Schauspielhaus Zürich - Journal #16

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Schauspielhaus Zürich

Bestsellerautorin und Brecht-Literaturpreisträgerin Nino Haratischwili über die Arroganz Europas

Unsterblich – Dietmar Dath im Gespräch über die „Frankensteins“ in Gegenwart und Zukunft

Jan / Feb / Mrz / Apr / Mai / Jun 2019

Rechtsanwalt Peter Nobel über Friedrich Dürrenmatt und ein Stück Schweizer Rechtsgeschichte 1


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Mehr als Zuschauen

„Mehr als Zuschauen“ begleitet den Spielplan des Schauspielhauses mit zahlreichen Mitmachformaten für jede Altersgruppe. Die Angebote finden Sie hier im Journal, gekennzeichnet mit diesem Hinweis bei den jeweiligen Artikeln und auf den Seiten 36/37. Ausführliche Informationen unter schauspielhaus.ch/mehralszuschauen

Luca Schenardi Zum Leitgespräch mit Nino Haratischwili entwirft der Schweizer Künstler und Illustrator Luca Schenardi assoziativ-abgründige Szenen zum Thema Europa. Schenardi setzt sich hier mit den sogenannten Luxusproblemen und der „Bunker-Mentalität“ reicher Europäer auseinander und hat sich farblich vom Gelb und Blau der Europaflagge inspirieren lassen. Er illustrierte unter anderem für das Magazin der Süddeutschen Zeitung, Die Zeit, die NZZ oder die WOZ. Zuletzt erschienen: „Meyer spricht von Gratiskaffee“, Edition Patrick Frey, 2017. Seine Illustrationen mit der Technik des Nitroprint erschaffen ein überhöhtes und provokantes Nebeneinander unterschiedlicher gegenwärtiger Bildwelten. lucaschenardi.ch

Inhaltsverzeichnis 04 Editorial 06 Nino Haratischwili schreibt über die „europäische Arroganz“ 14 Autor Dietmar Dath im Gespräch über seine neue Version von „Frankenstein“

am Schauspielhaus Zürich

17 Der Zürcher Anwalt Peter Nobel über Friedrich Dürrenmatt und den

Begriff „Gerechtigkeit“

20 „Für mich ist es genussvoll zu lügen“ – Herbert Fritsch trifft Dani Levy 22 „Der Reisende“ am Schauspielhaus – eine literarische Wiederentdeckung 24 On The Town – Zürich: In James Joyce’ Welt 27 Kulturelle Teilhabe für alle und keinen – Kolumne von Stefan Zweifel 28 In Szene – Schauspielerin Friederike Wagner 30 Mit Autor Thomas Melle im Gespräch – „Der Fehler definiert das Korrekte“ 32 Regisseur und Komponist Ruedi Häusermann über Staunen, Entdichten und

Gelingen auf der Bühne

36 Der Mehrgenerationenspielclub 37 Mehr als Zuschauen 38 Ins Theater mit Corinna Mattner 41 Zürcher Gespräche 42 Apropos … – AutorInnen über ihre Arbeit mit Zürcher Jugendlichen 44 Schicht mit dem Leiter der Schlosserei Guido Brunner 46 Gastspiel aus Sibirien – „Drei Schwestern“ 49 Von virtuellen Welten und dem schieren Offline-Sein 50 Szenen aus dem Repertoire

Impressum journal Jan / Feb / Mrz / Apr / Mai / Jun 2019 Redaktionsschluss 21. Dezember 2018 Herausgegeben von der Schauspielhaus Zürich AG Zeltweg 5, 8032 Zürich Intendanz Barbara Frey Redaktionsleitung Benjamin Große, Viola Hasselberg Bildredaktion Christine Ginsberg Redaktion Anne Britting, Petra Fischer, Ursina Füglister, Christine Ginsberg, Daniela Guse, Amely Joana Haag, Andreas Karlaganis, Geoffrey Layton, Sandra Suter, Karolin Trachte Korrektorat Johanna Grilj, Daniela Guse, Simone Schaller, Sandra Suter, Petra Wucher Gestaltung Selina Lang, Studio Geissbühler Druck Multicolor Print AG Auflage 15’000

53 Fluchtpunkt Schweiz – Exilliteratur in der Kammer 54 Ab hinter die Kulissen! – Theater Campus 3


Editorial

The Unwordly Sound – das Unmögliche hören von Barbara Frey

Nach dem Fallen des Vorhangs steht man am Theater mit leeren Händen da. Alles ist vorüber. Für die SpielerInnen und für die ZuschauerInnen. Die Zeit, die man miteinander verbracht hat, ist verflossen. Alles ist bereits Erinnerung. Sie mischt sich mit einer Gegenwart, die reflektiert, was eben noch war, und womöglich zu antizipieren versucht, wie man auf alles schaut, wenn man, wie es gemeinhin heisst, „eine Nacht darüber geschlafen hat“. Diese Nacht aber, die man noch vor sich hat, wird auch wieder ihre ureigene Gegenwart haben, im Traum, der einem gewissermassen „zustösst“, den man, wenn überhaupt, nur bedingt und geringfügig beeinflussen kann. Man kennt das spezifische Gefühl, aus einem schauerlichen Albtraum mit aller Kraft aufwachen zu wollen, da einem träumend klar ist, dass es einen Weg aus der Katastrophe gibt: die Mauer durchbrechen, die einen im Traumgewebe festhält – und in die Freiheit des Wachzustands gelangen! Dorthin, wo man „selbstbestimmt“ ist, wo man Kontrolle hat, wo man „vernünftig“ reflektiert und das Irrationale sich verflüchtigt. So zumindest denken wir uns das. Aber vor allem wünschen wir es uns so. Wir wissen gleichzeitig, dass es eine Illusion ist. Das deutsche Wort „Geschichte“ ist doppeldeutig: Es meint sowohl eine fiktionale Erzählung, analog dem englischen Begriff der „story“, als auch eine wissenschaftliche Disziplin, im Englischen „history“, also Geschichtsschreibung. 4

Das Theater pendelt zwitterhaft, launisch und unstet ständig zwischen diesen beiden Bereichen. Es bemüht sich darum, einzufangen, was jetzt gerade geschieht, sich sozusagen „tagesaktuell“ politisch, kulturell und wissenschaftlich ereignet. Parallel dazu nährt es sich permanent aus einem gewaltigen Fundus von Vergangenem: Seine Sinnstiftung bezieht es genauso aus antiker Literatur, aus den Mythen, aus den Träumen und Visionen längst verstorbener Dichterinnen und Dichter. Das Theater ist ein Hermaphrodit aus Vergangenheit und Gegenwart und es weiss, dass seine doppelte Wesenhaftigkeit auch einen Blick dorthin möglich machen kann, wo wir noch nicht sind: in die Zukunft. Dieser Blick kann scheu und unwissend sein – oder selbstbewusst und klarsichtig. Aber mit Sicherheiten, mit Selbstverständlichkeiten kann das Theater nicht hantieren. Ebenso wenig wie die Geschichtsschreibung. „Der reflektierte Zeitenabstand zwingt den Historiker, geschichtliche Wirklichkeit zu fingieren, und zwar nicht in der Redeweise des ‚es war‘. Vielmehr ist er grundsätzlich gehalten, sich der sprachlichen Mittel einer Fiktion zu bedienen, um einer Wirklichkeit habhaft zu werden, deren Tatsächlichkeit entschwunden ist“, schrieb der Historiker Reinhart Koselleck. Am Theater entschwindet jede „Tatsächlichkeit“ schon in dem Moment, da sie sich manifestiert. Das macht das Theater so stark. Es ist gleichsam verletzlich und kraftvoll in seiner Flüchtigkeit, seinem andauernden Verschwinden.


Es ist radikal körperlich in seiner Gegenwart und radikal geisterhaft in seinem fortwährenden Vergehen. Genau deshalb redet man von den „Theatergeistern“. Nicht nur von jenen also, die als „Geister“ die Bühne betreten, wie zum Beispiel im Elisabethanischen Theater Shakespeares, sondern auch von jenen, die als „heutige“ Figuren auftreten, als Zeitgenossen, als KomplizInnen unseres Alltags. Wer sich auf einer Bühne zeigt, wird Gespenst, Luftgeist, gibt sich der Vergänglichkeit preis. Das Fest des Lebens, das am Theater stattfinden kann, ist immer auch die Einsicht in den Tod. Allzu bald ist alles Erinnerung, Traum, zarte Schraffur. Nur die Akzeptanz des Umstandes, am Ende mit leeren Händen dazustehen, gibt der darstellenden Kunst ihr Gewicht. Das ist schwer zu akzeptieren, sowohl für jene, die auftreten, als für jene, die zuschauen. Aber in der Feier des Augenblicks kann es keine Fixierung auf heroische Geschichtsschreibung oder huldvolles Andenken geben. Wir sind Geister. Wir sind da. Und wir sind fort. Tröstlich – und auch befremdlich – ist es, dass die Theatergeister ja trotz allem nie wirklich verschwinden. Sie sind Wiedergänger, sie suchen uns auf, sie befragen uns. Das aber gilt für alle Geister, auch für jene, die die Geschichtsschreibung bis heute aufstöbern, stören und zur unablässigen Aufmerksamkeit zwingen. Man muss also wachsam bleiben. Der Gegenwartsfuror schützt einen nicht vor den bohrenden Fragen derer, die sich scheinbar verflüchtigt haben.

Alle Kunst erzählt davon, dass es keine Gewissheiten gibt. Die Theaterkunst war immer angreifbar und sie wird es bleiben. Das ist nicht schlimm. Es ist notwendig. Es gibt ihrer spezifischen Suche, ihrem Zweifeln, ihrer Unmittelbarkeit erst das Gewicht. Die Geschichten, die das Theater erzählt, können lächerlich, erhaben, unheimlich, verstörend, wütend, zärtlich, stolz, heroisch oder gänzlich unheroisch sein. Es spielt keine Rolle. Sie müssen uns erreichen, das allein zählt. Dafür arbeiten wir, egal, ob wir uns an Toten oder Lebenden orientieren. In der Erzählung „Die Toten“ von James Joyce heisst es am Ende, nachdem der Protagonist Gabriel Conroy von einer verblichenen früheren Liebe seiner Frau Gretta erfahren hat und damit hadert, dass er niemals Teil dieser ihrer ganz eigenen Vergangenheit sein wird: „Langsam schwand seine Seele, während er den Schnee still durch das All fallen hörte und still fiel er, der Herabkunft ihrer letzten Stunde gleich, auf alle Lebenden und Toten.“ Darauf kommt es an: ein Mensch kann hören, wie der Schnee durchs All fällt.

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Die europäische Arroganz Die Schriftstellerin Nino Haratischwili schreibt oft Geschichten über die grosse Geschichte und wie sie sich in den Biografien ihrer Protagonisten niederschlägt. Europa steht immer wieder im Fokus der Georgierin, die schon lange in Deutschland lebt und auf Deutsch schreibt. In unserem Europa-Schwerpunkt ist ihr Stück „Die zweite Frau“ in Kürze ebenso Teil des Zürcher Spielplans wie „Die Verlobung in St. Domingo“ nach Kleist und „Die grosse Gereiztheit“ nach Thomas Manns „Zauberberg“. Der E-MailWechsel von Haratischwili mit der Dramaturgin Viola Hasselberg kreist um diese drei literarischen Stoffe: Alle versuchen der europäischen Arroganz, fast ausschliesslich von sich selbst auszugehen, beizukommen.

Viola Hasselberg: In deinem Stück „Die zweite Frau“ geht es um eine Familienhölle, in der drei Frauen von sich erzählen und der Mann völlig stumm bleibt. Und es geht um Europa, von innen und von aussen. Eine gut verdienende Frau nähert sich dem Tod. Die neue Haushaltshilfe, „irgendwo aus dem Osten“, soll sie nach ihrem Tod ersetzen – als Mutter und als Gattin. Die sterbende Frau hat für mich unzweifelhaft etwas von der „alten Dame Europa“. Gleich am Anfang wird sie von ihrer Tochter so beschrieben: „Als würde sie dem Leben immer ihren manikürten Mittelfinger zeigen.“ Ich würde gern wissen, in welcher Situation du „Die zweite Frau“ geschrieben hast und wie du Europa heute beschreiben würdest, wenn es eine Figur wäre. Nino Haratischwili: „Die zweite Frau“ entstand als Auftragsarbeit für das Grazer Schauspielhaus. Das Thema sollten Hausfrauen sein. Ich kenne mich mit Hausfrauen weniger aus. Allerdings kenne ich mich mit sozialen Unterschieden und den damit einhergehenden grossen Problemen aus. Zum Beispiel Tausende Georgierinnen, die teilweise bis heute gezwungen sind, in der Türkei, in Griechenland, Italien oder den USA illegal als Pflegekräfte zu arbeiten, um ihre Familien zu ernähren. Ich wollte unbedingt auf diese endlose Lücke aufmerksam machen, die die sozialen Unterschiede in verschiedenen Ländern Europas entstehen lässt. Wie unterschiedlich die weiblichen Realitäten in Europa sein können. Welch riesengrosse Unterschiede da sind, trotz des grossen Überbegriffs: Europa. Was die letztere

Frage betrifft: Ich glaube, Europa ist extrem gespalten, vielleicht sind es Zwillinge, die verschiedener nicht sein könnten. Der eine ist ein Idealist, ein Utopist, ein liberaler Ideensammler und -pfleger, ein Menschenfreund, und der andere ist ein regressiver Nationalist, ein Scheinheiliger, ein Misanthrop, der sich nach dem Rückzug und der totalen Abgrenzung sehnt. VH: Europa als schizophrener Zwilling? Es wäre die Frage, wie die beiden sich in dieser Schizophrenie eingerichtet haben, ob sie letztendlich darin sogar kooperieren? Ich komme zurück auf dein Stück. Die reiche Europäerin hat lebenslang an einer Konstruktion gearbeitet. Sie erklärt ihrer Haushaltshilfe: „Und dann, husch, ist alles weg. Alles, woran man sich festgehalten hat. Was man zum Eigenen erklärt hat. Aber nein, die Rechnung, die geht nicht auf, das Leben macht winke, winke und du stehst aber aussen vor und kannst nicht mehr eingreifen.“ Das klingt ziemlich bitter und ziemlich selbstgerecht. Hattest du Mitleid mit deiner Figur? Und wenn ich dich nach Europa frage: Soll man Europa verteidigen oder einen Tritt in den Hintern verpassen? NH: Ich versuche meinen Figuren möglichst emphatisch und zugleich möglichst wertfrei zu „begegnen“. Das ist nötig, denn sonst könnte ich den für mich zum Schreiben nötigen Abstand nicht wahren. Ich muss jede Figur, unabhängig von der Sympathie, greifbar machen. Ich will einen Menschen dahinter sehen, in seiner ganzen Ambivalenz und keine Ansammlung von Worten. 7


„Systeme sind tot, das Land ist tot, die Männer sind tot.“ So gesehen gibt es keine „schlechten“ und keine „guten“ Figuren. Letztlich ist die Mutter bei all dem Kontrollzwang, all dem Festhalten an den Strukturen, bei aller Illusion, Dinge in der Hand zu haben, genauso ein Opfer wie die Haushaltshilfe Lena es ist. Sie hat vielleicht nicht die gleichen Geldsorgen wie Lena, aber sie ist ihr Leben lang in einem goldenen Käfig gefangen und muss diesen auch noch als etwas „Richtiges“ aufrechterhalten, muss sich ihr Leben schönreden, obwohl sie tief im Inneren weiss, dass das vollkommener Quatsch ist. Was die letzte Frage betrifft: Ich würde Europa immer verteidigen, denn das, wofür Europa steht beziehungsweise stehen kann – wenn es gelingt –, ist immer noch hundertfach besser als alles andere, was wir bisher an Ideen, Werten und Konstruktionen geschaffen haben.

uralte, greise Europa, das ins Altersheim gehört. Wo ich, ja, dass ich nicht lache, wo ich als prall und lebensgierig gelte.“ Was hat Lena den europäischen Frauen voraus? Gibt es irgendetwas, das sie zukunftstauglicher macht?

