebt, die Jahre vor dem tatsächlichen Unfalltod des Titelhelden entstand) und beinhalten oft nahezu phantastische Elemente, die nicht zuletzt aus einer gewissen Stilisierung oder dem Unwillen zur naturalistischen Nachinszenierung von Geschichte oder Gegenwart entstehen – so die Szenen aus der NS-Zeit in Blutsfreundschaft oder die umfangreichen Sequenzen aus den Kinder- und Jugendjahren der einstigen Starhure und späteren Huren-Aktivistin Domenica Niehoff in Domenica, die Kern 1994 einfach im Ambiente der damaligen Gegenwart drehte. Zugleich inszeniert er bei seinen Dokumentationen auch manches – mal mehr, mal weniger deutlich. Eigentlich haben alle Regiearbeiten Peter Kerns etwas Essayistisches, sind souveräne Äußerungen eines
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„Blutsfreundschaft“ (2009)
engagierten, da über die Zustände empörten Künstlers, der sich an Kino- wie andere Konventionen nicht halten mag. Für gewöhnlich wird in seinen Filmen eine Handlung denn auch nicht „ordentlich“ – also im gewohnten Ablauf – erzählt, und auch Portraits oder Biopics zeichnen kein vollständiges Bild der im Fokus stehenden Personen, ihres Charakters und Schicksals. Peter Kern hat den Mut zur Lücke, welche die Zuschauer durch ihr eigenes Denken und ihre eigene Phantasie füllen dürfen, seine Filme lassen Fragen offen. Die Schilderung eines bedeutenden Moments scheint ihm meist wichtiger als eine Geschichte detailliert darzustellen. Eine inhaltliche Konstante in Peter Kerns Filmschaffen ist sein Interesse für das, was gern – im weitesten Sinne – als „Rotlichtmilieu“ bezeichnet wird: Immer wieder fungieren der Straßenstrich und gewisse „Etablissements“ als Schauplätze, spielen Stricher, Huren, Freier, Transvestiten und Transsexuelle wichtige Rollen. Aber darf man Transvestiten und Transsexuelle denn so einfach zum „Rotlichtmilieu“ zählen? Natürlich nicht. Doch für Kern sind diese wie andere Menschen, die sich eher freiwillig oder auch unfreiwillig im „Milieu“ aufhalten, nicht aus voyeuristischen Gründen von Interesse, sondern als Außenseiter, dramatischer ausgedrückt: Ausgestoßene der Gesellschaft. Dies gilt für die schon erwähnte Domenica Niehoff, die aus desolaten familiären Verhältnissen kam und aus blanker finanzieller Not ihre Tätigkeit als Sexarbeiterin begann. Es gilt für die alternden oder bereits alten Kölner Schwulen, die sich rund
um das Szene-Original Mutter Colonia ein Biotop – oder genauer: eine Ersatzfamilie – geschaffen haben und in Knutschen, kuscheln, jubilieren portraitiert werden. Und es gilt für den halbwüchsigen Titelhelden von Gossenkind, der von seiner Mutter beschimpft und verstoßen, von seinem Stiefvater geschlagen, bestohlen und sogar vergewaltigt wird, und auf der Straße und dem Straßenstrich eine nicht gute, aber bessere Heimat gefunden zu haben scheint. Zwischen diesem Film, den Peter Kern 1991 in seiner damaligen Wahlheimat Düsseldorf drehte, und dem 2009 in Wien entstandenen Blutsfreundschaft gibt es einige bemerkenswerte Parallelen: In beiden Fällen heißt der jugendliche Protagonist Axel und findet Zuflucht bei einem biederen Mann – in einigen Szenen ähneln die Kleidung und der Habitus des von Winfried Glatzeder in Gossenkind gespielten Familienvaters mittleren Alters mit heimlicher Neigung zu Minderjährigen sogar der Erscheinung des von Helmut Berger verkörperten betagten Schwulen in Blutsfreundschaft. In beiden Fällen ist das Glück zwischen dem Jungen und dem Älteren brüchig und daher nur von kurzer Dauer, letzterer zeigt suizidale Tendenzen, und auch dem Heranwachsenden winkt kein Happy End. Den wesentlichsten Unterschied zwischen den beiden Filmen bildet die „Nazi-Komponente“: Während Rechtsradikale – trotz des Aufflammens fremdenfeindlicher Gewalt in den frühen Neunzigern und obwohl jenes Axels bester Freund farbig ist – in Gossenkind gar keine Rolle spielen, nehmen sie in Blutsfreundschaft eine zentrale Position 35
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„Gossenkind“ (1991, links), „Knutschen kuschlen jubilieren“ (1998)
ein. Das Schwanken des entwurzelten, desorientierten dortigen Axels zwischen seinen Neonazifreunden und dem alten Reinigungsbesitzer, den er eigentlich für sie ausspionieren soll, wird gespiegelt durch die Erinnerungen dieses Mannes an seine erste Liebe im „Dritten Reich“, die mit Entdeckung, Verrat, drakonischer Bestrafung und Tod endete. Dank des nun bereits mehr als zwei Jahrzehnte währenden Erfolgs der FPÖ und ihrer Abspaltungen mag die Auseinandersetzung mit der extremen Rechten für den politisch engagierten Österreicher Peter Kern naheliegen. Sie findet sich denn auch schon in seinem 2003 entstandenen Film Haider lebt – 1. April 2020, wo ein bizarres Zukunftsbild entworfen wird: Der (nur angeblich?) tote Ex-Bundeskanzler Jörg Haider avanciert zum Idol all jener Österreicher, die sich gegen die umfassende Übernahme ihres Landes durch die Amerikaner wehren; ein TV-Journalist (August Diehl) geht Hinweisen nach, Haider sei noch am Leben. Und der ein Jahr ältere Hamlet – This is your family ist die filmische Dokumentation oder eher Ergänzung von Christoph Schlingensiefs Projekt um Neonazis und vor allem – womöglich nur vorgebliche? – Aussteiger aus der Neonaziszene (womit sich der Film wiederum um, glücklicherweise, Außenseiter dreht). Bedenkt man, wie schwer es der Produzent und Regisseur Peter Kern zumindest in der bundesdeutschen Filmszene hat, wie relativ wenig Anerkennung er hier genießt, so erstaunt, wie viele Prominente sich immer wieder in den Besetzungslisten seiner Werke finden. Christoph Schlingensief beispielsweise, der bereits in Gossenkind einen geistig zurückgeblieben wirkenden Knecht spielte, arbeitete vor wie hinter der Kamera häufiger mit Kern zusammen, der auch unter Schlingensiefs Regie agierte. Beide schätzten einander sehr. Es gibt einige Ähnlichkeiten hinsichtlich der Art, wie sie auf politische und gesellschaftliche Entwicklungen reagierten und diese in ihren Arbeiten reflektierten. Allerdings wird kaum jemand auf die Idee kommen, Kern vorzuwerfen, er führe seine Außenseiter vor oder beute sie in anderer Weise aus. Dazu dürften auch zu viel eigene Betroffenheit, zu viele eigene Erfahrungen in seine Filme eingeflossen sein – als von je her stark übergewichtiger Schwuler konnte er sich bestimmt auch innerhalb der so gern gepriesenen „Community“ Ausgrenzung sicher sein und erleben, wie gern Diskriminierte einmal selbst diskriminieren. Deutlich kreisen Peter Kerns Filme letztendlich auch immer um Sex und Gewalt und – kann man sagen: „andererseits“? – um Einsamkeit und die Sehnsucht nach Liebe. Wobei offen bleibt, inwieweit sich manch einer seine Hölle selbst kreiert: Zumindest die älteren Schwulen scheinen die so dringend begehrte Zuneigung nur von jungen bis sehr jungen Männern erhalten zu wollen, gleichaltrige betrachten sie als so unattraktiv wie sie selbst – zu ihrem Schmerz – als unattraktiv betrachtet werden. Und es geht immer wieder um die Irrwege, auf die fehlgeleitete oder falsch verstandene Liebe führen kann – was wiede36
rum als ein Thema erscheinen mag, das sich einem österreichischen Filmemacher aufdrängt, nachdem aus alpenländischen Kellern manch Ungeheuerliches bekannt geworden ist. Peter Kerns vorletztes Werk Mörderschwestern, das erst kürzlich seine bundesdeutsche Erstaufführung erlebte, wurde von den authentischen Fällen österreichischer Krankenschwestern inspiriert, die Patienten „aus Mitleid“ töteten. Es sind sehr grundlegende Dinge, die Peter Kern in seinen Filmen behandelt, auch wenn dies zuweilen von manch grellen Elementen und Tabubrüchen verdeckt zu werden droht. Filme, die der Entdeckung wert sind und zu denen sich ständig weitere gesellen. Nach dem 2009 entstandenen Blutsfreundschaft hat der höchst Produktive schon wieder drei weitere Werke fertiggestellt: King Kongs Tränen, die erwähnten Mörderschwestern und – jüngst im Berlinale-Panorama zu sehen gewesen – Glaube, Liebe, Tod, in dem er selbst einen alten, kranken Schwulen spielt, der um die Liebe seiner Mutter kämpft. Mal sehen, ob der Film in die deutschen Kinos kommen wird. s
Blutsfreundschaft von Peter Kern AU 2009, 95 Minuten, deutsche OF
Haider lebt - 1 April 2021 von Peter Kern AU 2002, 74 Minuten, deutsche OF
Hamlet – This Is Your Family von Peter Kern AU 2002, 80 Minuten, deutsche OF Alle drei auf DVD bei der Filmgalerie 451, www.filmgalerie451.de
Knutschen kuscheln jubilieren von Peter Kern DE 1998, 87 Minuten, deutsche OF
Gossenkind von Peter Kern DE 1991, 85 Minuten, deutsche OF Beide auf DVD bei Pro-Fun Media, www-pro-fun.de
wir verreisen
Queer und erwachsen berlinale / Jean Christophe Husson
Von A n dr é W en dl e r
Die schönsten Entdeckungen des Berlinale-Queer-Programms – und ein paar grundsätzliche Überlegungen.
