SISSY achzehn — Homosexual’s Film Quarterly

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Ausgabe achzehn · Juni bis August 2013 · kostenlos

s Flug durch die Gemeinde: Der Saft von zwölf Orangen  s Detailversessen: Normalerweise hoffnungslos  s The end of normal: Diese backocke Maßlosigkeit  s Vereinsschreierei: Strategische Verunsicherung  s Weiterbildung: Nicht-Treten ist weiblich  s Nichts Neues unter der Sonne: Affirmation eigener Klischees  s Aufforstung: Hedonistische Öko-Vögler  s Die Schönste: Neorealismus, Aschenbach, Berger s Heimkinogefühl: Von zarter Hand aufgefädelt  s Lästige Fragen: Ins Irreal-Absurde überhöht  s Feuchtgebiet: Denkbar unauffälliger Pluralismus  s Hundezeichnung: Strahlendes Weiß  s Indirekte Projektion: Bild & Tonspur in Wien  s Mitsingerin: Sie weiß, was sie tut



vorspann

Sissy achzehn Wir müssen gestehen: Wir haben eine historische Chance verpasst. Da nimmt man eine neue DVD-Edition zum Anlass, endlich mal einen Visconti-Schwerpunkt zu setzen, hat sogar Ludwig II. unter den Neuerscheinungen und kriegt es dann nicht hin, Romy Schneider im Sissi1972-Update aufs Cover zu drucken! Eine Sissi-SISSY – diese Chance gibt es nie wieder … Schuld daran ist allein Pedro Almodóvar. Das Bildmaterial aus seinem neuen Film Fliegende Liebende ist so toll, dass Sissi dagegen verblasst. Also fliegen wir mit – aus Hanno Kofflers Umzugskartons durch die Transition von Laurence, hängen in Warteschleifen über Madrid und dem Hollywood-Familienkino, machen einen Abstecher zur Frauenfußball-WM über das Mississippi-Delta, Rückflug ins Zürich der 70er Jahre, Landung in der Prager Kinobar. An Bord gleichen sechs RegisseurInnen ihr Filmemachen mit Sissi und ihren Brüdern ab. So wenig Flugangst war selten. Leider hieß es in den letzten drei Monaten Abschied nehmen von drei wichtigen Stimmen im queeren Kino, die an ganz unterschiedlichen Orten zu vernehmen waren. Am 8. Mai verstarb Taylor Mead, laut J. Hoberman „the first underground movie star“, als Schauspieler und Performer mit Andy Warhol verbunden, dessen Film Taylor Mead’s Ass das war, was er bezeichnete, bevor er sich wieder weiterbewegte, denn Mead „blieb sein Leben lang Underground“ (Wilhelm Hein). Horst Königstein, langjähriger NDRRedakteur, Mitautor der Serie Die Manns, Songtexter für Udo Lindenberg, verstarb am Sissi (rechts) 12. Mai. Für viele FilmemacherInnen wie Jan Krüger oder Stefan Westerwelle war Königstein als Dozent an der Kunsthochschule für Medien in Köln ein wichtiger Mentor und Förderer. Völlig unerwartet traf uns die Nachricht, dass Tim Stüttgen ebenfalls am 12. Mai diese Welt verlassen hat. Tim, sicherlich einer der profiliertesten queer- und poptheoretischen Denker in Deutschland, Performer und Autor, war ein großer Filmfan, was sich unter anderem in seinen Filmkritiken für die „Jungle World“ nachlesen lässt.

studiocanal

titelbild: tobis

Alle drei werden uns fehlen.

Titelbild: Cecilia Roth in „Fliegende Liebende“ von Pedro Almodóvar“ (Seite 10)

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mein dvd -regal

Hanno Koffler, Schauspieler 4


hanno koffler

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Gaga Filmmaking von Sa sch a W e st ph a l

NFP / Shayne LaverdiÇre

Das (immer noch) junge Filmemacherwunder Xavier Dolan schreibt weiter an seinem großen Kino der Exaltationen. Sein dritter Spielfilm, „Laurence Anyways“, kommt erstmals ohne ihn selbst in der Hauptrolle aus – setzt aber ansonsten dem Zuviel noch eins drauf. Unser Autor versucht, sich auf Dolans kleine und große Rebellionen gegen die Norm einen neuen Begriff zu machen.

s Zunächst sind da nur die Anfangs-Credits vor schwarzem Hintergrund. Auf der Tonspur zwei Stimmen. Eine erste Begegnung, ein Interviewtermin. Nur ist die Interviewerin ziemlich gereizt und verärgert. Ihre Gesprächspartnerin, deren Stimme recht männlich wirkt, ist gerade erst gekommen, eine dreiviertel Stunde zu spät. Die Atmosphäre ist dementsprechend gespannt. Schon diese ersten Augenblicke von Xavier Dolans drittem Spielfilm irritieren. Sie umreißen zwar eine konkrete Situation, erlauben aber keinerlei Orientierung. Der Betrachter versinkt im Dunkel. Dann die ersten Bilder. Eine allem Anschein nach leere Wohnung, eine Tür, die langsam ins Schloss fällt. Dazu keine Geräusche, sondern nur ein Song, Fever Rays „If I Had a Heart“. Und schon kippt der Film, der eigentlich noch gar nicht richtig begonnen hat, in einen Musikclip. Zu Karin Dreijer Anderssons hypnotischem, beinahe schon schamanistischem Beschwörungsgesang – „This will never end / ’Cause I want more / More, give me more / Give me more“ – geht eine Frau in Zeitlupe durch die Straßen Montreals. Die Kamera bleibt meist hinter ihr. Manchmal scheint sie auch ihren Blick einzunehmen und sagt so „Ich“. Statt dem Gesicht der Frau fängt Xavier Dolan die Reaktionen der Passanten und Anwohner, der Geschäftsinhaber und Kunden ein. Es sind Blicke der Verblüffung und Verwirrung, vielleicht sogar des Entsetzens und ganz sicher des Unverständnisses, als wandele ein Alien oder auch eine Gottheit unter uns Sterblichen. Noch einmal überhöht durch die verlangsamten Bilder wird der Gang durch die Stadt zum außerweltlichen Spektakel, das alle starren und erstarren lässt. Etwas Einschneidendes muss geschehen, ein Ereignis, das alles verändert … für immer und ewig. „Dies wird niemals enden, denn ich will mehr“ … es ist fast, als spreche der Film in diesen ersten Momenten in Zungen. Die Grenzen zwischen Inhalt und Form, Bild und Musik, dem Werk und seinem Schöpfer lösen sich komplett auf. Karin Dreijer Anderssons Stimme ist zumindest für den Augenblick auch Xavier Dolans Stimme. Schon seine ersten beiden Spielfilme, I Killed My Mother und Herzensbrecher, waren erfüllt von dieser unstillbaren Begierde. Jedes Bild und jeder Schnitt glich einer Forderung. Hier verlangte ein Filmemacher, der auch noch sein eigener Star sein musste, nach mehr, mehr Aufmerksamkeit und mehr Bewunderung, aber eben auch nach mehr Kunst und vor allem mehr Mut. Die hedonistischen wie die narzisstischen Aspekte des Projekts „Xavier Dolan“, an dem der gerade einmal 24-jährige Schauspieler, Drehbuchautor, Regisseur, Kostümbildner, Cutter und Produzent seit etwa 2007, dem Jahr seines Auftritts in Etienne Desrosiers Kurzfilm Im Spiegel des Sommers, arbeitet, waren nahezu von Anfang an sichtbar. Hier benutzte einer das Kino als Spiegel seiner eigenen Ambitionen und Obsessionen. Er verstand es als ultimativen Ort der Selbstinszenierung, die dann sogleich Publikum wie Kritiker in ihren Bann zog. In Laurence Anyways spielt Dolan nun erstmals nicht selbst mit. So nimmt er sich etwas zurück und bleibt dennoch in jeder Einstellung präsent. Damit eröffnet sich eine andere Perspektive auf seine unbändige Sehnsucht. Dieses Mehr-und-mehr-Wollen hat neben einer rein persönlichen auch eine politische Dimension. In der Unersättlichkeit, die kein Ende kennen kann und auch kein Ende nehmen darf, liegt etwas Widerständiges, unter Umständen sogar Revolutionäres. Sie nagt am Status quo, an der so genannten Norm und allem, was als normal gilt. Der Ordnung setzt sie das Chaos entgegen, der Pflicht die Anarchie. Laurence Anyways ist weit mehr noch als die ersten beiden Regiearbeiten Dolans ein Film des permanenten Zuviel. Seine barocke Maßlosigkeit kann den Betrachter regelrecht erdrücken und ihm zudem noch jeden Halt rauben. So reicht es Dolan nicht, einmal anzufangen. Er beginnt seine Erzählung vielmehr gleich dreimal. Schlag auf Schlag. Zunächst die Fetzen eines beginnenden Gesprächs während der Credits, gefolgt von dem bizarren Triumphzug der mysteriösen Frau durch die Straßen Montreals, und dann erst Laurence (Melvil Poupaud) und Fred (Suzanne Clément) 1989, einträchtig vereint in der Gewissheit ihrer Außergewöhnlichkeit … 7


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Laurence Anyways von Xavier Dolan ES 2013, 90 Minuten, deutsche SF und französische OmU NFP, www.nfp.de

NFP / Shayne LaverdiÇre

Im Kino ab 27. Juli 2013

so scheint es wenigstens. Ein verschworenes Paar, das – diesen Eindruck wollen beide mit aller Macht im anderen erwecken – fest daran glaubt, alleine stehen zu können. Zwei gegen die Welt. Außenseiter, die gar nicht dazu gehören wollen, an denen alles Alltägliche, alles Gewöhnliche abprallt. Sie ist beim Film, arbeitet als Aufnahmeleiterin an Werbespots und träumt von ihrer ersten Hollywood-Produktion. Er veröffentlicht Gedichte und hat gerade einen kleinen Literaturpreis gewonnen. Ansonsten unterrichtet er Literatur an einer höheren Schule. Etwas Hysterisches liegt von Anfang an in der Art, in der Fred und Laurence ihren eigenen Nonkonformismus wieder und wieder feiern. Doch die ständigen Exaltationen Freds, dieses ewige Zuviel an Emotion und Energie, lässt unterschwellige Brüche ahnen. Während Laurence ganz offensichtlich mit sich und seinen Überzeugungen kämpft, versucht Fred alle Fragen und Konflikte zu überspielen, bis zu jenem Abend, an dem er einmal nicht mitzieht und sich ihrem Aktionismus einfach verweigert. Sein Geständnis, dass er ein Gefangener im eigenen Körper ist, dass er nie ein Mann sein wollte und es innerlich auch nie war, trifft Fred wie ein Blitz. In dem Moment, in dem ihre Offenheit und ihre Unangepasstheit tatsächlich auf die Probe gestellt werden, flüchtet Fred erst einmal. Allerdings kehrt sie schon bald zu Laurence zurück. Ein Traum von einem anderen Leben, von einer Welt, in der jeder so sein kann und darf, wie er will, treibt sie dabei genauso an wie ihre Liebe. Sie will es versuchen und Laurence dabei helfen, die Frau zu werden, die er immer sein wollte. Auf die Warnungen ihrer bourgeoisen Mutter gibt sie genauso wenig wie auf die zynischen Kom8

mentare ihrer von Monia Chokri gespielten Schwester Stéfanie. Einmal schreibt sie in riesigen Lettern mit Farbe das Wort „Liberté“ direkt über die „Mona Lisa“-Reproduktion, die über Laurences und ihrem Bett hängt. Liberté – Freiheit  … das ist das Versprechen der späten 1980er Jahre und die Forderung, die Fred an die Welt stellt. Nur funktioniert die Welt nach anderen Regeln. Die Maßstäbe und Vorstellungen der Gesellschaft mögen überholt und falsch sein, aber sie sind noch übermächtig. So dauert es nicht lange, bis Fred die Blicke, die Laurence auf der Straße und in Restaurants zugeworfen werden, nicht mehr aushält. Aber es sind nicht nur die Vorurteile der anderen, die sie nicht erträgt. Ihre eigenen Zweifel und ihre Angst, die sie schließlich sogar zu einer heimlichen Abtreibung verleiten, sind einfach zu stark. Also bricht sie aus und flüchtet in die Ehe mit einem reichen Geschäftsmann … Tod und Wiederauferstehung der Welt der Mutter in Fred. Gut zehn Jahre umspannt Laurence Anyways. Zwischen 1989 und 1999 erzählt Xavier Dolan diese Geschichte und führt dabei Laurence und Fred immer wieder zusammen, um sie dann gleich wieder auseinanderdriften zu lassen. Es ist das letzte Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts, an dessen Ende sich dann alle Hoffnungen auf das neue Millennium richten. Am Ende des Interviews, das die verwandelte – wenn auch nicht umoperierte – Laurence einer Journalistin in einem distinguierten, an einem See gelegenen Café gibt, wirft sie einen vielsagenden Blick auf die Welt jenseits des Panoramafensters. Er ist versonnen, vielleicht glücklich, dabei auch vage optimistisch, aber auf jeden Fall entschlossen. Das 21. Jahrhundert kann

kommen, und mit ihm eine Welt, in der Laurence weder Alien noch Göttin, sondern einfach nur eine Frau ist. Dolan wirft einen Blick zurück auf eine turbulente, aber noch in alten Denkmustern verfangene Ära. Doch sein Film ist ganz und gar gegenwärtig, das Produkt unserer von epochalen Umwälzungen geprägten Zeit. Diese teils schon offensichtlichen, teils noch verdeckten tektonischen Verschiebungen haben die amerikanische Gender-Theoretikerin J. Jack Halberstam zu einem neuen Denken inspiriert, das er in Anlehnung an Lady Gaga, dieses aus dem Geiste Andy Warhols geborene Fame Monster, „Gaga Feminism“ nennt: „This feminism is invested in innovative deployments of femininity and finds them to be well represented by pop performances characterized by their excess, their ecstatic embrace of loss of control, and a maverick sense of bodily identity. I can label the aesthetic categories that attach to gaga feminism as punk aesthetics, anarchic feminism, and the practice of going gaga. This punk or wild feminism hints at a future rather than prescribing one; it opens out onto possibilities rather than naming them; it gestures toward new forms of revolt rather than patenting them.“1 Nur wenige Monate lagen zwischen der Premiere von Dolans Laurence Anyways 1  „Dieser Feminismus investiert in innovative Weiblichkeiten und sieht diese in Pop-Perfomances bestens repräsentiert, die sich durch Exzess, die exstatische Bereitschaft zum Kontrollverlust und einen unkonventionellen Sinn für Körper-Identitäten auszeichnen. Für mich sind die ästhetischen Kategorien, die zum Gaga-Feminismus gehören, Ästhetiken des Punk, anarchischer Feminismus und die Praxis des Gaga-Werdens. Dieser Punk- oder auch unbotmäßige Feminismus deutet eher eine Zukunft an, als sie vorzuschreiben; er öffnet sich eher den Möglichkeiten, als sie zu benennen; er weist neuen Formen der Auflehnung eher eine Richtung, als sie zu patentieren.“


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„Kanadas Antwort auf Pedro Almodóvar“ TH E H O LLYWO O D R E P O RTE R

D I E G R Ö S ST E R E VO L U T I O N B E G I N N T I N E I N E M S E L B ST I Killed My Mother von Xavier Dolan CA 2009, 100 Minuten, deutsche SF, französische OmU

Herzensbrecher von Xavier Dolan CA 2010, 95 Minuten, deutsche SF, französische OmU

To Die Like A Man von João Pedro Rodrigues PT/FR 2009, 135 Minuten, portugiesische OmU

In einem Jahr mit 13 Monden von Rainer Werner Fassbinder DE 1978, 119 Minuten, deutsche OF

Auf DVD bei Kool Film/Indigo, www.indigo.de

Auf DVD bei Kool Film/Indigo, www.indigo.de

Auf DVD bei der Edition Salzgeber, www.salzgeber.de

Auf DVD bei Zweitausendeins, www.zweitausendeins.de

bei den Filmfestspielen von Cannes im Mai 2012 und der Veröffentlichung von Halberstams Gender-theoretischer und Popkulturgesättigter Studie, die schließlich in einem Manifest gipfelt: „Let gaga femnism begin!“ Vielleicht wird man sich einmal an das Jahr 2012 aufgrund dieser zwei Werke erinnern. Die zeitliche Nähe ihres Erscheinens ist weit mehr als nur eine Koinzidenz. Schließlich fangen sie beide den Geist der frühen 2010er Jahre ein und spiegeln sich dabei auf eine überaus faszinierende Weise. Halberstams Beobachtungen und Ideen, die Entschiedenheit, mit der er „the end of normal“, das Ende des Normalen und damit auch Normativen verkündet, und die Verve, mit der er Begriffe wie „männlich“ und „weiblich“ ad absurdum führt und so Geschlechter-Identitäten konsequent verflüssigt, finden ein Echo in Dolans fiebrigem, ganz und gar zügellosem Stil. Die subversiven Strategien der Popkultur, für die Lady Gaga in Halberstams Augen steht, sind auch Dolans Instrumentarium. Die von Yoko Ono und Grace Jones, von Andy Warhol und der New Yorker UndergroundClubszene geprägte Lady Gaga, die sich mittels Mode und Musik neue Identitäten schafft, erhebt das Unechte, das Gefälschte, den Tand zur Kunst. Sie ist genauso wie ihre Songs ganz bewusst niemals authentisch. Authentizität ist sowieso nichts als eine Vermarktungslüge. Dafür liegt im Falschen, im künstlich Erschaffenen, eine andere Form des Echten. Es dringt zu einer Wahrheit vor, die direkt zu den Grundfesten der heutigen Gesellschaft vorstößt. Eine ähnliche Wirkung geht auch von Xavier Dolans Filmen aus. Jedes Bild in Laurence Anyways ist zutiefst aufdringlich und kommt mit einem Ausrufezeichen daher. Echt ist hier nichts,

weder die leitmotivisch eingesetzte Zeitlupe, mit der Dolan seine Vision, seine Sicht auf die Welt dem Betrachter regelrecht aufzwingt, noch die Reminiszenzen an die Nouvelle Vague der 60er Jahre oder die New-WaveÄra der 80er. So wie Fred ständig mit der Norm, den Anforderungen der Gesellschaft, kämpft und Laurence einfach mit ihr bricht, so begehrt Dolan gegen alle Regeln des Kinos auf und kann sich dabei unter andrem auf Rainer Werner Fassbinders In einem Jahr mit 13 Monden (1978) und auf João Pedro Rodrigues’ To Die Like A Man (2009) berufen. Laurence Anyways teilt seine Maßlosigkeit mit diesen Meilensteinen des Transgender-Kinos. Wie sie erfindet sich auch Dolans filmische education sentimentale in jeder Szene noch einmal neu. Mit Laurences Verwandlung werden neben der Unterscheidung zwischen Mann und Frau auch die zwischen queer und straight einfach beiseite gewischt. In dieser Hinsicht folgt Dolan anders als seine mit sich vergeblich ringende Protagonistin ganz dem Diktum Fannys, die Fred und Laurence einmal erklärt, dass das „Geschlecht unwichtig ist“. Sie liebt Alexandre, der einmal eine Frau war, genauso wie zuvor Alexandra. Die Logik des Herzens kennt sowieso nichts als den Alexandriner. Die Differenz der Geschlechter wird zum poetologischen Wortspiel, ihre Auflösung zu Poesie. Für Dolans gaga filmaking, diesen permanenten Angriff auf das Angemessene, gilt das Gleiche wie für Halberstams gaga feminism: Es eröffnet Möglichkeiten, ohne sie zu benennen. Die stete Verwandlung ist Dolans Kunst genug. Sie hat kein Ziel und auch kein Patent. Das eine wie das andere muss jeder Betrachter für sich selbst finden. s 9

M E LV I L P O U PA U D

SUZANNE CLÉMENT

LAURENCE

ANYWAYS Ein Film von

X AVI E R D O LAN

www.LaurenceAnyways-derFilm.de

AB 27. J U N I I M KI N O


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Es geht ein Flug nach nirgendwo von Ch r ist oph M e y r i ng

tobis

Die spanische Wirtschaft liegt am Boden, Filme werden kaum noch produziert – und der Starregisseur des Landes, Pedro Almodóvar, reagiert mit seinem „gayest film ever“ und lässt ein durchgeknalltes Ensemble realitätsentrückter Charaktere Warteschleifen über dem Mutterland drehen. Unser Autor versucht zu folgen – mit Aqua di Valencia und Enzensberger. Na dann Prost! 11


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s Der Saft von zwölf Orangen, reichlich Sekt, Zucker, etwas Zimt, weißer Rum, Gin und Cointreau. Man kann aber auch Wodka nehmen, und andere Rezepte erlauben sogar Pfirsich- oder Apfellikör. Mit anderen Worten: Hauptsache schön viel Promillehaltiges, das man dann in einem großen Krug mit dem Rest zusammenrührt und möglichst kalt serviert − Schirmchen nicht vergessen! Das Resultat heißt in jedem Fall Aqua di Valencia und ist ein Cocktail, der irritierender Weise in Madrid erfunden worden sein soll, worüber man sich jedoch schon nach zwei Gläsern keinen Kopf mehr macht, da das Gesöff auch insofern seinem Namen spottet, als es nur sehr wenig Wasser enthält. Aqua di Valencia schmeckt aber nicht nur gut, sondern bildet auch einen nicht unwesentlichen dramaturgischen Treibstoff für die neue Komödie von Pedro Almodóvar, die den poetischen Titel Fliegende Liebende trägt und am 4. Juli in den deutschen Kinos aufschlagen wird. Die sich nun zwangsläufig anschließende, ebenso hochprozentige wie hochmoralische Frage, ob man die Handlungsdynamik eines europäischen Autorenfilms zu einem Gutteil vom Genuss alkoholischer Getränke abhängig machen darf und sollte, wäre ein schönes Thema für eine filmwissenschaftliche Dissertation und kann somit in diesem Rahmen nicht erschöpfend beantwortet werden. Almodóvar selbst reagierte auf sie jedoch bereits vorausschauend mit dem lakonischen Hinweis auf Blake Edwards’ Komödienklassiker Der Partyschreck (The Party, 1968), den er für einen Karrierehöhepunkt des Regisseurs hält, obwohl er quasi von nichts anderem handelt als davon, dass Peter Sellers gemeinsam mit anderen wild gewordenen Gästen nach unvernünftigem Alkoholkonsum eine luxuriöse Villa in Beverly Hills verwüstet.