VH: Dein Bekenntnis zu Europa klingt fest entschlossen.

VH: Du sprichst von der riesengrossen Lücke zwischen den ungleichen Realitäten Europas am Beispiel der Frauen. Was bedeutet für dich die Idee der Gleichheit?

NH: Ich idealisiere Europa keineswegs und habe einen durchaus kritischen Blick. Nichtsdestotrotz finde ich dieses „Ideenkonstrukt“ – nennen wir es für einen Augenblick lang so – etwas sehr Richtiges und Erstrebenswertes und nach wie vor eines der besten „Ideenkonstrukte“. Umso wichtiger ist es, das Konstrukt zu schützen, dafür zu kämpfen und es nicht von innen wie von aussen verkommen zu lassen, nur weil vielleicht nicht alles so klappt, wie man es sich wünscht. Meine Kindheit und Jugend verliefen zu einer sehr schwierigen Zeit, im Staub einer zerfallenen Welt, geprägt von Gewalt und von Unsicherheit. Natürlich schätzt man mit diesen Erfahrungen die Ideen von Menschenrechten, von Gleichheit, von Frieden umso mehr. VH: Lena, die Haushaltshilfe aus dem Osten, ist in deinem Stück mit einer drastischen Klarsichtigkeit gesegnet. Über ihre Heimat sagt sie: „Systeme sind tot, das Land ist tot, die Männer sind tot.“ In Europa angekommen, findet sie auch kein Paradies: „Bis nach Europa habe ich es geschafft. Nee, nur in dieses verdammte, 8

NH: Vielleicht ist sie illusionsloser und robuster. Sie erwartet nichts Gutes und Schönes und demnach kann sie schwieriger enttäuscht werden. Allerdings würde ich nicht sagen, dass dies unbedingt Errungenschaften sind, die man erstreben sollte. Lena hat keine grossen Träume und Ideale, sie erhofft sich nicht viel, ihr Blick ist gnadenlos und wertend. Sie macht sich nichts vor und das macht sie auf eine Art den beiden anderen überlegen.

NH: Ich finde diese Idee unheimlich wichtig und utopisch. Noch nie in der Geschichte der Menschheit gab es dieses Recht gleichermassen umgesetzt. Ich habe mich aufgrund meines Romans „Das achte Leben (Für Brilka)“ viel mit dem Sozialismus auseinandergesetzt, wo dieses Recht ja nahezu zur Doktrin ausgerufen worden war. Das Recht auf Gleichheit setzt voraus, dass Menschen nicht nach Macht streben, dass sie nicht auf den eigenen Vorteil aus sind, dass sie teilen wollen. Aber das wird leider niemals zu 100 Prozent umgesetzt werden können. Man kann diesem Recht auf der gesetzlichen Ebene gerecht werden beziehungsweise dem Ideal möglichst nahekommen. Da ist Europa in manchen Punkten scheinheilig. Solange die Menschenrechte nicht gleich vor der eigenen Nase verletzt werden, drückt man ein Auge zu. Ich finde, man kann nicht von einem „besseren“ und „schlechteren“ Europa ausgehen. Aber so ist es de facto: Der östliche Teil wird bis heute als nicht so richtig zum „Kern“ dazugehörig empfunden.


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VH: In der Inszenierung von Thomas Manns „Der Zauberberg“, die bei uns „Die grosse Gereiztheit“ nach dem Titel des vorletzten Kapitels heissen wird, geht es um das „Sanatorium Europa“. Im Gegensatz zu deinem Stück kommen hier eigentlich nur Männer zu Wort. Während sich draussen der erste Weltkrieg anbahnt, reden sich die Männer in einem Schweizer Sanatorium um Kopf und Kragen. Aus dem Luxusbunker wird die junge Hauptfigur am Ende unvermittelt auf das „Schlachtfeld Europa“ gespuckt. Frank Schirrmacher nannte den Roman eine „Sensibilitätsschulung für das Eintreten unerwarteter Ereignisse“. Du hast dich selber sehr intensiv mit der Geschichte des vergangenen Jahrhunderts beschäftigt. Deine letzten beiden Romane erzählen eigentlich pausenlos davon, was die „Schlachtfelder der Geschichte“ in den Familien anrichten. Besteht deine geschichtliche Erfahrung aus eher erwartbaren oder eher unerwarteten Ereignissen? Auf was hat sich Europa einzustellen? NH: Ich bin natürlich keine Historikerin, meine Auslegung bei beiden Romanen ist bei allen Fakten sehr subjektiv, bleibt eine Interpretation. Allerdings glaube ich, dass sich bestimmte Dinge in der Geschichte wiederholen, da der Mensch sich in seinem Kern kaum ändert. Natürlich haben wir etliche Fortschritte gemacht und einige zivilisatorische Errungenschaften vorzuweisen, aber die Sicherung der eigenen Vorteile, die Ausbeutung der Umwelt, das Streben nach Macht, die Unterdrückung der anderen, die Ausgrenzung aller Andersdenkenden beziehungsweise Minderheiten und so weiter bleiben ja seit Jahrtausenden als Eigenschaften dem Menschen zugehörig. Und dementsprechend ist die Gefahr, dass man bestimmte geschichtliche Fehler wiederholt, sehr gross. Die Verstärkung der nationalen Fronten und die Berufung auf nationale Identitäten schien Europa aus eigenen Erfahrungen hinter sich gelassen und überwunden zu haben. Nun sehen wir, wie illusorisch dieser Glaube war, wie fragil unser politisch korrekter, zivilisatorischer Boden ist und wie schnell er einbrechen kann. VH: Ich zitiere kurz aus dem Kapitel „Die grosse Gereiztheit“. In dem sonst so zivilisierten Speisesaal des Sanatoriums brechen plötzlich Schlägereien aus und verschiedene Leute legen sich Schusswaffen zu: „Was gab es denn? Was lag in der Luft? Zanksucht. Kriselnde Gereiztheit.

Namenlose Ungeduld. Eine allgemeine Neigung zu giftigem Wortwechsel, zum Wutausbruch, ja zum Handgemenge. Erbitterter Streit, zügelloses Hin- und Hergeschrei entsprang alle Tage zwischen Einzelnen und ganzen Gruppen und das Kennzeichnende war, dass die Nichtbeteiligten, statt von dem Zustande der gerade Ergriffenen abgestossen zu sein oder sich ins Mittel zu legen, vielmehr sympathetischen Anteil daran nahmen und sich dem Taumel innerlich ebenfalls überliessen. Man erblasste und bebte.“ Kannst du etwas von dieser hysterischen Streitsucht in der heutigen Situation entdecken? Und falls ja, wer sind für dich die Antreiber? NH: In unserer Zeit, in unserer Gesellschaft verschwindet die Mitte immer mehr, die Fronten werden immer radikaler und immer unversöhnlicher. Das Zuhören und das Durchdringen zum Anderen werden immer schwieriger. Die politische Balance, die ich zum Beispiel vor 15 Jahren in Deutschland spürte, die ich nach den Wirren der Postperestroika-Zeit in Georgien als enorm bereichernd empfand, sehe ich schwinden. Andererseits frage ich mich, ob es je anders war? VH: Der letzte Stoff in unserem Spielplan, bei dem es auch um die europäische Arroganz geht, ist die Überschreibung von Kleists Novelle „Die Verlobung in St. Domingo“, die der Autor Necati Öziri vornehmen wird. Kleist schreibt eine Liebesgeschichte als Thriller vor dem Hintergrund des Sklavenaufstandes in Haiti. Gustav, ein schöner junger, weisser Mann, mit seiner Familie auf der Flucht, rettet sich in das Haus eines abwesenden schwarzen Revolutionsführers. Der weisse Mann als flüchtender Europäer und Toni, die schwarze Tochter des Hauses, verlieben sich ineinander. Necati Öziri wird Kleists Novelle eine neue Perspektive geben: „Wie klingt die Geschichte, wenn sie aus einer anderen, der nicht weissen Perspektive erzählt wird?“ Würde dich ein solches Verfahren als Autorin reizen? Und glaubst du, dass wir Europäer eine Chance haben, unsere eurozentrische Sichtweise der Geschichte abzulegen und „umzulernen“? NH: Reizvoll ist es. Ich fürchte nur, dass auch meine Sicht – teilweise bewusst und teilweise unbewusst – zu eurozentrisch geprägt ist, als dass ich eine andere Perspektive einnehmen könnte, die „aufrichtig“ sein könnte. Wobei ich zum Beispiel 11


Nino Haratischwili ist eine aus Tiflis stammende Theaterregisseurin, Dramatikerin und Romanautorin und lebt in Hamburg. Sie wuchs zweisprachig auf und gründete als Jugendliche eine deutsch-georgische Theatergruppe („Fliedertheater“), für die sie regelmässig Stücke schrieb und inszenierte. Sie hat rund zwanzig Theaterstücke und drei Romane veröffentlicht und wurde vielfach mit Preisen und Stipendien ausgezeichnet, wie zum Beispiel 2018 mit dem Bertolt-Brecht-Literaturpreis. Ihr letztes Werk, der Roman „Die Katze und der General“, erschien 2018. Foto: G2 Baraniak

den Roman „Das achte Leben (Für Brilka)“ aus dieser Not heraus geschrieben habe, aus der Erkenntnis, dass mein Geschichtswissen komplett westlich geprägt war. Ich wusste zum Beispiel über den Nationalsozialismus viel mehr als über den Kommunismus. Ich habe diese östliche Perspektive gesucht, die auch sehr viel mit mir und meiner Identität beziehungsweise Herkunft zu tun hat. Aber es ist extrem schwer, dieses „Wollknäuel“, wie ich es nenne, auseinanderzuzerren. Was ist aus welcher Perspektive erzählt, wie ist es in uns eingeschrieben, wessen Blick ist es denn eigentlich? Das Einzige, was ich wichtig finde, ist, dass der Ansatz stets persönlich bleibt. Ich glaube nicht an Kunst aus political correctness.

Die zweite Frau von Nino Haratischwili / Regie Maximilian Enderle Schweizer Erstaufführung Mit Katrija Lehmann, Isabelle Menke, Susanne-Marie Wrage Premiere 16. März, Pfauen/Kammer

Inszenierungseinblick 7. März, 19:00–20:30, Treffpunkt Schiffbau/Foyer Theater im Gespräch zu „Die zweite Frau“ & „Die Verlobung in St. Domingo“, 26. April, 19:00–20:30, Treffpunkt Schiffbau/Foyer

Die Verlobung in St. Domingo – Ein Widerspruch von Necati Öziri gegen Heinrich von Kleist / Regie Sebastian Nübling Uraufführung Premiere 4. April, Schiffbau/Box

VH: Gustav, der Protagonist in „Die Verlobung in St. Domingo“, ist ein Schweizer. Ich zitiere den Dramaturgen Ludwig Haugk: „Bis heute halten die Schweizer erfolgreich ihr Label als ‚unschuldige‘ Europäer. Für Kleist war die Schweiz stets ein Sehnsuchtsort – ein Schweizer ist ein Weisser, der frei von kolonialer Schuld scheint, der nicht involviert in den Kampf der Mächte ist.“ Welches Verhältnis hast du zur Schweiz? NH: Ich kenne die Schweiz zu schlecht, um urteilen zu können. Ich komme hierhin meist auf Lesereisen und so bleibe ich eine Touristin. Es gibt für mich aber einen Zugang zur Schweiz über Literatur: Friedrich Dürrenmatt, Lukas Bärfuss – diese und andere AutorInnen ermöglichen mir einen besonderen Zugang und sie ermöglichen mir ein Gefühl. Ich muss auch an ein Buch denken, das ich als Jugendliche gelesen habe: Fritz Zorns „Mars“. Wahnsinnig symbolisch finde ich, dass der zu jung verstorbene Autor mit bürgerlichem Namen „Angst“ hiess und „Zorn“ als Pseudonym gewählt hat! 12

Koproduktion mit dem Maxim Gorki Theater Berlin

Inszenierungseinblick 19. März, 19:00–20:30, Treffpunkt Schiffbau/Foyer Theater im Gespräch zu „Die Verlobung in St. Domingo“ & „Die zweite Frau“, 26. April, 19:00–20:30, Treffpunkt Schiffbau/Foyer

Die grosse Gereiztheit Ein Projekt im Schiffbau nach Motiven des Romans „Der Zauberberg“ von Thomas Mann / Regie Karin Henkel Premiere 11. Mai, Schiffbau/Halle

Inszenierungseinblick 16. April, 19:00–20:30, Treffpunkt Schiffbau/Foyer Theater im Gespräch zu „Die grosse Gereiztheit“ & „Die Toten“ 25. Juni, 19:00–20:30, Treffpunkt Schiffbau/Foyer

Zürcher Gespräche mit Ulrike Guérot und Lukas Bärfuss Zur Idee einer europäischen Demokratie 14. Mai, Pfauen, 20:30


EVA MELANDER

GRÄNS EIN FILM VON

ALI ABBASI

AB 28. FEBRUAR IM KINO 13


Mary Shelley, 1831 Artist: Stump, Samuel John (1778–1863). (Photo by Fine Art Images/Heritage Images/Getty Images)

Wissen – Können – Dürfen

Mit ihrer aufsehenerregenden Aktualisierung von Ibsens „Ein Volksfeind“ wurden Stefan Pucher und Dietmar Dath zum Berliner Theatertreffen eingeladen. Zum 200-jährigen Geburtstag des Romans „Frankenstein“ erarbeitet das Team eine Bühnenadaption dieses romantischen Stoffs. Ein Gespräch des Dramaturgen Andreas Karlaganis mit dem Autor und Journalisten Dietmar Dath über Science Fiction, künstliche Intelligenz und darüber, wie alles mit Mary Shelleys „Frankenstein“ begann.