„Keep The Lights On“ von Ira Sachs (2012)
s Es kommt die Zeit im Leben der meisten queeren Menschen, wo Coming-Out und erste nicht-heterosexuelle Erfahrungen lange vorbei sind und die damit verbundenen Fragen und Probleme ihre Dringlichkeit verlieren. Das queere Kino befasst sich gern mit solchen Erweckungsszenarien, vielleicht, weil sich dann das straighte Publikum einreden kann, es habe für alle eine Zeit des Normal-Seins gegeben. Mit großer Genugtuung und auch Überraschung habe ich im diesjährigen Berlinale-Programm eine Reihe queerer Filme gesehen, in denen keine Gründungsmythen diverser Identitäten heruntergebetet werden, sondern in denen erwachsene queere Menschen erwachsene Probleme haben, die auch jede_r andere haben könnte, die aber eine spezifisch queere Farbe bekommen. Jaurès ist einer dieser Filme, der glücklicherweise und völlig zu Recht den Spezialpreis der TeddyJury bekommen hat. Der Regisseur zeigt einer Kollegin einen Film, den er in der Wohnung seines ehemaligen Geliebten Simon gedreht hat. Zu sehen sind afghanische Flüchtlinge, die vor dem Fenster am Kanal kampieren müssen, weil sie illegal in Frankreich sind und ein Ende ihrer Illegalität nicht in Sicht ist. Gleichzeitig erzählt er ihr von seinem Geliebten, dem Schmerz und der Freude, die ihre in vielerlei Hinsicht besondere Beziehung produziert hat. Die Spannung, die sich zwischen den intimen Überlegungen zur Liebe zweier Männer, von denen einer schon Opa ist, und der distanzierten Beobachtung der Flüchtlinge ergibt, ist nicht immer leicht zu ertragen. Sie zeigt aber, das queeres Begehren niemals jenseits der räumlichen und zeitlichen Zufälle urbanen Lebens existiert und fortwährend mit Dingen konfrontiert ist, die vordergründig scheinbar wenig miteinander zu tun haben. Jaurès verkneift sich dabei Plattitüden über das Politische der persönlichen Beziehungen und fordert seine Zuschauer_innen dazu auf, sich zu den Zutaten seines filmischen Experimentierkastens selbst in Beziehung zu setzen. Der Gewinner des Teddy Awards, Keep the Lights on, weiß von derartigen formalen Experimenten nichts. Es ist ein ziemlich geradeheraus erzählter Spielfilm über die Beziehung zweier Männer, die über etwa zehn Jahre begleitet wird. Die beiden gehen durch alle Phasen, die sich in einer Beziehung denken lassen. Vieles von dem, was den beiden begegnet, von der Frage nach Treue oder Polyamorie, Verbindlichkeit, Lachen und Leiden, könnte in ähnlicher Form in fast jeder Beziehungskonstellation auftauchen. Der Film schafft es aber, diese generellen Beziehungsfragen immer wieder um spezifisch großstädtisch-schwule Belange zu ergänzen. An der komischen und unerträglich traurigen Beziehung von Eric und Paul ist alles allgemein und spezifisch zugleich. Beziehungsarbeit ist damit immer auch die Justierung der spezifischen Situation am jeweiligen Erwartungshorizont. Im Kino bilden die klassischen Beziehungsnarrative noch immer diesen Horizont. Keep the Lights on hat diese Erzählungen immer im Hinterkopf und serviert sie einmal in Reinform,
um ihnen beim nächsten Mal in einer gewitzten Volte auszuweichen. Im Forum der Berlinale haben zwei Filme, die man unbedingt zusammen sehen muss, einmal dem Zustand heterosexueller Ehen und Beziehung auf den Zahn gefühlt. What is Love und Beziehungsweisen haben offenbar bis ins Letzte verstanden, was daraus folgt, wenn eine éducation sentimentale unter den Bedingungen des Kinos absolviert wird. In beiden Filmen werden Paarbeziehungen durch das Kinoauge betrachtet: Einmal sitzen Schauspieler_innen als Paare in Paartherapien, einmal spielen Familien Szenen aus ihrem Leben, als seien sie darin nur die Statisten. Die Begegnung der beiden Filme ist spannend: An den echten Personen hängen ihre realen Probleme wie ausgetragene übergroße Kleidungsstücke. Die Schauspieler hingegen stecken in ihren Rollen wie in Maßanzügen. Die Liebesund Beziehungskonzepte, die in beiden Filmen vorgeführt werden, bleiben immer auf Film und Kino bezogen. Calle Overweg hat die Geschichten, die den Improvisationen seiner Schauspieler_innen als Grundlage dienen, von ihm geschätzten Filmen entnommen. Die Bilder von Ruth Mader sehen aus wie neueste Berliner Schule. Wir können, so scheinen sich beide Filme gegenseitig zu kommentieren, jenseits kinematografischer Techniken und Repräsentationen gar nicht mehr verstehen, was Pärchen sind und wie sie funktionieren. Das wäre nun aber, bei aller Konventionalität der Anordnungen in beiden Filmen, eine ziemlich weitreichende These. In jedem Darkroom, in jedem Ehebett, bei jedem Date, bei jeder Trennung, schliefen, stritten, küssten, fickten, weinten Kinobilder, Kinofiguren, Kinokonzepte, Kinoliebhaber_innen mit. In anderen Filmen der diesjährigen Berlinale finden wir ähnliche Konstellationen: Die Beziehung der beiden Jungs in Westerland lässt sich nur verstehen, wenn man sie nicht nur vor dem Hintergrund der gleichnamigen Landschaft begreift. Man muss das ganze Repertoire affektiver Liebeslandschaften des amerikanischen Western oder des Heimatfilmes mitdenken, um zu verstehen, warum Beziehungen in den Tönen der gefrorenen Nordsee etwas anderes sind als solche aus der Glut des Südens. Die Wiederaufführung von Tom Kalins Swoon hat uns daran erinnert, wie untrennbar bestimmte Paarbeziehung an die Kinobilder ihrer Zeit gebunden sind. Der Film reflektiert nämlich nicht nur die politischen Fragen seiner Entstehungszeit, sondern mindestens genauso intensiv die Konventionen schwuler Beziehungsbilder der 1920er Jahre, in denen er spielt. Filme wie diese haben uns in diesem Jahr daran erinnert, dass mit queeren Inhalten und Figuren allein kein queeres Kino zu machen ist. Queeres Kino muss immer beiden gerecht werden: den Queers und dem Kino. Filme, die beide Register ziehen können, sind für mich erwachsenes queeres Kino. Daran sollten sich nicht nur die Filmemacher_innen von Zeit zu Zeit erinnern, sondern auch die Auswahlkommissionen der Filmfestivals mit verstärkt queeren Ansprüchen. s 37
film-flirt
Der Moment Sch r i f tst e l l e r se h en F i lm e: Wol fga ng M ü l l e r
Wolfgang Müller, Autor, Künstler, Musiker und Elfenfachmann, nimmt den „protoqueeren“ „Kiss“ von Andy Warhol und das Homo-Mahnmal in Berlin zum Anlass, über den Film-Moment des Kusses nachzudenken. Genauer: über die Verbindung von Schönheit und Ekel.