Meskalin aus dem Rektum des spendierfreudigen Bräutigams Fliegende Liebende handelt auch nicht von sonderlich viel und hat kaum etwas Schwergewichtiges im Gepäck, denn Almodóvar wollte 12

nach eigener Aussage eine „leichte, sehr leichte Komödie“ konstruieren. Nachdem Penélope Cruz und Antonio Banderas (erstmals gemeinsam auf der Leinwand) innerhalb eines winzigen Gastauftrittes als Angehörige des technischen Bodenpersonals versehentlich dafür gesorgt haben, dass eine Maschine der „Peninsula Airlines“ auf dem Weg von Madrid nach Mexiko-City mit ihrem Fahrwerk auch die Bremsklötze verschluckt hat, weswegen sie nicht mehr normal landen können wird, hebt diese Komödie der Leichtbauweise dann auch relativ schnell in Regionen des höheren Schwachsinns ab. An Bord nämlich haben der Chefsteward Joserra und seine beiden nicht minder tuntigen Kollegen Fajas und Ulloa rasch reagiert und die gesamte Holzklasse samt der dort zuständigen Flugbegleiterinnen mit Schlafmitteln ins Land der Träume geschickt, um eine Massenpanik zu verhindern. Sich selbst sowie den bisexuellen Piloten Alex (Antonio de la Torre) und seinen sexuell orientierungslosen Co-Piloten Benito (Hugo Silva) versuchen sie, während der verzweifelten Suche nach einer freien Bahn für die unausweichliche Notlandung, mit Tee und Tequila zu beruhigen. Doch die wenigen ebenfalls noch wachen Insassen der Business-Class − die etwas landpommeranzige und obendrein jungfräuliche Hellseherin Bruna, die zickige Erotikqueen Norma, der korrupte Manager Señor Más, der undurchsichtige Mexikaner Señor Infante, der notorische Don Juan Ricardo Galán sowie ein frisch vermähltes, junges Ehepaar − beginnen langsam, den Braten zu riechen, da Flug 2549 nun schon geraume Zeit über der Einöde Zentralspaniens seine Warteschleifen zieht und außerdem sämtliche Kommunikations- und Unterhaltungselektronik ausgefallen ist. Die drei Flugbegleiter müssen den Passagieren nun reinen Wein einschenken und gehen, weil daraufhin ihre − wirklich sehenswert choreographierte − Playback-Performance des Pointer-Sisters-Hits „I’m so excited“ keinen nennenswerten stimmungsaufhellenden Effekt zu zeitigen vermochte, schließlich dazu über, ihnen noch etwas anderes einzuschenken, nämlich Aqua di Valencia, das sie in der Bordkombüse zusätzlich mit etwas geschmuggeltem Meskalin aus dem Rektum des spendierfreudigen Bräutigams angereichert haben. Die enthemmende Wirkung des Drogen-Cocktails lässt nicht lange auf


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sich warten: Die Zungen lösen sich, Geständnisse brechen sich Bahn, lange gehütete Geheimnisse kommen ans Tageslicht. Bald werden die Freiheiten, die sich die zusammengepferchten Leidensgenossen über den Wolken nehmen, schier grenzenlos, und es kommt zu unaussprechlichen Handlungen, die sogar Vögeln beim Fliegen verwehrt bleiben. Dass die in heilloser Auflösung begriffene Flug-Gesellschaft irgendwann von ihrem Trip herunterkommen wird, ist sicher, es fragt sich nur, ob an einem Stück oder in vielen kleinen Einzelteilen … Teilweise gelingt es Pedro Almodóvar mit diesem offensichtlichen Rückflug in die schrillbunte Welt seiner frühen Komödien − wie Labyrinth der Leidenschaften (Laberinto de pasiones, 1982) mit der jungen Cecilia Roth, oder Frauen am Rande des Nervenzusammenbruchs (Mucheres al borde de un ataque de nervios, 1988) mit dem jungen Antonio Banderas − an die damalige Frechheit nahtlos anzuschließen, was einigen wunderbaren Dialogen, originellen Regieeinfällen und überraschenden Wendungen, vor allem aber seinen durchweg grandios agierenden und bestens aufeinander abgestimmten Darstellerinnen und Darstellern zu verdanken ist. Manche anderen Teile seines Films, der insofern zuweilen den Geschmack eines leicht übersüßten Cocktails annimmt, wirken aber, worüber auch noch so viele Gläser Aqua di Valencia nicht hinwegtäuschen können, reichlich konventionell und in nahezu uninspirierter Weise gefällig. An diesen Stellen scheint es fast so, als würde er die Klischees der altbekannten, seriell fabrizierten Flugzeugkatastrophenfilme (Es wird immer wieder Tag, Airport, Airport ’75 − Giganten am Himmel, Airport ’77 − Verschollen im Bermuda-Dreieck, Airport ’79 − Die Concorde und wie sie alle heißen) eher kopieren als parodieren. Als Beispiele seien hier eine längere Sequenz genannt, die am Boden spielt und in recht rührseliger Weise das tragische Schicksal der von Ricardo Galáns emotional verletzten und im Stich gelassenen Ex-Freundinnen behandelt, sowie die Geschichte des hartherzigen Managers Señor Más, der nach katastrophenbedingter Katharsis schließlich den Weg zurück zu seiner verstoßenen Tochter findet. Abgesehen davon, dass dem Film ein wenig Reibung an irgendeiner Unebenheit der Realität sicherlich nicht geschadet hätte, kann

man Almodóvar allerdings kaum vorwerfen, dass er eine „Komödie ohne soziales Bewusstsein“ konzipiert hat, die sich auch nicht als kritischer Kommentar zur momentanen Finanz- und Arbeitslosenkrise seines Heimatlandes begreift, dessen ungeachtet (oder vielleicht gerade deswegen) dort aber für sein bisher bestes Startergebnis an den Kinokassen sorgte. Eskapismus? Vielleicht, doch Eskapismus ist kein Verbrechen, sondern zuweilen eine notwendige und sogar anarchische Reaktion, die schon der kluge Hans Magnus Enzensberger in seinem Gedicht „Der fliegende Robert“ zu würdigen wusste: „Eskapismus, ruft ihr mir zu, / vorwurfsvoll. / Was denn sonst, antworte ich, / bei diesem Sauwetter! −, / spanne den Regenschirm auf / und erhebe mich in die Lüfte. / Von euch aus gesehen, / werde ich immer kleiner und kleiner, / bis ich verschwunden bin. / Ich hinterlasse nichts weiter / als eine Legende, / mit der ihr Neidhammel, / wenn es draußen stürmt, / euern Kindern in den Ohren liegt, / damit sie euch nicht davonfliegen.“ Almodóvars „leichte, sehr leichte“ Komödie, die wahrscheinlich schlicht ein hedonistisches Lustprodukt nach eher düsteren und beziehungsreichen Streifen wie Die Haut, in der ich wohne (La piel que habito, 2011) darstellt, lädt ein zum Davonfliegen, und sticht trotz einiger Schwächen deutlich aus dem Kein- bis Zwei-Ohr-Komödienschrott hervor: sehenswert − und für Fans ohnehin ein Muss. s

Fliegende Liebende von Pedro Almodóvar ES 2013, 90 Minuten, deutsche SF Tobis Film, www.tobis.de Im Kino ab 4. Juli 2013 www.almodovar.de

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Sex heilt von A l e x a n dr a Seitz

Neue Visionen

Die AktivistInnen der Gruppe „Fuck for Forest“ bieten hausgemachte Pornografie für einen guten Zweck an. Dokumentarfilmemacher Michal Marczak versucht, dazu eine Haltung zu entwickeln.

s Formulieren wir es mal ganz nüchtern und möglichst neutral: „Fuck For Forest“ („F-F-F“) ist der Name einer Gruppe von AktivistInnen, die eine gleichnamige, kostenpflichtige Website mit pornografischen Inhalten (erotische Fotos und selbst gedrehte Sexvideos) betreibt, aus deren Einnahmen wiederum Umweltschutzprojekte finanziert werden. Gegründet wurde „Fuck For Forest“ 2003 von dem Norweger Tommy Hol Ellingsen und der Schwedin Leona Johansson. Mittlerweile hat die Gruppe ihre Heimat in – na wo wohl? – genau, in Berlin. Denn in Berlin kann jeder nach seiner Façon selig werden, findet jedes Tierchen sein Pläsierchen. Das dem F-F-F-Unterfangen zugrunde liegende ideologische Konstrukt bringt einer der User der Website eben dort mit schlagender Simplizität auf den Punkt: „Sex is natural and forests are natural and we’re trying to preserve nature, so it all makes sense.“ Hm, jedenfalls irgendwie. Denn ganz so einfach ist es selbstverständlich nicht, wie der Dokumentarfilm Fuck For Forest von Michal Marczak zeigt. Marczak folgt den AktivistInnen zunächst bei ihrem alltäglichen Treiben, was aufschlußreiche Einblicke in die vielfältige hedonistische Subkultur Berlins ermöglicht: Die Öko-Vögler, die in ihrer WG selbst14

verständlich weder hetero noch monogam leben, sammeln im Mauerpark Spenden für die gute Sache, rekrutieren Neugierige für Sex vor der Kamera, werden beinahe des Slutwalks verwiesen, suchen in Mülltonnen nach Essbarem, nehmen Drogen, ficken live in irgendeinem Keller (vermutlich in Kreuzkölln) und benehmen sich auch ansonsten ganz so, wie man es vom Berliner Jungvolk erwartet. Nur sind sie dabei eben (halb)nackt und geil. Sodann begleitet der Filmemacher die Köpfe der Bewegung auf einer Reise, die tief in die Wälder des Amazonas führt, wo Teile des erwirtschafteten Geldes an den indigenen Mann und die indigene Frau gebracht werden sollen. Hier prallen Welten aufeinander. Der unmittelbare Konnex von Weltrettung und frei gelebter Sexualität, wie ihn F-F-F vertritt – und wie er in Berlin, wo anything goes, noch hinnehmbar sein mag –, geht in dem Moment in die Brüche, in dem er auf die harte, politische Realität Lateinamerikas trifft. Das war zwar vorhersehbar, ist aber, als es tatsächlich geschieht, tragisch anzusehen. Der Knall der platzenden IdeenBlase ist noch in Berlin zu hören. Dabei ist die Haltung, die Marczak in Fuck For Forest vertritt, weder höhnisch noch denunziatorisch. Zwar schafft das

spärlich eingesetzte Voiceover im Ton eines Märchenerzählers eine leicht ironische Distanz. Darin liegt aber auch die Möglichkeit, sich den auf den ersten Blick durchaus ungewöhnlichen Ansätzen der ProtagonistInnen unbefangen zu nähern. Marczak zeigt sie nicht als Eso-Spinner; Interviews, in denen sie sich um Kopf und Kragen reden könnten, fehlen. Stattdessen schnappt man eben immer mal wieder das ein oder andere auf und kann sich (k)einen Reim drauf machen. Aus seiner zurückgenommenen BeobachterPosition heraus kreiert Marczak in Fuck For Forest einen Raum, der die F-F-F-Leute in ihrer ganzen Unschuld und Naivität zur Geltung kommen lässt. Man mag diese Unschuld sträflich und diese Naivität kindisch finden, man kommt jedoch nicht daran vorbei anzuerkennen, dass hier welche am Werke sind, die von dem, was sie tun, zutiefst überzeugt sind. Das ist imponierend, auch wenn die Hippies in den 1970er Jahren bereits bewiesen haben, dass „make love not war“ als alleinige Handlungsmaxime in Sachen Verbesserung der Welt ein wenig zu kurz greift. Die F-F-F-AktivistInnen selbst sind von Marczaks Film eher weniger angetan. In einer am 23. März 2013 geposteten Stellungnahme schreibt Leona Johansson auf der Fuck-For-Forest-Website: „Es ist traurig festzustellen, aber Michal Marzak und Fuck For Forest haben diesen Film offenbar aus sehr verschiedenen Gründen gemacht. F-F-F ist eine Gruppe von Menschen, die etwas tun, woran sie glauben. Michal Marzak dagegen wollte ein Produkt herstellen. (…) FFF ist eine Gruppe idealistischer Expressiver, Michal Marzak ist ein Geld und Ruhm liebender Filmemacher.“ Wer hat Recht? Das beurteilen Sie am besten selbst. s Fuck For Forest von Michal Marczak DE/PL 2012, 86 Minuten, OmU Neue Visionen Filmverleih, www.neuevisionen.de Im Kino ab 13. Juni 2013


Julia Ostertag

kino

Schreiverein von T oby Ash r a f

Julia Ostertags („Gender X“) neuer Dokumentarfilm „And You Belong“ begleitet ein Musikerinnen-Duo, das ihre Beziehungen, Strategien und Aktionsorte ständig neu definiert. Heimat ist eben, was man daraus machen kann.

s Heimat ist ein dehnbarer Begriff, ein merkwürdiges Wort überhaupt. Heimatstädte sind meistens Geburtsstädte, wenn wir ehrlich sind, und weil Heim in Heimat steckt, kann diese eigentlich überall sein. Für die Queers, Gays und Genderfuckers, die Riot Grrrls, Dykes und Bitches dieser Welt ist Heimat oft ein selbst bestimmbarer Ort – zum Glück. Für Cindy Wonderful und Sarah Adorable, davon erzählt Julia Ostertags Dokumentarfilm And You Belong auf sehr persönliche Weise, ist neben Olympia, Washington, zwischenzeitlich auch Berlin zu ihrer Heimat geworden. Zusammen sind Cindy und Sarah „Scream Club“, eine Band, die seit ihrer Gründung 2002 nach eigenen Angaben Elemente von Hip Hop, Pop, Punk, Dance, Glam Rock, Electro, und Rap miteinander verbindet – mal wütend, mal witzig, mal kinky und meistens ziemlich politisch. Cindy und Sarah haben sich nicht gesucht, aber in Olympia gefunden. Ihre außergewöhnlich intime, von Respekt, Liebe und sehr viel Spaß bestimmte Beziehung – from lovers to best friends – bildet das Herz des Films.

In And You Belong – der Titel deutet es bereits an – geht es um Zugehörigkeit und Hingehörigkeit. In belonging steckt schließlich longing, die Sehnsucht, und be – das Sein, das Existieren, das Bestehen. Wo kann ich sein, wo darf ich’s sein? Wo treibt mich meine Sehnsucht hin? Wo kann ich werden, was ich anderswo nicht sein soll? Die Suche nach (sexueller) Identität, nach gesellschaftlicher Verortung und kreativen Ausdrucksmöglichkeiten hat Cindy und Sarah erst zur Musik und dann zueinander geführt. Ihr „Scream Club“ ist als Verein/igung eine offene Gemeinschaft für Gesinnungsgenoss_innen und Kollaborateur_innen, die sie in vielen queeren Rebel_innen, Aktivist_innen und Musiker_innen gefunden haben. Mz Sunday Luv, Nicolaj Tange Lange, BadKat, DJ Metzgerei, Walter Crsshole, Heidi Mortenson, Nicky Click und Joey Casio sind einige von ihnen, die im Film zu Wort kommen. In „Scream Club“ steckt auch scream, der Schrei, die Wut, der Aufschrei. Wie schon in Gender X geht es Regisseurin Julia Ostertag um die Ausdrucksmöglichkeiten der Menschen jenseits der Geschlechternormen. Ihre

Spielwiesen sind die queeren Subkulturen, ihre Orte die besetzten Häuser und Keller, Wohnzimmer und Gay Bars – ein bisschen im Underground, aber längst mit einem Bein im Mainstream. Der Schrei steckt weniger als Geschrei in der Musik selbst, als vielmehr im strategischen Verunsichern einer Welt der Geschlechterdualismen, des Patriarchats und der Heteronormativität. In And You Belong – der Film ist nach einem Song von „Scream Club“ benannt – geht es letztendlich um Beziehungen, und wie man diese im Film überhaupt darstellen kann. Im Lied sind es gerappte Worte, die als Parodie auf die Machismen des Gangsterraps eine lesbische, oder, besser gesagt, queerfeministische Beziehung neu definieren. Im Film sind es vor allem die selbstgemachten Musikvideos, die uns zeigen, wie sich zwei Aktivistinnen verspielt und mit Liebe zum Detail gemeinsam von den gesellschaftlichen Konventionen freistrampeln. Die Energie von Sarah und Cindy ist beneidenswert, ihre gute Stimmung ansteckend. Mal wird spontan mit einer Uhr-Kamera ein komplettes Video improvisiert, dann wird eine Choreographie zwanzig Minuten vor dem Auftritt erfunden und ständig wird dabei gelacht. Die Orte, die für „Scream Club“ und die ihre Freund_innen zur Heimat geworden sind, sind genauso unsicher wie das Konzept von Heimat selbst. Das Tacheles, im Film noch als kreatives Refugium und Schutzort vorgestellt, ist mittlerweile aufgekauft und verlassen worden, und bei WohnzimmerPartys muss die Lautstärke den Mietverträgen angepasst werden. Heimat ist kein Ort, sondern eher ein Zustand, den sich Cindy Wonderful und Sarah Adorable immer wieder neu erschaffen haben. Ihre Zugehörigkeit, ihr belonging, finden sie in ihrer Musik, ihrer Kunst, in anderen und letztlich in sich selbst. Am Ende sieht man die beiden mit Rollkoffern und Taschen auf Bahnhöfen auf dem Weg ins Ungewisse. „Scream Club“ hat seinen Platz gefunden, irgendwo auf der Strecke. Der Wunsch, den Weg und das Leben, das Lieben und die Ordnungen selbst zu bestimmen, hat sich fürs Erste erfüllt. In Gemeinsamkeit. s

And You Belong von Julia Ostertag DE 2013, 86 Minuten, OmU Im Kino seit 15. Mai 2013 www.andyoubelong.com

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Mein bislang schnellster Film! I n t e rv i ew: En r ico I ppol it o

Da der Kinostart von „Oben ist es still“ (s. SISSY 18) nun in den Juni gerutscht ist, hier noch ein kleiner Nachtrag zum frisch gekürten Träger des Großen Preises beim Schwullesbischen Filmfestival von Turin. Am Rande der Berlinale unterhielt sich Enrico Ippolito mit der Regisseurin Nanouk Leopold, die Gerbrand Bakkers vielgeliebten Roman in eine komplexe Männerstudie übersetzt hat.

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sissy: Frau Leopold, Hände scheinen sehr wichtig zu sein in Ihrem Film „Oben ist es still“. Was sagen Hände über einen Menschen aus? Nanouk Leopold: Das hängt davon ab, was ein Mensch mit seinen Händen macht. Ob er in der Lage ist, jemand anderen anzufassen oder auch sich selbst. Ob Liebe oder Hass durch die Hände rinnt. Die Hauptfigur Helmer sagt im Film zu seinem Vater: „Du hast deine Hände nur zum Schlagen benutzt.“ Das ist traurig, denn es bedeutet, dass der Vater niemals geliebt hat und nie verstanden hat, wozu Hände fähig sein können. Für meine Hauptfigur sind Hände besonders wichtig. So schaut Helmer sich einmal die Hände des Milchfahrers genau an und fantasiert, was diese Hände mit ihm anstellen könnten. Weil er sich seine Gefühle aber nicht eingesteht, kann er diesen anderen Mann nur über seine Hände wahrnehmen. Gerbrand Bakkers gleichnamiger, mit dem hochdotierten Dublin Literary Award ausgezeichneter Roman war die Vorlage zu Ihrem Film. Ihr Drehbuch liest sich aber sehr anders. Warum haben Sie so viel geändert? Das Buch besteht zur Hälfte aus Rückblenden und spielt zur anderen Hälfte in der Gegenwart. Ich wollte aber nicht mit Rückblenden arbeiten – es wäre eine andere Art von Film geworden. Mein Film sollte nur im Hier und Jetzt spielen. Was mochten Sie denn so sehr an dem Roman, dass Sie ihn dem Film überhaupt zugrunde gelegt haben? Ich mochte vor allem die Hauptfigur Helmer. Er ist so humorvoll und gleichzeitig so in sich selbst eingeschlossen. Eine starke Persönlich-


Edition Salzgeber / Victor Arnolds

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keit, die aber nicht weiß, wer sie wirklich ist und was sie mit dem Leben tun soll. Helmer ist auf den ersten Blick kein netter Mensch. Er wirkt hart und brutal. Die Zuschauer kommen ihm im Film nur langsam näher. Er ist vor allem sehr gemein zu seinem Vater. Am Anfang sympathisiert man als Zuschauer mit dem Vater und denkt: Der arme, alte Mann! Aber ich glaube, am Ende versteht man, dass Helmer ein sehr verletzlicher Mann ist, der immer vom Vater unterdrückt worden ist. Was hat Sie an dieser Vater-Sohn-Geschichte so gereizt? Dass sie sich verändert. Dass man merkt, was für eine Art Verstehen da zwischen den beiden ist und dass das ihrer Erfahrung von Liebe am nächsten kommt. Ich fand die Beziehung geradezu romantisch. Am Ende schafft es Helmer, sich zu befreien und eine eigenständige Person zu werden. Der Film lässt einen mit einem Gefühl der Hoffnung zurück. Ja, und das ist etwas ganz Neues für mich. Normalerweise drehe ich hoffnungslose Filme. Obwohl ich eigentlich jedes Mal versuche, eine Liebesgeschichte zu erzählen. Konnten Sie vielleicht etwas optimistischer sein, weil Sie zum ersten Mal einen Mann als Hauptfigur gewählt haben? Vielleicht ist es einfacher für mich, mit Männern sanfter zu sein. Ich habe mich sehr großzügig dieser Figur hingegeben. Schon das erste Bild ist ein Bild der Hoffnung. Wir sehen Natur und Vögel. Zwar sind die Blätter an den Bäumen tot, aber da ist trotzdem etwas Schönes und Barmherziges drin.

Sie haben eine sehr langsame Erzählweise gewählt … … die für mich schon sehr schnell ist. Es ist mein bislang schnellster Film geworden. Aber es geht mir weiterhin um Details, ich möchte mit möglichst wenig Veränderung im Bild Dinge erzählen. Was ist denn so wichtig an Details? Ich weiß es nicht genau, aber es ist der einzige Weg, wirklich präzise zu sein. Transportieren sich so auch Gefühle besser? So bekomme ich einen gewissen Fokus. Helmer ist in jeder Einstellung zu sehen, aber sein Gesicht verrät lange nichts. Und dann kommt der Milchmann, und da ist etwas in seinem Gesicht. Was man aber nur sieht, weil sich vorher in seinem Gesicht für eine halbe Stunde nichts geregt hat. Das ist vor allem Verdienst des Schauspielers Jeroen Willems. Ja, ein sehr großes Talent. Leider ist er plötzlich verstorben. Es gibt eine Szene, in der der Milchmann und Helmer über einen toten Kollegen sprechen, der kurz vor seiner Pension einen Herzinfarkt erlitten hat. Der ganze Film handelt von Liebe und Tod. Es ist schon ein sehr seltsames Gefühl, dass Jeroen jetzt tot ist. Er hatte so große Angst vor dem Tod. Ich fand das ein wenig albern, weil er jung und hübsch war und in der Mitte seines Lebens stand – aber er hatte offenkundig Grund dafür. Anderes Thema: In welcher Beziehung stehen Natur, Tiere und Menschen in Ihrem Film? Der Bauer versucht, die Natur zu kontrollieren. Wir Menschen denken, dass wir die Natur verändern können. Und das Gleiche passiert auch mit Helmer. Er ist in seinen Fünfzigern und versucht, seine Natur zu bekämpfen, sollte sie aber anerkennen. Er liebt nun mal Männer. Ihr Film ist auch politisch lesbar. In einer Szene kommt der Milchmann mit unerklärten Prellungen im Gesicht aus der Stadt zurück. Wurde er zusammengeschlagen? Scheint so, ja. Er hat offenbar etwas probiert, und es ging schief. Manchmal ist es eben gefährlich, schwul zu sein – auch in einer großen Stadt. Dabei geht es in Ihrem Film gar nicht vordergründig um das Thema Homosexualität. Nein, es ist ein Film über Liebe, Freiheit und die Anerkennung dessen, was man ist. Individuelle Konflikte interessieren mich. Warum halten wir uns zurück? Wovor haben wir Angst? Vor dem Scheitern? Aber man stirbt nicht, wenn das passiert. Man muss Dinge probieren. Sie haben diesen Film erstmalig ganz mit Handkamera gedreht. Wieso? Ich wollte nach vier Filmen endlich die Kamera bewegen. Mein letzter Film war eine Art Endpunkt für mich. Jetzt wollte ich etwas Neues probieren. Dieser Film ist meine Befreiung als Filmemacherin. s

Das Interview erschien zuerst in der taz.