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„Nature, to be commanded, must be obeyed.“ Francis Bacon

Andreas Karlaganis: Mary Shelley verfasste „Frankenstein“ im Alter von 19 Jahren am Genfersee. Du deutest den Roman als Gründungstext der Science-Fiction-Literatur. Warum? Dietmar Dath: Shelley erfand die moderne Phantastik. Im Vorwort zur überarbeiteten Ausgabe von 1831 erklärt sie, dass es weder eine Gespenstergeschichte noch ein Märchen ist. Man redet heute von drei Genres in der modernen Phantastik: Science Fiction, Fantasy und übernatürlicher Horror. Wenn Shelley sagt, es ist kein übernatürlicher Horror (keine Gespenstergeschichte) und keine Fantasy (kein Märchen), ist es Science Fiction. Zur Zeit Shelleys hatten die Kunstschaffenden die alten Kunstzwecke verloren: Kunst verherrlichte bis zur Revolution der BürgerInnen entweder das Herrscherhaus oder die Religion – also die Ständeordnung oder Gott. Auf einmal malten KünstlerInnen nicht mehr für den Abt das Gemälde mit Jesu Grablegung und auch nicht mehr das Porträt für den König – sondern alles für den Markt. Die Kunst stand vor der Frage, wozu sie gut ist. Eine Möglichkeit war, sich mit dem Verhältnis von Wissen, Können und Dürfen auseinanderzusetzen. So entstand die Science Fiction. Die Wörter Utopie und Dystopie mag ich in diesem Zusammenhang nicht, weil sie Science Fiction auf Angstaffekte und Hoffnungen reduzieren. Es geht weniger darum, gleich eine Antwort zu erhalten, sondern die Frage, wie sich Wissen, Können und Dürfen zueinander verhalten, ist an sich interessant. Die Antwort, die

Shelley uns gibt, finde ich nicht so wichtig wie die Frage, die sie aufwirft, weil sich die Frage als vitaler erwiesen hat als die Antwort. Antworten gibt es in der Science Fiction verschiedene. Huxley sagt: zu viel Technik macht den Tod kaputt und der ist doch so wertvoll. Umgekehrt gibt es technokratische Geschichten, zum Beispiel viele von H. G. Wells. An dem Buch von Shelley ist toll, dass die Frage des Verhältnisses von Wissen, Können und Dürfen noch roh drinsteht. Und dass ich sie auf die Gegenwart übertrage, heisst nur, man kann sie mit unserem heutigen Apparat genauso „red in tooth and claw“, so blutig, wie man sie damals gestellt hat, noch mal stellen. AK: Wie geht der Wissenschaftler Frankenstein bei dir konkret vor? DD: Er arbeitet an einem Geschöpf, indem er Denkspuren, Sprache von zwei Leuten ins Hirn des toten Wesens, bei dem das Selbstgespräch aufgehört hat, einspeist. Am Leben interessiert mich das Bewusstsein; Frankenstein hat ja keinen Frosch elektrisiert, er wollte etwas, das weiss, dass es lebt. Dieses Wissen ist nur als Gespaltensein zu haben, als Dialog. AK: Die Idee von Frankenstein ist, das Gott-Mensch-Verhältnis abzuschaffen. Dennoch steht er in einem hierarchischen Verhältnis zu seinem Geschöpf. DD: Unser Eingreifen in die Natur durch Wissenschaft und Technik entstand im Absolutismus mit Galileo Galilei und anderen. Wir agieren bis heute mit dieser

komischen Vorstellung der „Herrschaft über die Natur“. Und die ist eigentlich falsch. Wenn jemand sagt: „Hol mir das und das“, ist das Herrschaft. Ein Wille wird einem anderen Willen aufgezwungen. Aber wenn ich eine Mühle baue, die mit Wasser läuft, zwinge ich das Rad nicht, sich zu drehen, oder das Wasser, darüberzulaufen. Das geschieht, weil die Naturgesetze so sind. Die Vorstellung, „Ich habe Herrschaft über die Natur, indem ich eine Mühle baue“, ist eigentlich Quatsch. Im Stück geht es mir um die Zweideutigkeit des emanzipatorischen Verhältnisses von Wissenschaft und Technik gegenüber dem Sozialen. Francis Bacon sagte: „Nature, to be commanded, must be obeyed.“ Das Geschöpf, das im Stück durch die Wissenschaft entsteht, ist eigentlich nicht dem Menschen untergeordnet. Doktor Frankenstein merkt, dass etwas nicht stimmt. Doch er kann sich nicht anders ausdrücken, weil er die Sozialverhältnisse nur als Überund Unterordnung kennt. Der Begriff der Herrschaft greift nicht. Was dann? Der Begriff, der sich an dessen Stelle setzt, ist der des Stoffwechsels oder Austauschs mit der Natur. Wenn wir einen Sonnenkollektor bauen, bedeutet das nicht, dass wir die Sonne beherrschen, sondern wir machen einen Austausch von Energieformen. Das Stück beschreibt Technik als ein Kommunikationsmittel für den Austausch und nicht als reines Herrschaftsinstrument über die Natur. Die Diskussion über Gentechnik, Informationsgesellschaft und Klima15


Dietmar Dath studierte Literaturwissenschaft und Physik, war verantwortlicher Redakteur des Magazins spex und schreibt im Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Zuletzt erschienen die 100-Seiten-Essays „Karl Marx“ und „Superhelden“ beim Reclam Verlag​ sowie zahlreiche Science-Fiction-Romane, u. a. „Der Schnitt durch die Sonne“ (S. Fischer). Foto: Hanke Wilsmann

wandel, die wir heute führen, steckt da drin. Frankenstein ist der Bürger, der die Wissenschaft entdeckt. Die bürgerliche Klasse ist nicht weit genug gegangen. Sie bleibt im Herrschaftsbild. AK: Bei Shelley besteht das Geschöpf aus vielen Leichenteilen. DD: Es wird zu einer Persönlichkeit, lebend in einem Körper aus vielen Stücken. Bei mir ist das Geschöpf ein Hybrid, zusammengesetzt aus vielen Persönlichkeiten, lebend in einem unversehrten Körper. AK: Warum hat Frankenstein ein Problem mit seinem Geschöpf? DD: Es ist der Selbsthass Frankensteins. Man findet bei Shelley das Thema der Gottesebenbildlichkeit. Was wäre, wenn der Gott sich selbst nicht leiden kann? Frankenstein rechtfertigt den Hass auf das Geschöpf mit dem Mord des Geschöpfs an seinen Familienmitgliedern. Ich wollte aber zeigen, dass Frankenstein das Geschöpf sofort als hässlich beschreibt, obwohl es noch gar nichts getan hat. AK: Wie entwickelt das Geschöpf menschliche Züge? DD: Es hat Identitäten in sich, die zusammen ein Bewusstsein ergeben. Doch zum Bewusstsein gehört immer ein Bruch. Zwei widerstreitende Motive sind in mir, dann muss ich darüber nachdenken. Die 16

Behauptung, die ich darin mit verstecke, ist die, dass Bewusstsein für eine künstliche Intelligenz, wenn es jemals dazu kommen sollte, schneller zum Problem wird als für einen Menschen. Das ist auch in allen Geschichten, die wir darüber erzählen, so. Wir können offenbar keine KI-Geschichte erzählen, in der das Geschöpf oder der Roboter nicht fragt: Wer bin ich? Was wollt ihr von mir? Hast du mich gemacht? AK: Du greifst in deiner Bearbeitung Luc Steels’ Methode zur Entwicklung von künstlicher Intelligenz von Robotern auf, die in der Interaktion eine eigene Sprache ausbilden. DD: Ich will auf eine Kettenreaktion hinaus. Der Trick von Luc Steels ist, dass der Rechner A den Rechner B

und die Konstellation zwischen den beiden in sich aufnimmt – und dadurch wird er erst wirklich der Rechner A, weil er dann erst kapiert, wo er, wo der andere und wo die Aussenwelt ist. Genauso macht es der Rechner B. Und jetzt kannst du einen Rechner C haben, der dann wieder die beiden nimmt und so weiter. Die These ist: der Schöpfungsakt hört nicht auf. Wann ist die russische Revolution? Nicht beim Sturm auf den Winterpalast, sondern diese Revolution dauert bis 1989. Alles ist russische Revolution bis zur Konterrevolution. Und wir hier leben eigentlich noch in der französischen Revolution. Man kann den Stopp-Punkt nicht benennen. Man kann nur sagen, wo es anfängt.

Frankenstein von Dietmar Dath, inspiriert von Mary Shelley / Regie Stefan Pucher Uraufführung Mit Inga Busch, Fritz Fenne, Robert Hunger-Bühler, Julia Kreusch, Lena Schwarz, Edmund Telgenkämper Premiere 10. Januar, Pfauen

Backstage-Pass für Studios und ProjektleiterInnen aus den Bereichen Game Design, virtuelle Realität und digitale Stadtentwicklung 14. Januar, 18:00, Pfauen Theater im Gespräch zu „Frankenstein“ & „44 Harmonies from Apartment House 1776“ 18. Januar, 19:00–20:30, Treffpunkt Schiffbau/Foyer Early Birds „Schöpfung II – Frankensteins Schöpfung“ 22. Februar, 9:00–11:00, Treffpunkt Schiffbau/Foyer


Gerechtigkeit als metaphysische Angelegenheit Der Zürcher Anwalt Peter Nobel, der Friedrich Dürrenmatt vertreten hat, im Gespräch mit der Dramaturgin Amely Joana Haag über Dürrenmatts Verhältnis zur Justiz und sein Vergnügen an der Provokation. Dieses Vergnügen verbindet den Berner Autor künstlerisch mit dem Ostberliner Regisseur Frank Castorf, der seinen Roman „Justiz“, welcher unter anderem im Pfauen spielt, ebendort auf die Bühne bringen wird.

Amely Joana Haag: Wir sitzen in der legendären Kronenhalle, Sie selbst haben hier einst mit Friedrich Dürrenmatt gespeist. Der verblüffende Mord, welcher das Zentrum von Dürrenmatts Roman „Justiz“ darstellt, findet vor vielen Augenzeugen im sogenannten „Restaurant Du Théâtre“ statt. Das Restaurant wird vom Anwalt Spät, der heillos in den Fall verwickelt wird, mit einer Rokokofassade aus dem 18. Jahrhundert beschrieben. Dennoch sprechen viele Beschreibungen dafür, dass die Kronenhalle gemeint ist, unter anderem wird der Lieblingsplatz von James Joyce erwähnt. Haben Sie jemals mit Dürrenmatt konkret über den Tatort von Kohlers Mord gesprochen? Peter Nobel: Ich habe nie mit ihm über die Kronenhalle als Tatort des Romans gesprochen, aber es war sein Lieblingslokal – er hat sogar ein Gedicht über die Kronenhalle geschrieben – und es gibt auch nichts Vergleichbares. Das ist ohne Zweifel eine leicht modifizierte und aufgedröselte Kronenhalle mit verschiedenen Etagen und verschiedenen Gesellschaftsschichten. Nach aussen hin eher Biedermeier, fein und elegant, aber innen geht es in dem Etablissement relativ derb zu. AH: Heisst es womöglich auch „Restaurant Du Théâtre“, weil das Theatrale durchaus eine Rolle spielt im Roman? PN: Auch weil fast alle Leute vom Theater in der Zeit hier praktisch eine zweite Heimat hatten. Das Restaurant der Theatermenschen wäre konkret das „Du Théâtre“. AH: Der Mord wird wie eine perfekt inszenierte Szene beschrieben. PN: Ja, nur vor so einem exzentrischen Ort kann ein RollsRoyce vorfahren und warten, bis der Kantonsrat nach der Tat gelassen wieder zusteigt. An den meisten Orten ginge das nicht. AH: 1985 haben Sie Dürrenmatt als Anwalt vertreten, als der „Stern“ beim Vorabdruck von „Justiz“ Helvetismen streichen wollte. Wie es dazu kam, könnte ja beinahe dem Roman selbst entsprungen sein, vertraten Sie doch

zunächst die Interessen des „Stern“ und nicht die von Dürrenmatt, stimmt das? PN: Ja, die Justiziare vom „Stern“ haben mich um Hilfe gebeten, im Streit zu moderieren und den möglichst zu lösen, das habe ich getan. Rudolf Bettschart von Diogenes habe ich schon lange gekannt, aber Dürrenmatt hat dann gesagt, ich könne nun sein Anwalt sein und so bin ich das geworden – und nachher auch sein Willensvollstrecker. AH: Weshalb wollte der „Stern“ denn überhaupt die Helvetismen streichen? PN: Das war wahrscheinlich irgendein Lektor beim „Stern“, der dachte, dass man das eindeutschen müsse. Das Schweizer Hochdeutsch ist ja verschieden vom bundesdeutschen Hochdeutsch. Dürrenmatt hat immer schweizerisch geschrieben. Die wollten das vermutlich verschlimmbessern und sind da auf heftigen Widerstand gestossen. Sie wollten auch Passagen rausstreichen und verändern, damit sie serientauglicher werden. AH: Worauf einigte man sich letztlich? PN: Man hat das alles rückgängig gemacht. Das heisst, man hat die Serien, die schon erschienen waren, gelassen, aber man hat am Neuen nichts mehr geändert. Es gibt im „Stern“ sogar eine Anmerkung „ohne Bearbeitung“, wenn man die Serien durchgeht. Es waren alle zufrieden am Schluss. AH: Der erfolgreiche Anwalt Stüssi-Leupin sagt in „Justiz“ zum jungen Anwalt Spät, der verzweifelt um Gerechtigkeit kämpft: „Die Wahrheit spielt sich in Etagen ab, die für die Justiz unerreichbar sind. (...) Ein Rechtsanwalt sei kein Richter, ob er an die Gerechtigkeit und an die aus dieser Idee deduzierten Gesetze glaube oder nicht, sei seine Sache, das sei letztlich eine metaphysische Angelegen­h eit, wie etwa die Frage nach dem Wesen der Zahl. Als Rechtsanwalt habe er zu untersuchen, ob ein von der Justiz erfasstes Subjekt von ihr als schuldig oder unschuldig betrachtet werden dürfe, gleichgültig, ob es 17