Valeska Gert – Ästhetik der Präferenzen von Wolfgang Müller Martin Schmitz Verlag, Berlin 2010
Subkultur West-Berlin 1979–1989 von Wolfgang Müller Philo Fine Arts, Hamburg 2012
Kosmas von Wolfgang Müller Verbrecher Verlag, Berlin 2011
Die Elfe im Schlafsack von Wolfgang Müller Verbrecher Verlag, Berlin 2011
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s Im Homo-Mahnmal von Künstlerduo Elmgreen und Dragset ist ein Film integrierter Teil des Gesamtkonzeptes. In einer Betonauslassung sollten, so plante das Künstlerduo, die Videoaufnahmen zweier küssender Männer erscheinen. Nachdem die Entscheidung zum Bau des Homo-Mahnmals gefallen war, erhob sich Streit: Emma-Chefredakteurin Alice Schwarzer und andere wiesen darauf hin, dass lesbische Frauen als Opfer des Naziterrors durch diese Entscheidung vollkommen ausgeblendet seien. Unterstützung erhielt ihre Kritik von Comic zeichner Ralf König und weiteren schwulen und lesbischen Prominenten. Der heftige Streit führte dazu, dass nach einer Bundestagsdebatte beschlossen wurde, den Videoclip im Inneren des Mahnmals alle zwei Jahre durch einen neu zu produzierenden Film auszuwechseln. Natürlich gilt die Autonomie der Kunst noch weniger für Denkmäler und Mahnmale als für „reine“ Kunst. Bei Denkmälern besteht ganz generell die Problematik, dass ausführende Künstler gezwungen sind, zahlreiche Stimmen, Ansichten und Interessen von vorneherein mit zu berücksichtigen – von den zu gedenkenden Opfern und Toten, die nicht gefragt werden können, bis hin zu Baustadträten und Gleichstellungsbeauftragten, die ebenfalls ihre aktuellen politischen Interessen geltend machen wollen. Weigern sich Künstler, auf all diese Änderungswünsche einzusteigen, endet die Forderung nach ständiger Nachbesserung des Mahnmals keineswegs automatisch. Der von Elmgreen und Dragset geplante „Schwulenkuss“ (Sirko Salka in der „Siegessäule“) wurde also in einer parlamentarischen Diskussion durch einen „Lesbenkuss“ erweitert (angeglichen? vervollständigt?). Eine „ExpertInnenjury“ entscheidet nun über die Auswahl der zwei Jahre gezeigten Kusssequenzen. Das klingt sehr demokratisch, aber vielschichtige Kunst ist weder demokratisch, noch kann sie Mehrheitsentscheidungen berücksichtigen. Da miteinander küssenden Frauen in den bestehenden gesellschaftlichen Hierarchien und den ihr innewohnenden Ästhetiken eine völlig andere Stellung zugewiesen wird als zwei küssenden Männern, werden die Normalitätsregime der Mehrheit durch diese Inklusion keineswegs irritiert, sondern weiterhin bestätigt. Die Unterdrückung von Frauen ist völlig anders strukturiert als die von Schwulen, die immerhin das Privileg genießen, zur bevorzugten Gruppe „Mann“ zu zählen. Extrem zwiespältig klingt der Wunsch des Regisseurs des aktuellen Videos, Gerald Backhaus: „Schön wäre es, wenn sich andere Leute an den Küssen erfreuen würden (…)“, da es genau das bedient, was andere als Homonationalismus oder queere Rassifizierungspolitiken zu diskutieren versucht haben. Denn der Appell an den normalen Geschmack manövriert genau von der Schwelle Normalität/Perversion wie selbstverständlich zur Affirmation bestehender Geschmackshierarchien. Die große Differenz zwischen „homosexuell“ und „homosozial“, zwischen „privat“ und „öffentlich“, zwischen „Männerküssen“ und „Frauenküssen“ lässt sich gut an den politischen Bruderküssen zwischen Honecker/Gorbatschow, aber auch aktuell Sarkozy/Merkel beobachten. Es wäre natürlich schön, wenn dieses neo-individual-liberale Einerlei irgendwie ausgrenzende Diskriminierungsstrukturen irritieren würde. Denn wenn dem so einfach wäre, hätte das ganze Denkmal einen rein nostalgischen Zweck. Auf unübertreffliche Weise gelingt es mit ganz ähnlichen Kussmotiven, Andy Warhols Film Kiss von 1963, die ganze Ambivalenz zwischen Intimität und normalen Geschmackspolitiken in einem Raum ins Spiel zu bringen. Schönheit und Ekel garantiert inklusive. In diesem 16mmSchwarzweiß-Stummfilm küssen sich über fünfzig Minuten lang Paare unterschiedlichster sexueller Orientierung. Oft ist wegen der Schwarz-Weiß-Kontraste und der bewegten Kamera nicht ohne Weiteres erkennbar, wer da welches Geschlecht aufweist. Unter den Küssenden befinden sich der 1923 geborene, schwule Popart-Künstler Robert Indiana, dessen „LOVE“ allseits bekannt ist, als auch Warhol-Superstar Baby Jane Holzer, Jahrgang 1940 – benannt nach Robert Aldrichs gleichnamigen Film Baby Jane. Sie betreibt heute einen Eisladen in Florida und arbeitet als Immobilienmaklerin. Warhols Küsse sind revolutionär – bis heute. Sie sind
wolfgang Müller / Anno Dittmer
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Blixa Bargeld (rechts im Bild) überraschte den Autor Wolfgang Müller im Westberlin von 1980 mit einem Zungenkuss.
in unterschiedlichster Hinsicht proto-queer und übertreffen fünfzig Jahre nach ihrer Aufnahme noch jeden bisher im Mahnmal von Elmgreen und Dragset integrierten Kussfilm. Zum einen findet sich in Kiss das genaue Gegenstück zum perfekt inszenierten HollywoodFilmkuss, in dem kein Speichelfaden oder gequetschte Gesichtsteile die Ästhetik irritieren sollen. Und – sehr wichtig – sie kümmern sich nicht einmal darum, ob der jeweilige Kuss nun auf allgemeines Gefallen stößt oder ob er es nicht tut. Trotzdem tut Kiss beileibe nicht so, als ob die angestrebte Utopie bereits verwirklicht wäre, also es völlig egal sei, ob Frauen Frauen oder Männer Männer körperlich berühren und begehren. Mancher Kuss in Kiss sieht vielleicht lecker aus, mancher eher komisch oder gar abstoßend – aber die Ästhetik des Kusses spielt keine Rolle. Vielleicht macht den Küssenden ja viel Spaß, was für die Betrachter so aussieht, als schnappe ein kranker Karpfen nach Luft? In seiner Entstehungszeit 1963 stellt Kiss eine zusätzliche Provokation dar, eben dadurch, dass er gesellschaftlich eine Attacke auf Mehrheitsregime und ihre Ästhetik war, in vielerlei Hinsicht. Die weißen Punkte am Ende jeder auslaufenden Filmrolle, die Andy Warhol deutlich sichtbar in seinen Filmen beließ, sind das Signal für Filmvorführer zum Wechsel bei der Vorführung. Andy Warhol outet damit außerdem den Wechsel der Rollen, er macht sichtbar, was eigentlich nur der Vorführer wissen soll, nicht aber die Zuschauer – das offene Geheimnis, das eigentlich im Verborgenen bleiben soll. Und dadurch, dass er die sexuelle Orientierung der jeweils Küssenden zur zweitrangigen Angelegenheit macht – Homosexualität war 1963 sicherlich absolut keine „Nebensache“, schon gar nicht für die Empfindungen und Gefühle der Mehrheit – entfaltet Andy Warhols Kiss über diesen Umweg der Wahrnehmungen seine bis heute unübertroffene subversive Energie. s 39
frisch ausgepack t
Neu auf DVD von Ch r ist oph M e y r i ng (CM), Pau l Sch u l z (PS) u n d Ja n K ü n em u n d (J K)
DAS TRAURIGE LEBEN DER GLORIA S. DE 2011, Regie: Ute Schall & Christine Groß, Edition Salzgeber