Oben ist es still von Nanouk Leopold NL/DE 2013, 93 Minuten, deutsche SF, niederländische OF mit deutschen UT Edition Salzgeber, www.salzgeber.de Im Kino ab 13 Juni 2013

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Dzenifer Maroszán

Platz­verhältnisse von Se ba st i a n M a r k t

Fußball, der von Frauen gespielt wird, ist nicht einfach nur Fußball. Er ist Frauenfußball. Um diesen zur größeren Popularität und Selbstverständlichkeit zu verhelfen, bestellte der DFB bei Dokumentarfilmemacherin Sung-Hyung Cho einen Film über die Frauenfußball-WM 2011. Sie hält Alltag und Praxis der Spielerinnen fest – und zeigt Spielfelder und Aktionsräume, die ihnen zur Verfügung stehen. s Frauenmannschaften aufzustellen, gestattet der Deutsche Fußballbund seinen Mitgliedsvereinen seit 1970. Davor galt „aus ästhetischen und grundsätzlichen“ Überlegungen ein Verbot, das der Bundestag des DFB 1955 in Berlin folgendermaßen begründet hatte: „Im Kampf um den Ball verschwindet die weibliche Anmut, Körper und Seele erleiden unweigerlich Schaden und das Zurschaustellen des Körpers verletzt Schicklichkeit und Anstand.“ Zwei Jahre davor hatte der niederländische Anthrolopologe und Biologe J. J. Buytendijk in einer schlicht „Das Fußballspiel“ betitelten Studie die geschlechtliche Dimension des Fußballspielens folgendermaßen ausgedeutet: „Das Fußballspiel als Spielform ist wesentlich eine Demonstration der Männlichkeit. Es ist noch nie gelungen, Frauen Fußball spielen zu lassen. […] Das Treten ist wohl spezifisch männlich, ob darum Getretenwerden weiblich ist, lasse ich dahingestellt. Jedenfalls ist das Nicht-Treten weiblich.“ Sung-Hyung Chos neuer Dokumentarfilm 11 Freundinnen setzt ein halbes Jahrhundert später ein, mit Aufnahmen vom Beginn des Eröffnungsspiels der Frauenfußball-Weltmeisterschaft 2011 im ausverkauften Berliner Olympiastadion, und dass es dahin in vielerlei Hinsicht ein weiter Weg war, das lässt der Film nicht vergessen. Nach dem Bild der deutschen Nationalspielerinnen in den Katakomben des Stadions schwenkt der Film erstmal zurück in den vorhergehenden Winter. Dort, bei der intensiven Vorbereitung auf den erwartbaren 18

Höhepunkt der Konjunktur von Frauenfußball in Deutschland, beim nicht von Flutlicht ausgeleuchteten Alltag des Leistungssports, wird sich der Film den größten Teil seiner Dauer aufhalten. Fünf Protagonistinnen folgt der Film durch diese Zeit: Dzsenifer Marozsán muss bei der WM verletzungsbedingt auf der Bank zusehen und macht eine Ausbildung zur Bürokauffrau beim DFB; Bianca Schmidt spielt, seit sie sechzehn ist, bei Turbine Potsdam, ist Sportsoldatin und bemüht sich um ein Praktikum bei der Potsdamer Polizei; Anja Mittag ringt mit ihrer Form und verpasst die Auswahl zum WM Kader, macht sich währenddessen Gedanken über ein Leben jenseits von Fußball; Uschi Holl kuriert eine Verletzung aus, findet sich mit der Rolle als Nummer Zwei im Tor zurecht und bildet sich im Fernstudium zur Ernährungsberaterin weiter; und Lira Bajramaj, die in den Medien als „Miss WM“ gehandelt wurde, muss zu viel über ihr Styling reden. Es geht um Training, Fitness, Auswahlzittern und den Druck öffentlicher Erwartungshaltungen, um „Teambuilding“ und „Mentalcoaching“, aber wenn scheinbar fußballfernen Dingen ein relativ breiter Raum eingeräumt wird, macht sich der Film das Symptom einer professionellen Situation zum Gestaltungsprinzip, in der die Ästhetik austrainierter Sportkörper anders konnotiert ist als bei Beckham & Co. und sich bei den Stargehältern die Geschlechterdifferenz grob mit 1:100 quantifizieren lässt.


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11 Freundinnen von Sung-Hyung Cho DE 2012, 98 Minuten, deutsche OF

Pandora / Engelhard (2)

Im Kino seit 23. Mai 2013 www.11freundinnen-derfilm.de

Nadine Angerer (beim Foto-Termin für die „Brigitte“)

Während der Film einen groben Bogen entlang der Dramaturgie von Vorbereitung und Turnierverlauf schlägt – dem anti-klimaktischen Viertelfinalsausscheiden inklusive – verwendet er seine Energie eher darauf, am Wegesrand die Parameter von Lebenswelten abzuschreiten, die alle von Herausforderungen und Härten professionellen Leistungssports handeln, in denen abgesicherte Existenzen aber rar gesät sind. Wenn die Spielerinnen über Zukunft sprechen, dann tun sie das mindestens zur Hälfte im Sinne beruflicher Weiterbildung. Das Bild der Lage weiter kompliziert die Tatsache, dass Frauenfußball, der oft so und nicht einfach „Fußball“ genannt wird, seine relative Marginalität auch einer mal mehr mal weniger im Hintergrund arbeitenden Dynamik von Geschlechterverhältnissen verdankt. In einer der filmisch am schönsten aufgelösten Szenen müssen die Spielerinnen zum offiziellen Fototermin für die Kaderpräsentation, der nach dem Prinzip eines Mode-Shootings funktioniert, und der in der Art und Weise, wie die Frauen auf die Anforderungen von Inszenierung und Selbstinszenierung reagieren, eine weite Spanne an Spielräumen und deren Ausgestaltung sichtbar werden lässt. In Sung-Hyung Chos bisherige Filme reiht sich das Projekt, das von der Produktionsfirma Pandora an Cho herangetragen wurde und vom DFB ausdrücklich erwünscht war, ein als Studie, die von kul-

turellen Grenzverläufen und -Überschreitungen handelt. Full Metal Village (2006) erzählte einen Culture Clash von Heavy Metal und dörflicher Agrarwirtschaft rund um das Musikfestival in Wacken; Endstation Sehnsucht (2009) lotete die Lebens(abend)-Entwürfe deutscher Ehemänner koreanischer Frauen aus, die im Ruhestand ihre Ehen in Südkorea weiterführen. 11 Freundinnen erzählt im Kern von der Spannung, die es bedeutet, Spitzensport zu betreiben in einem Feld, in das gesellschaftliche Geschlechterverhältnisse auf vielfältige Weise intervenieren. Fußball interessiert den Film zunächst ungefähr so sehr, wie sich Full Metal Village für Heavy Metal interessiert: Es ist der Hintergrund, vor dem Leute noch ein zweites, anderes Spiel spielen, das über’s erste hinausreicht. Dass dieses Ausprobieren und sich Positionieren, das zu dem Spiel gehört, lustvoll vonstattengehen kann, davon erzählt der Film, wenn Dzsenifer Marozsán zu Protokoll gibt, dass sie gern mal die Feldherren-Freistoß-Pose ihres großen Idols Cristiano Ronaldo nachahmt, oder Uschi Holl dreckige Witze macht, bis dem Tonmann der Puschel ins Bild baumelt. Und dass mit Public-Viewing-Fansprüchen wie „Elfmeterschießen ist einfacher als Einparken“, gerechnet werden muss, das lässt er auch nicht aus. s

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Schwule Befindlichkeiten K r it isch e A n m e r k u ngen z u m Be gr i f f ei n e s „ N ew-Wav e Qu e e r Ci n em a“ von C a r st en Mol l

s In der Frage, ob es tatsächlich eine neue „Welle“ queerer Filme gibt, die nicht mehr an Fragen der Emanzipation und der festen sexuellen Identitäten anschließen, hat sich Filmkritiker Carsten Moll schon mehrfach mit kritischen Einsprüchen zu Wort gemeldet, die im Editorial der letzten SISSY nur angerissen werden konnten. Deshalb hier in angemessener, selbstgewählter Form sein differenzierter Beitrag zu unserer losen und prinzipiell ergebnisoffenen Folge von Queer-CinemaBestimmungen.

I. Queer

„We Who Feel Differently“ nennt sich ein vom Künstler Carlos Motta geführtes Online-Archiv, das Interviews und Essays zum Queer-Sein sammelt und zur Verfügung stellt. „We Who Feel Differently“, das mag als Slogan erst einmal vage und beliebig klingen, verweist aber doch auf gleich zwei Gedanken, die mein Verständnis vom Queeren prägen: Zuerst ist da die Idee von einem solidarischen Wir, das selbstbewusst spricht und seine Differenz, seine Unterschiede und Widersprüche zu einer heterosexuellen Mehrheit und einer hetero- bzw. homonormativen Kultur artikuliert. Der zweite Gedanke bezieht sich auf eine Differenz innerhalb dieses Wirs, das sich damit als heterogen und letztlich konstruiert ausweist; das queere Wir als Sammelbecken für Abweichler_innen lässt sich nicht auf eine Essenz herunterbrechen und seine Individuen können mitunter vollkommen konträre Positionen einnehmen. Keine Wahrheit und kein universeller Erfahrungsschatz verbindet alle Ichs zu einem Wir. Es ist ein Wir aus freien Stücken, aber keineswegs frei von Realitäten. Die Existenz des Queeren ist also in jeder Hinsicht auch immer ein dickes TROTZDEM . Als Kategorie kann es nur Bestand haben und glaubwürdig sein, wenn es sich seiner eigenen Widersprüche bewusst wird, sie aushält und sichtbar macht. In der radikalen Offenheit des Begriffs, der einem ständigen Prozess der Reinterpretation und Wiederaneignung unterliegt, liegt sein subversives Potenzial ebenso wie die Gefahr seines Missbrauchs und der Beliebigkeit.

II. Kino

Die Sehnsucht nach einem relevanten, ernstzunehmenden Kino des Queeren ist da, bei Filmschaffenden, Publikum und Kritiker_innen, 20

und machte sich in der SISSY auch schon lange vor dem Ausrufen des „New-Wave Queer Cinema“ bemerkbar. Nicht frei von Widersprüchen wurde mal die politische Kraft von nicht-heterosexuellen Filmen beschworen, auf die Entdeckung des Andren als Distinktionsmerkmal des „Queer Cinema“ hingewiesen oder ein Film wie Parada als „unqueer“ gelabelt und des Hefts verwiesen (nachdem er durch so manche Ausgabe spukten durfte und das an dieser Stelle noch einmal darf). Mit der eigenen Biografie als Bezugspunkt wurde die Authentizität von Filmen geprüft und es wurden queere Momente in auf den ersten Blick unverdächtigen Neuerscheinungen und Klassikern aufgespürt. Im Spannungsfeld zwischen Mainstream und Indie, Geschichten mit universellem Anspruch und spezifisch nicht-heteronormativen Leben, kommerziellem Erfolg und subversiver Avantgarde bewegt sich dieses Kino des Queeren, ohne exakt verortet werden zu können. Wichtiger und wertvoller als die Deutungshoheit für sich zu beanspruchen, wenn über „Queer Cinema“ nachgedacht und geschrieben wird, ist vielleicht, sich vor jedem Film neu die Frage zu stellen, was queer bedeuten kann, und den eigenen Standpunkt zu hinterfragen. Sich als queer zu positionieren und über ein queeres Kino zu schreiben heißt auch, in Bewegung zu bleiben und undogmatisch zu sein, ohne dabei vollkommen diffus zu werden. Die Frage bleibt: Was ist queeres Kino?

III. Neue Welle

„There is nothing new under the sun“, bemerkt Ben Walters in seinem Guardian-Artikel, in dem er erstmals ein „New-Wave Queer Cinema“ konstatierte. Die Regisseure und Autoren Ira Sachs, Travis Mathews und Andrew Haigh sowie deren Filme dienen Walters dazu, ein zeitgenössisches queeres Kino zu beschreiben. Teils in der Tradition des „New Queer Cinema“ mit seiner unapologetischen Darstellung von Homosexualität, knüpft die neue Welle für Walters aber vielmehr an ein Kino vor Aids und Queer-Theorie an, etwa an Frank Ripplohs Taxi zum Klo von 1980. Ein naturalistisches, realitätsnahes Kino sieht Walters, das sich als Reaktion auf ein in Konventionen erstarrtes Independentkino und einen kosmetisch angequeerten Mainstream versteht. Auch die veränderte Fernsehlandschaft mit ihren scheinbar von nicht-heterosexuellen Charakteren bevölkerten Serien und die von Bruce LaBruce


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beschriebene Krise des Camp mögen zum Verständnis dieses „NewWave Queer Cinema“ beitragen und lassen seine Qualitäten deutlich werden. Meine Kritik am „New-Wave Queer Cinema“ will weder grundsätzlich die Legitimität des Begriffs in Frage stellen, noch ist sie gegen einzelne Filme oder Autorenpositionen gerichtet. Was ich an dieser Stelle herausfordern möchte, ist ein Nachdenken und Schreiben über queeres Kino, das sich zu oft in einem Rezeptionskonsens und autobiografischer Nabelschau erschöpft und das Queere immer wieder auf ein Schwulsein herunterbricht. Vielleicht ist es ein halbes Jahr nach Walters’ Artikel noch zu früh für eine fundierte Kritik, Texte die explizit auf das „New-Wave Queer Cinema“ Bezug nehmen sind rar. Dennoch lassen sich anhand des Schreibens über diese neue Welle Tendenzen ausmachen, die ich einerseits für fragwürdig halte und andrerseits als bezeichnend für queere Filmkritik im Allgemeinen sehe. Problematisch an Walters’ Text als Ausgangspunkt für einen Diskurs ist nicht nur seine Beschränkung auf schwule Filmemacher, deren Filme sich ebenfalls als „schwul“ labeln ließen (zumindest wäre das sinnvoller als „lesbisch“ oder „transsexuell“), sondern auch die historische Einordnung des „New-Wave Queer Cinema“ in einen hundertprozentig männlichen und fast ausschließlich weißen Kontext. Diesen Missstand zu reflektieren und das Referenzsystem, in dem das „New-Wave Queer Cinema“ rezipiert wird, aufzubrechen, ist in der an Walters’ Artikel anschließenden Diskussion bisher entweder nicht gelungen oder gar nicht erst versucht worden. Das Schreiben über dieses queere Kino ist zu diesem Zeitpunkt vor allem ein Abarbeiten schwuler Kritiker (mich nicht ausgenommen) an einem inoffiziellen Kanon schwuler Filme. Das muss man nicht direkt als „unqueer“ brandmarken, aber man sollte die schwule Dominanz des Queeren zumindest transparent machen und kritisch hinterfragen. Diese Dominanz schlägt sich nieder in einer egozentrischen Filmkritik, die immer wieder Identifikationspotenzial, Universalismus und Authentizität für den Gegenstand ihrer Kritik beansprucht und hierfür das subjektive Empfinden des Autors zum Gradmesser erhebt. Das Queere als Chance zu begreifen, vermeintlichen Universalismen zu widersprechen und „Authentisches“ als Affirmation eigener Vorurteile und Klischees zu dekonstruieren, bleibt dabei ungenutzt. Stattdessen wird eine vage Allgemeingültigkeit heraufbeschworen und zum Qualitätsmerkmal verklärt.

Die Idee vom „New-Wave Queer Cinema“ als eine Art schwulem Neorealismus, wie Walters sie angedacht hat, mag ihre Berechtigung haben und eine Facette eines neuen queeren Kinos darstellen. Als Impulsgeber für einen anhaltenden Diskurs war Walters sicherlich erfolgreich. Wenn sich die Diskussion um queeres Kino aber weiterhin so einseitig auf schwule Befindlichkeiten beschränkt, bleibt am Ende vielleicht nicht viel mehr als eine „Es gibt nichts, was es nicht gibt“Mentalität, deren postemanzipatorischen Gestus man nach Matthias Mergl auch als neo-individualliberalistisch bezeichnen könnte; blind durch die eigenen Privilegien wird die Marginalisierung Anderer übersehen und eventuell auch reproduziert. Einen intimen Blick auf schwule Gegenwart, wie ihn Mathews’ mit I Want Your Love wagt, etwa zur Utopie zu erheben und für den Film zu beanspruchen über die Egalität aller Menschen unabhängig von sexueller Identität und Körperform zu sprechen, führt dann vielleicht doch zu weit und am Film vorbei: Spiegelt so ein Kommentar statt politischer Radikalität nicht vielmehr den gesellschaftlichen Konsens über die Verwirklichung aller Emanzipationsutopien im Hier und Jetzt und die damit einhergehende Blindheit für die Diskriminierung von Randgruppen? In der SISSY wurde queeres Kino auch immer wieder als ein gegenseitiges Erzählen und Entdecken eines anderen Ausdrucks verstanden. Und vielleicht liegt die Stärke eines „Queer Cinema“ im Aufspüren eines Kinos, das zu mehr herausfordert als sich selbst auf der Leinwand zu sehen und zu bekennen: Ich fühle genauso. s Carsten Moll schreibt u.a. für filmgazette.de und critic.de

„Keep The Lights On“ von Ira Sachs (2012) 1  „I Want Your Love“ von Travis Mathews (2012) 2  21


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„Ossessione – Von Liebe besessen“ (1942) 22


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Re: Visconti Neorealismus, Götterdämmerung, Aschenbach und Ludwig Berger: Die Filme von Luchino Visconti sind kanonisierte Klassiker des Arthouse-Kinos und des queeren Kinos sowieso. Dennoch findet eine lebendige Auseinandersetzung mit seinem Werk momentan kaum statt. Aus Anlass einer DVD-Edition, durch die in Deutschland endlich auch die Filme „Ossessione“, „Bellissima“ und „Die Erde bebt“ zugänglich werden, haben wir sechs FilmemacherInnen, die für ein lebendiges queeres deutsches Kino stehen, gebeten, sich mit jeweils einem Film Viscontis auseinander zu setzen.

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Florian Gärtner sieht Ossessione – Von Liebe besessen (1942) Als ich die DVD mit dem Film gegen Mitternacht in den Player geschoben hatte, wollte ich eigentlich nur kurz reinschauen. Looking For Eric war der eigentliche Programmpunkt des Abends gewesen, und ich wollte mal sehen, wie sich so ein alter Film dagegen anfühlt. Mein Vorwissen über Ossessione beschränkte sich darauf, dass die Story auch Christian Petzold für seinen Jerichow als Vorlage gedient hatte, dass in einer anderen Verfilmung Jack Nicholson und Jessica Lange auf dem Küchentisch vögeln – und dass Hauptdarsteller Massimo Girotti der Vater von Terence Hill war. Ich bin dann an dem Abend dann doch für gut 45 Minuten hängen geblieben. Das Bild flackert, ist flau und teilweise unscharf, der Ton knistert, aber der Film zieht einen trotzdem schnell rein: Der Konflikt ist klar, die Geschichte ist atmosphärisch, die Figuren sind interessant. Überrascht war ich dann erstmal, wie schwul der Film ist. Massimo Girotti läuft die ersten 45 Minuten in einem zerissenen Tank Top herum, und ist mit Kante, Augen- und Bizepslicht beleuchtet wie ein Hollywoodstar. Die titelgebende Obsession scheint auch eher die Frau zu haben. Massimo jedenfalls bleibt ihr gegenüber erst einmal recht leidenschaftslos. Von Küchentisch-Sex keine Spur: Es ist lange nicht klar, ob er wirklich auf sie steht, oder nur cool die Aufmerksamkeit genießt und seine Spielchen mit ihr treibt. Nach der ersten Trennung des Paares wird Massimo dann von einem herumziehenden Schausteller aufgegabelt, der sich „der Spanier“ nennt – und ab da wird es für uns interessant: Der Spanier flirtet recht direkt mit ihm, bietet ihm bald an, Bett und Leben zu teilen. Er ist dabei weder pathologisch noch verbittert, sondern liebevoll, empathisch und hilfsbereit. Noch interessanter als eine so positiv gezeichnete schwule Figur ist aber Massimos Reaktion darauf: Interesse, Abenteuerlust, Nervosität – die Blicke, die er dem Spanier zurückwirft, muss man gesehen haben. Es ist klar, dass er nicht naiv ist, und weiß, welche Möglichkeiten der neue Freund ihm bietet. So, wie sie sich gegenseitig anlächeln, scheinen sie glücklich miteinander. Mit der Frau wird dagegen wenig gelächelt. Als er später wieder mit ihr zusammen und zudem durch einen Mord an sie gekettet ist, habe ich die ganze Zeit darauf gewartet, dass der Spanier wieder auftaucht und ihn davonholt. Und es passiert tatsächlich – naja, fast. Das Wiedersehen ist jedenfalls groß und emotional inszeniert, mit lange ausgespieltem Schuss–Gegenschuss und großen Gefühlsregungen bei Massimo. Ganz anders als die Wiederbegegnung mit der Frau, die eher sachlich und nebensächlich in einer Totalen stattfindet (ich musste sogar nochmal zurückspulen, bis ich sie überhaupt gesehen habe). Und als der Spanier ihn bittet, mit ihm wieder wegzugehen,

führt das zu der stärksten und emotionalsten Szene des Films. Hier scheint klar, was Visconti an der Story interessiert hat, und es wirkt sehr modern: Bewegend, genau, und ohne moralischen Kommentar wird hier von einem Drifter erzählt, der auch in seiner Sexualität noch auf der Suche nach Orientierung ist, und dessen Tragödie darin besteht, dass er es nicht schafft, den bürgerlichen Zwängen zu entkommen. Gab es diesen Subplot schon in der Vorlage? Bei Christian Petzolds Version der Story konnte ich mich jedenfalls nicht daran erinnern, dass Benno Führmann neben Nina Hoss noch etwas mit einem anderen Typen hatte. Ein kurzes Googeln verriet mir, dass Visconti und seine Autoren die Figur des „Spagnolo“ dazuerfunden haben. Der Eindruck drängt sich auf, dass Visconti die Vorlage eines amerikanischen Krimis nur benutzt hat, um subversiv dem großen Publikum mit italienischen Filmstars eine schwule Geschichte zu erzählen. Respekt. Was ich unabhängig davon an dem Film wirklich toll fand, ist der Realismus. Von Visconti kannte ich bisher nur die große Oper: seinen Ludwig-Film und Mahler in Venedig. Dass er auch mit dem italienischen Neorealismus zu tun hatte, war eine vage Erinnerung aus Unizeiten. Aber wenn man den Film guckt, hat der Begriff Neorealismus nichts Akademisches mehr, sondern wird ganz konkret und sinnlich: Die Boccia-spielenden Männer, der große Abend mit dem Laien-Gesangswettbewerb, die Tanzkapelle in der Wirtschaft … das hat alles eine große Kraft und Präsenz, weil es so wahnsinnig echt und authentisch wirkt. Immer wieder drängt es das Melodram fast in den Hintergrund. Vor allem in die großen Straßenszenen im letzten Drittel müssen Visconti und sein Team viel Arbeit gesteckt haben, und es hat sich gelohnt: Lange Totalen, mit unterschiedlichsten Komparsen bevölkert, quer durch Bevölkerungsschichten, auch Behinderte sind dabei … Besetzung und Inszenierung der Komparsen ist üblicherweise Aufgabe des Regieassistenten: Die Kunst besteht darin, lauter kleine Geschichten zu erzählen. Bei Visconti hat das was von den Wimmelbildern von Ali Mitgutsch, und wirkt dabei trotzdem fast dokumentarisch, als hätte nur einer die Kamera hingestellt und normales Straßenleben in Norditalien 1943 abgefilmt. Als ich dann erfahren habe, dass das Viscontis erster Film war und er vorher als Regieassi von Renoir gearbeitet hat, war klar, dass er sich hier austoben wollte. Es sind so viele Details, die das Melodram erden – die Szene, in der die Frau zwischen Bergen von dreckigem Geschirr einschläft, der Schaffner im Zug, der schlecht sitzende Anzug, den Massimo später trägt … „Atmosphere results from the steady accumulation of Detail“, ist ein Satz (von Peter Weir), den ich selbst immer wieder in meiner Arbeit zu beherzigen versuche: Der Sog, der sich durch ein Gefühl 23