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Peter Nobel, porträtiert von Friedrich Dürrenmatt 1988, Gouache auf schwarzem Karton, 99,5 x 69,8 cm, Sammlung Centre Dürrenmatt Neuchâtel ©CDN / Schweizerische Eidgenossenschaft


schuldig oder unschuldig sei.“ Sie sind ein äusserst erfahrener, erfolgreicher Anwalt. Geben Sie Stüssi-Leupin recht? Ist Gerechtigkeit nur eine Idee? PN: Eine Vorbemerkung: Dürrenmatt hat sich auch über die Anwälte mokiert. Das ist in „Justiz“ auch Thema. Mir hat er einmal ein Blatt, das offiziell „Die Götter“ heisst, gewidmet und mit „Die Advokaten“ betitelt. Dazu erzählte er, sein Vater sei als protestantischer Pfarrer ganz missmutig aus Zürich heimgekehrt und habe gefunden, die Zürcher könnten nicht einmal die Bibel anständig übersetzen. In Hiob 19,25 sei nicht die Rede vom Heiland, sondern es heisse da prosaisch: „Ich aber weiss, dass mein Anwalt lebt und mir ein Vertreter über dem Staube entsteht.“ Nun ein Wort zur Gerechtigkeit. Die Gerechtigkeit ist auf jeden Fall äusserst vielfältig. Eine einfach definierte Gerechtigkeit gibt es nicht. Dürrenmatt hat mir als Widmung in die „Alte Dame“ geschrieben: „Der Gott lenkt und der Mensch henkt.“ Es gibt gerechter und ungerechter, aber das ist ein urphilosophisches Thema. Das Thema betrifft den ganzen Aufbau unserer Gesellschaft. Dürrenmatt fragt in „Justiz“ letztlich auch, wer der Schuldige ist: derjenige, der die Gesetze erlässt, oder jener, der sie bricht? Da kommen Sie nicht zu einem Ende. Aber was er über den Anwalt sagt, das ist weitgehend auch eine Frage der Waffengleichheit. Der Staat hat einen ungeheuren Apparat, um jemanden zu überführen und die prekäre Wahrheit zu etablieren, die zu einem Urteil führt. Da braucht es ein Gegengewicht! Das ist die Grundaufgabe des Anwalts. Schwieriger wird es, wenn Sie wissen, dass einer ein Mörder ist und sie ihn trotzdem verteidigen müssen. Wie weit können Sie da gehen? Das ist eine schwierige Frage. Aber immer können Sie jemanden, der angeklagt ist, verteidigen. Das „audiatur et altera pars“ (gehört werde auch der andere Teil) ist eine konfliktreiche, kombattante Gegenüberstellung von zwei Ansichten. Jede Rechtsanwendung geschieht auf einem Tatsachenfundament. Tatsachen sind aber oft schwer festzustellen. Wenn Sie jemanden in flagranti erwischen, ist das klar, aber wenn Sie einen Indizienbeweis führen müssen, dann gibt es nur wahrscheinlicher und weniger wahrscheinlich. Aber auch wenn Sie der Meinung sind, dass etwas „so“ geschehen ist, bleibt es immer noch möglich, dass es auch anders geschehen ist. Dann sind Sie in einem Dilemma. Die Komponente der Möglichkeit, dass es auch anders gewesen sein könnte, spielt eine grosse Rolle. AH: Sie haben 1990 den letzten, berühmt gewordenen öffentlichen Auftritt Dürrenmatts miterlebt, als er seine Laudatio für Václav Havel mit dem Titel „Die Schweiz, ein Gefängnis“ hielt. Wie bewusst, denken Sie, war der Skandal von ihm kalkuliert? PN: Er war vielleicht vom Ausmass etwas überrascht, hatte aber einen Skandal geplant. Er hat mir gesagt: „Als ich merkte, dass da drei Bundesräte anwesend sein werden, da wollte ich es einmal benutzen“, und da hat er auf die Pauke gehauen. Aber er hat sich in diesem Vortrag auch zur Schweiz bekannt. Er hat gesagt: „Ich bin gerne Schweizer, es gefällt mir“, aber er wollte dieses dialektische Verhältnis aufzeigen, dass es wie ein Gefängnis ist,

sich für neutral zu erklären und sich damit zurückzuziehen. In einem Gefängnis braucht es auch Wärter und die Gefangenen selbst werden dann im Laufe der Zeit zu Wärtern. Gefangene ihrer eigenen Konzepte. Jeder wird zum Polizisten des anderen. Die Sozialkontrolle ist sehr hoch in der Schweiz. Ich fand das unheimlich lustig. Er hat das natürlich überspitzt. Er hat dann gesagt: „Als alle Gefangenen Wärter waren, wussten sie nicht mehr, was sie machen sollten.“ Und kam so aufs Bankgeheimnis. Darüber hat er sich immer mokiert. Das hat heute auch international ausgedient. Ich würde nicht sagen, dass er da so weitsichtig war, aber es war für ihn ein Stein des Anstosses. Neutralität heisst, dass man international keine Verantwortung übernimmt. Man exponiert sich nicht, man versucht, Äquidistanz zu schaffen, und dann war natürlich zu jener Zeit noch immer die Diskussion des Zweiten Weltkrieges im Gange, die später noch stärker aufgeflackert ist. Das jüdische Gold in der Schweizerischen Nationalbank, der gesamte „Zusammenhang“ mit der Judenverfolgung hat nachher noch zu einer ungeheuren Diskussion geführt  … ja, er wollte eine Reaktion, einen Skandal verursachen. Der Ablauf war auch unheimlich gut. Da sassen alle erwartungsvoll, der Bundespräsident Koller kam wegen Schnee auf der Autobahn zu spät. Furgler, der Ex-Justizminister war noch da. Der hat irgendeine Rede, die niemand verstanden hat, runtergeschnabelt. Dann kamen Václav Havel und Dürrenmatt. Dürrenmatt hat die Szene beherrscht. Nachher sind alle in Wut davongerannt, aber Dürrenmatt hat sich gut amüsiert und wir gingen noch gemeinsam essen. Havel war mit seiner Crew im Schauspielhauskeller, da fand die Feier statt. Ich bin dort später noch hingegangen und da war Rambazamba! Das war ein denkwürdiges Ereignis.

Peter Nobel ist Schweizer Rechtswissenschaftler und Rechtsanwalt. Er studierte Staatswissenschaften an der Universität St. Gallen und beendete sein Studium mit einer Dissertation zum Thema „Europäisierung des Aktienrechtes“. 1980 erwarb er die Zulassung zum Rechtsanwalt, zwei Jahre später eröffnete er seine eigene Kanzlei (heute Nobel & Hug). Seit dem Jahr 1985 war er der Anwalt Dürrenmatts. Darüber hinaus war Peter Nobel bis zu Dürrenmatts Tod 1990 auch dessen Sparringpartner und Augenzeuge sämtlicher historischer Augenblicke, wie der berühmten „Gefängnisrede“ in Rüschlikon. 1971 gründete Peter Nobel die Jungsozialisten und zählt heute zu den bekanntesten Anwälten der Schweiz.

Justiz nach dem Roman von Friedrich Dürrenmatt / Regie Frank Castorf Premiere 13. April, Pfauen Unterstützt von der Charlotte Kerr Dürrenmatt Stiftung

Inszenierungseinblick, 25. März, 19:00–20:30, Treffpunkt Schiffbau/Foyer Theater im Gespräch zu „Justiz“ & „Apropos … ‚Du bist schuld!‘ “ 20. Mai, 19:00–20:30, Treffpunkt Schiffbau/Foyer

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Foto links: Herbert Fritsch, T+T Fotografie / Toni Suter + Tanja Dorendorf / Foto rechts: Dani Levy, X Filme / Michael Hauri

„Für mich ist es genussvoll zu lügen“ Der Regisseur Herbert Fritsch wird demnächst mit seiner Inszenierung „Totart Tatort“ ein Kultformat des Sonntagabendfernsehens umpflügen. Der Schweizer Regisseur Dani Levy hat das mit „Die Musik stirbt zuletzt“ schon getan: Sein Luzerner „Tatort“ kommt ohne einen einzigen Schnitt aus. Ein Gespräch über heilige Kühe, das Problem mit der Wahrheit und die „Tatortisierung“ der Kultur.

Herbert Fritsch: Den „Tatort“ kann ich nicht so ernst nehmen. Handydaten und was da alles rausgelesen wird, das kommt zum Beispiel in fast jeder Folge vor. Dani Levy: Der „Tatort“ ist eine heilige Kuh oder der heilige Gral und vielleicht die letzte Bastion der Sonntagabendunterhaltung. HF: Den begabtesten SchauspielerInnen wird das Talent kaputt gemacht, weil sie als ErmittlerInnen auftreten müssen und nicht als extreme Charakterfiguren. Das ist für mich eigentlich fast eine Talentvernichtungsmaschine. Deshalb habe ich gesagt „Totart“ statt „Tatort“. Ich habe bei deinem „Tatort“ gemerkt, dass das ein sehr bösartig20

ironischer Film sein kann und dass da eigentlich eine Komödie drinsteckt. DL: Das stimmt, der Film hat eine bissige Selbstironie, die aber zu grossen Diskussionen in den deutschen „Tatort“Redaktionen geführt hat. Nur das Thema selbst ist nicht wirklich komödiantisch: „Wie wird mit Flucht und Existenzrettung Geld gemacht?“ Ich wollte einen Tatort mit einem relevanten historischen beziehungsweise politischen Plot erzählen. HF: Ich sehe noch ein anderes Problem. Ich glaube nicht so sehr an die Wahrheit. Vor allem nicht im Film und schon gar nicht im Theater. Für mich ist es genussvoll zu


DL: Das stimmt, der „Tatort“ ist vielleicht die letzte Speerspitze, das Phänomen einer sterbenden Zeit, die er aber durch seine Diversität bisher gut überlebt hat. Er ist robust, weil er ein Bastard ist.

DL: Na ja, es wäre etwas schizophren, wenn du dich anstellen lässt, für dieses Format einen Film zu drehen, um es gleichzeitig zu zerstören.

HF: Was du da in „Die Musik stirbt zuletzt“ gemacht hast, könntest du super gut als Theaterstück machen. Mach so ein Theaterstück! Auf der leeren Bühne – vielleicht noch mit MusikerInnen zusammen, vielleicht wirklich am KKL in Luzern?!

HF: Nein, glaube ich nicht. Es geht darum, für eine neue Ästhetik zu kämpfen. Nicht nur darum, den „Tatort“ aufzulösen, sondern grundsätzlich darum, dieses Bildverständnis, das wir haben, aufzulösen. Ein grosser Teil des Publikums hat Interesse an einer anderen Darstellungsform. DL: Das ist ein kleiner Teil des Publikums. Der Rest schaut sich das ein paar Minuten an, dann zappt er weg. Die schlimmste Erfindung der letzten 50 Jahre ist die Fernbedienung. Mit einem Knopfdruck bist du weg. HF: Es gibt diesen „tödlichen Witz“ von Monty Python. Sein Erfinder stirbt vor Lachen. Das Militär nimmt den Witz unter Verschluss und transportiert ihn zum Feind hinüber, damit dieser ihn liest. Ich glaube an diesen tödlichen Witz.

Studio Geissbühler

lügen. Ich glaube nicht an das Vermitteln von politischen Geschichten. Auf die Weise, wie du es gemacht hast, kannst du wahnsinnig viele Bilder zerstören. Und das ist erst mal gut.

Herbert Fritsch Totart Tatort Schauspielhaus Zürich

DL: Das, was du kritisierst, ist natürlich auch die Kultur dieses Storytellings. Diese voyeuristischen Täter-OpferGeschichten, die du dir von deiner gut temperierten Wohnung aus reinziehst, sind ein fester Bestandteil unseres Lebens und genau das bildet der „Tatort“ ab. HF: Herbert Achternbusch hat gesagt: „Solange es Berge und Täler gibt, wird es keine Gerechtigkeit geben.“ Ich will diesen „Totart Tatort“ völlig verquer inszenieren und fast serielle Sachen daraus machen, wo das Gesagte hundertfünfzigtausendmal wiederholt und woanders hinkatapultiert wird. Ich merke, dass mich am „Tatort“ etwas stört und dass ich darin ein Problem für die Kunst insgesamt sehe, die Kunst allgemein schlittert ins „Tatort“Format. DL: Was du bei der „Tatort“-Kultur kritisierst, ist ja eine zur Erfüllungskruste verhärtete Reflexhaftigkeit der Kultur. Es läuft eben alles nach der Quote, dem ausverkauften Haus oder dem Erfolg. Letztlich kann das ja nur eine Art Konsens sein. HF: Ich gebe zu, dass ich selbst ein durch und durch manipulierter Mensch bin. Ich möchte schon gerne viele Leute erreichen mit dem, was ich mache, aber nicht, weil ich eine Botschaft habe. DL: Das geht vielleicht im Theater oder in der bildenden Kunst mit Empörung und Skandal. Aber das Fernsehen ist nicht der Ort, an dem Revolution gemacht wird. HF: Wir reden über die letzten Zuckungen. Die Generation meiner Kinder schaut nicht mehr fern.