Eine bitterböse, rabenschwarze Komödie über zwei starke Frauen, die sich gegenseitig verdient haben: Die eine ist Schauspielerin und braucht dringend einen Job; die andere ist Regisseurin und muss dringend einen Film über prekär lebende Frauen machen. Christine Groß und Ute Schall haben daraus eine durchgeknallte Farce über das falsche Bild vom wahren Leben und über glamouröse Überlebensstrategien gemacht. „Bevor das Spiel mit der Inszenierung von Realität in Gang kommt, sei zumindest noch der Vollständigkeit halber darauf hingewiesen, dass der Film zumindest skizzenhaft versucht, noch eine weitere Realitätsebene einzubauen, die auf die konkrete Realität der Figuren verweist. Auf dieser Ebene ist Das traurige Leben der Gloria S. weitgehend ein Frauenfilm. Da ist die erfolglose, unter prekären Bedingungen lebende Schauspielerin Gloria, die, wiewohl sie in einer nicht unproblematischen lesbischen Beziehung lebt, sich als integraler Bestandteil einer zwar kaputten, aber strukturell der Norm entsprechenden Kleinfamilie inszenieren muss/will. Charlotte, die Filmemacherin, sucht wiederum den Kontakt zur sozialen Realität aufgrund einer diffusen Krisenerfahrung, weil ihre Parameter einer Erfahrung des Politischen nicht mehr zu greifen scheinen. Als ‚Realitätsprinzip‘ fungiert die toughe Filmproduzentin von Lösch, die das fadenscheinige Spiel früh und instinktiv durchschaut. (Ulrich Kriest in SISSY 4/2011)
LOLLIPOP MONSTER DE 2010, Regie: Ziska Riemann, Edition Salzgeber
Die quietschbunte Ari und die düstercoole Oona werden Freundinnen, die sich gegen ihre Familien wehren und gemeinsam explodieren. „Unstet wie pubertäre Stimmungsschwankungen wechselt der Film von der Story in Musikclips, vom Spielfilm über Super8 in eine Comicästhetik. Egal, wann man jung war, ob
zu Tolle-, Flattop-, Föhnwelle- oder Stachelfrisurzeiten, egal, ob die Eltern einem Rolling Stones, Joy Division oder Chicago House verbieten wollten: Riemanns Film, bei dem die Berliner Comiczeichnerin, Autorin und Musikerin erstmalig Regie führte, versucht, das globale Pubertistinnengefühl einzufangen, und es in der gleichen Windstärke bildlich umzusetzen, in der es subjektiv empfunden wird. Sie hat dazu Musik er- und gefunden, die das Außenseitermotiv illustriert: Die imaginäre Oona- und Ari-Lieblingsband ‚Tier‘, deren Sänger aussieht wie der Voodoo-Priester Baron Samedi (aus James Bonds Leben und sterben lassen), und die in Rammstein-Manier rocken, nur mit mehr Gitarre, besingen ‚Trieb, Lust und Instinkt‘. Eine andere der vielen Musikeinlagen zeigt strippende Barbiemädchen beim Teddypeitschen. Wer das ein bisschen protzig und übertrieben findet, hat Recht. Aber es geht hier schließlich um Aufruhr im Hypothalamus.“ (Jenni Zylka in SISSY 2/2011)
HERBSTGEFÜHLE – 80 EGUNEAN ES 2010, Regie: Jose Garaño & José María Goenaga, Edition Salzgeber
Zwei Damen um die 70 fragen sich, ob sie ihre Gefühle füreinander endlich zulassen wollen. „Maite küsst Axun in einem Arrangement wie damals in der Sepia-Erinnerung. Axun küsst sekundenlang zurück, entschließt sich dann zur Abwehr. Der dramatische Ausbruch der lange verschlossen gehaltenen Gefühle findet auch metaphorische Entsprechungen: Das Boot der beiden hängt seeuntüchtig in den Seilen, als sie zum Steg zurück kommen, Axun schließlich fällt ins Wasser und Maite springt hinterher. Die sexuelle Konnotation der klatschnassen Körper, der unmittelbare physische Kampf zwischen beiden nach all den Gesprächen, Berichten, Diskussionen wirkt befreiend. Gefragt, wie sie auf die Idee für einen lesbischen Liebesfilm über 70-jährige Frauen gekommen seien, sagten die beiden Regisseure, die einzige Vorgabe für sie wäre gewesen, es sollte von älteren Menschen handeln und Baskisch sollten sie sprechen. Ansonsten hätten sie keine Randgeschichte, auch keine kämpferische Emanzipationsgeschichte erzählen oder ein Coming-Out beschreiben wollen, sondern eine
universale Geschichte. Ein Stück Normalität.“ (Angelika Nguyen in SISSY 4/2011)
SCHLAFKRANKHEIT DE/FR/NL 2011, Regie: Ulrich Köhler, Lighthouse
Ein Arzt geht in Afrika verloren. Ein anderer kommt gar nicht erst an. Letzterer ist „eine Identifikationsfigur, findet Regisseur Ulrich Köhler: Alex Nzila, der schwule, schwarze WHO-Bürokrat aus Paris, dessen erster Auftrag eine Reise nach Afrika ist, das er nur soweit wahrnimmt wie der Schein seiner kleinen Taschenlampe reicht. Tatsächlich ist das eine originelle Figur, unbeholfen, ängstlich, schwach – so ganz anders als die kolonialen und postkolonialen Herren, die sich die Fremde verständlich machen und dann aneignen wollen, in den kolonialkritischen Erzählungen aber schließlich scheitern und degenerieren, zu Nicht-Afrikanern und Nicht-mehr-Europäern werden. Auch diese Figur gibt es in Schlafkrankheit, Ebbo, der andere Mediziner, der natürlich auch weiß, was man bei Schwulsein in Afrika verschreibt (‚bloß keinem erzählen‘). Der Film hat seine zwei Teile um diese zwei Figuren herum aufgebaut, weniger, um Thesen kultureller Fremdheiten gegeneinander auszuspielen, sondern eher, um undurchdringliche Bilder zu setzen und vom Scheitern der Strategien zu erzählen, Fremdheit aufzulösen, die eigentlich selbstgemacht ist.“ (Jan Künemund in SISSY 2/2011)
VIER MÄNNER UND EINE HOCHZEIT GB 2011, Regie: Trevor Garlick, Pro-Fun Media
Wenn Danny Weatherill sein Erbe nicht verlieren möchte, dann sollte er möglichst bald vom Single-Markt verschwunden sein. Eine Klausel im Testament seines verstorbenen Vaters bestimmt nämlich, dass er bis zu einem nicht mehr allzu fernen Termin verheiratet sein muss, um es antreten zu dürfen. Ob mit einer Frau oder einem Mann, lässt der entsprechende Passus offen. Gott sei dank, denn Danny hat sich nach seiner ersten gescheiterten Ehe mit einer Frau sexuell umorientiert. Um nun auf die
frisch ausgepack t
Schnelle einen geeigneten Lebenspartner zu finden, setzt er einen ausgeklügelten DatingMasterplan in die Tat um. Die letzten drei sorgsam ausgesiebten Kandidaten werden am Abend vor der Hochzeit in ein Schlosshotel eingeladen, wo anderntags einer von ihnen vor den Traualtar geführt werden soll … Die Grundidee für diese britische Komödie scheint indessen, wie unschwer zu erkennen ist, von TV-Casting-Shows á la Der Bachelor vorgezeichnet worden zu sein. Nach der Zugabe von einigen auch nicht mehr ganz taufrischen Zitat-Zutaten aus Kino-Vorbildern, allerdings ohne würzenden und bindenden Schuss Witz, ist aus dem Homo-Lustspiel leider etwas eher Fades von bröckelig-heterogener Konsistenz geworden. Dies betrifft leider auch die Leistung der Darsteller − nicht zuletzt die des Hauptdarstellers, dessen enervierende Dauer-Aufgeräumtheit zuweilen abrupt von einer ebenso aufgesetzten Gefühligkeit unterbrochen wird. Und zuletzt sei noch an den Haager Gerichtshof appelliert, den unsäglichen (Speed-) Dating-Gag (Held sitzt im Café, trifft skurrile Type Nr. 1, Schnitt, skurrile Type Nr. 2, Schnitt, Nr. 3 etc. pp.), ohne den seit gefühlten drei Jahrzehnten kaum noch eine Beziehungskomödie auszukommen meint, endlich als Menschenrechtsverletzung anzuerkennen und dafür empfindliche Strafen in Aussicht zu stellen! cm
Toast GB 2011, Regie: S.J. Clarkson, Ascot Elite