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„Die Erde bebt“ (1948) 1  „Bellissima“ (1951) 2  24

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des Authentischen einstellt. Dafür muss man immer wieder ziemlich kämpfen, weil viele Leute das im normalen Fernsehalltag als egal empfinden („Sieht doch kein Mensch“ etc.). Das macht auch Dominik Graf in der deutschen Fernsehlandschaft so besonders, weil da auch jemand ist, dem das wichtig ist. Und so ein Film wie Ossessione macht auch mir in der Hinsicht wieder Mut. Als ich den Grund für den schlechten technischen Zustand der Kopie erfuhr, hat mich das sehr berührt. Am Alter des Films liegt es nämlich nicht: Sein oder Nichtsein von Lubitsch zum Beispiel ist etwa zur selben Zeit entstanden, und sieht in der BluRay-Edition aus wie neu. Nein: Viscontis subversive Ambitionen müssen den italienischen Faschisten und der Kirche ein solcher Dorn im Auge gewesen sein, dass sie sämtliche Kopien dieses ihrer Meinung nach schrecklichen und unmoralischen Films zerstören ließen – bis auf ein 16mm-Internegativ, das Visconti privat retten konnte, und das die Basis für alle weiteren Kopien bildet. Um so dankbarer bin ich nun, dass es den Film überhaupt noch gibt. Und was für eine tolle Geschichte – die ideale Vorlage für ein Visconti-Biopic: „Saving Obsession“! Auf jeden Fall bin ich jetzt auf Visconti neugierig geworden und werde mir auch die anderen Filme der Box angucken. Florian Gärtner, geboren 1968, macht seit 1990 Filme, auch und gerne für das deutsche Fernsehen. U.a. „Außerirdische“ (1993), „Drachenland“ (1998), „Sex Up – Jungs haben’s auch nicht leicht“ (2003), zuletzt „Mann kann’s, Frau erst recht“ (Pro 7, 2012). Arbeitet momentan an zwei Projekten für die Degeto, außerdem an einer Nazi-Zeitreise-Teeniekomödie, sowie an einem Film über den jungen Kronprinzen Friedrich.

Diana Näcke sieht Die Erde bebt (1948) La terra trema von Visconti hatte ich noch nie gesehen. Ich hatte überhaupt noch nie einen Visconti-Film gesehen. Das ist eine Art Angst, vielleicht auch eine Art Verweigerung. Ich höre „Visconti“ und bin eingeschüchtert. Was zur Folge hat, dass ich tagelang um diesen Film herumschleiche. Deshalb entscheide ich mich für eine unbedarfte Reise, ohne jedes Wissen. Ich sehe meinen ersten Visconti-Film mit einer sehr starken Sehnsucht, die gerade in mir ist. Eine Sehnsucht nach Klarheit in den Gesichtern, nach Licht und Schatten, aber auch nach dem Geheimnis, den nur SchwarzWeiß-Filme in sich tragen. Es wird eine Zeitreise sein, in das kleine sizilianische Fischerdorf Aci Trezza am Ionischen Meer. Die Glocken läuten, sie klingen wie das Hämmern in einer Schmiede. Es sind Glockenlaute, die tief in der Seele weh tun. Vier Mal werden diese Glocken innerhalb dieses Filmes läuten und auf diese Weise seinen Erzähl-Rhythmus bestimmen. Nicht zuletzt, weil sie den Lebensrhythmus dieser Menschen festlegen, aber auch ihr Leid und ihre Hoffnung. Die Glocken werden läuten, wenn die Fischer hinausfahren, wenn sie zurückkommen und wenn ein Sturm aufzieht. Abgelöst werden sie von ihren monotonen Schreien. Im orchestralen Zusammenspiel mit dem Rauschen des Meeres begleiten sie so das Leben im Dorf, seit Jahrhunderten. Im Film wird der monotone Rhythmus der Arbeit, der den Alltag der Fischer bestimmt, in eine atmosphärische Klangebene übersetzt und zusammen mit der sizilianischen Sprache wie Musik verwendet. Etwa, wenn ein Junge Lehm nur mit Hilfe eines Spatens mischt, den er wie ein Autist immer wieder rhythmisch dreht und wendet. Auf diese Weise entsteht ein metronomgenauer Viervierteltakt, der den Gesang und die Sprache der Fischer einfängt und sie unter dem Rhythmus des niederklatschenden Lehms begräbt. Dieser Rhythmus wird es sein, der die Fischer am Abend schließlich mit den Glocken erneut aufs Meer hinaus begleiten wird – hinaus in diese große schwarze Stille, der Visconti an den schmerzhaftesten Stellen einen großen Raum schenkt.

In Kombination mit den Schwarz-Weiß-Bildern hat mich das tief verletzt. Wie etwa das Bild der Frauen, gehüllt in schwarze Tücher, auf den schwarzen Klippen am Meer. Wie zerbrechliche Felsen stehen sie da und schauen hinaus auf die stürmische See, die schon so viele von ihnen verschlungen hat. Dieses Bild fühlt sich genauso an wie der stumme Schrei der von Helene Weigel verkörperten Mutter Courage, wie das Brennen eines aufgewühlten Herzens. Dieses Bild ist so groß, dass sich der Schmerz auch visuell einbrennt und ich zum ersten Mal in meiner ganz privaten Filmschau-Geschichte Schmerz an ein Bild koppeln kann, von dem ich weiß, dass ich es nie wieder vergessen werde. Zuvor hatte die Glocke von Trezza zum dritten Mal geläutet: „Wenn in Trezza die Glocke läutet, krampft sich den Angehörigen der Männer auf See das Herz zusammen, denn die Glocke bedeutet Sturm.“ An dieser Stelle gleitet die Kamera von oben über das Meer und das Dorf hinweg. Das macht sie immer dann, wenn es besonders weh tut, sie stellt einen dokumentarischen Abstand her und wird zur Beobachterin eines Mikrokosmos in einer Art Terrarium. Dieser Film fühlt sich auch deshalb wie ein auf sein Wesentliches eingedampftes Konzert des Lebens an, das bestimmt ist von Schmerz, Rebellion und Hoffnung. Aber auch von Liebe und Sehnsucht, ganz nebenbei. Denn selbst die Liebe ist bei Visconti dem Rhythmus und einer höheren Macht untergeordnet. Die Liebe ist lediglich der Antrieb, das Los ertragen zu können, und sie bleibt in Viscontis Film unerfüllt, denn sie konkurriert mit dem alles beherrschenden Begriff der Ehre. Hat man die Ehre in diesem Dorf verloren, wird man von ihm verschlungen, so wie die Fischer vom stürmischen Meer. Wenn das Gesicht des jungen Mädchens Lucia Valestro in der Hütte verträumt ins Leere schaut, sieht es so aus, als ginge sie durch einen Spiegel in eine andere Zeit. Das Prinzip Hoffnung auf Liebe verwebt Visconti auf allen Ebenen im Film und wenn Lucia ihrer kleinen Schwester ein Märchen erzählt, in dem sie die Prinzessin ist, deren Liebeswünsche von einer Fee erfüllt werden, bricht mir das Herz. Weil ich bereits in diesem Moment fühlen kann, dass sie von diesem Dorf – genauso wie ihr Bruder Ntoni, der sich für ein besseres Leben der Fischer einsetzt – verschlungen wird. In Trezza ist kein Platz für einen freien Geist. Das Rhythmusgefüge innerhalb dieses Filmes wird sie nicht aus seinen Fängen lassen. Visconti gibt der Hoffnung so viel Raum wie einem Esel, dem man eine Karotte vor die Nase hält, damit er den Wagen zieht. Er lässt seine Charaktere scheitern und er lässt sie zerbrechen. Sätze wie „Könnt ich nur tun, was mein Herz tun möchte“ lässt Visconti einfach so stehen und lädt sie nicht einmal durch eine kleine Geste mit Hoffnung auf. Hier in Trezza ist die Sehnsucht nach Liebe immer größer gewesen als es die Liebe jemals sein kann. Diana Näcke, 1974 geboren, war im letzten Jahr mit ihrem ersten Kinodokumentarfilm „Meine Freiheit, deine Freiheit“ auf der ganzen Welt unterwegs. Für ihr nächstes Projekt hat sie gerade das Treatment beendet und dafür bereits den Bremer Dokumentarfilmförderpreis erhalten. Es wird sie von einem Neuköllner Hinterhof über die rumänischen Karpaten in ein kleines türkisches Dorf führen, auf der Suche nach Geistern.

Angelina Maccarone sieht BelLissima (1951) Massen von Müttern folgen einem Radioaufruf und bringen ihre Töchter nach Cinecittà. Gesucht wird Bellissima, die Schönste der Kleinen. Maddalena (Anna Magnani) schält sich, ganz in Schwarz gekleidet, aus der gräulichen Menge und läuft gegen den Strom: Sie hat ihre Tochter Maria in dem Ansturm verloren. Es ist unklar, ob sich ihre Verzweiflung aus der Sorge um die Kleine speist oder aus ihrer Befürchtung, nun die Chance auf das Vorsprechen bei dem berühmten Regisseur zu versäumen. 25


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Schon in diesem ersten Bild wird der Konflikt der Protagonistin erzählt. Während im Studio das Casting beginnt, ohrfeigt Anna Magnani ihre Tochter, die sie friedlich an einem Wasserbecken sitzend findet. Das Kind erschrickt durch den Schlag ins Gesicht und weint: „Mama!“. Hier mischen sich Realität und Fiktion, denn die kleine Schauspielerin meint offensichtlich nicht Filmmutter Magnani, sondern ruft ihre reale Mama jenseits des Bildausschnittes um Hilfe an. Ihr Schmerz wird dabei in Kauf genommen, denn Ihre (echten) Tränen sind gewollt, um das Spiel glaubwürdiger zu machen. Und auch in der Filmhandlung schafft Maria es am Ende, die Rolle zu bekommen, weil sie – allen Dressurversuchen zum Trotz – den Druck der Probeaufnahmen mit einem wahrhaftigen Gefühl beantwortet. Viscontis Kritik an der Ausbeutung von authentischem Leid für den Film im Film wird durch sein eigenes (identisches) Handeln als Regisseur ad absurdum geführt; die Frage nach „Authentizität“ spiegelt sich in Bellissima ins Unendliche. In einer Szene blickt die Protagonistin in den Spiegel und fragt sich (und uns, die ihr bei diesem vermeintlich privaten Moment zuschauen), ob es bereits Schauspielerei sei, wenn sie nur eine andere zu sein vorgäbe. Superstar Anna Magnani als kinoverrückte Krankenschwester setzt alles daran, ihrer Tochter den Weg in jenes „Bigger Than Life“ zu ebnen, das allabendlich an die Wand ihrer ärmlichen Behausung projiziert wird. Anders als ihre Kolleginnen Sophia Loren und Gina Lollobrigida entspricht sie nicht dem hollywoodschen Schönheitsideal, und gerade deswegen verkörpert Magnani so glaubhaft diese „einfache Frau“, hinter deren Ehrgeiz immer auch die Sehnsucht spürbar wird, die Welt möge nicht so grausam sein wie sie ist. Maddalena/Magnani gibt sich bereitwillig Illusionen hin und sieht sich zugleich dabei zu. Den jungen Mann, der sich von ihren

Ersparnissen einen Motorroller kauft, statt wie versprochen die Filmleute damit zu bestechen, durchschaut sie und lacht über seine Schlitzohrigkeit, noch bevor wir uns von unserer Sorge um sie erholt haben. Umso schmerzlicher leiden wir mit ihr, als sie sich am Flussufer (das mit seiner Überblendung von wilder Romantik und prosaischem Industriepanorama ihre innere Zerrissenheit bebildert) schweren Herzens seinen Avancen entzieht. Maddalena entscheidet sich gegen Verlockung und Ausverkauf und begreift: Das Leben ist groß, auch und gerade da, wo es nicht zur Schau gestellt wird. Draußen beginnt wie jeden Abend das Hofkino, doch Maddalena ist zu Hause, bei ihrem Mann Spartaco (benannt nach dem Helden, der einen Sklavenaufstand im römischen Reich anführte – auch Maddalena und Maria sind als Namen ja aufgeladen mit einer gewissen Bedeutung). Er hält sie in seinen Armen, in einem Licht (und einem Happy End), das Hollywood zur Ehre gereicht hätte. Die letzte Einstellung des Films jedoch gehört allein Maria: Die Kamera fährt auf das schlafende Kind zu. Es darf sich endlich ausruhen. Kurz zuvor hat Maddalena den blasierten Cinecittà-Funktionären, deren Spott und Wertung sie Maria nicht länger überlassen will, entgegengeschmettert: „Für uns ist sie schön!“. Die Schönste. Bellissima. Seit ihrem Debütfilm „Kommt Mausi raus?!“ (1995, TV) ist die 1965 geborene Angelina Maccarone eine der erfolgreichsten Filmemacherinnen in Deutschland. Wichtige Filme sind u.a. „Alles wird gut“ (1997, TV), „Fremde Haut“ (2005), „Verfolgt“ (2006) und „Vivere“ (2007). Daneben bislang drei „Tatort“Folgen. Zuletzt kam der Dokumentarfilm „Charlotte Rampling – The Look“ (2011) in die Kinos. Angelina Maccarone schreibt gerade an einem neuen Drehbuch.

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Stefan Westerwelle sieht Sehnsucht (1954) Beim Filmeschauen versuche ich, ein Kind zu sein. Ich will im Vorfeld möglichst wenig über Macher, Zeit und Kontext wissen, zumindest ab Vorspann alles vergessen. Keine Kritiken, keine Trailer. Ich meine, mir den Film so als direktes Erlebnis zu bewahren, und warte auf den Moment, der für mich den Kinomoment ausmacht. Manchmal genügt eine Szene, manchmal ein einziger Blick, und ich habe den Eindruck, ein spezielles, allein der Figur gehörendes Gefühl zu entdecken, mithilfe dessen sich ihre individuelle Psychologie öffnet. Das Kino schlägt eine Verbindung zu meiner Realität, und für einen flüchtigen Augenblick habe ich das Gefühl, nicht nur die Figur, sondern auch mich und alle Zusammenhänge um mich herum zu begreifen. Der Augenblick ist schon im nächsten Moment nicht mehr greifbar und bleibt das, als was er von vornherein gedacht war: eine persönliche und damit unteilbare Erfahrung – ein Kinoerlebnis. Während einer Opernaufführung verfällt die venezianische Gräfin Livia (Alida Valli) dem österreichischen Offizier Franz (Farley Granger). Von Gefühl und Leidenschaft geleitet, liefert sich Livia dem Frauenhelden heillos aus, gibt, mit wachsender Verzweiflung, ihre Werte auf, verrät ihren heißgeliebten Cousin, den Patrioten Roberto, und am Ende ihren Geliebten selbst. Opulente Bilder beeindrucken. Gleichzeitig spüre ich, an der Oberfläche stummfilmhafter Gefühlsattrappen abzugleiten: Ständig wechselt Vallis Körper von einer in die nächste statuenhafte Pose. Hier spendet sie einen dramatischen Blick, dort schneidet sie für den Geliebten eine Locke aus ihrem Haar. Inmitten der extremen Symbole entsteht ein nur flaches Gefühlsrelief, welches mir zunächst nicht erlaubt, Nischen für das Besondere zu entdecken. Das verstaubte Frauenbild tut dabei sein Übriges. Was hat

der Film mit mir zu tun? Das erhoffte Kinoerlebnis entwickelt sich zu einer 128-minütigen Lektion in Filmhistorie. Ich, als Zuschauer, bin zur reinen Passivität des Schauens und Verehrens verdonnert. Nachdem Livias und Franz’ Affäre in einer gemeinsamen Nacht besiegelt worden ist, verschwindet Franz. Die schmachtende Livia erfährt bald, dass ein unbekannter Mann nach ihr schickt und glaubt, es müsse Franz sein. Livia gesteht ihrem Ehemann, einen Geliebten zu haben. Doch nicht Franz wartet auf sie, sondern ihr Cousin Roberto. Livias Geständnis erscheint nun als Behauptung, die die Anwesenheit des eigentlich verbannten Cousins verschleiern sollte. Und plötzlich ist der Moment da: Livia löst das Missverständnis nicht auf! Vallis sonst überpräsenter Körper, von Visconti nun in den Bildhintergrund gerückt, und ihr Gesicht, hinter einem Schleier versteckt, wird mit dem Geheimnis endlich zu einer Leinwand, auf die sich eine eigene Charakteristik des Augenblicks werfen lässt: Der Wert des Verlorenen löscht den Wert alles Übrigen. Diese Erfahrung wird im weiteren Verlauf zur Facette einer ganzen SehnSUCHTspsychologie, die Visconti auffächert und Livia nicht zum Opferweibchen eines Filous, sondern zur unwissenden Mittäterin eines übergroßen, gegen sich und Franz gerichteten Gefühls macht. Livias verzweifelter werdende, mitunter masochistische Versuche, Franz, selbst durch Kauf, an sich zu binden, ihn zu besitzen, sind dabei nichts anderes als das Marionettenspiel eines am eigenen Überleben interessierten, seine Wirtsfiguren miss- und verachtenden Gefühls – eines Gefühls, welches sich von der stetigen Anfachung des eigenen Zustands nährt und deshalb die, die eigene Auflösung bedeutende, Erfüllung nie erlauben darf – das der Sehnsucht selbst. Die Oberfläche von Viscontis Sehnsucht, die mit der aktuellen Film-„Realität“ nur schwerlich in Einklang zu bringen scheint, entwickelt ein Innenleben, dessen Kern weniger ein Liebesfilm, als das

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VISCONTI EDITION

7 DVDs Sechs Meisterwerke des großen italienischen Regisseurs mit drei DVD-Premieren: „OSSESSIONE – VON LIEBE BESESSEN“, „DIE ERDE BEBT“ und „BELLISSIMA“ www.arthaus.de


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imposante Porträt eines zeitlos mächtigen Gefühls ist: Die Sehnsucht erscheint nicht als Zustand romantisch melancholischer Verzückung, sondern wird als sadistisches, destruktives Gegenstück zur Liebe entworfen. Was für ein Erlebnis! Stefan Westerwelle, 1980 geboren, machte zuerst 2006 durch seinen Spielfilm „Solange du hier bist“ auf sich aufmerksam. Mit dem Dokumentarfilm „Detlef“ (2012, zusammen mit Jan Rothstein) war er ebenfalls auf vielen Festivals erfolgreich. Im Panorama der diesjährigen Berlinale stellte er den mit Patrick Schuckmann zusammen inszenierten Spielfilm „Lose Your Head“ (2013) vor, der noch in diesem Jahr in die Kinos kommen wird.