Totart Tatort von Herbert Fritsch / Regie Herbert Fritsch Mit Jan Bülow, Henrike Johanna Jörissen, Wolfram Koch, Claudius Körber, Miriam Maertens, Lisa-Katrina Mayer, Elisa Plüss, Nicolas Rosat, Markus Scheumann, Friederike Wagner Premiere 22. Februar, Pfauen Unterstützt vom Förder-Circle des Schauspielhauses Zürich

Inszenierungseinblick 7. Februar, 19:00–20:30, Treffpunkt Schiffbau/Foyer Theater im Gespräch zu „Totart Tatort“ & „Apropos … ‚überecho‘ “ 21. März, 19:00–20:30, Treffpunkt Schiffbau/Foyer

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Verbindungsgleise an der Grenze

Peter Graf hat einen eindrücklichen Roman aus den 30er-Jahren wiederentdeckt: „Der Reisende“ von Ulrich Alexander Boschwitz. Der Autor, der 1942 ums Leben kam, erzählt darin von den ausweglosen Fluchtversuchen des deutsch-jüdischen Geschäftsmanns Otto Silbermann. Nach den Novemberpogromen von 1938 ist es dem einst angesehenen und wohlhabenden Mann unmöglich, Deutschland zu verlassen. Alle Grenzen sind geschlossen. Silbermann beschliesst, in die Züge der Deutschen Reichsbahn zu emigrieren und reist heimatlos quer durchs eigene Land. Diese Deutschland-Odyssee ist dank Peter Graf nun nach achtzig Jahren erstmals auf Deutsch erschienen und ist in vielerlei Hinsicht ein Stoff der Stunde. Die junge Schweizer Regisseurin Manon Pfrunder inszeniert den Roman für das Schauspielhaus. Sie traf dessen Herausgeber für ein Gespräch. Aufgezeichnet vom Dramaturgen Benjamin Große

Manon Pfrunder: Was ist das Entscheidende an der Hauptfigur des Romans, Otto Silbermann? Peter Graf: Sein Schicksal steht im Grunde stellvertretend für jenes hunderttausender jüdischer Menschen in Deutschland, die damals zu spät realisiert haben, was wirklich passiert, nämlich dass die Pogrome ihre Vernichtung eingeläutet haben. MP: Silbermann ist davon überzeugt, Teil des Landes und dessen Kultur zu sein. Und in gewisser Weise sind es halbherzige Fluchtversuche, die er unternimmt, wahllose Ein- und Ausstiege in Züge, die ihn immer wieder in Richtung der Grenze oder zurück ins Land bringen. Fliehen, die Heimat verlassen ist immer mit Angst belegt: Wie baue ich ausserhalb der Grenzen meines Landes wieder eine Struktur und eine gewisse Normalität auf? Er will verständlicherweise in seinen alten Gleisen bleiben. Der Zug in „Der Reisende“ ist für mich ein sehr passendes Bild. Der Zug fährt immer weiter auf den vorgegebenen Routen, obwohl das Leben längst entgleist ist. PG: Der Zug ist auch der ideale Ort, um in das reinzuhören, was im Deutschland des Jahres 1938 gedacht wird und passiert. Silbermann begegnet anderen Flüchtlingen, er begegnet Menschen mit Empathie, er begegnet Nazis, er bekommt mit, dass Menschen in den Zügen verhaftet werden. MP: Was ich beim Lesen immer wieder auffallend finde, ist, dass die Normalität einfach weiterläuft und sich der Alltag immer wieder in diesen Schrecken hineinschreibt. PG: Man stellt sich vor, dass in einer solchen Situation alle Antennen einfach nur aufs Überleben ausgerichtet 22

sind, aber hier findet parallel etwas anderes statt. Das Leben geht weiter, mit all seinen Sehnsüchten. MP: Silbermann sagt: „Ich bin gemacht für das ordentliche Leben und nicht für das Ausserordentliche“. Plötzlich dreht sich seine Welt um 180 Grad und alle Privilegien, die er als wohlhabender Bürger hatte, sind weg. Auf diese Stigmatisierung reagiert er durchaus fragwürdig. Wenn er alte Freunde mit jüdischem Aussehen wiedertrifft, sagt er: „Sprich mich nicht an, du kompromittierst mich ja.“ PG: Die Figuren sind nicht schwarz und weiss gezeichnet. Silbermann ist ein Opfer der Verfolgung; das macht ihn aber nicht automatisch zu einem guten und sympathischen Menschen. Ich glaube, der Erfolg dieses Buches hat mit diesen authentischen Figurenzeichnungen zu tun und damit, dass der Stoff wieder sehr aktuell ist. Da ist die Flüchtlingsdebatte, diese Menschen, die im Mittelmeer ertrinken. Wie geht man damit um? Man blendet das Schicksal des Einzelnen, der vor Krieg geflohen ist, aus und stilisiert die Masse der Flüchtlinge zu einer Bedrohung. MP: Kannst du berichten, wie du auf den Text gestossen bist? PG: Ich habe vor ein paar Jahren einen anderen Roman aus den 1930er-Jahren verlegt, der sehr erfolgreich war. „Blutsbrüder“ von Ernst Haffner. Er wurde unter anderem ins Hebräische übersetzt. Der Literaturkritiker der grössten israelischen Tageszeitung, dem ich ein Interview gab, leitete mir die Mail einer alten Dame weiter. Sie schrieb mir, dass ihr Onkel Schriftsteller in Deutschland gewesen sei, auf Deutsch geschrieben habe, emigrieren


Regisseurin Manon Pfrunder und Herausgeber Peter Graf, Foto: T+T Fotografie / Toni Suter + Tanja Dorendorf

musste und früh gestorben sei. Das war Ulrich Alexander Boschwitz. Das Originaltyposkript von „Der Reisende“ wird im Exilarchiv der Nationalbibliothek in Frankfurt am Main aufbewahrt. Ich las es und wusste, dass ich es verlegen würde. Boschwitz ist christlich erzogen worden. Die Familie wusste bis zur Machtergreifung der Nationalsozialisten gar nicht, dass der Vater jüdischer Herkunft war. Es traf sie wie ein Schlag. Boschwitz und seine Mutter entschieden sich, zunächst nach Skandinavien zu fliehen. Boschwitz’ Schwester schloss sich der zionistischen Bewegung an und ging nach Palästina. Boschwitz war von keiner politischen Ideologie geprägt. Er war Humanist. Das merkt man dem Roman an. MP: Der Roman spielt in Deutschland, beschreibt einen wichtigen Teil deutscher Geschichte. Die Theateradaption kommt in Zürich heraus. Was hältst du von der Schweiz als Uraufführungsort? PG: Das Buch wird derzeit in viele Sprachen übersetzt. Das zeugt davon, dass es nicht nur ein deutsches Thema ist. Es geht alle an. Unabhängig davon hat es für mich persönlich eine grosse Bedeutung, dass die Uraufführung in Zürich stattfindet, wo ich 13 Jahre meines Lebens verbracht habe. Und dass du die Inszenierung machst, steht auch für die Durchlässigkeit zwischen den beiden Ländern und von Grenzen generell. Wir sind uns durch das Buch „Blutsbrüder“ an der Berliner Volksbühne begegnet und nun wird mit unserer Hilfe die Geschichte eines Berliner Juden am Zürcher Schauspielhaus erzählt. Auch wenn der Roman in Berlin und der deutschen Reichsbahn spielt und die Schweiz eine andere Rolle und ein anderes Schicksal im Krieg hatte – das Schau-

spielhaus war damals eine der wenigen deutschsprachigen Bühnen, wo ein solcher Stoff hätte erzählt werden können. Viele EmigrantInnen wurden damals ins Ensemble aufgenommen. Es gab Uraufführungen von Else Lasker-Schüler oder Ödön von Horváth. Ulrich Alexander Boschwitz hätte es sicher mit Stolz erfüllt, hier gespielt zu werden.

Peter Graf, geboren 1967, leitet den Verlag Das Kulturelle Gedächtnis und ist Inhaber der Walde + Graf Verlagsagentur in Berlin. Ein Schwerpunkt seiner publizistischen Arbeit ist die Wiederentdeckung vergessener Texte.

Der Reisende nach dem Roman von Ulrich Alexander Boschwitz / Regie Manon Pfrunder Uraufführung Premiere 19. Mai, Pfauen/Kammer Unterstützt von der Gesellschaft der Freunde des Schauspielhauses Zürich

Inszenierungseinblick 2. Mai, 19:00–20:30 Treffpunkt Schiffbau/Foyer

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Fotos: Raphael Hadad

On The Town With James Joyce Barbara Frey unternimmt einen literarischen Spaziergang in ZĂźrich zur Vorbereitung ihrer letzten Inszenierung. Aufgezeichnet vom Dramaturgen Geoffrey Layton.

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„There is not past, no future; everything flows in an eternal present“ James Joyce

Barbara Frey hat sich für ihren Abschied am Ende dieser Saison ein lang gehegtes Projekt vorgenommen. Sie möchte „Die Toten“ von James Joyce auf die Bühne bringen, die letzte von 13 Erzählungen, die unter dem Titel „Dubliners“ 1914 erschienen sind. Zur Einstimmung unternahm sie einen Erkundungsrundgang durch Zürich auf den mannigfachen Spuren, die der Erfinder des „stream of consciousness“ in dieser Stadt hinterlassen hat. Sie traf sich mit Michelle Witen, einer Joyce-Spezialistin von der Universität Basel, auf dem hoch über der Stadt Zürich gelegenen Friedhof Fluntern am Grab von James Joyce. Der 12. Dezember ist der erste richtige Wintertag des Jahres. Wir sind hier oben über den Wolken, die am frühen Vormittag die Stadt, den See und die dahinterliegenden Berge verhüllen, vor der Skulptur, die James Joyce sitzend darstellt, lässig eine Zigarette rauchend, zur Seite auf das Grab von Elias Canetti schauend, dessen letzter Wunsch es war, dort unter dem Blick des grossen Kollegen begraben zu sein. Barbara Frey: Ich war ein junger Mensch, als mir meine Mutter James Joyce zu lesen gab und dazu sagte: „Er ist komplett verrückt, aber ich mag ihn.“ Die letzte Erzählung von den „Dubliners“ hatte es mir am meisten angetan: „Die Toten“. Sie hat mich seitdem durchs Leben begleitet. Und wird es wohl auch weiterhin tun. Der Schluss ist unglaublich. Es geht um ein universelles Gefühl. Eine Epiphanie. Ich trage mich schon seit Langem mit dem Gedanken, den Stoff auf die Bühne zu bringen. Ich hatte das grosse Glück, „Ulysses“, dieses doch recht umfangreiche Monument der Literatur, an einem Stück in drei Wochen zu lesen. Ich war im Rausch. Mit dem letzten grossen Werk, „Finnegans Wake“, kämpfe ich noch. Michelle Witen: Joyce selber hat dazu gesagt, wenn man „Finnegans Wake“ nicht versteht, dann soll man den Text laut lesen. Er funktioniert wie Musik. Wenn man ihn laut liest, dann hört man den irischen Akzent. Das Kapitel „Sirenen“ aus „Ulysses“ ist ausdrücklich dem Gehörsinn gewidmet. Es repräsentiert in literarischer Form die musikalische Gestalt einer Fuge. Die höchstentwickelte Form absoluter Musik. BF: Dieser Aspekt des Musikalischen interessiert mich auch für unsere Produktion. Die Musik der Sprache, aber auch der reine Gesang, das Lied; ebenso das Verschwinden von akustischen Signalen in die Stille hinein. Joyce hatte auch eine grosse Liebe zu Alltagsgeräuschen!

MW: Er hat in seiner Jugend Gesang studiert und wollte eine professionelle Karriere als Sänger machen. Sein Interesse galt vor allem dem Gesang, in Form von Oper und Folksongs. In diesen beiden Vorlieben drückt sich auch sein genereller Konflikt zwischen europäischer und national-irischer Identität aus. Er flieht aus seiner Heimat, um sie aus der Ferne zu vermissen. Die Schauplätze seiner Romane und Erzählungen befinden sich fast ausschliesslich in Dublin, obwohl er sein erwachsenes Leben im kontinentalen Europa, insbesondere in Zürich, Triest und Paris verbracht hat. BF: Ich habe grosses Verständnis für seine andauernde Reisetätigkeit und sein unsicheres Verhältnis zu einem Heimatbegriff. Es ist mir immer unklar geblieben, was mich mit der Schweiz verbindet. Ähnlich vielleicht einer neurotischen Elternbindung. Ich denke, es gibt eine Inselmentalität, die sowohl für die Schweiz als auch für Irland gilt. Die Inselmentalität birgt in sich bizarre Verhaltensmuster. Sie haben ihren eigenen Reiz, aber sie können fürchterlich beengend sein. Man verspürt den Drang, auszubrechen. MW: Eines der stärksten Bilder dafür ist die Geschichte von Johnny, „the horse“, die Gabriel am Ende der Feier auf der Türschwelle erzählt. Johnny – so hiess das Pferd, das in der Leimsieder-Mühle des alten Morkan arbeitete und immer im Kreis lief, um den Mühlstein zu drehen. Als Johnny ausnahmsweise an einem Festtag als Kutschpferd eingesetzt wurde, fing er an, im Kreis um die Reiterstatue von König Billy zu laufen – das Symbol der Unterwerfung Irlands – und liess sich nicht davon abbringen. Joyce hat gesagt: „Ich will nicht dem dienen, an das ich nicht länger glaube, ob es sich mein Zuhause nennt, mein Vaterland oder meine Kirche: und ich will versuchen, mich in irgendeiner Art Leben oder Kunst so frei auszudrücken, wie ich kann, und so vollständig, wie ich kann, und zu meiner Verteidigung nur die Waffen benutzen, die ich mir selbst gestatte – Schweigen, Verbannung und List.“ Wir verabschieden uns von Joyce’ Grab und machen noch einen kleinen Besuch bei Therese Giehse und Elias Canetti, die ebenfalls in Zürich Zuflucht, Exil und letzte Ruhestätte fanden. Dann begeben wir uns zum Platzspitz, einer der Lieblingsplätze von Joyce in Zürich, dem Aussichtspunkt am Zusammenfluss von Sihl und Limmat.