Toast ist ein Film über die Kindheit und Jugend von Nigel Slater, Englands berühmtestem Fernsehkoch. Ja, es gibt auch in England berühmte Köche. Sollte man nicht denken, wenn man mal versucht hat, die englische Küche zu genießen, ist aber so. Dazu kommt: Toast ist ein toller Film, weil er nicht in den Küchen von Nobelrestaurants, sondern in einer Arbeitersiedlung spielt. Hier wächst der kleine Nigel auf. Als seine Mutter stirbt, holt sich sein Vater eine neue Frau ins Haus: Mrs. Potter, die sich vor allem dadurch auszeichnet, kochen und exzellent putzen zu können und Mr. Slater die Einsamkeit zu vertreiben. Sie wird es sein, die den Jungschwulen Nigel anspornt, ein Spitzenkoch zu werden, allerdings indirekt: Der Kleine hasst den ordinären Mutterersatz und versucht einfach, in der Küche besser zu sein als sie, um sie wieder los zu werden. Freddie Highmore und Helena Bonham-Carter liefern sich in den beiden Rollen nicht nur in der Küche, sondern auch auf der Leinwand eine leise Schlacht, die man gesehen haben sollte. Das ist großes, wunderbares Schauspielerkino, das von Regisseurin S.J. Clarkson gekonnt umgesetzt wird. Als Nigel, nachdem Mrs. Potter seinen Vater mit zu viel guter Kost zu Grunde gerichtet hat, in den letzten
Filmminuten seinen ersten Mann küsst, weiß man, ab hier geht es aufwärts mit ihm. ps
SWANS – Hunger nach Leben
Story of a Bad Boy
„Aus Portugal kommen sie. Der Vater, Tarso, arbeitet im Import-ExportGewerbe, kauft Autos in Deutschland, die er in Portugal mit Gewinn wieder verkauft. Der Sohn, Manuel, ist ein Skater, ein sehr virtuoser, von einem Sponsor ist die Rede, auch davon, dass es der Vater ist, der seine Miete bezahlt. Im Zentrum des Films jedoch steht die Ex-Frau des Vaters, die Mutter des Sohnes, der jedoch keine Erinnerung an sie hat. Man muss genauer auch sagen: Die Mutter steht nicht, sondern liegt. Sie ist nach einer aggressiven Krebs-Chemotherapie ins Koma gefallen; nicht bei Bewusstsein, komplett immobil. (…) Swans ist ein Körperhorrorfilm. Das Koma als vollständiger Kontrollverlust, der in die Bewegungs- und Leblosigkeit führt. Die totale Kontrolle des Skaters beim Skaten. Einmal macht der Vater Meditationsübungen und überlässt sich dabei ganz den Anweisungen der von ihrem Körper dissoziierten Stimme von der CD. Wie Sonden sind die Figuren in der Stadt unterwegs, auf einer Suche, sie wissen nur nicht, wonach. Reinhold Vorschneiders Kamera liegt mit ihren virtuosen Fahrten und Eigenbewegungen, das Berührungs- als Abbildungsbegehren verdoppelnd, noch einmal quer dazu. Der Film selbst nimmt zu alledem die einzig plausible Position ein: Er hält es konsequent fest, unter enigmatischem Titel, und mobilisiert den Betrachter, indem er sich seinem schnellen Begreifen entzieht.“ (Ekkehard Knörer in SISSY 2/2011)
USA 1999, Regie: Tom Donaghy, Edition Salzgeber
Pauly ist notgeil wie alle 17-Jährigen. Sein Leben kreist um seine Körpermitte und um die nächste Gelegenheit, seinen Hormonstau zu beheben. Dabei flirtet er mit Nonnen, Messdienern und seinem verschreckten Schauspiellehrer Noel, der nicht so Recht weiß, wohin mit sich oder seinem Zögling. Dass sein Leben so schwanzgesteuert ist, ist nicht gut für Pauly, denn so kommt er permanent in Schwierigkeiten. Story Of A Bad Boy ist ein erfreulicher kleiner Film, der gut gealtert ist und der, obwohl er schon 13 Jahre auf dem schmalen Buckel hat, nichts von seiner amüsanten Frische verloren hat. Was auch an seinem 1980er Setting liegen mag, das ihm einige Witze gestattet, die man in der Gegenwart so nicht machen würde. Der Film verschwand, nachdem er kurz nach seiner Entstehung auf vielen Festivals lief und paar Mal im deutschen Fernsehen zu sehen war, spurlos von der Bildfläche. Dass Salzgeber die überdrehte Komödie dem Publikum nun auf DVD wieder zugänglich macht, ist schön. ps
August USA 2011, Regie: Eldar Rapaport, Pro-Fun Media
Als Troy nach Jahren aus Spanien nach Los Angeles zurückkehrt, versucht er da anzuknüpfen, wo er aufgehört hat – vor allem bei seinem Exfreund Jonathan. Dass der längst einen neuen Freund hat, ist für Troy aber kein wirkliches Hindernis. Das Ergebnis ist eine Dreiecksgeschichte mit explosivem Ausgang. Regisseur und Drehbuchautor Eldar Rapaport liefert mit August die Langfassung seines guten ersten Kurzfilms Postmortem von 2005 ab, und hat dabei viel richtig gemacht. August ist eine Geschichte über heiße Leidenschaft, die er in eiskalte Bilder wickelt. Das ergibt einen reizvollen Widerspruch, den er erzählerisch zu nutzen versteht. Auch seine beiden Hauptdarsteller Daniel Dugan (Jonathan) und Murray Bartlett als Troy waren schon in der Kurzfassung dabei und haben sichtlich Freude daran, ihren Charakteren jetzt mehr Hintergrund und Tiefe zu geben. Das, was einige an August allerdings am aufregendsten finden werden, ist die nicht-lineare Erzählweise und der Schnitt. Modern oder anarchisch? Geschmackssache, ich fand’s super. ps
PT/DE 2010, Regie: Hugo Vieira da Silva, Edition Salzgeber
MY LAST ROUND CHI/ARG 2011, Regie: Julio Jorquera Arriagada, Bildkraft
Kurz nachdem er seine Großmutter beerdigt hat, lernt der junge Restaurantmitarbeiter Hugo in der chilenischen Provinz den etwas älteren Boxer Octavio kennen, der ebenfalls mit einem Verlust fertig werden muss. Denn gesundheitliche Probleme zwingen ihn, seine Boxhandschuhe endgültig an den Nagel zu hängen. Aus schüchterner Annäherung wird unversehens Liebe. Und da die beiden ohnehin kaum mehr etwas zu verlieren haben, beschließen sie einen gemeinsamen Neuanfang in der Hauptstadt Santiago, wo der gelernte Friseur Octavio schnell eine Anstellung in einem Herrensalon findet. Hugo kommt als Fahrer in einer Tierhandlung unter. Doch das Zusammenleben „wie Mann und Frau“ in der kleinen, ärmlichen Wohnung ist nicht nur mit einem 41
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Versteckspiel vor der homophoben Umwelt verbunden, es mutet auch irritierend an, da es klassisch männliche Rollenvorstellungen in Frage stellt. Problemverschärfend kommt noch hinzu, dass die Tochter des Tierhändlers Hugo schöne Augen macht, während Octavio mit einem lebensgefährlichen Comeback im Ring liebäugelt … Der Umstand, dass die an Rocky, Wie ein wilder Stier, The Wrestler und unzählige andere Kinovorbilder erinnernde Lebenskampf-Metapher mithin selbst reichlich abgekämpft erscheint, sollte für das potenzielle Publikum kein K.o.-Kriterium darstellen. Denn nicht nur die in regenschleierverhangenen, melancholischen Schlechtwetterbildern schwelgende, überraschend kunstsinnige Kamera sorgt dafür, dass Julio Jorqueras Regie-Debüt mit weit weniger als einem blauen Auge davonkommt. Auch − und vor allem − das reduzierte und in jeder Situation glaubwürdige Spiel der beiden hervorragenden Hauptdarsteller beschert diesem Film schließlich einen eindeutigen Sieg nach Punkten. cm
I WANT TO GET MARRIED US 2011, Regie: William Clift, Pro-Fun Media