Jan Krüger sieht Rocco und seine Brüder (1960)

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Viscontis Tod in Venedig war ein Überraschungshit in meiner gerade erwachenden cineastischen Neugier: schwelgerisch, opernhaft, zugleich jedoch eigenartig echt und berührend im Interesse an den Figuren. Trotz aller Oberfläche und Literatur eben doch nicht bloß (bildungsbürgerliche) Unterhaltung. In Rocco und seine Brüder, elf Jahre davor gedreht und gerade erst geschaut, entdecke ich, wiederum überrascht, die gerade umgekehrte Ambivalenz: ein Arbeiterdrama, dessen Realismus Bild für Bild einer größeren Sehnsucht Platz macht – einer Kinosehnsucht, die sich (nicht nur, aber vor allem) an nicht weniger als fünf jungen Männern und ihren Schicksalen festsaugt. Aber eins nach dem anderen. Der Einstieg in diesen Film ist erst mal ein Abstieg: in das winterliche Zwielicht einer Mailänder Kellerwohnung – vor allem aber in die gnadenlose Enge einer süditalienischen Familie. Mutter Rosaria bezieht eine Wohnung in Mailand, zusammen mit ihren fünf geliebten Söhnen: Vincenzo, Simone, Rocco (niemals ohne gerolltes r), Ciro und Luca. Die Wohnung ist unbeheizt, doch offenbar sorgen die geballten männlichen Hormone für einen entsprechenden Temperaturanstieg – jedenfalls erleben wir die Protagonisten schon früh (und ausgiebig) in ihrer weißen Leibwäsche. Tatsächlich ist der magisch aufgeladene Blick auf die Körper der jungen Männer – darunter der junge Alain Delon als Titelheld – auch Motor der Geschichte, die in den nächsten zweieinhalb Stunden Aufstieg und Kampf der Familie Parondi erzählt. So scheint Rocco und seine Brüder mit seinem Thema auf den ersten Blick noch fest in der Tradition des italienischen Neorealismus verwurzelt. Ebenso in Schwarzweiß gedreht, einen engagierten Blick auf die wirtschaftlichen Umbrüche Ende der 1950er Jahre werfend: Jetzt gerade geht was in Mailand! Es wird gebaut, es gibt Ausbeutung, handfeste Konflikte, aber eben auch Chancen, Möglichkeiten des Aufstiegs – am Horizont gar die Hoffnung auf eine gerechtere Gesellschaft. Gleichzeitig erzählt Rocco und seine Brüder jedoch im Kern die Geschichte einer Familie, die zwar auch von den sozialen Umständen, vor allem jedoch vom unaufhaltsamen Älterwerden der Söhne bedroht wird. Und von hier, aus den innersten familiären Beziehungen heraus, eskalieren schließlich die Konflikte. Vom unbeheizten Keller geht es bald aufwärts – hinein in die Scheinwerfer der Boxringe (gerne wieder: viel Leibwäsche), den italienischen Sommer, und schließlich in die lichten Neubauwohnungen des Wirtschaftswunders. Mit dem Aufstieg kommt jedoch auch der Bruderkampf zwischen Simone, dem zweitältesten, und Rocco, dem mittleren Sohn der Parondis. Beide verkörpern unterschiedliche Prinzipien – Simone sucht Ruhm und Leidenschaft, und scheitert (natür-

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„Sehnsucht“ (1954) 1  „Rocco und seine Brüder“ (1960) 2  „Ludwig II.“ (1972) 3  „Ossessione – Von Liebe besessen“ (1942) 4


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lich) daran. Rocco sucht eigentlich gar nichts, sondern kämpft bis zum Schluss mit heiligem Ernst um den Zusammenhalt der Familie. Ein nicht gerade kleiner Erzählbogen. Doch vor allem das enigmatische Spiel des jungen Alain Delon, sowie der unverschämte Auftritt von Annie Girardot als lustvolle Verführerin der spät zündenden Muttersöhne lassen die drei Stunden des Films wie im Flug vergehen. Erst nach dem Abspann frage ich mich: Was war das denn jetzt? Schilderung und Kritik einer äußeren, historischen Realität? Oder doch – bis in die Kameraeinstellungen hinein (Delons Augenaufschlag, seine lockende Achselhöhle) – ein episch-zeitloses Melodram? Natürlich färben die sozialen Umstände immer auch die menschlichen Beziehungen, kann das eine nicht ohne das andere erzählt werden. Dennoch ist das augenscheinliche Auseinanderfallen der Stile etwas, das für mich diesen Film, vielleicht sogar den Menschen Visconti auszeichnet: eine aufrichtige Neugier auf die gesellschaftlichen Realitäten auf der einen Seite, dahinter jedoch eine noch stärkere Sehnsucht nach so etwas wie dem großen Melodram – dem zeitlosen Kinomoment, der Träne, die in Nahaufnahme eine Wange, und schließlich, nur unzureichend von der Sonnenbrille verdeckt, die Leinwand hinabläuft. Jan Krüger, Jahrgang 1973, lebt als Filmemacher in Berlin. U.a. „Freunde“ (Kurzfilm, 2001), „Unterwegs“ (2004), „Rückenwind“ (2009). Zuletzt kam „Auf der Suche“ (2011) in die Kinos. Zur Zeit arbeitet er an zwei Drehbüchern. Das eine ist fast fertig, das andere spielt in den Neunziger Jahren und muss sich noch zwischen historischem Realismus und dem ganz großen Melodram entscheiden.

Axel Ranisch sieht Ludwig II. (1972) Ein Film wie eine Oper. Selten untermalt von Tönen und doch in jeder Sekunde Musik. Jedes Bild ein schmerzhafter Akkord. Jeder Blick ein Leitmotiv. Jeder Monolog eine Arie. Die Zeit verliert sich in einem großen, weichen Kissen aus Sehnsucht. Und wie eine Knospe, gedüngt von Einsamkeit und Überforderung, erblüht die Depression des herrlichen Königs und wächst in Zeitlupe zu einem opulenten Wahnsinn heran. Ach Ludwig, ach Helmut … deine Vision, dein Egoismus, deine Melancholie, deine Erotik, deine Augen, deine unwirklichen, traurigen Augen, die nicht ein einziges Mal Zufriedenheit verheißen. Wie sehr möchte ich dich in die Arme nehmen und trösten. Aber ich kann nicht. Zu groß ist die Distanz. Eine Oper ist zum Kuscheln nicht geschaffen. Das hat sie mit ihren Helden gemein. Und trotzdem liebe ich sie. Ich liebe dich, Ludwig II.

Filmprogramme, Ausstellungen, Performances, Konzerte, Buch- und DVD-Präsentationen, Vorträge, Diskussionen

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Living Archive Archivarbeit als künstlerische und kuratorische Praxis der Gegenwart

Axel Ranisch, Jahrgang 1983, hatte schon über 80 Kurzfilme gedreht, bevor er 2012 seinen Debütspielfilm und Überraschungserfolg „Dicke Mädchen“ vorstellte. Sein neuer Film „Ich fühl mich Disco“ wird noch dieses Jahr ins Kino kommen, außerdem ist auch schon „Reuber“ fast fertig.

4. bis 30. Juni 2013 Arsenal – Institut für Film und Videokunst www.arsenal-berlin.de

Luchino Visconti Edition Sechs Filme von Luchino Visconti IT/FR/DE 1943–72, 931 Minuten, deutsche SF, italienische OmU Auf DVD bei Studiocanal, www.studiocanal.de

6. bis 23. Juni 2013 KW Institute for Contemporary Art www.kw-berlin.de 29


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Ein Herz für Mauer­blümchen von Pat r ick H ei dm a n n

Kann man das eigentlich: sich verlieben in einen Film? Auf den ersten Blick, Hals über Kopf, und ohne zu wissen, wie die Sache ausgeht? Und wie man das kann! Sogar in einen Film, der den fürchterlich nichtssagenden deutschen Titel „Vielleicht lieber morgen“ verpasst bekommen hat. Eine Liebeserklärung.

s Es ist auch in diesem Fall wie so oft mit der Liebe. Man sucht sie nicht. Mehr noch: Man sträubt sich sogar fast ein wenig dagegen. So abschreckend ist dieser an Katherine-Heigl-Komödien erinnernde Titel. Ganz zu schweigen davon, dass die Geschichte an der High School spielt, mit einem Außenseiter-Protagonisten, der gleich am ersten Tag von den coolen Kids – zu Unrecht – als Schwuchtel beschimpft wird und wenig später unwissend Hasch-Brownies mampft. Hat 30

man doch alles schon gesehen, spätestens in Glee. Ist man doch sowieso viel zu alt für. Aber dann passiert es trotzdem. Man verknallt sich doch. Vielleicht schon, wenn Charlie (Logan Lerman) am ersten Tag an der neuen Schule in seinen Tagebuch-Briefen das Dilemma der Pubertät auf den Punkt bringt: „Ich bin gleichzeitig glücklich und traurig – und frage mich immer noch, wie das überhaupt sein kann.“ Spätestens aber, wenn er wenig später in Patrick (Ezra Miller)

und dessen Stiefschwester Sam (Emma Watson) neue Freunde findet. Wie immer, wenn es einen so heftig erwischt hat, ist man bemerkenswert schnell gewillt, über ein paar Mankos hinwegzusehen. Auch Vielleicht lieber morgen ist nämlich nicht perfekt. Charlies Psyche ist beispielsweise – mit den generellen HighSchool-Sorgen, dem noch kaum verarbeiteten Selbstmord seines Freundes und allerlei weiteren Kindheitstraumata – dramaturgisch ein wenig überfrachtet. Dass der schwule Patrick erstens eine heimliche Affäre ausgerechnet mit dem Star des Football-Teams hat und zweitens mit seiner Clique bevorzugt die „Rocky Horror Picture Show“ aufführt, ist außerdem nicht unbedingt originell. Genauso wenig, wie die Geschichte von schulischen Outcasts in den Neunzigern mit Musik von Bowie oder den Smiths zu unterlegen. Doch gerade wie stimmig dann diese Songs eingesetzt werden, macht schon wieder deutlich, was an diesem Film, mit dem Stephen Chbosky seinen eigenen Roman verfilmt hat, so besonders ist. Wie hier überhaupt so vieles stimmt, von den Dialogen über den unaufgeregten Tonfall der Erzählung bis hin zur Besetzung. Lermans groß-


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»Das neue Traumpaar des deutschen Kinos!« RBB RADIO EINS

»Erotischere Blicke und Männerküsse hat es selten auf der Kinoleinwand gegeben!«

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DU & ICH

äugige Naivität und Unschuldigkeit sind nie zu dick aufgetragen. Miller verwandelt die erschreckende Kaltblütigkeit, die er als Tilda Swintons Problemsohn in We Need to Talk About Kevin an den Tag legte, in kaum zu bändigende Lebensfreude. Watson lässt einen keine Sekunde an Harry Potter denken. Selbst prominente Gesichter wie Paul Rudd oder Private Practice-Star Kate Walsh in den Erwachsenenrollen bringen dieses behutsame Konstrukt nie aus dem Gleichgewicht. Denn genau das ist Vielleicht lieber morgen: eine sorgfältig von zarter Hand aufgefädelte Kette aus kleinen Momenten, die einem vor Glück das Herz höher schlagen lassen. Oder es kurzzeitig zu zerreißen drohen. Manchmal beides gleichzeitig, wie in einer Szene zwischen Charlie und Patrick, die Trost und Mitgefühl, Freundschaft und Liebe so berührend zusammenbringt, wie es wenigen Filmen gelingt. Wahrscheinlich liegt genau darin das wunderbare Geheimnis von Vielleicht lieber morgen: in seinem großen Herz, in dem mit lässiger Selbstverständlichkeit wirklich alle Platz haben. Nicht nur all die vermeintlichen Mauerblümchen und Außenseiter dieser Geschichte, denen der Originaltitel The Perks

of Being Wallf lower Rechnung trägt. Sondern auch alle Zuschauer, ob nun mittendrin in der Pubertät oder ihr längst entwachsen. Denn wo sich gerade Filme übers Anderssein oder mit sonst wie queerem Impetus oft in sperrigen Nischen verkriechen oder alternativ ihr Heil in schrillen Überzeichnungen suchen, verlässt sich Chbosky einfach auf die bewährten Mechanismen des längst im Mainstream angekommenen, aufs Tragikomische spezialisierten US-Independent-Kinos. Was eindeutig als Kompliment gemeint ist. Denn so ist Vielleicht lieber morgen“ tatsächlich ein Film, der die Liebe uneingeschränkt erwidert, die ihm entgegen gebracht wird. Egal von wem. Und ein schöneres Gefühl kann es auch im (Heim-)Kino nicht geben. s Vielleicht lieber morgen von Stephen Chbosky US 2012, 104 Minuten, deutsche SF, englische OmU Auf DVD bei Capelight/Alive, www.capelight.de

»Eine vibrierende Darstellungskraft bis in die Nebenrollen – beeindruckend!« FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG

»Eine Verwirrung der Gefühle, die einen fatalen Sog entwickelt.« DER TAGESSPIEGEL

»Intensiv, aufwühlend, relevant!« GALA

»Eine lebensbejahende Geschichte über die Kraft, die es fordert, zu sich zu stehen.« KÖLNER STADTANZEIGER

»So sexy waren zwei Männer im deutschen Kino noch nicht zu sehen.« DIE WELT

»So echt, so unangestrengt und unmittelbar.« SPIEGEL ONLINE

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The Delta von Ira Sachs US 1996, 85 Minuten, englische OmU

Keep The Lights On von Ira Sachs US 2012, 102 Minuten, englische OmU

Forty Shades Of Blue von Ira Sachs US 2005, 104 Minuten, englische OF

Married Life von Ira Sachs US 2007, 87 Minuten, deutsche SF, englische OmU

Auf DVD bei der Edition Salzgeber, www.salzgeber.de

Auf DVD bei der Edition Salzgeber, www.salzgeber.de

Auf DVD als Import

Auf DVD bei MGM Home

Am südlichsten Ort der Welt von N i kol aus Pe r n e cz k y

„The Delta“, der Debütspielfilm von Ira Sachs („Keep The Lights On“), ist ein aufregendes und zu Unrecht lange ignoriertes Meisterwerk der queeren Filmgeschichte. 1996 war die erste Welle des New Queer Cinema mit ihren verstörenden und experimentellen Aids-Reaktions-Filmen verebbt und es gab eine Tendenz zum braven, lustigen, gesund aussehenden Mittelklasse-Kino. Dem gegenüber nahm sich diese schwule Fieberphantasie, in der ein armer kleiner reicher weißer Junge aus einer Südstaatenfamilie sich mit einem afroasiatischen Stricher auf eine Bootsfahrt begibt, als zu sperrig und infektiös aus – und wurde daraufhin in Quarantäne versetzt. B. Ruby Rich, die Erfinderin des New-Queer-Cinema-Begriffs, ist darüber bis heute sehr enttäuscht – für sie gehört „The Delta“ auf die ewigen Top-10-Liste der queeren Filme. Der Film „The Delta“ erscheint nun zum ersten Mal in Deutschland auf DVD.

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Edition Salzgeber

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s Ira Sachs ist in der Stadt Memphis im Südwesten des amerikanischen Bundesstaats Tennessee geboren und aufgewachsen, am Scheitelpunkt des Mississippi-Deltas, eines riesigen, von unzähligen Flüssen und Flussausläufern durchzogenen Schwemmgebiets, das im Volksmund den superlativischen Beinamen des „Most Southern Place on Earth“ trägt. Als südlichster Punkt zumal der amerikanischen Welt gilt das Delta in Gedenken an seine tiefe Verstrickung in den historischen Schuldzusammenhang der Sklaverei – die fruchtbare Region bot ideale Bedingungen für den Plantagenbetrieb – und aufgrund des musikalischen Erbes dieser history of violence, die im Blues ästhetisch gebannt und erlöst wurde. Seinem feucht-brütenden Klima mögen einst Kernbestände der amerikanischen Populärkultur entsprungen sein, das „Delta“ bezeichnet dennoch keine Flussmündung im eigentlichen Wortsinn, keinen Anfangs- oder Endpunkt, sondern eine zwischen zwei Flüssen, dem Mississippi und dem Yazoo, aufgespannte Fläche der regelmäßigen Überflutungen. Der dabei entstehende „Alluvialboden“ ist ein geologisches Affektbild: lose, unkonsolidierte Sedimente, die vom Wasser erodiert, umgeformt und vorübergehend wieder abgelagert werden; das weinende Gesicht des amerikanischen Südens. An diesem geschichts- und landschaftsmythisch resonanten Ort also hat der Regisseur Ira Sachs, in deutschen Kinos zuletzt mit dem intensiven New Yorker Beziehungsmartyrium Keep The Lights On (2012) vertreten, die prägenden Jahre seiner Kindheit und Jugend zugebracht. Zweimal ist Sachs als Filmemacher bislang nach Memphis zurückgekehrt. 2005 für Forty Shades of Blue und 1996 für sein Langfilmdebüt The Delta. In Forty Shades spielt Rip Torn eine Figur, die in vielem Sachs’ Vater nachempfunden ist (von diesem handelt auch der dokumentarische Porträtvideofilm Get It While You Can von 2002). Die Handlung in einem Satz: Der alternde Musikproduzent Alan James, mit seiner jungen russischen Lebensgefährtin Laura in Memphis wohnhaft, bekommt Besuch von seinem Sohn Michael, seines Zeichens College-Professor für unglückliches Bewusstsein, der sich prompt in Laura verschaut. Wenn Sachs das Kunststück gelingt, aus so abgestandenen Prämissen einen starken, stellenweise fantastischen Film zu entwickeln, dann ist das zu einem guten Teil jenen eher wortkargen Szenen zu verdanken, deren ganze Empathie und formale Affinität der von Dina Korzun gespielten Laura gelten. Für eine Weile wähnt man den zurückgekehrten Sohn am Steuer, aber sobald er sich als dem Ereignis der Liebe nicht gewachsen herausstellt, wird er (mitsamt seinem Vater) kurzerhand aus dem ursprünglichen ödipalen Dreieck herausgestrichen: Sollen Würdigere, Mutigere – wie die veritable Cassavetes-Figur der Exilantin Laura – ihr Leben und ihre Liebe an die Heterotopie des Delta geben. Musste Sachs die psychogeologische „Urszene“ des Delta erst hinlänglich durcharbeiten, bevor er sich anderen Orten, anderen Geschichten zuwenden konnte? Dem auf Forty Shades folgenden Film jedenfalls ist das Bemühen, sich vom angestammten Terrain zu entfernen, in jeder Einstellung anzusehen. Aber die Richtung der Fluchtbewegung war noch unentschieden: Married Life (2007) ist eine unglaublich öde und sinnfreie Fingerübung im Ostküstengenre der comedy of manners geworden; ein zivilisationskritisch gemeintes, dabei furchtbar braves period picture, das die Welt zu einer paradoxen, weil seltsam fantasielosen 40er-Jahre-Ausstattungsfantasie verengt. Erst vorletztes Jahr, mit dem schon erwähnten Keep The Lights On, ist Sachs (um im psychoanalytischen Bild zu bleiben) der „Durchbruch“ geglückt. Der in seiner New Yorker Wahlheimat unter Filmemachern und Intellektuellen angesiedelte Beziehungsfilm ist eine unebene, aber elektrisierende Angelegenheit: Wer sich der ansteckenden Amour-fou im eruptiven Zentrum von Keep The Lights On zu entziehen vermag, der werfe den ersten Stein. Dem Umstand, dass das Begehren in Keep The Lights On zum ersten Mal seit The Delta wieder offen schwul ist, müsste man weiter keine Beachtung schenken. Aber wer gesehen hat, wie suggestiv

sich der gestohlene Blowjob am fiebrigen Anfang von The Delta in die Landschaften und Atmosphären des titelgebenden Schwemmgebiets insinuiert, der begreift sofort, weshalb Ira Sachs schwule Subjektivität immer von einem präzise bestimmten Herkunftsort aus denkt und in seinen Filmen wirksam werden lässt. Immer wieder hat Sachs in Interviews die Psychoanalyse verteidigt, meist gegen antipsychologische Beißreflexe der Filmkritik. Was den psychoanalytischen Einschlag seiner Filme, der offensichtlich auch auf das Sprechen und Schreiben über sie abfärbt, erträglich macht: dass die Kernfamilie immer über sich hinaus weist, auf andere Formen von Vergemeinschaftung einerseits, aber eben immer auch auf das Entgrenzungspotenzial affektiver Raumerfahrungen – vom Cruising über die Bootsfahrt bis zum Drogentrip. Solche Raumerfahrungen (und nicht primär familiäre Bande) sind es, so könnte man Sachs’ Position autorenpolitisch akzentuieren, die uns zurück an die Orte unserer Jugend und Kindheit führen; zurück an ein früheres, nicht vollständig sedimentiertes Ich, noch vom Wasser formbar. (Weil Erik Rothman, der Protagonist von Keep The Lights On, gebürtiger Schwede ist, zieht es ihn nicht ans Wasser, sondern in den Wald.) Nirgends tritt Sachs’ Interesse an der Affektivität des Umweltlichen stärker in den Vordergrund als in jenem ersten Film über die ersten Erfahrungen, der darum auch so heißt, wie die Umwelt, worin er spielt: The Delta. Nirgends auch in Sachs’ späterem Schaffen sollten sich die psychoanalytischen Motive so penetrant zu erkennen geben wie hier. Die Hingabe an Stimmungen und Atmosphären (Zikaden, Schweiß, vom Wasser animierte Lichtreflexe) ebenso wie die erzählerischen Einsätze (Coming of age, Coming Out, Klassenverhältnisse); das Überwältigende ebenso wie das Ausgeklügelte; die sehr nahen Close-Ups ebenso wie die fließenden Totalen; sie alle liegen auf so entwaffnende Weise offen, dass man dem Film nolens volens verfällt, auch und gerade in den gar nicht wenigen Momenten, wo man ihn doch eigentlich scheiße finden wollte. Zum Beispiel die Szene im Hotelzimmer, wo Lincoln Bloom, der adoleszente Held mit dem beziehungsreich-sprechenden Namen, sich mit einem wesentlich älteren Fremden zum Zweck einer Intimität verabredet hat, von der Lincoln selbst noch nicht genau weiß, welche Formen sie eines Tages annehmen wird. Wie sich die beiden Männer in dem schmucklosen Hotelzimmer verfehlen, zeigt Sachs in etwas angestrengten Dekadrierungen, die dem Missverständnis aufliegen, Entfremdung habe im Kino immer so auszusehen wie bei Antonioni. Denkt man und ärgert sich über die überspannten Erstlingsambitionen. Aber dann macht Lincoln auf dem Absatz kehrt, zieht sich wieder an und verlässt unverrichteter Dinge den Raum, der jetzt wieder ein stinknormales Hotelzimmer ist und kein modernes Einschließungsmilieu mehr. Je nach erzählerischem Erfordernis verwandelt sich The Delta in einen geduldig beobachtenden Dokumentarfilm, in eine bukolische Elegie, in ein sozialrealistisches Melodram, in eine ödipale Rachefantasie oder in einen Festivalfilm avant la lettre, der aus Gründen, die den erzählerischen Erfordernissen gerade äußerlich bleiben, in zwei ungleiche, deutlich demarkierte Hälften zerfällt. Der junge Lincoln gibt (wie auch der unglückliche Sohn in Forty Shades) irgendwann die Staffel ab an den Vietnamesen Minh, mit dem er eine kurze und weniger heftige als melancholische Affäre hatte, worauf der Film urplötzlich und völlig unvermittelt noch einmal ganz neue Perspektiven und Vektoren auf diesen südlichsten Ort der Welt eröffnet, der gerade noch wie Amerika aussah, der im nächsten Moment aber auch in Vietnam liegen kann. Alle diese Verwandlungen vollziehen sich ohne das geringste Aufsehen, als denkbar unauffälliger Pluralismus bzw. Eklektizismus der Form, wie er vielleicht nur hier im ständig überfluteten Einzugsgebiet des Mississippi-Delta gedeihen kann, wo Gestalt die Ausnahme ist und Erosion die Regel. s

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Weißes Rätsel von Ja n K ü n em u n d

Ein naiver Junge verliebt sich in einen Rockstar im Zürich der 1970er Jahre. Ohne Zeitkolorit auszumalen oder Szeneporträts zu zeichnen, inszenierte Marcel Gisler das 1998 als Beziehungstrip eines Groupies, das zum Frühstück blieb. „Fögi ist ein Sauhund“ ist – vor allem dank seiner seltsam abgeklärten, unaufgeregten Ungeheuerlichkeiten – ein Kultfilm der queeren Filmgeschichte geworden.