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BF: Auf der einen Seite die Limmat mit ihrem dramatisch rauschenden Stauwehr und auf der anderen die gemächlich dahinfliessende Sihl, zwei gegensätzliche Temperamente, die sich hier am Platzspitz miteinander verbinden. In der Ferne kann man sehen, wie sich ihre unterschiedlichen Farben nur zögernd miteinander vermischen. MW: James Joyce fühlte sich überall wohl, wo das Wasser in Erscheinung trat. Ob es ein Fluss oder das Meer war, alles, was ihn an Dublin erinnerte. Es ist eigentlich kein Wunder, dass es ihm hier gefiel: dem Erfinder des „stream of consciousness“. „There is not past, no future; everything flows in an eternal present.“ Wir beenden unsere Spurensuche mit einem Besuch in der Kronenhalle. Die Familie Zumsteg, die unter anderem viele KünstlerInnen und Intellektuelle in ihrem berühmten Gasthaus bewirtete, hat sich sehr verdient gemacht um James Joyce und seine Familie, die immer wieder in finanziellen Nöten schwebte. In einer Nische neben dem Eingang, wo er gewöhnlich sass, hängt neben einem Gemälde von Picasso sein Porträt. Hier war es auch, wo er sein letztes Nachtmahl zu sich nahm, bevor er, von einem Herzschlag getroffen, am Tisch zusammenbrach und wenig später starb. MW: Nora Joyce wurde auch nach dem Tod ihres Mannes von der Familie Zumsteg durchgefüttert. Viele der Frauen, die Joyce literarisch gestaltet hat, tragen deutlich ihre 26

Züge. Zum Beispiel auch Gretta Conroy, die weibliche Hauptfigur von „Die Toten“. Auch Molly Bloom und ihr berühmter Monolog, mit dem „Ulysses“ endet, sind stark geprägt von Nora. Joyce hat dazu ihren Briefstil verwendet, der auf jegliche Interpunktion verzichtet. Die sehr ausführlichen und unverblümten Beschreibungen von sexuellen Praktiken mögen manchmal sexistisch anmuten, aber sie haben keineswegs affirmativen Charakter. Etliche seiner Frauengestalten zeugen von tiefem Verständnis und grosser Emphatie – wie beispielsweise Molly Bloom oder eben Gretta Conroy.

Dr. Michelle Witen (Promotion Universität Oxford) ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Basel (Dept. Sprach- u. Literaturwissenschaften – Anglistik). Ihre Monografie „James Joyce and Absolute Music“ untersucht Joyce’ Eingliederung musikalischer Strukturen in seinem Werk.

Die Toten nach der Erzählung von James Joyce / Regie Barbara Frey Deutschsprachige Erstaufführung Premiere 16. Mai, Pfauen

Inszenierungseinblick 24. April, 19:00–20:30, Treffpunkt Schiffbau/Foyer Theater im Gespräch zu „Die Toten“ & „Die grosse Gereiztheit“ 25. Juni, 19:00–20:30, Treffpunkt Schiffbau/Foyer


Kulturelle Teilhabe für alle und keinen

von Stefan Zweifel

Beim sogenannten Sechsertreffen der sechs Präsidenten von Staaten, in denen Deutsch gesprochen wird, durfte ich in Sils-Maria bei schönstem Wetter vor den Bundespräsidenten Alain Berset und Frank-Walter Steinmeier sowie dem belgischen König über die Frage der kulturellen Teilhabe nachdenken und erinnerte an Nietzsche, der meinte: Die Welt ist nur als Kunstwerk zu rechtfertigen. Nietzsche wurde hier im Oberengadin beim pyramidalen Felsen von Surlej vom Gedanken der ewigen Wiederkunft überwältigt: Und er suchte sodann eine Lust, die diese Ewigkeit will und die eine ewige Wiederkehr der Welt mit all ihren Tragödien um der Lust willen in Kauf nimmt, mit der ihn Kunst und Kultur erfüllt. Ich erfuhr eine solche Lust bei der Lektüre von „Also sprach Zarathustra“, ein „Buch für Alle und Keinen“, wie es im Untertitel heisst. Für alle und keinen. Dies ist Nietzsches Wink für kulturelle Teilhabe. Denn Nietzsches Schicksal führt uns vor, was das heisst: Teilhabe. Teilhabe für alle und keinen. Teil zu sein an einer Habe, die für keinen oder für einen nur gedacht war und dann doch für alle sprach. Kaum ein Leser kaufte damals eines der 300 Exemplare, die von „Zarathustra“ gedruckt wurden – heute gehört das Buch zu den meistgelesenen philosophischen Werken. Denn jede Leserin und jeder Leser von „Zarathustra“ kann, ohne eine Ahnung von der Philo­ sophiegeschichte und des kategorischen Imperativs zu haben, jeden einzelnen Satz auf sich und sein eigenes Leben beziehen. Das Elitäre ist also offen für alle. Wie also will man solche Lese- und Kulturerlebnisse vermitteln und teilen? Gehört zur inneren Erfahrung des einzelnen Individuums bei einem Opernbesuch nicht auch die Erfahrung der heiligen Halle – und kann man das bei einer Übertragung von Opern in einer Bahnhofshalle noch so erleben? Wo ziehen wir die Grenze jener Schwellen, die viele Menschen durch Angst abschrecken? Wie niedrig wollen wir diese Schwellen planieren? Und wie, so stellt sich die Frage, kann man uns aus dem sicheren Gehäuse hinauslocken? Und habe ich, als ich mich einmal mit einem Nietzsche-Buch mitten im Appenzell in eine Dorfkneipe verirrte, nicht eine unvergessliche Erfahrung von Teilhabe gemacht, als im fasnächtlichen Treiben wilde Waldmänner mit Zotteln und Zweigen auftauchten, die

mich mit ihrem wüsten Wesen zusammenzucken liessen, halb Schreck, halb Schock fremder Schönheit? Und warum folgte ich eigentlich nie dem Rat des Schweizer Autors Peter Bichsel, der mir von den Festen der Volkskultur vorschwärmte, wo sich Schweizer Schwinger im Jubel der Jodler in den Sand stürzen? Und so stellt sich mir ganz persönlich die Frage: Wie kann kulturelle Teilhabe mich selber dazu verlocken, die hohe Schwelle, die unsere klassischen Kulturhäuser von der Strasse trennen, zu überschreiten, um Erfahrungen zu machen, die mich herausfordern? Die Schwelle der Teilhabe nämlich muss in alle Richtungen überschritten werden, wenn eine Kultur lebendig bleiben will. Die elitäre Kunst darf sich nicht verschliessen im Fett ihres Wissens, sondern muss wissen, dass sie nichts weiss. Wie Sokrates. Er klammerte sich nicht an die Habe seines Wissens, sondern betrieb die Philosophie wie eine Hebammenkunst, um Neues zu gebären. Er diskutierte dabei nicht mit anderen Philosophen über die Frage nach dem Guten und die Suche nach dem Wahren, sondern unterhielt sich mit Schiffbauern und Handwerkern, um auf neue Gedanken zu kommen. Fragen, die man an einen anderen Ahnherr der Avantgarde richten müsste, der damals barfuss über den Gotthardpass streifte: Arthur Rimbaud auf seinem Weg nach Afrika. Dort wurde der Dichter Waffenhändler und Elefantenjäger, bis sein Bein abfaulte. Sein radikales Buch „Eine Zeit in der Hölle“ sprach zunächst nur zu einer kleinen Elite der Avantgarde. Hundert Jahre später aber zog Jim Morrison nach Paris, um sich Rimbaud nah zu fühlen. Jim Morrisons Version von Rimbauds Werk „Eine Zeit in der Hölle“ wurde mit dem Song „The End“ zum Vorspann des Hollywoodfilms „Apocalypse Now“. An ihrem Ende wurde die Avantgarde endlich ein Werk für alle. Und so fluteten immer wieder gewisse Ereignisspitzen über die Wellenkämme der Zeit in den Ozean des Gemeinsamen: Punk wandelte sich zur Alltagsmode, Surrealismus zu einem Tool der Werbung, Dada zu Rap. Die Habe kleiner Kreise wandelte sich – zu ihrem eigenen Glück – in Teilhabe für alle.

Stefan Zweifel ist Philosoph, Übersetzer und Kurator (aktuell im Landesmuseum „Imagine 68 – Das Spektakel der Revolution“). Am Schauspielhaus ist er zudem seit Längerem Gastgeber der Reihe „Zürcher Gespräche“. Als Nächstes hat er den Philosophen Byung-Chul Han („Müdigkeitsgesellschaft“) für einen seiner seltenen öffentlichen Auftritte gewinnen können: am 15. Januar, Pfauen, 20:15

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Und wäre ich zu guter Letzt mit der Gabe beschenkt worden, deine Anmut in Musik zu fassen, so würde diese in der Kirche Santa Maria Novella in Florenz auf einer herzzerreissend tönenden

Wäre mir die Gabe des Malens gegeben, malte ich dich in der pastelligen Transparenz eines Piero della Francesca. Erhaben und ein wenig entrückt, eine leuchtende Aureole um dein blondes Haupt, würdest du thronen – und doch alle unter deine Fittiche nehmen.

Hätte ich die Gabe zu dichten, so schriebe ich ein Sonett für dich. Ich würde versuchen, dein Wesen – seine Essenz – in Worte zu fassen, in Strophen, in Verse, in Reime. Hättest du zu Zeiten Petrarcas gelebt – ich bin mir sicher, du wärst seine Madonna Laura geworden. John Donne hätte dich besungen, Shakespeare so sehnsüchtig wie Louise Labé – alle hätten sich danach verzehrt, dein flüchtiges, ätherisches Wesen erfassen, durchdringen und verewigen zu wollen.

Liebe Friederike!

Dem kleinen feinen Lied, das wir ganz zu Beginn an unserem zauberhaften Anfang – weil jedem Anfang ein Zauber innewohnt – gemeinsam auf der Bühne gesungen haben, dem berühmten Lied vom Dällebach Kari, war der Abschied schon eingeschrieben.

Und wo ich nun endlich selbst eine Eloge auf dich anstimmen, dein Spiel auf der Bühne beschreiben und preisen wollte, ja, dich besingen – deinen hohen Gang, deine edle Gestalt, deines Mundes Lächeln und deiner eisblauen Augen Gewalt; jetzt, da ich bald ins Anekdotische wechseln, von Vergangenem und Kommendem sprechen wollte – wandeln sich diese Zeilen jäh in eine Elegie. Von hinten kommt auf lautlosen Schwingen ein dunkler Vogel angeflogen. Es geht ans Abschiednehmen.

Barockvioline gespielt und klänge wie die Passacaglia von Franz Ignaz Biber. Diese atmet förmlich zu Licht und Luft und Helligkeit, ist federnd, elfenzart und sehnsüchtig, als schwebte sie über der Erde – wie du, ob auf der Bühne oder auf weiter Flur.

Früh morgens schwebst du auf leisen Sohlen Blätter im Wald ohne sie

P.S. Haiku (für Fritzi und T.)

Von Herzen Deine Susa

Liebe Friederike Es war schön mit dir. Und ich vergess’ dich nie.

Wir werden uns vornehmen, uns nicht aus den Augen zu verlieren. Und wissen doch zu gut, wie flüchtig alles ist – ganz wie wir selbst.

Und nun, zehn Jahre später – die im Flug vergangen sind und während sie flogen immer Verheissung waren: Da kommt noch was! Das Beste kommt noch! – ist es schon vorbei. Unsere Wege – und unser aller Wege – trennen sich. Unweigerlich.

Foto: Jack Pryce

Friederike Wagner

von Susanne-Marie Wrage

In Szene


Der Fehler definiert das Korrekte In seinem Stück „Versetzung“ erzählt Thomas Melle die Geschichte des Lehrers Ronald Rupp. Auf dem vorläufigen Höhepunkt seiner Karriere – Ronald ist für den Posten des Schuldirektors vorgesehen – bricht bei ihm erneut eine bipolare Störung aus. Angesichts der Symptome reagiert sein bis dahin weitgehend ahnungsloses Umfeld überfordert. Während ein Teil des Kollegiums anfangs noch versucht, dem beliebten Lehrer mit Verständnis und Toleranz zu begegnen, setzen sich am Ende die ZweiflerInnen durch. Die junge Regisseurin Clara Dobbertin wird das Stück am Schauspielhaus inszenieren. Sie führte mit dem in Berlin lebenden Autor Thomas Melle, der selbst an der bipolaren Störung leidet, eine Korrespondenz per Mail. Aufgezeichnet von der Dramaturgin Daniela Guse Clara Dobbertin: Wieso wählten Sie für das Stück „Versetzung“ eine Schule als Ort des Geschehens? Thomas Melle: Die Machtstrukturen „en miniature“ haben mich interessiert. Es geht dort um „unsere Kinder“, die Zukunft, es geht um soziale und mentale Hygiene, es birgt die ganze Ideologie einer Gesellschaft. Wie die Lehrer miteinander umgehen, die Hierarchien innerhalb der Schule und der Elternschaft – da gibt es viele Parallelen zum politischen System. Ich finde, dass sich das Problem, von dem ich erzähle, anhand dieses Berufsbilds besonders nachvollziehbar darstellen lässt. Finden Sie nicht auch? CD: Mir erscheint der Schulkosmos ebenfalls passend. Schule ist ja ein zentraler kultureller Ort, in den grössere gesellschaftliche Probleme hineingetragen, an dem diese aber auch beschleunigt und wieder in das äussere Umfeld exportiert werden. War Ihnen der Modellcharakter – das Exemplifizieren eines Problems, der Umgang der Gesellschaft mit einem aus der vermeintlichen Norm fallenden Teilchen – ein zentrales Anliegen? TM: Ja, denn an der Abweichung kann man die Norm sehr gut ablesen – das, was uns prägt und auf 30

Linie bringt, was uns scheitern oder erfolgreich sein lässt. Der Fehler definiert das Korrekte, das immer wieder qua Konsens neu verhandelt wird. Gerade heute sind die Normen und Vorstellungen darüber, was richtig und was falsch sei, potenziell wandelbar. Diese Art des Wandels nimmt das Stück auf übersichtlichem Terrain in den Blick.

bleibt, würde mich interessieren. In „Versetzung“ ist es dieses Spannungsfeld (was akzeptieren wir noch? Was schliessen wir auch aus Eigeninteresse aus?), das Ronald Rupp die biografischen Elektroschläge verpasst, bis seine Psyche erneut verbrennt.

CD: Sie behandeln in Ihren Texten oft Figuren, die man gemeinhin als randständig bezeichnen könnte. Solche, die von vornherein oder durch besondere Umstände und Ereignisse an den Rand der Gesellschaft gedrängt werden. Was interessiert Sie daran?

CD: Weshalb haben Sie die medizinische Seite – etwa die Stimme oder das Eingreifen eines Arztes, den es ja zweifelsohne für Ronald geben muss, da er medikamentös behandelt wird – ausgeklammert? Lässt sich so die Interpretation, dass Ronalds Krankheit als Metapher für eine Gesellschaft im Ausnahmezustand zu begreifen ist, verstärken?