Nachdem er in seiner quietschbunten Wohnung die Hochzeit seiner lesbischen Freundinnen Rebecca und Susan ausgerichtet hat, fasst Paul Roll, Inhaber einer Werbagentur, den festen Entschluss, demnächst auch selbst mit dem Mann seiner Träume die Ringe zu tauschen. Es gibt dabei nur ein paar Probleme: Da die Homoehe in Kalifornien aufgrund eines bevorstehenden Volksentscheids (Proposition 8) bald wieder abgeschafft werden könnte, steht dafür − erstens − mitunter nur ein sehr kleines Zeitfenster offen. Zweitens ist noch überhaupt gar kein Traummann in Sicht. Und drittens ist Paul zwar im Job ein Genie, abgesehen davon aber extrem schüchtern, nicht sonderlich attraktiv und so schrullig, dass ihn die Weltvereinigung aller Nerds einstimmig zu ihrem Vorsitzenden wählen würde. Jetzt ist Zweckoptimismus gefragt … Regisseur William Clift begibt sich mit seiner schwulen Heiratskomödie, die auch als kritischer Kommentar zum zeitgleich mit Obamas Wahlsieg vollzogenen kalikornischen Rollback in Sachen Homoehe zu verstehen ist, eindeutig auf das Gebiet des Trash, wo man sich fast alles herausnehmen kann. Das Wenige, das man sich nicht herausnehmen darf, was sich dieser Film aber leider nicht verkneift, besteht − erstens − darin, sich nicht genug herauszunehmen, also zu wenig absurd, überdreht und geschmacklos daherzukommen. Zweitens verträgt ein Trash-Machwerk weder Sentimentalität noch vernunftbegabte, ganz 42
„normal“ agierende Charaktere, die hier einmal mehr lesbisch sein müssen. Und drittens reicht es nicht, sich eine Woody-Allen-Brille auf die Nase zu setzten, um auf so witzige Weise tollpatschig zu wirken wie Besagter in seinen frühen Slapstick-Komödien. Matthew Montgomerys Darstellung lässt zuweilen sogar an die mütterliche Ermahnung „Darüber lacht man nicht!“ erinnern. Zu lachen gibt es zwar manchmal schon etwas, aber eindeutig zu wenig für einen lustigen DVD-Abend. cm
Die Mission USA 2009, Regie: Peter Bratt, Pro-Fun Media
Die Mission ist eine Familienangelegenheit: Hollywoodstar Benjamin Bratt spielt die Hauptrolle in einem Film, den sein Bruder Peter geschrieben und als Regisseur betreut hat. Das ist keine Gefälligkeit unter Geschwistern, sondern ein geschickter Karriereschritt auf beiden Seiten. Benjamin kann als Raubein, das im Hispanic-Viertel von San Francisco einen schwulen Sohn großziehen und dabei seine eigenen Vorurteile überwinden muss, eine Glanzleistung abliefern, die ihm viel mehr abverlangt als sein schönes Gesicht – und Peter hat einen großen Namen über dem Titel. Der Film ist das feinfühlige Porträt einer gespaltenen Figur und eine Studie darüber, wie weit sich eine in Machismo getränkte Kultur von ihren Wurzeln entfernen kann, ohne in der Luft zu hängen. Die Antwort lautet: sehr weit, aber langsam. Fein beobachtet, noch besser geschrieben und brillant gespielt: Mehr kann man von einem Film nicht wollen. Dass Die Mission daneben stellenweise auch noch sehr witzig und hochgradig unterhaltsam ist, sind feine Zugaben. ps
PRIVATE ROMEO US 2010, Regie: Alan Brown, Edition Salzgeber
Private Romeo liebt Private Juliet – quatsch: Private Glenn. Die größte Liebesgeschichte aller Zeiten in schwul, unter Soldaten und im Originaltext von Shakespeare. „Du bist in diesem verlassenen Militärstützpunkt gefangen und außer ein paar merkwürdig poetisch veranlagten Soldaten gibt es da auch nicht viel. Aber trotzdem wäre ich jetzt gerne bei dir und würde dafür auch Shakespeare auswendig lernen. Das machen diese merkwürdig poetisch veranlagten Soldaten ja auch die ganze Zeit. Die habe ich echt falsch eingeschätzt. Sitzen da wie die letzten Macker in diesem Army-Klassenzimmer und zitieren fleißig aus Reclam-
heftchen, oder wie die bei euch in den Staaten heißen. ‚Reclaim‘-Heftchen vielleicht. Reclaim the classics – Erobere die Klassiker zurück. Naja, egal. Erst sitzen sie da wie die Obermachos und plötzlich wird der ganze Stützpunkt zur magischen Bühne und du natürlich in der Mitte.“ (Tobias Rauscher in SISSY 3/2011)
GIGOLA FR 2010, Regie: Laure Charpentier, Pro-Fun Media
Laure Charpentiers schwelgerische Ode an die Pariser Garçonnes der frühen 60er Jahre beruht auf ihrem eigenen Roman – und auf ihren eigenen Erinnerungen. „Es gibt Momente von ungeheuerer Kälte und verstörender Härte in Gigola. Wenn Georges zum ersten Mal der reichen Odette begegnet, sich ihr anbietet und sie dabei zugleich unterwirft, ist ihr Triumph und Odettes Niederlage schon beim ersten Tanz besiegelt – Camillo Felgen singt ‚Sag warum‘ und erzählt dabei eben auch von der unendlichen Einsamkeit der älteren Frau. Wie das ‚Ich‘ des Lieds stürzt auch sie durch die Liebe in eine noch tiefere Einsamkeit. Sie verfällt Gigola und wird sie nie besitzen … sag warum. Aber selbst eine Antwort auf diese Frage wäre kein Trost. Die Liebe und das Begehren treiben alle Figuren Laure Charpentiers an, aber Erfüllung oder gar Erlösung findet keine von ihnen. Die Nacht ist und bleibt die einzige Antwort. Sie ist die Zeit des Dahin-Treibens, des Vergessens, der Lust und der Schönheit.“ (Sascha Westphal in SISSY 3/2011)
MEIN SOMMER MIT MARIO AR/FR/ES 2009, Regie: Julia Solomonoff, GMFilms
Es ist der Sommer der Abschiede und Neuanfänge, des Erwachsenwerdens, der Emanzipation. Zwischen Mario und Jorgelina entsteht einen Urlaubsfreundschaft in der argentinischen Pampa: Sie reiten, baden an schlammigen Flussufern, sammeln Schlangenhäute. Doch was so unbeschwert aussieht, hat viel zu unterschiedliche Voraussetzungen: Jorgelina ist eine etwas verwöhnte Arzttochter, die das Problem hat, dass ihre Schwester jetzt mehr an Jungs interessiert ist als daran, mit dem kleinen „Tomboy“ zu spielen. Mario dagegen ist das Kind von Farmarbeitern, der die Schule schmeißen musste, um seinem Vater zu helfen, ein von den anderen Jungs argwöhnisch beobachtetes Reitertalent. Als Jorgelina entdeckt, dass mit Marios Körper ähnliche Dinge ablaufen wie bei ihrer Schwester, greift sie zum Anatomiebuch
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ihres Vaters und deckt ein gut gehütetes Geheimnis auf. Ihr Vater, der Arzt, drängt auf Klarheit. Die Menschen vom Land regeln das pragmatisch. Jorgelina hört auf ihre Gefühle und wird dadurch erwachsen. Feinfühlig erzählt das der Film, etwas hastig vielleicht und sehr problemfixiert, womit den jungen Darsteller etwas zu viel aufgebürdet wird. Seit XXY ist das Intersexualitätsthema im argentinischen Kino etabliert. Problematisiert werden sollten aber vielleicht eher die ‚normalen‘ Männlichkeitskonzepte. Mario jedenfalls, der ein Pferderennen gewinnen soll, um zu zeigen, dass er ein Mann ist, macht das mit links und reitet dann noch ein Stück weiter. Hier würde auch mal ein Film anfangen. jk
KLEINE WAHRE LÜGEN FR 2010, Regie: Guillaume Canet, Universal
Sommerurlaub mit Freunden in einem schwierigen Alter (Mitte 30). Einer ist darunter, der einem anderen nach vielen Jahren plötzlich die Liebe gesteht. Für den bourgeoisen Reigen wohlhabender Franzosen in der Lebenskrise ist Schwulsein eine ernsthafte Überforderung. „Gemeinsam mit einigen der angesagtesten Darsteller des aktuellen fran zö sischen Kinos gelingt es Schauspieler-Regisseur Guillaume Canet mit seiner dritten Regie-Arbeit, dem strapazierten Begriff der Tragi komödie insofern eindrucksvoll gerecht zu werden, als man an vielen Stellen nicht mehr weiß, ob man noch lachen kann oder schon weinen möchte. Der überdies meisterlich fotografierte und erklärtermaßen an Erfolge wie Lawrence Kasdans Der große Frust und Kenneth Branaghs Peter’s Friends anknüpfende Film avancierte in Frank-
reich mit mehr als 5,3 Mio. Besuchern zum zweiterfolgreichsten des Kinojahres 2010.“ (Christoph Meyring in SISSY 2/2011).