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Fögi ist ein Sauhund von Marcel Gisler CH/FR 1998, 85 Minuten, deutsche SF, französische OmU

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Auf DVD bei Pro-Fun Media, www.profunmedia.com

s Der Film wacht auf. Mühsam, geblendet. Eine Gestalt schält sich aus dem Gegenlicht, ein großer weißer Hund. Von einem schwachen Puls ist die Rede. Das Meer rauscht ohrenbetäubend, es könnte auch das eigene Blut sein. Beni öffnet die Augen und schaut an uns vorbei. Jetzt, wo der Film aufgewacht ist, kann er erzählen. Aufgewacht aus einem Trip, in dem die Details wichtiger erschienen als das Ganze, ein tropfender Wasserhahn, ein Lichtreflex durch halb geschlossene Jalousien. Nun, mit dem wachen Blick für das Ganze, erzählt der Film Benis Trip-Geschichte, sachlich, abgeklärt, mit einer Coolness, die wir gar nicht verstehen können, weil wir von dem, was wir da hören, nicht den blassesten Schimmer haben. Beni war ein Groupie. Er hatte uns, seine Mutter, das brave Zürich mit den sonnenbeschienen Fußballfeldern, seinen Schulfreund hinter sich gelassen – und all die Menschen, die nicht kiffen, die „The Lords“ hören und einsam und verstohlen abends in ihr Taschentuch wichsen („das hängt doch alles zusammen!“). Beni hat mit dem Sänger der besten Band der Welt geschlafen, um ihn hat sich eine Zeit lang alles gedreht, ob nach dem Sex oder nach den Drogen. Er hat etwas erlebt, was man nicht erleben kann, wenn man nur die „Bravo“ liest. „Ein gewisser Fögi ist am Telefon!“ Die Mutter ruft das misstrauisch ihrem 16-jährigen Sohn in der Küche zu, danach fliegt sie aus dem Film. Genauso wie Reto, der Schulfreund, der musste nur einmal „Neil Diamond“ sagen. In den 70ern hieß das für manche 16-Jährige, dass man mit so einem nicht mehr reden kann. Der Fußballtrainer, der die beiden Schulfreunde hier noch argwöhnisch beobachtet und Benis Joint übersieht, taucht noch einmal auf in dieser Erzählung, in anderer Funktion: Er gibt Beni einen Blowjob und bezahlt dafür. Das war’s dann aber auch: Mit diesen „alten Schwuchteln“, die ihm als Gegenleistung für’s Betatschen eine bürgerliche Existenz, Geld, Job, Wohnung und Abhängigkeit anbieten, hält sich Benis Trip auch nicht lange auf. Denn Beni hat Fögi. Einen dunklen Engel in schwarzer Paillettenhaut, dessen bleiches, asketisches Gesicht, durch zusammengewachsene Augenbrauen und einen dünnen Schnurrbart zerteilt und durch lange schwarze Haare umrahmt, erst im Kontrast sichtbar wird. Beni hat Fögi im Radio singen gehört und ist sofort auf ihn abgefahren, dann sah er ihn live, dann schrieb er ihm einen Brief: „Ich habe gehört, dass du schwul bist, aber das ist mir egal. I love you – Beni.“ Die Band, die sich „The Minks“ nennt, die Nerze, sind Glam Rocker und haben überhaupt nichts gegen Groupies – ob männlich oder weiblich. Also darf Beni Kabel tragen und ein andermal Fögi Zigaretten ans Bett bringen und dann hineinsteigen. In seinen Trip. In seinem Kopf dreht sich alles, die Kamera dreht sich kurz mit, der Film schreitet voran. Einen derartig naiven Menschen in sein Zentrum zu setzen, ist gewagt. Noch nicht einmal seine Perspektive einzunehmen, sondern in der distanzierten Beobachtung zu bleiben, noch gewagter. Fögi ist – egal, was Beni von ihm hält – ein schwarzes Loch. Reglos, neutral, jegliches Licht aufsaugend, nichts zurückgebend, von diffusen Ängsten vor Körperfressern und dem Älterwerden besessen, in seinen Handlungen so geheimnis- wie glanzlos. Wann immer Beni aufbraust, sich abarbeitet, flüchtet, rebelliert – der Film bleibt bei Fögi. Denn er weiß: Beni kommt schon wieder zurück. Und wie Beni sich in Fögis Leben wirft, wirft sich Vincent Brachet in diesen Film, vor die Kamera von Sophie Maintigneux, mit einem Antrieb, von dem wir als Nichtkiffer, Lordhörer und Taschentuchwichser nicht den blassesten Schimmer haben. Selten hat eine Figur in einem Film so sehr über auferzwungene Drehbuchnaivität, über begehrliche Blicke auf einen nackten 16-jährigen Körper, über eine als lustvoll behauptete Erniedrigung so souverän und rätselhaft triumphiert. Während uns Beni seinen Fanbrief an Fögi vorliest, zeichnet er einen Hund. Später taucht er in diesem Film nur noch mit Hundehalsband auf und macht für Fögi „die Hundenummer“, lässt sich von ihm abrichten für die alten Schwuchteln, damit das Geld für die Drogen reinkommt. Beni hört auf zu reden, träumt vom weißen Hund, mit dem er ein Glück erlebt, das nicht mehr vermittelbar ist, während Fögi vor die Hunde geht. Dass Beni aufwachen muss, nicht zuletzt, um seine Geschichte zu erzählen, ist etwas schade. Doch dass der Film Benis neue „tröstliche Leere“ als Erzählhaltung übernimmt, macht ihn mindestens genauso verstörend wie er es gewesen wäre, hätte er sich mit Beni auf seinen Trip begeben. Im anderen großen queeren Groupiefilm des Jahres 1998, Todd Haynes’ Velvet Goldmine, arbeitet jemand retrospektiv seine fremd gewordene Abhängigkeit auf, während der Film die surrealistische Kraft der Glamrock-Auftritte beschwört. Marcel Gislers völlig entrückte, innerlich tröstlich leere Beni-Geschichte, nach einem ebenso solitären Mundart-Roman aus den späten 70ern, beeindruckt auf ganz andere Weise: Er hält uns einfach nicht für in der Lage und vielleicht auch nicht für willens, Beni zu verstehen. Und mag gerade uns – vielleicht auch sich selbst – nichts erklären. Als De Fögi isch en Souhund 1998 ins Kino kommt, ist Curt Kobain gerade vier Jahre tot. Für einen kurzen Moment nimmt die Kamera komplizenhaft den subjektiven Blick des weißen Hundes ein, mit dem der glückliche Junge zuvor herumgetollt ist. Dann löst sich für uns alles in strahlendes Weiß auf. Und wir haben davon nicht den blassesten Schimmer. s 35


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Brustkraulen im Mainstream von A n dr e a s Scholz

Inwieweit sich großes Unterhaltungskino aus Hollywood und queere Filmerzählungen nach wie vor oder per se ausschließen, wird immer wieder mal gerne gefragt. In den letzten Jahren gab es einige Mitschwimmer im Mainstream, queere Figuren und StoryTwists. Doch über die Wartehallen hinaus haben sich die Hollywoodstudios offensichtlich noch nicht geöffnet. Ein kleiner Überblick aus der Warteschleife über dem Hochglanz.

s Es war ein schöner unerwarteter Moment im Kinosommer des letzten Jahres. Plötzlich outete sich in dem hochbudgetierten Animationsfilm ParaNorman einer der Sympathieträger als schwul – ganz beiläufig und wie selbstverständlich. Für animiertes Mainstreamkino, das sich vor allem an Familien mit Kindern richtet, ist das ein Novum. Dabei handelt es sich nur um eine kurze Szene, kaum mehr als ein Gag bzw. die Zuspitzung eines filmischen Running Gags. Die pubertierende Kathy versucht verzweifelt die Aufmerksamkeit von Mitch, einem muskulösen Jungen aus ihrer Nachbarschaft, zu erringen. Doch das Objekt der Begierde scheint davon keine Notiz zu nehmen. Dass er Kathys Avancen nicht versteht, möchte man seiner tumben Art zuschreiben. Das Klischee will schließlich, dass Hetero­jungs in zwischenmenschlichen Dingen immer etwas unbeholfen sind. Als sie sich am Ende des Films endlich durchringt, ihn um ein Kinodate zu bitten, antwortet Mitch völlig freimütig, dass er dann ja auch seinen festen Freund mitbringen könne, der ein echter Nerd in Sachen Chick-Flicks sei. Nicht nur Kathys Gesicht fällt buchstäblich in Scheiben. Das amerikanische „National Review“ zeigte sich ebenfalls verstört vor lauter Sorge, dass Kinder ihre Eltern nach dem Besuch des Films mit unangenehmen Fragen über Homosexualität belästigen könnten. Dabei liegt der eigentliche Fokus der Geschichte auf dem kleinen Norman, der tote Menschen sieht und sich im weiteren Handlungsverlauf gegen Zombies und Hexen erwehren muss, natürlich unter Mithilfe von Mitch und Kathy. In den versierten Händen der Regisseure Chris Butler und Sam Fell gerät dies zur liebevollen Hommage ans Horrorkino und zur moralischen wie abgründigen Fabel über Schuld, Vergebung und Unvoreingenommenheit. Dass diese Moral für den Film nicht nur bloßes Lippenbekenntnis bleibt, zeigt sich in dem Outing seines eigentlich doch so klassisch gezeichneten „HeteroHelden“. Mitch ist zudem eine brillant animierte Figur. Aus einem 36

kindlichen Unterleib mit schmaler Taille erhebt sich ein dreieckiger, überdimensionierter muskulöser Oberkörper. Darauf thront ein pickliger Teenager-Kopf mit breitem Kinn und stirnlosem plattgedrückten Frankenstein-Schädel – das grotesk überzeichnete Abbild eines amerikanischen College-Boys oder Baseball-Helden. Hinter ParaNorman sah so mancher jene mysteriöse wie berüchtigte Hollywood-Gay-Agenda am Werk. Der abstrusen Wortschöpfung liegt die paranoide Angst konservativer Köpfe zugrunde, Hollywood würde über das Massenmedium Kino die Welt einem queeren Brainwashing unterziehen. ParaNorman wäre demzufolge nach Johnny Depps sexuell ambivalenten Charakteren wie Willie Wonka und Jack Sparrow der nächste Schritt, das Familienkino mit einer homofreundlichen Haltung zu infiltrieren. In den letzten Kino­monaten glänzte die große Weltverschwörung in „Glitzerstadt“ allerdings die meiste Zeit durch Abwesenheit. Hollywood Babylon liegt seit geraumer Zeit auf Eis. So befreite Sam Raimi sein Prequel zu The Wizard of Oz von jeglichen Camp-Elementen, Musical-Extravaganzen und queeren Subtexten. Steven Soderberghs Versuch, die Liebesgeschichte von Liberace und Scott Thorson mit viel Pomp auf die große Leinwand zu bringen, wurde von den großen Studios als zu schwul abgelehnt. Immerhin der längst zum Heilsbringer stilisierte TV-Sender HBO sprang ein und der Film konnte mit Michael Douglas und Matt Damon in den Hauptrollen fürs Fernsehen inszeniert werden. Auch queere Actionhelden im Blockbusterkino suchte man erneut vergebens. Dem vorwiegend adoleszenten Publikum scheinen queere Filmcharaktere oder gar Küsse zwischen Männern nach wie vor nicht zumutbar. Aber gut Ding will wohl Weile haben. Wobei! Küsse gab es zwar nicht, aber sexy Brustkraulen zwischen Daniel Craig und Javier Bardem in Sam Mendes’ James Bond 007 – Skyfall. Bond-Filme begeistern auch ältere Semester. Dennoch konnte man


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Mitch aus „ParaNorman“

sich eines ungläubigen Staunens kaum erwähren, als angekündigt wurde, dass ausgerechnet Bond in einer homophilen Szene zu sehen sein sollte. Mendes hatte im Vorfeld verlauten lassen, dass für ihn Homoerotik und Camp nicht nur zum klassischen Repertoire vieler Bond-Filme gehöre, sondern dass er auch gedenke, diesen Aspekt in seinem Film zu behandeln. Zudem zeigte sich die reifere Story von Skyfall eher an Mutterkomplexen als an dem Auftritt typischer BondGirls interessiert. Queers im Bond-Universum sind tatsächlich keine Seltenheit und treten in der Regel als Bonds infernalische Gegenspieler auf. Die kaltblütige russische Agentin Rosa Klebb in Liebesgrüße aus Moskau, eine mordlustige Matrone mit Butch-Appeal, geriet gar zur lesbischen Ikone. Nicht zuletzt aufgrund des grandiosen Spiels von Lotte Lenya, die das hinter der Figur stehende homophobe Klischee ins IrrealAbsurde überhöhte und ihr eine große Camp-Würde verlieh. Dagegen ließ sich in dem homosexuellen Killerpärchen Mr. Wint und Mr. Kidd in Diamantenfieber kaum mehr als ein ziemlich rüder Affront gegen eine Minderheit entdecken. Bond-Filme wandelten hier seit jeher auf einem schmalen Grat und Skyfall ist da keine Ausnahme. Auch Javier Bardem als Silva ist ein flamboyant-diabolischer Bösewicht, effiminiert bis auf die Knochen. Bond geht er an die Wäsche, als dieser gefesselt vor ihm auf einem Stuhl sitzt. Silvas Versuch, seinen Kontrahenten mit Annäherungsversuchen und Zärtlichkeiten zu irritieren, lässt dieser cool, wenn auch nicht völlig unerregt, über sich ergehen. Für alles gebe es ein erstes Mal sagt Silva, während er zwischen Bonds Beinen entlang streicht. Der kontert mit „Was lässt sie glauben, dass das mein erstes Mal ist?“ Ein klassischer Bond-Spruch, so spitzzüngig wie anzüglich, dass er auch einer schlagfertigen Tunte gleichermaßen gut zu Gesicht gestanden hätte. Gerade Bardem sprüht in diesem Katz- und Mausspiel vor sinnlichen Gesten. Man kann sich an wenige Szenen

im Kino der letzten Jahre erinnern, in denen es mehr knisternde Erotik gegeben hätte. Es waren solche einzelnen Szenen, die dem Mainstreamkino der letzten Zeit queeres Leben einhauchten. Große Starproduktionen und Oscar-Anwärter wie Brokeback Mountain oder Milk gab es nicht. Dafür aber jede Menge Filme, die queere Themen am Rande verhandelten. Da war Stephen Chboskys hervorragend inszenierter Coming-of-age-Film Vielleicht lieber morgen im High-School-Milieu mit Emma Watson und Ezra Miller als Patrick, der in eine heimliche Affäre mit dem Star des Football-Teams der Schule verwickelt ist und einer Clique von Rocky Horror-Fans angehört. (Seite 30). Brian de Palma inszenierte mit Passion einen meisterlich manierierten Thriller mit lesbischen und bisexuellen Frauen, die sich in mörderischen Machtspielen und Erpressungsversuchen verstricken. Und auch Soderberghs Pharma-Thriller Side Effects kam mit einem LesbenTwist um die Ecke. Der Film, der aber wirklich großes queeres Mainstreamkino versprach, war Cloud Atlas. Für schlappe 100 Millionen Dollar u. a. aus Förderfonds und Stiftungen verfilmten Tom Tykwer (Lola rennt) und Andrew und Lana Wachowski (Matrix) David Mitchells Roman „Der Wolkenatlas“. Heraus kam ein opulentes Bildgewitter, in dem Stars wie Tom Hanks, Halle Berry, Susan Sarandon oder Hugh Grant von einer Rolle zur anderen hetzen. Sechs verschiedene Schicksale werden miteinander verquickt, die sich im Zeitraum eines halben Jahrtausends abspielen. Erzählt wird u. a. von einem jungen schwulen Musiker, der seinen Lehrer niederschießt, als dieser versucht, ihn wegen seiner Homosexualität zu erpressen und sich dessen Komposition „Das Wolkenatlas-Sextett“ anzueignen, von der Liebesgeschichte zwischen einem Klon und einem Rebellen in einer dystopischen Zukunft im 22. Jahrhundert oder von dem gefahrvollen Weg in einer postapokalyptischen Welt, den der Hirte eines von Kannibalen 37


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20th century fox

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Ben Whishaw in „Cloud Atlas“

Daniel Craig und Javier Bardem in „James Bond 007 – Skyfall“

bedrohten Waldvolkes unternimmt, um eine Fremde auf die Spitze eines geheimnisvollen Berges zu führen. Keine dieser Geschichten wird durchgängig erzählt, sondern wie einst in Griffiths epochalem Monumentalwerk Intoleranz ineinander verschachtelt. Mit den einzelnen Geschichten ändern sich auch die Genres: Das Melodram wird verwoben mit dem Paranoia-Thriller, eine Komödie im Altersheim geht über in eine Antiutopie. Zusammengehalten werden die Episoden vom Thema der Wiedergeburt und dem Gedanken, dass die Schicksale der Menschen über die Zeiten hinweg miteinander verbunden sind. Mit dem Wechsel der Rollen verändern die Schauspieler auch ihr Geschlecht und ihre ethnische Zugehörigkeit. Regisseurin Lana Wachowski, die erst vor kurzem ihre Transition vollendete, schien die Richtige, ein solches Thema mit einer besonderen queeren Sensibilität zu behandeln. Nicht weniger als ein neuer 2001, ein metaphysisches Epos für unsere Generation sollte Cloud Atlas werden. Im Vorfeld hieß es dementsprechend, das Projekt sei überambitioniert, der dazugehörige Roman eigentlich unverfilmbar. Doch gelten lassen wollte man das nicht. Wer im Kino etwas wagt, dem wird auch verziehen, wenn ein paar Dinge in die Brüche gehen. Und dass ein Stoff unverfilmbar sei, ist eine der müßigsten Phrasen der Filmkritik. Nicht zuletzt tolle queerrelevante Filme wie Viscontis Der Tod in Venedig, David Cronenbergs Naked Lunch aber auch Vielleicht lieber morgen sind aus Büchern entstanden, denen Unverfilmbarkeit attestiert wurde. Die Konzeption von Cloud Atlas ringt einem ehrfürchtige Bewunderung ab. Doch so groß das eigene Bemühen sein mag, diesen Film zu lieben – über weite Strecken ist er schlicht misslungen. Das Verweben der verschiedenen Erzählstränge ist selten mehr als ein zielloses Mäandern durch Zeit- und Raumebenen. Cloud Atlas bekommt sein Thema einfach nicht umrissen. Es geht irgendwie um Reinkarnation, natürlich um den Sinn des Lebens, um das große Ganze. Dazwischen immer wieder Filmzitate: Blade Runner, Soylent Green oder James Ivorys Maurice in der Komponistenepisode. Doch wo Klassiker wie 2001 und Blade Runner in der Frage nach jenem großen Ganzen zu ungeheuer reichen Bildideen finden, welche die Vorstellungen ihrer jeweiligen Epoche sinnfällig reflektieren, bleibt Cloud Atlas ernüchternd leer. Die ausgefeilten Bilder ergehen sich in hübsch aussehendem Design, das aber keine Bedeutung generiert. Dabei will der bildgewaltige Film auch noch viel zu viel Sinn durch pathetisch vorgetragene Worte erzeugen. Die Plastizität der Charaktere leidet darunter, dass sechs Geschichten in knapp drei Stunden Lauflänge gepresst werden. Ben Whishaw als junger Komponist wird nach der Vollendung seines Sextetts Suizid begehen. Der Künstler, der sein Meisterwerk geschaffen

hat, verlässt die Welt mit einem Kopfschuss. Doch die Bedeutung dieses Todes für die Gesamtkonzeption des Films bleibt schwammig. Und da sein Auftritt in der Kürze der Zeit selten mehr ist als das Konstrukt eines Drehbuchs, erscheint er im Kanon des Schwulenfilms nur als eine weitere Leiche. Der nächste, dem seine Homosexualität das Genick gebrochen hat. Tom Hanks Frau in der postapokalyptischen Episode ergeht es kaum besser. Geradezu mit einem Axthieb befördert sie das Drehbuch aus dem Film, damit Hanks und Halle Berry als schöne Fremde endlich zusammenkommen können. Hier arbeitet der Film mit der Sensibilität und brachialen Aussortier-Logik eines Roland Emmerich. Da mag der Duktus des Experimentalfilms noch so über Cloud Atlas schweben, unter dem Strich wirkt er seltsam altbacken und konventionell. Das Ende des Films gönnt Halle Berry und Tom Hanks als altes Ehepaar ein kitschiges Happy-End mit häuslichem Glück. Ein futuristischer Wigwam irgendwo draußen am See macht den ÖkoTraum perfekt. Halle Berry und Tom Hanks sind auf alt geschminkt, doch die Maske funktioniert nicht. Auf profane Weise sehen die beiden einfach lächerlich aus. Wo so viele vor allem ältere Filme durch ihre Poesie, ihre reichen Subtexte, durch die Erhabenheit der Bilder ihre billigen Masken und Effekte zu transzendieren wussten, entlarvt die schlichte Maskerade des Happy-Ends die Glücksphantasie als falsch. Der ganze behauptete Pathos des Films liegt in Scherben. So bleibt zu konstatieren: Ein Mainstreamkino, das queeres Leben, queere Kultur und Leidenschaften in einem großen Aufriss zu spiegeln vermochte, hat in den letzten anderthalb Jahren gefehlt. Doch dafür gab es jede Menge Einzelmomente und aufregende Details, die zu begeistern wussten. s

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ParaNorman von Chris Butler und Sam Fell US 2012, 89 Minuten, deutsche SF, englische OF

Skyfall von Sam Mendes US 2012, 137 Minuten, deutsche SF, englische OF

Auf DVD bei Universal Home Entertainment, www.uphe.de

Auf DVD bei 20th Century Fox, www.fox.de

Cloud Atlas von Tom Tykwer und Andy & Lana Wachowski US 2012, 165 Minuten, deutsche SF, englische OF Auf DVD bei Warner Home Video, www.warnerbros.de


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Der Moment Schriftsteller sehen Filme: Florian Neuner

Florian Neuner bringt in seiner aufregend experimentellen Prosa Hoch- und Subkultur, Eigen- und Fremdtexte durch scharfe Schnitte dazu, unmittelbar und überraschend aufeinander zu reagieren. Trotzdem ist ihre Beziehung zu Film als Medium nicht naheliegend. Sein „Moment“ aus einer Filmgeschichte, die nicht am Klischee ansetzt, hat tatsächlich mit dem Aufspannen vom Film im Kinosaal zu tun. Unter Neuners Prosatexten seien „Jena Paradies“ und „Zitat Ende“ hervorgehoben, zuletzt erschien „Satzteillager“.

s Ich mache selbst keine Filme, & die visuellen Medien sind mir – von der Macherperspektive aus betrachtet – auch so fremd, dass ich mir nicht vorstellen könnte, mich in ihnen zu artikulieren. & dennoch ist es ein Filmemacher, von dem ich früh Entscheidendes gelernt habe: Peter Kubelka, der freilich immer einen so weiten Horizont hatte, dass er sich mit nur einem einzigen Medium unmöglich zufriedengeben hätte können. Nicht umsonst leitete er an der Städelschule in Frankfurt lange Jahre eine „Klasse für Film und Kochen als Kunstgattung“. Ich begegnete Kubelka aber zum ersten Mal in seiner Nebenrolle als Musiker. Walther Derschmidt, mein Musiklehrer – rückblickend betrachtet wohl überhaupt der einzige gute Lehrer, den ich je an einer Schule hatte – spielte in Kubelkas Ensemble Spatium Musicum, das Konzerte veranstaltete, die dann letztlich mehr Kubelka-Vorträge mit Musikbeispielen waren. Seine Vortragstätigkeit – in den sechziger Jahren in den USA begonnen – sollte sich zum zentralen Medium entwickeln, während der skrupulöse Filmemacher Peter Kubelka zwischen 1977 & 2003 mit keinem neuen Film mehr an die Öffentlichkeit trat. Diese Vorträge, von denen ich einige schon früh in meiner oberösterreichischen Heimat erleben konnte, später eine ganze Vortragsreihe über das „Wesen des Films“ in Wien, interdisziplinär zu nennen, käme einer starken Untertreibung gleich. Sie versuchen nicht weniger, als eine (Film-)Ästhetik ganz basal, wenn man so möchte: anthropologisch zu fundieren, die technischen Medien vom Werkzeuggebrauch der Steinzeit her zu verstehen. Nachlesen kann man diese Vorträge nicht; Kubelkas Medium als Filmtheoretiker, Kulturphilosoph – als was eigentlich? (die Zuschreibungen sind hilflos) – ist das gesprochene Wort. Peter Kubelka zeigt bei seinen Vorträgen auch eigene Filme. Einer Veröffentlichung dieser Filme auf DVD würde er nie zustimmen. Ja, er ging sogar so weit, 2012 das Ende der Filmgeschichte zu verkünden, denn mit der vom Markt flächendeckend durchgesetzten Digitalisierung wird das Medium historisch – was einer auch zukünftigen, künstlerischen Blüte ja nicht im Wege stehen muss, wenn man an das vielstrapazierte Beispiel Malerei vs. Photographie denkt. Kubelka hat „seinem“ Medium Film, das eine Illusion von Bewegung erzeugt, indem 24 Standbilder pro Sekunde auf eine Leinwand projiziert werden, deshalb letztes Jahr auch ein Denkmal gesetzt: Monument Film. Zu seinem schmalen Œuvre – kein Film dauert länger als 16 Minuten – zählen Filme wie Arnulf Rainer von 1960, der ausschließlich aus schwarzen & weißen Kadern sowie einem Wechsel von Stille & Rauschen auf der Tonspur besteht, oder Unsere Afrikareise (1961–66): Basierend auf der konsequenten Trennung von Bild & Tonspur (keine tautologischen Aussagen!) entstehen durch virtuose Montage Metaphern, wie Kubelka sagen würde. Hier ist nicht der Raum, mehr als einige Andeutungen über die Filme von Peter Kubelka zu machen.