TM: Nicht nur ich, sondern ein Grossteil der gesamten Literatur beschäftigt sich mit Scheitern, mit Randständigkeit. Das System zeigt an seinen Grenzen, was es ausmacht, durch das, was es als Ausschuss ausschliesst. Und das sind oft willkürliche Entscheidungen. Ich selbst habe mit dem Buch „Die Welt im Rücken“ meine eigene Randständigkeit ins allgemeine Zentrum gerückt – und wäre nun auf dem Weg, einfach das Normale und das Gewöhnliche abzubilden, ein gelungenes Leben, eine glückliche Familie, ohne zweite Böden. Was da noch an Drama und Unheimlichkeit

TM: Was man durch die medizinische Beratung hätte gewinnen können, konnte interessanter und subtiler auch in anderen Dialogen erhellt werden. Die Frage ist, ob Ronald ehrlich sein kann oder nicht, und ob er gegenüber einem Arzt hundertprozentig ehrlich wäre, wage ich zu bezweifeln. Ich sehe Ronalds Krankheit auch eher als konkreten Fall, vor dessen Hintergrund sich diese Pars-pro-Toto-Gesellschaft der Schule in einen Ausnahmezustand hineinsteigert. Es ist mehr Parabel als metaphorischer Clou. Sie wollen bestimmte Rollen von denselben Schauspielerinnen oder


Foto: Dagmar Morath

Schauspielern spielen lassen. Ich fragte mich, warum, und denke mir nun, ob das nicht dem parabolischen Charakter des Ganzen zuarbeiten könnte? CD: Ja, vielleicht gehen das Aussparen des Arztes und meine Idee der Mehrfachbesetzung sogar in eine ähnliche Richtung. Die Aussagen eines Arztes hätten sicherlich mehr Informationen zur Krankheit geliefert. Ohne dieses Extra baut sich das Bild von Ronald massgeblich über die anderen Figuren auf; das Milieu wird kleiner und die Zuspitzungen geschehen rasanter. Mein Entschluss, Figuren doppelt zu besetzen, kann rückwirkend, von der Krankheit aus gesehen, auch als Teil von Ronalds Wahrnehmungsstörung interpretiert werden. Sein Umfeld wird uneindeutiger, Privates und Berufliches verschwimmen. Ich begreife es als eine subtile, zusätzliche Erzählebene. Haben Sie manchmal Mühe mit der Interpretation Ihrer Stücke durch die Regie? TM: Ja, Mühe habe ich oft, aber darum geht es ja auch, oder? Sonst müsste ich ein Prosastück schreiben, dann ist es mit sich selbst identisch und die Interpretation entsteht intim im Kopf der Leserin und des Lesers, aber mein Beitrag bleibt immer gleich. Am Theater dagegen soll es ja auch künstlerisch eine prozessuale Auseinandersetzung geben, Körpersprache, Spannung zwischen den Figuren in der Konkretion der Positionen im Raum; es soll dreckig und brüchig und toll und disruptiv sein, die Liebe, der Kampf, die Ratlosigkeit, das Spüren von Zeit. Meist gebe ich alle Kontrolle ab. Dass es dabei öfter als seltener zu Deutungen kommt, die ich so nicht völlig teile, heisse ich willkommen. Dass es manchmal völlig an meinem Geschmack vorbeigeht, ist schmerzhaft, aber Teil des Spiels. Das macht ja das Lebendige am Theater aus. Ich begrüsse jede Inszenierung, auch wenn sie mich befremdet oder nervt.

Thomas Melle, geboren 1975, studierte Vergleichende Literaturwissenschaft und Philosophie in Tübingen, Austin (Texas) und Berlin. Mit seinem Roman „Die Welt im Rücken“ legte er ein beeindruckend offenes, literarisch kraftvolles Zeugnis über sein Leben mit der bipolaren Störung ab und stand damit auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis 2016. Sein Debütroman „Sickster“ (2011) sowie sein zweites Werk „3000 Euro“ (2014) waren ebenfalls nominiert. Seine Theatertexte feiern auf den deutschsprachigen Bühnen regelmässig Erfolge.

Versetzung von Thomas Melle / Regie Clara Dobbertin Mit Christian Baumbach, Gottfried Breitfuss, Vera Flück, Dominic Hartmann, Katrija Lehmann Premiere 25. Januar, Pfauen/Kammer

Inszenierungseinblick 11. Januar, 19:00–20:30, Treffpunkt Schiffbau/Foyer Theater im Gespräch zu „Versetzung“ & „Henosode“ 22. Februar, 19:00–20:30, Treffpunkt Schiffbau/Foyer

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„Vielzahl leiser Pfiffe“ von Ruedi Häusermann (2012) Foto: Matthias Horn

Entdichten und Verdünnen

Ruedi Häusermann im Gespräch mit der Dramaturgin Viola Hasselberg über die Vorbereitung zu seinem neuen Stück „Henosode – Salon des Gelingens“ als Regisseur und Komponist. Es ist seine zehnte Arbeit am Schauspielhaus.

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Viola Hasselberg: Lass uns über das Staunen reden, das in deiner nächsten Inszenierung, eigentlich in allen deinen Arbeiten eine Rolle spielt! Man kann das Staunen verlernen, es sich abgewöhnen, die Wahrnehmung nur noch auf das Nötige trimmen. Ich habe vorhin gelesen: Staunen kann einen entwurzeln. Wenn man es zulässt, kann es einen auch tiefer wieder einwurzeln. Ruedi Häusermann: Das verstehe ich vollkommen. Das Staunen trägt ja die Hoffnung, das Interesse in sich, was es sein könnte. Und ich staune gerade, dass ich gestern meine Papiere über unser Stück verloren habe. Da stand eben viel drin! Ob mir das rausgefallen ist auf dem Weg zum Zug? Das ist meine Biofestplatte. Für mich ist wichtig, dass ich meine Ideen laufend notiere, sortiere. VH: Was war denn die erste Idee für dein neues Stück? RH: Vom Verschwinden zu erzählen! Daher kam der ursprünglich angekündigte Titel „Man bittet um schonendes Anhalten“. Den Spruch kannte ich als Kind aus dem Radio; den hörte ich immer, wenn ein älterer Herr im grosskarierten Kittel verschwunden war, den man das letzte Mal am Blumenweg 3 gesehen und der sich Richtung Mägenwil bewegt habe. Es ist eine gewisse Feinheit, dass man um „schonendes Anhalten“ bittet, das hat mich beeindruckt. Das Verschwinden, was für ein schönes Thema! Ich dachte auch ein bisschen an die letzte Inszenierung hier am Schauspielhaus, an einen Bogen, der zu Ende geht. Und das Verschwinden, Verflüchtigen ist ja auch eine Eigenart der Musik, der Klänge. VH: Deine Musik hat etwas Erzählendes, ich muss mich ihr zuneigen, ich kann mich nicht einfach berieseln lassen. Wenn ich mich öffne, gibt es viele Ereignisse in dieser Musik. RH: Meine Musik ist nicht abweisend. In dieser Musik sind Handreichungen. Die mache ich aber für mich, ich gebe mir selbst die Hand – nicht weil ich denke: „Na, dann versteht man das besser“, sondern, weil ich denke: „Das gehört in diese Musik hinein.“ Zum Beispiel eine einfachste Melodie, ein verstecktes Kinderliedchen, das man mitsummen möchte, doch schon hat es sich wieder verzogen. Meine neue Arbeit „Henosode – Salon des Gelingens“ hat etwas mit den beiden vorherigen Inszenierungen am Schauspielhaus zu tun. „piano forte“ gehört schon zu einer Reihe von Stücken, in denen es scheinbar um nichts Verwertbares geht. In „Vielzahl leiser Pfiffe“ haben wir damals einen szenischen Rundgang durch die Abteilungen im Schiffbau gemacht. Dabei wurden Nebensächlichkeiten der einzelnen Szenen, nämlich die Töne

und Geräusche, schliesslich zu den Hauptdarstellern im fulminanten Schlusskonzert. Dieses Mal wird es noch etwas expliziter: das Staunen, die Welt des ungerichteten Seins. Es ist dieses Tandem, das mich interessiert: einerseits die reine Musik und andererseits die Szenerie, die hilft, Luft zu schaffen in die Musik herein, in die Konzentration hinein, in diese Dichte. VH: In die Dichte Luft hinein zu geben, den Moment zu dehnen? RH: Genau! Dass ich mich von Zeit zu Zeit als ZuschauerIn wieder zurücklehnen kann, Worte hören kann, die ich verstehe, Bilder, die ich sehe und geniesse, bis sich die ungewohnte Klangwelt wieder neu bilden kann. Anfänge sind sowieso immer das Schönste. VH: Siehst du schon Bilder wenn du komponierst? RH: Überhaupt nicht! Die Musik ist in dem Moment vollkommen eigenständig und soll keine zusätzlichen, kommentierenden Absichten in sich tragen. VH: Wenn sich in der Probe ein Bild in die Komposition schiebt, wie arbeitest du als Regisseur? RH: Das sind zwei Welten. Als Musiker und Komponist – ein grosses Wort, vielleicht eher Musikerdenker, Musikschöpfender – bin ich allein. Das geht alles wortlos. Und oft sehr schnell und intuitiv. Das ist eine völlig andere Arbeit als mit vielen Leuten auf der Probebühne. Wenn ich inszeniere, ist die Musik erst mal eine feste Behauptung, ein unverrückbares Gewicht, eng verbunden mit dem Henosode-Quartett, das sich mittlerweile so gut darin auskennt. Und dann tasten wir uns an die Bilder heran, entwickeln kleine Szenen, jonglieren mit möglichen Texten und versuchen immer, alles fortlaufend mit der Musik zu verweben. Es ist schon eine grosse Anstrengung, so einen Theatertraum in die reale Welt hinüberzuschiffen. In der Hoffnung, dass vom Traum etwas übrig bleibt. Wenn sich also ein Bild in die Musik schiebt, und das streben wir ja an, kann ich mit der eigenen Musik sofort reagieren, sie öffnen, sie verändern. Das ist eben der grosse Vorteil der Doppelfunktion als Komponist und Regisseur. VH: Viele Regisseure würden vielleicht eher sagen: Ich muss die Szene verdichten! Du sagst: Ich lege die Komposition hin, aber jetzt geht es um Momente von Entdichtung? RH: Die Komposition geht ja auf der Probe weiter. Ich überprüfe in meinen Theaterarbeiten sehr genau, wie 33


lange ich aufmerksam zuhören kann. Man hält echtes Zuhören gar nicht so lange aus. Das kann ich im Theater arrangieren, ich kann das Zuhören arrangieren! Bei meinen ersten Arbeiten zusammen mit Christoph Marthaler hier am Schauspielhaus haben wir jeweils tolle Musik erfunden, auf die wir heute noch stolz sind. Das Traurige war aber, dass diese Musik in der Panik vor der Premiere oft im letzten Moment rausgeschmissen wurde. Das war mitunter ein Grund, sich eine eigene Welt zu suchen. VH: Was passiert in deinem nächsten Stück, was über die Musik hinausgeht? RH: Wir nennen unseren Bühnenraum eine Spielwiese. Das ist der Ort der sogenannten „Werkstatt-Welt“, wo Dinge erforscht werden, die in der „Werktags-Welt“, der alltäglichen Berufswelt, noch gar keinen Wert finden, für das Leben insgesamt aber ganz wichtig werden können.

trierte Sein mündet schliesslich auch in eine Verneigung vor dem Theater selbst, in den eigentlichen „Salon des Gelingens“. VH: Wie steht es mit dem Humor in deiner Welt? RH: Der Humor ist der Heilige Geist, das ist klar. Eine Welt ohne Humor kann ich mir nicht vorstellen. Der wird bei uns an allen Ecken und Kanten durchschimmern. Auch in der Musik selbst schimmert diese Art von Denken durch. Obwohl die Musik für keine Witze herhalten muss. Aber das ist ja sowieso klar, Humor ist etwas Grosses, Umfassendes und ein Witzchen ist eben ein Witzchen.

VH: Das Spielen als Arbeit? RH: Das Staunen über etwas, das man selbst anrichtet. VH: Womit macht man auf deiner Spielwiese Erfindungen? Die MusikerInnen haben ihre Instrumente, aber was haben die SchauspielerInnen, womit spielen sie? RH: Neben den MusikerInnen sind sieben SpielerInnen auf der Bühne. Sie schaffen mit ihren scheinbar wertlosen Arbeiten Bilder zur Musik. Sie schaffen mit ihrer Fantasie, ihrer kindlichen Konzentration weiterführende Räume. Sie interessieren sich für flüchtige Welten: Schall, Wasser, in seinen verschiedenen Erscheinungsformen. Das Bühnenfeuer interessiert sie. Sie experimentieren mit Licht- und Schattenwelten. Dann spielen aber auch die Wunder der Hebelwelten eine wichtige Rolle. Sie lieben den feinen Humor, sie tüfteln an den Möglichkeiten der theatralischen Ablenkung, des unbemerkten Verschwindens. Sie haben einiges zu erzählen und sind auch immer besorgt, dass die Musik zügig weitergeht. Dabei gibt es wenig Sensationen. Es wird schon mal laut und das Grobe, besser gesagt das Feingrobe, gehört natürlich auch dazu. Sie bewegen sich in ihrer eigenen Welt, den wertvollen Randgebieten. Es ist eine Art Pflege der Selbstaufmerksamkeit. Mit Überwältigungsattacken können sie nicht viel anfangen. Es gilt, jene Kräfte zu pflegen, zu päppeln, wo der gradlinige Verstand versagt. Was wir hier entwickeln, hat etwas mit den Urtheaterbildern zu tun. Es hat etwas zu tun mit einer Illusion, mit einer Welt, die zwar nur ein Abbild ist, nur eine Idee, es ist aber diejenige Art von Illusion, von der ich gern verführt werde. Ich weiss, dass ich von ihr getäuscht werde und geniesse das. Und dieses ungerichtete und konzen34

Henosode Salon des Gelingens von Ruedi Häusermann / Regie Ruedi Häusermann Uraufführung Mit Benedikt Bindewald, Maike Bräutigam, Kathrin Brogli, Klaus Brömmelmeier, Josa Gerhard, Christoph Hampe, Sara Hubrich, Shane Lutomirski, Matthias Neukirch, Oliver Truffer, Herwig Ursin Premiere 29. Januar, Schiffbau/Box Unterstützt von der Stiftung Corymbo

Inszenierungseinblick 8. Januar, 19:00–20:30, Treffpunkt Schiffbau/Foyer Theater im Gespräch zu „Henosode“ & „Versetzung“ 22. Februar, 19:00–20:30, Treffpunkt Schiffbau/Foyer


Thema: Träum weiter philosophiefestival.ch

Die Philosophin Catherine Newmark und der «Frankenstein»-Dramaturg Andreas Karlaganis im nächtlichen Gespräch über Fleisch gewordene Machbarkeitsfantasien und albtraumhaften Kontrollverlust.