THE ONE − MEINE WAHRE LIEBE US 2011, Regie: Caytha Jentis, Pro-Fun Media
Der New Yorker Tommy, von Beruf − richtig geraten! − Anwalt, trifft seinen Jugendfreund David − ganz genau: Typ athletisch gebauter Kapitän irgendeiner High-SchoolMannschaft aus gutem Hause − zufällig wieder und verbringt mit ihm eine Liebesnacht. David ist aber − schon wieder richtig geraten! − „eigentlich hetero“ und will in Kürze − volle Punktzahl erreicht! − seine Verlobte Jen ehelichen, was er aus Pflichtgefühl und Familienrücksichten dann auch tut. Die Frage, ob das wohl gut gehen kann, zählt nun nicht mehr zum Ratespiel, da offensichtlich von rhetorischer Natur. Der Rest − „Ich bin schwanger“, „Liebst du ihn?“, „Wie konntest du mir das antun“ − ist dementsprechend vorprogrammiert. Wer nun schon angesichts dieser preisgünstigen, weil mithilfe des inneren Klischeebaukastens für US-amerikanisches Mainstream-GayKino weitgehend selbständig zu montierenden Inhaltsangabe meint, diesen Film so oder so ähnlich bereits dreißigmal gesehen zu haben, wird in dieser Empfindung aufs Eindrucksvollste bestärkt, wenn er der wunderlichen Caprice nachgeben sollte, sich ihn tatsächlich anzusehen. Denn die Dialoge lassen sich nicht nur mühelos mitsprechen, auch der Tonfall, in dem sie vorgebracht werden, und die Mimik, die sie begleitet, verschaffen dem geschulten Zuschauer das behagliche Gefühl jahrzehntelanger Vertrautheit. Von daher ist The One aus
voller Überzeugung, ohne Einschränkung und mit Nachdruck zu empfehlen − und zwar all denjenigen, die bereits kleinsten Überraschungen mit tiefer Abscheu begegnen und Malen nach Zahlen für ein Hochamt künstlerischer Kreativität halten. cm
VIER WEITERE JAHRE − WAHLKAMPF ’MAL ANDERS S 2010, Regie: Tova Magnusson-Norling, Pro-Fun Media
„Viel los am rechten Flügel?“ − „Und selbst, wie geht’s in der Regierung?“ Mit diesen Sätzen beginnt eine belanglose erste Fahrstuhlplauderei zwischen zwei politischen Gegnern, nämlich dem offen schwulen Sozialdemokraten Martin Kovac und dem konservativen David Holst, der soeben die Ernennung zum schwedischer Ministerpräsidenten in letzter Minute verpasst hat. Gut so, denn David verbirgt hinter der Maske des aalglatten Berufspolitikers eine schlaffe Marionette, die mehr oder weniger willenlos an den Fäden seiner ehrgeizigen Ehefrau und seines persönlichen Referenten über das glitschige Parkett des Parlamentsbetriebes gelotst und von ihnen pünktlich mit Vorlagen, Reden und den aktuell opportunen Meinungen versorgt wird. Nach seinem Wahldebakel agiert David noch lustloser als sonst. Allein für den frechen Sozi Martin, der ihm in der Parlamentskantine zufällig wieder über den Weg läuft, zeigt er ein bald schon auffälliges Interesse. Und der andere − überraschender Weise − auch für ihn … Tova Magnusson-Norlings Screwball-Komödie überrascht ebenso − und zwar durch eine hochprofessionelle, temporeiche Erzählweise, durch ein wirklich witziges Drehbuch und
Wir freuen uns auf Euch!
Unser Paradies von Gaël Morel · Sharayet – Eine Liebe in Teheran von Maryam Keshavarz · Noordzee, Texas von Bavo Defurne · Tomboy von Céline Sciamma · Longhorns von David Lewis · Jamie uns Jessie sind nicht zusammen von Wendy Jo Carlton Mit freundlicher Unterstütung durch
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durch wunderbare Hauptdarsteller, die den Wortwitz mit staubtrockener Lakonie auch zünden lassen − und außerdem einmal nicht aussehen wie im Sportstudio geformte Marzipanschweinchen. Vor allem Björn Kjellman versteht es, so verzweifelt-melancholisch dreinzublicken, sich so lustvoll im eigenen Unglück zu suhlen, sich zuweilen so linkisch daneben zu benehmen und dann wieder einen so kindlich-anrührenden Charme zu versprühen, dass man ihm bis zum Ende gerne dabei zusieht. Und an diesem Ende verzichtet der Film wohltuender Weise darauf, schließlich doch noch in Sentimentalität abzugleiten, sondern präsentiert eine schöne Schlusspointe. cm
RABBIT HOLE US 2010, Regie: John Cameron Mitchell, Ascot Elite
Things ain’t nice anymore. Der vierjährige Sohn von Becca und Howie ist bei einem Unfall ums Leben gekommen und sie kommen nicht darüber hinweg. Das ist eigentlich alles, was der Film erzählen will. Ein Schwebezustand um eine Leerstelle herum, mit kleinen Fluchten, unvermeidbaren Diskussionen, hilflosen Entscheidungen. Es trifft einen Mr. und eine Mrs. Perfect, weiß, intellektuell, gutaussehend, deren Vororttraum eines selbstgemachten Glücks mit einem Schlag ausgeträumt ist. Aber der Film denunziert sie nicht, er hat Mitleid mit ihnen. Wie überhaupt jede Figur hier zu ihrem Recht kommt, menschlich zu sein, auch in den kleinsten Nebenrollen. Das also ist der langerwartete neue Film von John Cameron Mitchell, der sich in Hedwig And The Angry Inch und Shortbus eher für Alternativen zu dieser Welt interessiert hatte. Man mag trotzdem in der Art und Weise, wie Mitchell hier den Finger auf die verwundete Normalität legt, eine Handschrift erkennen. Realistischerweise muss man den Film aber als Arbeitsbeschaffungsmaßnahme für einen talentierten Hollywood-Außenseiter sehen: ein Auftrag von Nicole Kidman (mach mir eine Oscar-Rolle – was auch beinahe geklappt hätte), ein pulitzerpreisgekröntes Theaterstück, das der Autor selbst umgeschrieben hat, eine gut ausgestattete Produktion von Fox Searchlight. Und doch stimmt alles an diesem Film: Nicole Kidman ist großartig, die Dialoge auch, jedes Bild sitzt. Und das alles, um das schwarze Loch einer Traurigkeit einzufangen, aus dem es keinen Ausweg gibt. Traurige Filme erscheinen hierzulande auf DVD und kommen gar nicht erst ins Kino. Die Parallelwelt, die Beccas jugendlicher Freund im Film in seine Comics zeichnet, ist den Bedürfnissen des deutschen Kinopulikums offensichtlich sehr ähnlich: „Irgendwo da draußen existieren andere Versionen von uns, die nicht traurig sind.“ jk 44
ÜBERLEBEN IN NEW YORK NEW YORK MEMORIES DIE JUNGS VOM BAHNHOF ZOO DE 1989/2010/2011, Regie: Rosa von Praunheim, basis dvd
Die dokumentarische Methode Rosa von Praunheims ist nichts für Feingeister: Hektisch geschnitten sind diese Filme, plakativ bebildert, laut in der Wahl von Orten, Szenen und Protagonisten, mit einer manchmal ehrlichen, manchmal eitlen Anwesenheit des Regisseurs in ihnen, das Ganze ungeheuer produktiv herausgehauen, mindestens ein Film pro Jahr, fast schon in fassbinderschen Dimensionen. Das hat Vor- und Nachteile – führt aber auch, was die einzelnen Filme angeht, zu ganz unterschiedlichen Ergebnissen. Einzigartig ist das Projekt, das dahintersteht: eine oft schwule, manchmal tatsächlich queere filmische Geschichtsschreibung über Erinnerungen, Sichtweisen und Menschen, die im ‚offiziellen‘ Bewusstsein nicht dazu gehören, oder nicht „so“ dazugehören, wie Praunheim sie zeigt. Überleben und Erinnern sind die beiden Achsen dieses Konzepts. Überleben als alleinstehende deutsche Frau in New York während der Hochphase von Crack. Oder als Junge auf dem Berliner Strich. Erinnern an queere Kämpfe, wilde Zeiten, die eigene Jugend, an vergessene Stars. Ob das einen eigenen Drive kriegt, hängt vor allem von den Protagonisten ab, die Praunheim findet: Seine drei Frauen in New York sind nach wie vor unschlagbar, auch als Wiedergefundene im NY-Erinnerungsfilm. Ihre fremden Perspektiven, ihre ganz unterschiedlichen Strategien verbinden sich in Rosas Erfolgsfilm von 1989 mit der experimentellen Jazzmusik und den grenzgenialen Bildern des jungen Kameramanns Jeff Preiss zu einem atmosphärischen Gewebe, das einer Stadt, aber auch den Protagonistinnen in jedem Moment gerecht wird. Das gelingt in anderen Filmen nicht immer – den Berliner Strichern kommt man nicht nah, weil sie gar nicht genug Raum bekommen, weil ihre Geschichten von Initiativen und Hilfsprojekten vermittelt bzw. in den Film eingespeist werden, weil den Roma-Jungs sogar das Wort entzogen und durch eine Übersetzerstimme ersetzt wird. Und nicht alle Protagonisten in den eher persönlichen Filmen haben wirklich etwas zu sagen (die nervigen Geschwister Pohl im MemoriesFilm z.b., die wohl jede Kamera nehmen, die sie kriegen), manchmal auch er selbst nicht. Wie das Ganze zusammengeschnitten wird, ist oft bestürzend wirr und planlos – was manchmal passt (zur komplexen Recherche in Meine Mütter z.b., in der ja selbst irgendwann der Überblick verloren geht), manchmal aber auch schade ist, vor allem, wenn Menschen