Auf der einzigen Kubelka-DVD, die einen Vortrag dokumentiert, den er 2002 im Österreichischen Filmmuseum in Wien hielt, sind vier seiner Filme zu sehen: allerdings nur indirekt: Wir sehen die Projektion auf die Leinwand mit der Umgebung des Kinosaals – ein deutlicher Hinweis, dass man diese Filme nur im Kino sehen kann. Es gibt aber einen Moment in dieser Lecture-Performance, der mir besonders stark in Erinnerung geblieben ist: Nach der Projektion von Schwechater – einer einminütigen Bewegungsstudie, hervorgegangen aus dem Auftrag, für die Schwechater Brauerei einen Werbefilm zu produzieren – lässt Kubelka die Kopie entrollen & durch die Sitzreihen spannen – eine eindrucksvolle & ganz direkte Konfrontation mit dem Medium Film in seiner Materialität. Das habe ich bei Peter Kubelka gelernt: dass in jeder Kunst die Reflexion des Materials am Anfang stehen muss. Denn wenn ich das Material, mit dem ich arbeiten möchte, nicht kenne, dann werde ich auch nicht dazu in der Lage sein, Inhalte adäquat zu vermitteln. Dann komme ich nicht weg von den Clichés der Spielfilme oder der Romane. Dazu muss man erst mal alles auseinandernehmen, also etwa die Tonspur von den Filmbildern trennen, neu & anders zusammensetzen usf. Diese Möglichkeiten der Montage interessieren mich bis heute im Medium der Sprache zentral, & ich denke, dass man hinter das – auch: theoretische – Niveau der Kubelka-Generation nicht zurückfallen darf, wenn man den Versuch nicht aufgeben will, auf der Höhe der Zeit zu arbeiten. Das sind grundlegende Fragen. Was ein Film sozusagen inhaltlich leisten & transportieren kann (& woran heutige Filmkritiker beinahe ausschließlich interessiert sind), darauf gibt dieser puristische Modernismus sicher nur wenige Antworten. Dazu wird man beispielsweise bei dem großartigen Filmemacher Kurt Kren (der wie Kubelka in der Wahrnehmung der Cineasten in einer weit entlegenen Experimentalfilm-Ecke steht) mehr finden. Aber der Kurator Peter Kubelka, der in New York, Paris & Wien in Projekte eingebunden war, so etwas wie einen Kanon der bisherigen Filmgeschichte zusammenzustellen, hatte auch für einen jungen schwulen Autor einiges zu bieten, enthält sein Kanon, der bis heute regelmäßig im Österreichischen Filmmuseum gezeigt wird, doch auch Scorpio Rising von Kenneth Anger, Un Chant d’Amour von Jean Genet & Filme von Jack Smith. & wer nach Identifikationsangeboten sucht, der ist doch sicherlich gut beraten, auch bei diesem subjektiv-autobiographischen Blick auf Filme höchstes ästhetisches Niveau nicht zu unterschreiten & sich nicht zufriedenzugeben mit … aber lassen wir das. s

Peter Kubelka: Film als Ereignis, Film als Sprache, Denken als Film 175 Minuten, deutsche OF

Jena Paradies von Florian Neuner 176 Seiten, Ritter 2004, www.ritterbooks.com

Satzteillager von Florian Neuner 146 Seiten, Klever Verlag 2011, www.klever-verlag.com

Auf DVD beim ORF, shop.orf.at

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frisch ausgepack t

Neu auf DVD von pau l sch u l z (ps) u n d Ja n K ü n em u n d (J K)

THE STORY OF FILM – AN ODYSSEY UK 2011 · Regie: Mark Cousins · Studiocanal

Filmvermittler sind eine rare Spezies. Was sie machen, hat mit pseudo-objektiven Kunstbeurteilungen wenig zu tun, mit den ganzen Daumenrauf-oder-runter-Systemen der Wald-und-Wiesen-Filmkritik überhaupt nichts. Sie möchten ihre Leidenschaft, ihre Begeisterung teilen und wildfremden Menschen zu einem Glück verhelfen, von dem diese vielleicht überhaupt nichts ahnen. Mark Cousins ist der Inbegriff eines Filmvermittlers – der Coverboy der allerersten SISSY (abgebildet neben seiner Freundin und Mitvermittlerin Tilda Swinton) schreibt zwar auch Kritiken, sucht aber ansonsten nach originelleren Wegen, Menschen und Film zusammen zu bringen: mit verrückten Festivals in der chinesischen oder schottischen Provinz, durch Netzwerke mit verehrten FilmemacherInnen in der ganzen Welt, jüngst mit dem Projekt, jedem Kind an seinem 8½sten Geburtstag eine DVD zu schenken und sie so an Filmkunst heranzuführen. Wenn jemand aus guten Gründen und mit Sinn und Verstand über Filme schwärmen kann, dann Mark Cousins. Und wenn man ihm 15 Stunden dabei zuhören will, wie er durch 120 Jahre Filmgeschichte und die ganze Welt reist, sollte sich seiner Story of Film ausliefern, seiner hypnotischen Stimme, seinen beiläufigen, verspielten Camcorderbildern, die zwischen den Filmausschnitten Zeit zum Luftholen und Nachdenken lassen, seinen Interviewpartnern aus allen Ecken und von allen Rändern der Filmwelt. Das ist, obwohl chronologisch und bemerkenswert vollständig, keine „Filmgeschichte“, sondern eine leidenschaftliche Erzählung, eine „Story“ über Innovationen des Filmemachens, über den Moment des Nochniegesehenen im Kino – den Cousins genauso in Avatar wie in einem Kiarostami-Film ausmachen kann. Natürlich hat auch der Filmvermittler Vorlieben: die großen Bildermacher von Méliès über Fellini bis hin zu irgendwas zwischen Barney, Sokurov und Weerasethakul. Alles, was sich in der Poetik des Beiläufigen verfängt und sich irgendwie auf Cassavetes bezieht, ist die größte Lücke in der Cousinschen Schau der Sensationen. Er konzentriert sich ganz auf die Gorillas, wie er „seine Momente“ nennt – abgeleitet von der verrückten 40

und tatsächlich umgesetzten Idee eines Affen, der plötzlich in einem Laurel-und-Hardy-Film auftaucht, in dem eigentlich ein Klavier über die Alpen transportiert werden soll – weil er dadurch eben zeigen kann, was Film kann und was andere Künste nicht können. Das vielleicht Tollste daran ist die konsequente Globalperspektive: Hollywood ist bei Cousins nur ein filmhistorischer Knotenpunkt unter vielen und wird durch Besuche in Afrika, Asien, Lateinamerika und Australien ins angemessene Verhältnis gesetzt. Queere Filmgeschichte taucht auf, wenn sie Gorillas liefert: Kenneth Angers Motorradfahrer, Fassbinders nackter Körper, van Sants mit zu Boden krachenden Holzhäusern illustrierte Orgasmen und Weerasethakuls Tigerverwandlungen. (Ulrike Ottingers Bilderwelten fehlen seltsamerweise. Sie hätten gut in diese Abfolge visuellen Glücks gepasst.) Aber bzw. ohne aber: große Empfehlung. Auch und gerade wenn man überhaupt kein filmtheoretisches Vorwissen hat. Begeisterung vermittelt sich anders als über Fachbegriffe; und trotzdem wird nach den 15 Stunden jede(r) ganz viel von Film verstehen. jk

I WANT YOUR LOVE US 2012 · Regie: Travis Mathews · Edition Salzgeber

„I Want Your Love beginnt mit Jesses letztem Wochenende in der Stadt, bevor er wieder in den mittleren Westen zu seinem Vater zieht. Er muss sich von allen verabschieden: seinen Mitbewohnern, seinen Freunden und von seinem Ex. Das sorgt für einige emotionale Verwirrungen. Leicht, intim und nah beschreibt Mathews diesen Abschied. Der amerikanische Filmemacher beherrscht perfekt die Inszenierung einer zunächst banal wirkenden Geschichte. (…) Seine Filme haben schon längst eine Ebene erreicht, in denen Fragen nach Identitätszuschreibungen keinen Sinn mehr machen. In denen aber auch sexuelle Identität nicht problembehaftet sein muss oder nicht mehr ist. In denen seine Figuren schon längst über diese Themen hinaus sind. In denen seine Charaktere ein Potential haben und sich nicht durch Herkunfts- und Orientierungszuschreibungen beschreiben lassen. Genau das ist queer, das ist radikal, das ist anders. Auf eine leise Art.“ (Enrico Ippolito in SISSY 17)

LIPSTIKKA US/IL 2011 · Regie: Jonathan Sagall · Edition Salzgeber

Lipstikka erzählt die Geschichte zweier Frauen, die einst gemeinsam aus Palästina flüchteten und sich nun wiedertreffen. „Der Film lief vor zwei Jahren auf der Berlinale und wurde in der Kritik als tiefgründig und filmisch ambitioniert gewürdigt. Einen Skandal hatte er schon hinter sich: Regisseur Jonathan Sagall hatte die Geschichte eigentlich vor Shoah-Hintergrund erzählen wollen, mit den beiden Frauen als Überlebenden des Holocaust – basierend auf der Geschichte seiner Mutter. Der Regisseur machte aus den Jüdinnen aber Palästinenserinnen – und sah sich dem Vorwurf ausgesetzt, die israelische Besatzung der Palästinensergebiete mit dem Holocaust gleichzusetzen. (…) In Flashbacks erzählt der Film von der gemeinsamen Vergangenheit, doch die Rückblicke auf die erste Zeit in London und die Jugend in Palästina verstärken die Unklarheit. Wer liebte jetzt wen? Wie eng waren die Frauen? Was trieb sie auseinander? Die Ebenen verschwimmen. Zeigen die Rückblicke eine absolute Wahrheit oder eine gefühlte, konstruierte, zurechtgelogene? Die Erinnerung ist trügerisch, und so wird das PsychoDrama fast zu einem Thriller.“ (Malte Göbel in SISSY 17)

Sexual Tension – Volume 1: Flüchtige Blicke AR/FR/US 2012 · Regie: Marcelo Mónaco, Marco Berger · Pro-Fun Media

Wer wann wie Sex hat und warum, interessiert jeden. Das filmisch aufzubereiten, ist allerdings nicht so einfach. In Sexual Tension versuchen sich Teddy-Preisträger Marco Berger (Ausente, Plan B) und sein Kollege Marcelo Mónaco an ineinander laufenden Kurzfilmen darüber, wie und wo junge Männer Sex finden und haben, von romantisch bis erzählerisch, und sind dabei unterschiedlich erfolgreich. Der Cousin und Liebe, sind sehr, sehr schön und eher von der zurückhaltenden Bildsprache Bergers geprägt, die anderen vier direkter,


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aber dafür weniger phantasievoll. Insgesamt ist Flüchtige Blicke eine großartige Art, das Vorspiel abzukürzen oder zu ersetzen, weil man nach rund 90 Minuten gerne selber Sex haben will und sich gut amüsiert hat, und das ist doch was. ps

A PERFECT ENDING

ihre Fehler als liebenswert deklariert und ein völlig artifizielles Homo-Gegenüber braucht, um sich mit sich selbst und das über ehemalige Bürgerkriegsfronten hinaus zu versöhnen.“ (Jan Künemund in SISSY 15)

BLACKMAIL BOYS! US 2010 · Regie: Bernard, Harry Shumanski · GMfilms

US 2012 · Regie: Nicole Conn · Pro-Fun Media

PARADA RS/HR/MK/SI 2012 · Regie: Srdjan Dragojevic · Indigo

Parada ist eine Komödie über ex-jugoslawische Bürgerkriegskämpfer, die im heutigen Belgrad einen Gay-Pride-March beschützen. „Parada ist für alle da und der Plan ist eindeutig: Menschen am eigenen Vorurteil ins Kino lotsen und sie dort, quasi von hinten durch die Brust ins Auge, mit den Klischees, die ihr Weltbild beherrschen, konfrontieren. So reduziert der Film alle Protagonisten auf das Gängige – den kleinsten gemeinsamen Nenner, der alles Bekannte und Vermutete vereint und damit dann vor Gericht zieht, als Waffe nichts weiter in der Hand als den Humor und die Macht eines gemeinsamen Lachens. Der Film ist also kein dummes Machwerk, voll verkapptem Reaktionismus. Vielmehr folgt er einer ganz klassischen Vorgehensweise im Prozess der Emanzipation: Man muss sich erst an den Stereotypen abarbeiten, sie benennen und ihre Kanten schärfen, bevor man sie zerstören kann.“ (Beatrice Behn in SISSY 15) „Eine politisch inkorrekte Komödie nennt sich so was und ist doch nichts anderes als Balsam für die verwundete Männer-Norm-Seele, die

VIELLEICHT LIEBER MORGEN US 2012 · Regie: Stephen Chbosky · Capelight/Alive

„Hat man doch alles schon gesehen, spätestens in Glee. Ist man doch sowieso viel zu alt für. Aber dann passiert es trotzdem. Man verknallt sich doch.“ (p  Seite 30)

Gerbrand Bakker Oben ist es still Roman

Suhrkamp

Aaron und Sam sind jung und dünn und wollen heiraten. Haben aber das Geld dafür nicht. Also beschließen sie, einen Freier auszunehmen. Was dabei passiert, ist stellenweise absurd, manchmal lustig und immer sehr gewalttätig. Allerdings schrecken die Filmemacher Bernard und Harry Shumanski vor Gregg-Araki-artiger Direktheit oder Pfiffigkeit zurück und verlieren sich ein bisschen beim liebevollen Betrachten ihrer Hauptdarsteller, was Blackmail Boys! langsamer macht, als er sein könnte. Aber einen sehr fröhlichen Abend, der ab und an aus dem Ruder läuft und bei dem ein paar Tote zurückbleiben, kann man mit diesem fiesen, kleinen Streifen trotzdem haben. ps

Foto: Jürgen Bauer

Paris ist ein Callgirl, sie macht den Job freiwillig und gern. Ein Mix aus Langeweile, sexueller Frustration und der Überredungskunst eines befreundeten Lesbenpaares treibt die reife Ehefrau Rebecca in ihre jungen Arme. „Nicole Conns Arbeiten gehören zu den Klassikern im DVD-Regal lesbischer Haushalte. Es sind Selbstfindungstrips, die durch das Zusammenspiel bildschöner Hauptfiguren, genüsslich ausgekosteter Klischees und einer unangestrengten Balance zwischen Drama, Komödie und sexy Romanze funktionieren. Ihr Spannungsfeld ziehen sie aus dem Mythos des ersten Mals: Reife, zuvor hetero-orientierte Frauen erleben ihr sexuelles Erwachen in einer gleichgeschlechtlichen Begegnung.“ (Maike Schutz in SISSY 17)

ni 3. Ju Ab 1 ino im K

CHERRY US 2012, Regie · Stephen Elliott, Lorelei Lee · Koch Media

Das Schönste an Cherry ist das, was viele Leute an Stephen Elliotts Spielfilmdebüt hassen werden: seine Unvoreingenommenheit, die man nicht mit mangelndem Urteilsvermögen verwechseln sollte. Die Geschichte von Angelina, die in L.A. Karriere im Pornogeschäft macht und sich dabei gedanklich genauso weit von zu Hause entfernt, wie sie es körperlich längst ist, provozierte auf der Berlinale 2012, trotz ihres beeindruckenden Ensembles (James Franco, Lili Taylor, Dev Patel, Heather Graham) vor allem durch den Widerspruch, dass sie die Erotikbranche einfach nur als das Arbeitsumfeld erzählt, das sie für viele Frauen ist, ohne sie moralisch zu bewerten. Und damit, dass nicht klar gesagt wurde, ob es ein feministisches Statement ist, dass Hauptdarstellerin Ashley Hinshaw zum Schluß als Cherry in den Armen und im Bett von Heather Grahams durchemanzipierter Pornoproduzentin landet 41

Roman. 315 Seiten. € 9,99 (D)

Genau in der Beobachtung von Mensch und Natur, subtil in der Anspielung und von zärtlicher Skurrilität, entwickelt Bakkers trockener, lakonischer Erzählstil von der ersten Seite an einen unwiderstehlichen Sog: »ein wunderbares Buch.« Iris Radisch

Suhrkamp Das lieferbare Werk von Gerbrand Bakker unter www.suhrkamp.de


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statt in Francos. Da konnten die Drehbuchautoren Elliott und Lorelei Lee, hundert Mal sagen, dass sie Sexwork einfach nur so queer erzählen, wie sie es selber erlebt hätten, so richtig sehen wollte das keiner. Vielleicht ja jetzt auf DVD. Das wäre schön. ps

CLOUD ATLAS US/DE/HK/SG 2012 · Regie: Andy & Lana Wachowski, Tom

geht? Bei all den in einer Episode aufgehenden und sich in einer anderen hinter den Figuren schließenden Türen Dorothy sehen, die von einem Oz ins nächste stolpert? Oder verfestigt sich das, was vielleicht eher zu Tykwer passt: eine virtuose Odyssee im Weltraum, bei der in Prähistorie, Gegenwart und Zukunft doch immer nur der selbe alte Monolith in der Gegend herumsteht? (p  Siehe auch Seite 36) jk

Tykwer · Warner Home Video

MONDOMANILA Sechs Erzählungen fügt dieser haarscharf am Flop vorbeigeschrammte philosophische Blockbuster zusammen, getreu seiner literarischen Vorlage, dem postmodernen Bravourstück von David Mitchell. Und doch ganz anders: Die im Roman breit auserzählten Einzelepisoden unterscheiden sich in Gattung, Sprache und Ton; bei Tykwer und den Wachowskis sehen sich Vergangenheit (1850, 1931 und 1975), Gegenwart (2012) und Zukunft (1100 und Postapokalypse), von ihren Dekors abgesehen, dagegen ziemlich ähnlich. Sie werden jedoch von einem unfassbar virtuosen Montagefluss atemlos durcheinander gestürzt: 1931 wird ein Koffer gepackt, in 1100 verlässt ein Raumschiff mit Flüchtenden die Startbahn. Man merkt irgendwann, dass Namen in anderen Zeiten wieder auftauchen, später wieder-erkennt man Tätowierungen und Ideen (der Kampf der/s Einzelnen gegen das kollektive Unrecht), bis man schließlich merkt, dass auch Schauspielerkörper beständig durch die Erzählteile wandern. Und so kommt es, dass man da irgendwann einen Hugh Grant in Greisen-Maske neben einer deutlich jüngeren Ehefrau im Bett ausmacht, die (ohne dass der Film das besonders betont) von Ben Whishaw verkörpert wird, der ansonsten eigentlich einen jungen Komponisten in den 1930er Jahren spielt. Ein „eigentlich“ gibt’s hier eigentlich nicht; die Migration der Dinge und Körper ist erregend, der Spaß ist den Darstellern, der Masken- und Kostümabteilung deutlich anzumerken. Eine queere Lesart bietet sich an: Ein jeder, eine jede kann – in anderen Konstellationen – etwas vollkommen anderes sein, Geschlecht, Rasse und Klasse sind dabei variabel. Doch leise beschleicht einen im Verlauf des dreistündigen Wechselbads der Verdacht, dass es dem Film eher darum geht, eine Essenz zu behaupten, die menschlichen Zusammenhängen per se zugrunde liegt, egal zu welchen Zeiten, egal, wie Menschen sich selbst entwerfen. Derartig sensibilisiert (und sensibel bleibt der Film bei aller Leistungsschau), werden weitere Fragen aufgeworfen: Könnte man im dezidiert filmischen Fluss, dessen weibliche Urheberin im Regietrio vor kurzem bekanntlich noch „Larry“ hieß, nicht eine wilde Bewegung verspüren, die ins Freie 42

PH/DE 2012 · Regie: Khavn De La Cruz · Alive

Ein Erzählfilm über Manila als Moloch und Faszinosum, als Objekt der Elendspornografie und gleichzeitig als spektakulär drapierte Gegenwelt zu westlichen Vorstellungen von Urbanität, als Ort auch einer wildgewordenen, sozusagen unaufgeklärt befreiten Sexualiät. „Von den Ordnungsprinzipien des Narrativen scheint Khavn immer noch nicht viel zu halten, allerdings bekämpft er sie nicht mehr mit Verweigerung, sondern mit Übererfüllung, overkill. Viel zu viele Figuren tauchen auf, jede wird mit einem Steckbrief eingeführt, bzw. vor allem polymorph-pervers positioniert. Dazwischen hingerotzte dokumentarische Miniaturen. Die gesamte erste halbe Stunde des nur 75 Minuten langen Films besteht aus einer Exposition, von der man von Anfang an ahnt, dass sie nicht daran interessiert ist, etwas vorzubereiten. Mondomanila ist die Verfilmung, vielleicht eher die Zersetzung, eines Romans, angefüllt mit Fragmenten von Geschichten, die bei jeder Gelegenheit aus dem Ruder laufen, sich in Zeitrafferaufnahmen und Musikvideosequenzen auflösen.“ (Lukas Foerster in SISSY 16)