nur noch auf einzelne Statements reduziert werden wie die Berliner Stricher. Trotzdem wird man und muss man auf jeden neuen Praunheimfilm gespannt bleiben. So viele FilmemacherInnen gibt es nicht, die konsequent ‚unsere‘ Geschichte(n) erzählen. Vielleicht bräuchten die Projekte im Einzelnen mehr Zeit, um in die Tiefe zu gehen. Aber das könnten ja auch mal andere machen. Der Punk der schnellen Praunheimproduktionen steht für sich. jk
VERUSCHKA – INSZENIERUNG (M)EINES KÖRPERS DE 2005/11, Regie: Paul Morissey & Bernd Böhm, MissingFilms / PF Media
Wie üblich macht Vera von Lehndorff alles selbst. Auch den Veruschka-Karriererückblick. Dass der seit den 1970ern in die Obskurität gerutschte Paul Morissey (Flesh usw.) hier als Regisseur firmiert, darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass das „erste deutsche Topmodel“, die „schönste Frau der Welt“ (Richard Avedon), die große Verwandlungskünstlerin hier selbst alles geschrieben, vorgelesen, erzählt hat, was sie zum Thema „Ich“ für relevant hält. Nichts Privates natürlich, sondern Prinzipien, Tricks, Werkberichte einer Künstlerin, die mit ihren vielen Identitäten spielt, wie sie lustig ist. Obwohl … lustig ist sie eigentlich nicht. Wenn sie ein Kinderfoto zeigt, sagt sie dazu: „Arischer Babyspeck im Schloss“. Ihre Model-Tätigkeit war für sie „Kleiderständer sein“. Und sie gibt nur zögerlich zu: „Manchmal war auch ich ein Fan von Veruschka – manchmal …“ Ein toller und verrückter Bilderbogen ist das hier, von einem Musikteppich zugedeckt wie eine Modenschau, von der knarzenden Stimme der Erzählerin angetrieben. Die tausend Verwandlungen der Vera von L. nehmen einem ohnehin den Atem, diese 1,83m „Storchen salat“ (Spitzname als Kind) mit Big Hair und Bodypaint, dessen Leitmotiv laut Susan Sontag war, „das Selbst in der Welt aufzulösen“. Kein Wunder, wenn man schon als Kind Model für Nazi-Inszenierungen war, wenn die Mutter die Rechnung für die Hinrichtung des Vaters bekam, wenn man in Sippenhaft genommen und vertrieben wurde, nie nur ein Körper, sondern Künstlerin war, in Deutschland aber vorzugsweise als „die nackte Gräfin“ bezeichnet wurde. Gerne hätte man mehr über Jet, ihren afghanischen Windhund erfahren. Oder ob sie noch andere Affären hatte als mit den vielen Kameras. Aber als Lehrstunde in Stil & Queerness reicht das. jk
profil
Bernhard The Kid Von A n dr e a s Kör n e r
s Immer, wenn man Bernhard Reuther als Print-Journalist gegenübersitzt, ist man auf eine Art froh, nicht beim Hörfunk oder Fernsehen zu arbeiten. Denn er ist ein Zurückhaltender seiner Zunft, ja fast schon ein Stiller. Einer, der es partout nicht mag, sich zu produzieren. Der das gar nicht kann. Und das, wer wüsste es nicht, ist wunderbar! Wäre er anders, hätte er alles, nur nicht seit über zwölf Jahren ein kleines Kino im Osten von Dresden. Das k.i.d steht für „kino im dach“ – es ist Bernhard Reuthers kid. Reuther ist Dresdner, geboren in der Elbestadt, die eine einzigartige Infrastruktur in Sachen Kino aufzuweisen hat. 18 Spielstätten für 510.000 Einwohner gibt es hier, 55 Säle mit über 10.000 Sitzen. Auch Bernhard Reuther freilich sieht „seine“ 98 am liebsten besetzt oder zumindest gut gefüllt. „Für den Zuschauer“, so der 33-Jährige, „kann es eigentlich nichts Besseres geben, als in einer solchen Stadt zu leben.“ Das bedeutet zudem ein nachgerade üppiges Angebot im Arthaus-Sektor, das über Jahre hinweg stabil und selbstredend umkämpft ist. Trotz einer erstaunlich grundsolidarischen Haltung der Betreiber untereinander. Reuther als Ein-Saal-Chef am Stadtrand bekommt seit jeher den rauen Wind der Branche zu spüren. Jammern aber hört ihn keiner. Denn seine Meinung, dass „es immer wieder kleine Filme geben wird, für die es sich zu kämpfen lohnt“, ist keine Attitüde, sondern Überzeugung. Oft spricht er dabei von der Balance, die es im Programm zu finden gilt. Bernhard Reuther balanciert seit 1999 im obersten Stockwerk eines Gebäudes, das von der Stadt als „Medienkulturhaus“ aufgebaut wurde und Initiativen, Vereine, Firmen dieser Richtung beherbergt. Er balanciert vor allem auch für „50 oder 80 glückliche Besucher in der Woche bei schwierigen oder eigenwilligen Filmen“. Dokumentarfilme gehören immer wieder dazu, sind gar zu einem inhaltlichen Schwerpunkt geworden. Ebenso Nachwuchs produktionen und kleine, eher vernachlässigte deutsche Erstaufführungen, darunter – aus reinem Selbstverständnis – jene aus dem schwul-lesbischen Bereich. Reuther hat sie
blend3/Frank Grätz
Dresdens erste Kinoadresse für nicht-heterosexuelle und auch sonst besondere ‚kleine‘ Filme ist das „Kino im Dach“ (k.i.d), das Bernhard Reuther seit 1999 mit großer Leidenschaft führt. Für diese Leidenschaft bekam er im Rahmen der Berlinale 2012 den Manfred-Salzgeber-Preis.
seit jeher ins Programm integriert, er braucht dafür keine ausgestellte Themenreihe oder ein „Extra“ wie die Konkurrenz. Er macht daraus gleich gar kein „Event“, was ihm, einer zwielichtigen Zeitströmung folgend, vielleicht sogar mehr Gäste bringen würde. Doch, will er das wirklich? Auf diese Weise? Jeder, der Bernhard Reuther kennt, weiß um die Antwort und seine Sehnsucht nach echten Überraschungen, wie es in den letzten Jahren Filme wie Kinshasa Symphony, Rubljovka – Straße zur Glückseligkeit, Die Frau mit den 5 Elefanten oder Kaboom gewesen sind. Dafür lohnt sich jedes Detail seiner Arbeit, die bei einem Kino dieser Größe und Stellung streng personenbezogen ist, immer den selbstausbeuterischen Aspekt der freien Szene in sich trägt, aber eben auch – und so unendlich hoch im Wert – die Silbe „frei“. Reuther will die Reaktionen der Besucher sehen und spüren, an 80 Prozent der Abende im Jahr ist er selbst im k.i.d. Wo sonst? Film war immer für ihn wichtig. In den bewegten 90ern war er eine Art Springer beim „Filmfest Dresden“, aus dem längst das Internationale Festival für Animations- und Trickfilm gewachsen ist. Die Chance einer Spielstätte
im Eigenbetrieb war zugleich eine Herausforderung, denn die altdeutsche Idee eines kommunalen Kinos wurde aus guten Gründen für Dresden sehr zeitig begraben. Und: „Zauberland“ heißt Reuthers eigener Filmverleih, den er in besseren Zeiten gegründet und dort kleine Feine wie SommerHundeSöhne, Wir, Jena Paradies oder Jagdhunde herausgebracht hat. Doch er weiß auch genau, wann er Nein sagen muss. Das traut man ihm gar nicht zu … Eigene Rechnung – eigenes Risiko – eigene Freude. Seit 1999 ging es im k.i.d um über 1.000 Filme, über 9.000 Vorstellungen für über 170.000 Besucher. Es ging nicht um Programmpreise von Institutionen, die Bernhard Reuther natürlich bekommen hat. Es geht sicher auch nicht um den „ManfredSalzgeber-Preis“, der ihm gerade verliehen wurde. Nie vordergründig. Und doch sieht man Reuther an, wenn er sich darüber freut. „Zähne zusammenbeißen und durch!“. So treibt er sich selbst an, wenn es Durststrecken gibt. Man glaubt, er würde es nur flüstern … s Kino im Dach, Schandauer Str. 64, Dresden www.kino-im-dach.de 45
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Auch das noch …
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