HEIMLICHE FREUNDSCHAFTEN. FR 1964 · Regie: Jean Delannoy · Pro-Fun Media

Unendlich lang fährt die Kamera durch die Gewölbegänge des katholischen Jungeninternats. Jede Säule ist mit der anderen verbunden. Keine Bewegung scheint unter ihnen möglich, die nicht geformt, zugerichtet, gedeckelt ist. Schwarzweiß ist die Kamera, schwarzweiß auch die Uniformen der Priester und der Kinder. Mehr fällt der gediegenen Regie von Jean Delanoy zum Thema nicht ein, 1964, inmitten der entfesselten Freiheitsbewegungen der Nouvelle Vague, die ihn als Qualitätskinomacher verspottet. Es reicht aber, um im nach allen Seiten begrenzten Gewimmel jugendlicher Liebesversuche die Tra-

gik auszumachen, die eine Ideologie, die Schönheit nur in Verbindung mit moralischer „Reinheit“ akzeptieren konnte (ach ja, die alten Griechen …), anrichtet. Ätzend scharf ist die Kritik an der Kirche, deren Vertreter alles Wachsende begradigen und die selbst ihr eigener schlimmster Auswuchs sind – wie der Priester mit dem Fenster zum Jungenschlafraum, durch das er verbotene Handlungen überwacht und gleichzeitig seinen nächsten ihm verbotenen Jungen auswählt. Dass Delannoy die Affäre zweier Knaben in Richtung Pädophilie verschiebt, dürfte im Sinn des Autors der literarischen Vorlage gewesen sein – auch Roger Peyrefitte hatte es nach eigenen Worten mehr mit Lämmern als mit Schafen. Ein Lamm wiederum trägt der 12-jährige Alexandre auf dem Arm, als sich der adelige, klassenbeste und standesbewusste 17-jährige Georges in ihn verliebt. Eine bemerkenswert rebellische, eigenwillige Figur ist dieses Kind in diesem Film, nur manchmal von der Regie zum Strahlen wie angeknipst. Das Unsagbare ist natürlich im Film unzeigbar. Der schon von Peyrefitte vorbereitete Tritt in den Kirchenmagen ist aber durch die Rechtschaffenheit möglich, die der Film dem Adelsspross qua Stand zubilligt. Und so bedeutet die einzige Freiheitsfahrt des Films aus dem Internatsgewölbe für das wilde Kind das Ende, für den jungen Schlossherrn den Beginn einer Karriere, die sich von niederen Priestergelüsten befreit hat. jk

FÖGI IST EIN SAUHUND CH/FR 1998 · Regie: Marcel Gisler · Pro-Fun Media

„Fögi ist, egal, was Beni von ihm hält, ein schwarzes Loch. Reglos, neutral, jegliches Licht aufsaugend, nichts zurückgebend, von diffusen Ängsten vor Körperfressern und dem Älterwerden besessen, in seinen Handlungen so geheimnis- wie glanzlos. Wann immer Beni aufbraust, sich abarbeitet, flüchtet, rebelliert – der Film bleibt bei Fögi. Denn er weiß: Beni kommt schon wieder zurück.“ (p  Seite 34)

IN IHREM HAUS FR 2012 · Regie: Francois Ozon · Concorde

Der auf einem spanischen Theaterstück basierende Film erzählt davon, wie ein Lehrer seinen Schüler dazu anstiftet, sich tief in den Eingeweide der Familie seines Schulkameraden einzunisten und von dort die Geschichte zu steuern, die er seinem Lehrer in kurzen Aufsätzen über diese Familie erzählt. „In ihrem Haus ist das, was man auf gut Cineasten-Amerikanisch einen ‚Mindfuck‘ nennt und irgendwie die französische Antwort auf Inception, auch


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wenn es nicht eine einzige Explosion oder Verfolgungsjagd gibt. Lector fuckin’ in fabula! Wie immer versammelt Ozon eine Riege superber Darsteller, damit sie elegant um seine Ideen herumstehen und ihnen Würde verleihen. Man hat nicht immer das Gefühl, das alle gerade wissen, was sie da eigentlich spielen, aber es ist sehr unterhaltsam.“ (Paul Schulz in SISSY 16)

ROMANCE 2 – ANATOMIE EINER FRAU FR 2003 · Regie: Cathérine Breillat · Pierrot Le Fou/Alive

Der Film beginnt mit einem schwulen Blowjob und mit einer durch Spiegel im Raum ausgeschnittenen Frau. Hier ist kein Platz für sie, sagt uns diese Einstellung. Doch die Frau handelt ihren Platz in diesem Film aus, bietet einem der Männer im ignoranten Schwulenclub einen Deal an – blasen kann sie ihm auch einen, außerdem bezahlen. Sie verspricht sich einen männlichen Blick auf ihren Körper, der nicht von erotischer Begierde geprägt ist. Also verbringen die Frau und der Mann vier Nächte in einem leeren Haus an einem nicht näher bestimmten Ort – sie liegt nackt vor ihm, er schaut sie begierdelos an, der Zuschauer beide vielleicht mit einem durch zwei iditiotische deutsche Titel fehlgezündetem Begehren (im Original heißt der Film Anatomie de l’enfer). Breillats feministisches Kino baut eine Versuchsanordnung und zeigt, dass nichts am Verhältnis von Männern und Frauen voraussetzungslos ist. Der Kampfplatz ist vorstrukturiert, von Mythen überlagert. Dass das alles nicht völlig wahllos zusammengesetzt ist, merkt man an der eigenen Reaktion: Menstruationsblut und der genagelte Christus, Körperflüssigkeit und zermatschte frischgeschlüpfte Küken, rücksichtsloses Aussprechen von Ängsten und Ekelphantasien gehen, so konstelliert und präzise gefilmt, nicht spurlos an einem vorbei. Der schwule Mann ist aus dieser Perspektive auch nur ein Mann. Darf deshalb auch von Rocco Siffredi gespielt werden. Die Pointe des Films ist sowieso eher die Frage, warum das Hinschauen hier so unerträglich ist. jk

ITALY – LOVE IT OR LEAVE IT IT 2011 · Regie: Gustav Hofer, Luca Ragazzi · Silvercine

„Gustav Hofer und Luca Ragazzi sind ein schwules Paar. Die beiden Dokumentarfilmer werden aus ihrer Wohnung in Rom rausgeworfen, weil die Vermieterin Eigenbedarf angemeldet hat. Das gibt Hofer zu denken:

Warum bleiben wir in einem Land, das uns verbietet zu heiraten? Hofer will nach Berlin, Ragazzi aber sein geliebtes Rom nicht verlassen. Er ist schließlich hier geboren. (…) Hofer und Ragazzi machen also einfach so für ihren Film Italy – Love It Or Leave It einen Roadtrip durch Italien in einem Fiat 500 (!), der bei jeder Reise seine Farbe wechselt. Die Rollenverteilung der beiden, die die Geschichte eines kaputten Landes am liebsten auf sich bezogen erzählen, ist klar definiert. Gustav Hofer ist der Nörgler, Luca Ragazzi der Träumer. Aus dieser klar gesetzten Dichotomie kommen beide während des gesamten Films nicht mehr raus. So einfach ist es dann aber doch nicht. Es gibt genug an Italien zu bemängeln, das stimmt, doch mittlerweile sind viele Italiener davon gelangweilt. Sie wollen was verändern.“ (Enrico Ippolito in SISSY 15)

SEI SUPER,

MANN

VATERTAGE – OPA ÜBER NACHT D 2012 · Regie: Ingo Rasper · Studiocanal

Laut Pressematerial war es Regisseur Ingo Rasper wichtig, dass Vatertage als „Münchner Film“ zu erkennen ist. Betrachtet man ihn aus dieser Perspektive, ist der Film ein unfassbarer künstlerischer Erfolg. Spießiger, selbstverliebter und von den eigenen Witzen begeisterter als Vatertage war lange nichts mehr. Es ist, als wäre die Mauer nie gefallen, Helmut Dietl würde immer noch im Rossini Hof halten. Das führt zu mehreren wirklich schlimmen Dingen: Heiner Lauterbach ist als schwuler Urgroßvater mit rosa Cowboyhütchen und Quetschstimmchen einfach nur beleidigend für jeden Homosexuellen im Land. Nicht, weil er ein offensichtliches Klischee spielt und dabei so glaubwürdig ist wie ein Rottweiler als Wellensittich, so was passiert im darstellerischen Übereifer schon mal, sondern weil er daran einen so von jeder „Muss das so?“-Frage unverstellten Spaß hat. Schwule sind halt so und generell zum Brüllen. Nichts daran ist noch ironisch, es ist einfach nur bescheuert. Aber Lauterbach ist als kesser Vater des Hauptprotagonisten Basti (Sebastian Bezzel) nur ein Symptom für die Unfähigkeit von Buch und Regie, mit Männlichkeit irgendetwas anzufangen, was 2013 Sinn macht. Die gesamte „Mitdreißiger Schluffi mit großem Bubenherzen ist plötzlich nicht nur Vater, sondern sogar Großvater“-Prämisse, die man Dank einer Idee von Bezzel durchstehen muss, produziert ein solches Geschwader von überholten Männer-Klischees, dass man sich fragt, was eigentlich in Regisseur Rasper gefahren ist, der noch vor fünf Jahren mit Reine Geschmackssache eine wunderbar queere Provinzposse abgeliefert hat. ps 43

Wir suchen noch ein paar super Männer, die sich ehrenamtlich in der schwulen Szene engagieren wollen. Wie und wo erfährst Du unter www.iwwit.de.


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DAS TRIO DE 1997 · Regie: Hermine Huntgeburth · Edition Salzgeber

Im Zuge der deutschen Komödienwelle kam Mitte der 1990er Jahre auch Hermine Huntgeburths Das Trio in die deutschen Kinos, dessen Schwulenrollenbilder allerdings nichts mit den Klischees der bewegten Männer zu tun haben. Ausgerechnet Götz George steckte sie in den Fummel des schwulen Kleinganoven Zobel, ohne diese Figur auch nur einem Hauch von Lächerlichkeit auszusetzen. „Im zeitlichen Kontext der späten 90er Jahre überrascht der Film vor allem dadurch, dass er nicht an dem starren Bild von Homo- und Heterosexualität festhält, sondern einen vielfältigeren Ansatz vermittelt, der am Ende in einer besonderen Familienzusammenführung gipfelt. Der Film war rückblickend mit seiner queeren Themenbesetzung seiner Zeit voraus und passt mit der DVD-Veröffentlichung umso mehr in den heutigen Zeitgeist: als queeres Familienroadmovie, das abseits der Szene unterwegs ist, und als Film über Menschen am Rand der Gesellschaft, der für ein großes Publikum gemacht ist.“ (Oliver Sechting in SISSY 17)

LUCHINO VISCONTI EDITION mit den Filmen „Ossessione – Von Liebe besessen“, „Bellissima“, „Die Erde bebt“, „Sehnsucht“, „Rocco und seine Brüder“, „Ludwig II.“

als irgendein anderer Film, den ich kenne, und jede dieser Gefühlregungen den Plot in eine neue, völlig unerwartete Richtung lenkt. Und die Männer sind natürlich alle wahnsinnig schön. Aber das weiß man ja. ps

quent, als dass er, im Gegensatz zu James Francos James Dean von 2001, nicht versucht, den Mythos mundgerecht aufzubereiten, sondern einfach seinen Stream of Consciousness vor die Linse holt. Schön, glatt. ps

DIE STRASSE DER BÖSEN JUNGS

THE FALLS

US 2012 · Regie: Todd Verow · Queer Films

US 2012 · Regie: Jon Garcia · Pro-Fun Media

Todd Verow hat in den letzten zehn Jahren einige wirklich furchtbare Filme gemacht. Straße der bösen Jungs ist keiner davon. Zwar krankt auch dieser Versuch, Notting Hill in Paris auf schwul nachzuerzählen, daran, dass Verow glaubt, kein Film sei zu Ende, bevor man den Arsch des schönsten Darstellers nicht mindestens dreimal gesehen hat und er keine Dialoge schreiben kann, aber seine drei französischen Hauptdarsteller (Florence d’Azémar, Yann de Monterno und Kevin Miranda) sind deutlich besser als ihr Script und man verzeiht Miranda sogar, dass er den Hollywoodstar aus dem Süden der USA mit deutlichem französischen Akzent spielt, weil er und Monterno ein einigermaßen glaubwürdiges Paar abgeben. Wer keine Männer mag, kann Straße der bösen Jungs auch für die minutenlangen Paris-Postkarten-Motive gucken, die Verow immer wieder mitten in den Film schneidet. Die sind wirklich schön. Süß, irgendwie. ps

Schwer religiös zu sein, ist ja in Filmen über Schwule seit den 1990ern das neue Frisör. Ohne erstmal mit Gott zu hadern, hat man heute offensichtlich keinen Sex mehr, der direkt in einer glücklichen Zweierbeziehung (ver)endet. Die Auswahl unter den Stoßgebetsschmonzetten ist so groß, dass es nun selbst unter Filmen über schwule Mormonen mindestens zwei Wege zum heteronormativen Glück gibt: Drama (Latter Days) und Komödie (The Falls). Dabei ist Latter Days wegen der hübscheren und viel nackteren Darsteller und der ohnehin großartigen Jaqueline Bisset zu bevorzugen. Zumal beide Filme auch ungefähr baugleich sind (Gott, Mormone und Homosexualität treffen aufeinander und am Ende hat Gott zwei blaue Augen und alle sind froh). In The Falls darf aber mehr gelacht werden, was gut tut, weil das Leiden an der Religiosität bei vielen homosexuellen Zuschauern in Europa einfach nur ein freundliches: „Wer für einen Unsichtbaren auf die Knie geht, muss sich nicht wundern, wenn er keinen abkriegt“, auslösen wird. Aber so sehr das „Gott mag mich nicht!“Geplärre intellektuell ermüdet, so sehr amüsiert es einen aus dem Bauch raus. Eine kleine Erweckungsphantasie für Zartbesaitete. Hübsch. ps

IT/FR/DE 1943–1972 · Regie: Luchino Visconti · Studiocanal

DER JUNGE JAMES DEAN – JOSHUA TREE 1951

„Was hat der Film mit mir zu tun? Das erhoffte Kinoerlebnis entwickelt sich zu einer 128-minütigen Lektion in Filmhistorie. Ich, als Zuschauer, bin zur reinen Passivität des Schauens und Verehrens verdonnert.“ (p  Seite 22)

US 2012 · Regie: Michael Mishory · Pro-Fun Media

GAY SHORTS ISRAEL IL 2003–2012 · Edition Salzgeber

Warum Israel, das so groß wie Hessen ist, als schwules Filmland um ein Vielfaches produktiver ist als beispielsweise Deutschland, erschließt sich eventuell aus den sieben schwulen Kurzfilm, die hier zu einer Sammlung zusammengefasst sind. Da ist von hübscher Albernheit (Rettung von hinten) über die zwiespältige Jugendballade (Shotgun) bis zum wirklich großen, cineastischen Drama (Ein Gebet im Januar) kurz mal alles dabei, was man als Filmfreund so wollen kann. Höhepunkt für den Rezensenten: Deep Red, weil der in zwanzig Minuten mehr emotionale Wendungen hat 44

Michael Mishory stellt in seinem James-Dean-Biopic zwei interessante Fragen: Was wäre, wenn James Dean schwul gewesen wäre? Und: Was wäre, wenn man die durch 60 Jahre Popkultur hoch gezüchtete Leiche eines Idols in poetischen Schwarzweiß-Bildern wiederbeleben könnte? Die Antwort auf die erste gibt er: Wir würden ungefähr das über Dean denken, was wir jetzt auch denken. Die zweite wird er vielen Zuschauern nur ungefähr beantworten: Joshua Tree 1951 ist ein schwarzweißer Bildersturm mit dem amerikanischen Soapdarsteller James Preston als Dean in seinem Zentrum. Es gibt weder so was wie einen nacherzählbaren Plot, noch eine stringente Struktur, dafür ein paar wirklich atemberaubend durchkomponierte Bilder und ein paar schöne, bekannte Gesichter, unter anderem Erin Daniels (The L-Word) und Robert Gant (Queer As Folk). Mishory ist insofern konse-


profil

Gefühlsprogramm

privat

Michael Eckhardt porträtiert Miriam Pfeiffer, die Leiterin der Leipziger Kinobar Prager Frühling und diesjährige Trägerin des Manfred-Salzgeber-Preises.

s Diese Frau wird man nicht wieder los! Völlig egal, ob man ihr nur kurz begegnete, sie vielleicht am Telefon sprach, oder man um drei Ecken von ihrer Kinoverrücktheit hörte: Diese Stimme, diese Energie, dieses Riesenherz – all dem kann man nicht entkommen, sie zu vergessen scheint unmöglich. Denn sie ist wahrlich eine Erscheinung, diese quicklebendige Kinomacherin aus Leipzig, dieser filmbegeisterte Wildfang, noch dazu mit einem Elan, der manche überfordert, die meisten aber mitreißt: Miriam Pfeiffer – Kinofrau, Genussmensch, Fußballnärrin, nicht wenigen eine gute Freundin, mir sogar die beste. „Kinogefühl“ kann man nicht studieren, und es ist doch eh so, dass die besten Kinomacher meist Quereinsteiger sind. So wie sie – seit über 15 Jahren Gesicht, Herz, Kopf und Bauch des kleinen, feinen Leipziger Programmkinos „Kinobar Prager Frühling“ – der vielleicht schönste Gegenentwurf zu einem Kinobetrieb, der sich immer öfter als als schnöde Abspiel-Thekennachos-Cash-Kuh gebärt. Miriams Tummelplatz ist eher gemütliches Wohnzimmer als Popcorneimer­palast. Zuerst war sie als Geschäftsführerin angestellt, dann übernahm sie das Kino komplett. Und hier macht sie wirklich alles: Programm, Pressearbeit, Abrechnung, Moderation, Werbung, Kassendienst, Vorführen. Immer motiviert, meistens bestens gelaunt und nur manchmal und ganz selten und dann ohnehin zu Recht von einem kratzbrüs-

tigen Charme, wenn ein Kinobesucher trotz sehr moderater Eintrittspreise mal wieder um Rabatt schnorrt oder – schlimmer noch – wenn sich jemand (jeder Kinomitarbeiter kennt die Sprücheklopfer) an der Kinokasse ins Nirwana witzfreier Kalauer wagt. Denn der Humor, also im Speziellen der von Miriam, ist nicht der Gängigste, wobei man sich mit ihr durchaus über das Albernste, ach bleiben wir ehrlich, bisweilen über das Allerkindischste auf den Boden schmeißen kann. Humor ist bei ihr, wenn der Bauch weh tut und die Tränen fließen. Das taugt an sich auch ganz gut als Bild zu ihrem Kinoprogramm, ohne das die Kinoszene Leipzigs um einiges ärmer wäre. Miriam programmiert mit Gefühl: Kino ist für sie pure Empathie, da darf geblödelt, kann Rotz und Wasser geheult und soll mit den Filmheldinnen und -helden gebangt werden. Die schönen Frauen in den Filmen dürfen gern Juliette Binoche oder Jessica Chastain heißen, Mordsweiber wie Penélope Cruz sind willkommen, aber auch dem Schauer klassischer und moderner Gruselfilme kann Miriam etwas abgewinnen, wie der Blick in die Programme der letzten Jahre beweist. Sie hat eh kaum Berührungsängste, weshalb sich auch manch sogenannter Blockbuster ins Programm schmuggelt. Wohlgemerkt, ohne dass die Kinobar in den Ruch einer Ramschkiste käme. Ein Beispiel? Im Jahr 2009 wollte kein Leipziger Kino Kathryn Bigelows kraftvollen Antikriegsepos Tödliches Kommando spielen. Miriam

nahm sich des außergewöhnlichen Films an. Später, als es für Bigelow zahlreiche Oscars gab, sprangen andere Kinos auf … Gäbe es diesen Wirbelwind im Leipziger Süden nicht, hätte man auf so liebevoll kuratierte schwullesbische Filmreihen wie Kiss Me, Kiss Me, Kiss Me und Willst du mit mir gehen? verzichten müssen, gäbe es keinen festen Platz in Leipzig für das tschechische oder das skandinavische Kino, das Aufgreifen jüdischer Themen fände kaum statt, und so manches Debüt jüngerer Filmemacher hätte ohne Miriams Engagement in Leipzig schlicht nicht stattgefunden. Die Kinobar Prager Frühling ist so auch zu einer unverzichtbaren Adresse für den Filmnachwuchs geworden, die zahlreichen Kurzfilmprogramme untermauern dies. Dass sie damit hausieren ginge und sich loben ließe – das passt zu Miriam nicht. Sie weiß, was sie tut, honorieren dürfen dies andere. Für ihr schwullesbisches Filmengagement gab es im Februar im Rahmen der Berlinale den Manfred-Salzgeber-Preis. Absolut berechtigt, ebenso wie die alljährliche Auszeichnung durch den Kulturstaatsminister. Dass in diesem Zusammenhang der Spitzenpreis als bestes Programmkino des Jahres bisher ausblieb, ist eines der unergründlichen Branchenrätsel. Vielleicht verstehen sich da andere Kinobetreiber besser in Vereinsmeierei und Klüngel, das Gemeinmachen nur des eigenen Vorteils wegen ist Miriams Sache nicht. Überhaupt hat sie klare Prinzipien, die von hoher unternehmerischer Moral zeugen und von Charakter, was auch die Zusammenarbeit mit Partnern angeht: Leute, die sich bei Absprachen immer noch eine Hintertür offen halten, hält sich Miriam dann

Schnell entflammbar für das Gute am Kino doch rasch vom Leib. Letztendlich ist das Leipziger Publikum ihr Gradmesser. Und dieses kennt Miriam eben so – rastlos, filmbegeistert, deutlich im Urteil bei Schundfilmen und schnell entflammbar für das Gute am Kino. Und die private Miriam? Sie sorgt sich großzügig um andere, hört zu, weint mit, liebt die italienische Küche, Schokolade außerdem, und sie schwärmt unumwunden für gutaussehende Männer, ohne dass diese auch nur den Hauch einer Chance bei ihr hätten. Und dass sie neben dem Übermedium Film auch den Tanz, das Theater und vor allem auch die Musik mag, sei ergänzt. Apropos Liebe zum Lied, hier keimt ein rein privater Wunsch: Miriam hat wahrlich viele Talente, nur was das gelegentliche Mitsingen betrifft – darüber müssen wir einfach noch mal reden … s 45


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Drehbuchlektüre am Set von „I Want Your Love“ (Travis Mathews 2012)

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