Journal Schauspielhaus 215x143mm #Final.indd 1

KOSMOS Kulturhaus 17. – 19. Januar 2019

Lehrstuhl «Frankenstein» Das Schauspielhaus zu Gast am Zürcher Philosophie Festival Samstag, 19. Januar 2019, 22 Uhr

26.11.18 16:56

22.02.–16.06.2019

MIRIAM CAHN ICH ALS MENSCH

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„Szenisches Sammeln in Räumen, Körpern, Köpfen …“ Spielclubs mit SeniorInnen und Jugendlichen

Corina Liechti und Isabelle Zinsmaier initiierten 2017 den ersten Spielclub für SeniorInnen am Jungen Schauspielhaus. Ausgehend von der Inszenierung „Die Verwandlung“ entstand aus biografischen Momenten und anderem Recherchematerial eine installative und interaktive Performance mit dem Titel „Prozesse der Verwandlung“. Im Jahr darauf führten die beiden Theaterpädagoginnen ihre Arbeit fort mit dem Mehrgenerationenspielclub „doghearts“. Diesmal setzten sich Teenager und SeniorInnen auf der Grundlage der Inszenierung „Hundeherz“ mit gegenwärtigen und vergangenen Visionen des Menschen der Zukunft auseinander und präsentierten ihre Ergebnisse im Freibad Letzigrund. Hier geben sie Einblick in ihre Arbeit. Wie arbeitet ihr? Was ist der Ausgangspunkt für eure Projekte? Am Anfang unserer Projekte steht eine Vorstellung der konkreten Form der Performance, die wir mit der Gruppe erarbeiten wollen. Die Erfahrungen aus einem Projekt prägen das nächste Projekt und neben den Anregungen der TeilnehmerInnen sind es gerade die „Baustellen“ und Lücken, die sich dabei als produk36

tivste Inspirationsquelle erweisen. 2017 waren Fragmente biografischer Geschichten in einem installativen Setting die rahmende Idee, 2018 lag der Fokus auf Bewegung und Körper. Mit diesem Vorabbild im Kopf – ähnlich einem Bühnenbildmodell – starten wir gemeinsam mit den TeilnehmerInnen in einen Prozess des Sammelns. Wir sammeln möglichst vielfältige Stimmen und Sichtweisen

auf das Thema, eigene Interessenpunkte und Meinungen, spannende szenische Momente, für Bühnenbild und Performance vielversprechende Materialien. Was interessiert euch daran, mit SeniorInnen und Teenagern zusammen Theater zu machen? Jugendliche und SeniorInnen gehören zu Altersgruppen, von denen stark


vorgeprägte Bilder existieren – sei es über bestimmte Eigenschaften, ein Können und Nicht-mehr oder Noch-nicht-Können oder vorherrschende Lebensformen für die jeweilige Gruppe. Theater als repräsentative Kunstform hat das Potenzial, solche Bilder herauszufordern und infrage zu stellen. Wir beschäftigen uns bewusst nicht mit Themen, die den jeweiligen Altersgruppen zugeschrieben werden. Wenn Menschen ab 60 Jahren auf der Bühne wieder und wieder als ExpertInnen für Altern und Tod präsentiert werden und Stücke mit Jugendlichen per se wild und frech sein sollen, kann Theater auch zu einer Verfestigung stereotyper Bilder beitragen. Wir lassen lieber die unterschiedlichen Perspektiven und Erfahrungen der TeilnehmerInnen in die Arbeit einfliessen, die sie aus ihren verschiedenen Lebensstadien und individuellen Positionen mitbringen.

Was ist eine Herausforderung in euren Projekten? Die Begegnung zweier Generationen, die in unserer Gesellschaft jenseits von Verwandtschaftsbeziehungen selten aufeinandertreffen, fordert auch innerhalb der Gruppe Vorannahmen, Gewohnheiten und Perspektiven heraus. Ein Prozess – so unsere Erfahrung – der zu Anstrengung und Reibung, neuen Erfahrungen und sehr viel gemeinsamer Freude führen kann.

Was habt ihr bei eurem neusten Projekt „Soulmates“ vor? Von Januar bis April 2019 spielen Jugendliche und SeniorInnen wieder gemeinsam Theater. Im Mehrgenerationenspielclub „Soulmates“ geht es um Freundschaften. Am Ende des Projekts soll eine installative Performance stehen vor dem Hintergrund der eigenen Biografie, des digitalen Zeitalters und einer Gesellschaft, die für Freundschaft – im Gegensatz zu vielen anderen Beziehungsformen – keine allzu feste Form vorsieht. Abschlusspräsentation 26./27. April, Ort und Zeit siehe Monatsspielplan

Mehr als Zuschauen Eine Auswahl von Angeboten zum Mitmachen, die den Spielplan begleiten. Weitere finden Sie unter den beschriebenen Inszenierungen, gekennzeichnet durch Kontakt und Anmeldung: mehralszuschauen@schauspielhaus.ch

Theaterlabor 15+

Workshops zu Schauspiel, Fotografie, Licht und anderem laden ein zum Experimentieren. Zur Produktion „Ich weiss nicht, was ein Ort ist, ich kenne nur seinen Preis (Manzini-Studien)“ 12. Januar, 13:00–17:00, Treffpunkt Schiffbau/Foyer

Kritik intensiv 16+

Gemeinsam Vorstellungen besuchen und eigene Theaterkritiken verfassen 11. bis 15. Februar, Treffpunkt Schiffbau/Foyer

Werkschau Bert*a

Der interkulturelle Spielclub für junge Erwachsene zeigt zum Abschluss der Saison, was in dieser Spielzeit recherchiert, getextet, entworfen und geprobt wurde. Frühjahr/Sommer, Termine im Monatsspielplan und auf der Internetseite

Club der EntdeckerInnen „Expedition Blickfelder“ 10+ Kinder erkunden Geheimnisse und Besonderheiten des Festivals Blickfelder – Künste für ein junges Publikum. Kick-off 16. Januar, Schiffbau Kurs 27. Februar bis 15. Juni, Schiffbau

Doppelspiel zu „Hamlet“

Workshop für Kinder ab 7 Jahren parallel zum Vorstellungsbesuch ihrer Eltern 3. März, 14:45–17:45, Pfauen/Foyer

Gesamtübersicht unter schauspielhaus.ch/mehralszuschauen „Mehr als Zuschauen“ wird unterstützt von der Max Kohler Stiftung, der Ernst Göhner Stiftung, der Avina Stiftung, der Stiftung Symphasis sowie von den Paten und Komplizen des Jungen Schauspielhauses.

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Ins Theater mit Corinna Mattner Ab dem 27. Februar wird die erfolgreiche Produktion „Sweatshop – Deadly Fashion“, ein Projekt von Sebastian Nübling mit Texten von Güzin Kar, Lucien Haug und unserem Ensemble, wieder im Pfauen zu sehen sein. Die Inszenierung führt hinter die schillernden Catwalks der Modeindustrie. Humorvoll und hintergründig zugleich werden die Zusammenhänge eines globalen Systems hinterfragt, das zwischen Glamour und Ausbeutung oszilliert, mit dem wir tagtäglich hautnah in Berührung kommen. Wir haben der Zürcher Szenografin, Textilkünstlerin, Kuratorin und Modemacherin Corinna Mattner nach einem Vorstellungsbesuch ein paar Fragen gestellt.

Was hatten Sie an dem Abend an? Sind Sie aufgefallen? Ich nehme an, dass ich in meiner Abendgarderobe vielleicht aufgefallen bin, aber in solchen Momenten merke ich das ehrlich gesagt nicht. Ich hatte eine Kreation von mir an. In welcher Stimmung waren Sie, als im Zuschauerraum das Licht ausging? Als das Licht im Zuschauerraum ausging, war ich erwartungsvoll und auch ein wenig euphorisch. Ich habe mich darauf gefreut, was jetzt kommt, und ich fand den ersten Eindruck vom Bühnenbild sehr spannend. Ich fand es eine tolle Lösung, einen Laufsteg nicht nur in ein Bühnenbild, sondern auch in den Zuschauerraum zu integrieren. Auch fand ich spannend, dass in dieser Inszenierung das 38

Foto: Andy Matti

eigentliche Geschehen hinter diesem Laufsteg stattfand und mit virtuosen Videoprojektionen gearbeitet wurde.

über Sweatshops und die Arbeitsbedingungen in Textilfabriken einbringt. Die fand ich sehr stark.

Haben Sie während der Vorstellung gelacht, und wenn ja, worüber? Ja, ich habe immer wieder viel gelacht. Mir fällt zum Beispiel spontan der Running Gag mit dem Gorilla ein. In der Inszenierung gibt es viele Momente, die zum Lachen oder zumindest zum Schmunzeln sind, aber auch viele, bei denen einem das Lachen im Halse stecken bleibt.

In welchem Moment haben Sie zum ersten Mal auf die Uhr geschaut? Ich habe ehrlich gesagt keine Uhr, auf die ich hätte schauen können. Das hätte ich aber auch nicht gemacht, denn ich fand den Abend absolut kurzweilig.

Hat Sie etwas an der Vorstellung berührt? Ich fand das kleine Mädchen sehr berührend, das plötzlich unter dem Bett oder in der Ecke geisterhaft auftaucht und Hintergrundinformationen

Finden Sie, dass die Aufführung etwas mit Ihnen zu tun hat? Wenn ja, was? Die Aufführung hat sehr viel mit mir zu tun. Ich fand das dokumentarische Material sehr ergreifend. Ich bin selbst in der Fashion-Revolution-Szene und dieses Stück schlägt genau in die Wunde der KonsumentInnen und hat den Anspruch, die Menschen in ihrem Konsumverhalten in einer spiele-


rischen Form zu sensibilisieren. Was geht eigentlich damit einher, dass Mode so billig ist und dass man so schnell konsumiert? Ich finde, diese Themen hat die Inszenierung sehr gut bearbeitet. Hatten Sie Lust, das Bühnenbild zu betreten? Ja, auf jeden Fall hatte ich Lust, das Bühnenbild zu betreten. Und ich fand es eine super Idee, dass am Ende das Stück quasi mit den ZuschauerInnen auf der Bühne weitergeht und man sich informieren und mit dem Ensemble austauschen kann. Die Raumkapsel war toll. Wie zufrieden waren Sie mit dem Publikum? Haben Sie sich geärgert oder gefreut? Worüber? Ich war mit dem Publikum zufrieden. Der Pfauen war voll. Ich hatte das Gefühl, dass das Publikum gebannt ist und sich interessiert und zum grössten Teil diese aktuelle Thematik oder die Diskussion noch nicht so genau in ihrer Tiefe kennt.

Haben Sie sich nach der Vorstellung über das Stück unterhalten? Oder haben Sie auf dem Heimweg noch über etwas nachgedacht, das mit der Aufführung zu tun hatte? Ja, ich war anschliessend noch mit den SchauspielerInnen in der Kantine. Der Abend hatte noch einen längeren Nachhall auf dem Nachhauseweg. Welches Stück würden Sie gerne das nächste Mal am Schauspielhaus sehen? Drei Produktionen, die ich unbedingt noch sehen möchte diese Spielzeit, sind die Kleist-Überschreibung „Die Verlobung in St. Domingo“ von Necati Öziri nach Heinrich von Kleist, „Die zweite Frau“ von Nino Haratischwili und vor allem aber „44 Harmonies from Apartment House 1776“ von Christoph Marthaler mit dem Bühnenbild von Anna Viebrock.

Sweatshop – Deadly Fashion von Güzin Kar / Regie Sebastian Nübling Uraufführung Mit Lee-Ann Aerni, Vera Flück, Ann Mayer, Matthias Neukirch, Robin Nidecker, Markus Scheumann, Lukas Stäuble Wiederaufnahme 27. Februar Koproduktion mit dem jungen theater basel und der Kaserne Basel

Backstage-Pass für JugendarbeiterInnen 4. März, 18:00

Corinna Mattner, geboren 1977 in Frankfurt am Main, lebt und arbeitet in Zürich. In ihren Arbeiten fokussiert sie sich besonders auf den Komplex um Konsum, Massenmode und Menschenrechtsverletzungen in der Textilindustrie. Mit Romy Hood hat sie eine Kunstfigur und ein Kunst-Modelabel kreiert, dessen Sortiment aus handgefertigten Einzelstücken und gebrauchten Materialien besteht. Dieses Jahr ist sie zum dritten Mal Teil des Organisationsteams der Fashion Revolution Week

Walk-in Closet KleiderTauschBörse im Pfauen 10. März, Pfauen/Foyer

Zürich, sie plant eine Upvalue -/Upcycling Aktion im Schiffbaufoyer: #no #sweatshop – Eine Performative Installation: Eine utopische Auseinandersetzung mit Mode und dem was bleibt, Materialien und der Wertschätzung von Arbeit, Zeit und Kreativität. 23. bis 26. April, 10:00–18:00

Szene aus Sweatshop – Deadly Fashion, Foto: Toni Suter / T+T Fotografie

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Design: resortstudio.ch

14.2.– 22.4.2019

Glanzlichter der Gottfried Keller-Stiftung

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WWW.landesmuseum.ch


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Byung-Chul Han © S. Fischer Verlag

Zürcher Gespräche Byung-Chul Han und Stefan Zweifel

Der Autor des Bestsellers „Müdigkeitsgesellschaft“ und Philosoph der Stunde zeigt seinen Film „Der Mann, der einbricht“ und diskutiert mit Stefan Zweifel über seine jüngsten Texte, Glenn Gould und Marcel Proust. 15. Januar, Pfauen, Filmvorführung 18:00, Gespräch 20:15

Stefanie Carp © Daniel Sadrowski

„Wie frei ist die Kunst?“

Podiumsdiskussion mit Barbara Frey (Intendantin Schauspielhaus Zürich, Regisseurin), Stefanie Carp (Intendantin Ruhrtriennale, Dramaturgin), Hanno Rauterberg (Redaktor und stellvertretender Ressortleiter im Ressort Feuilleton, DIE ZEIT), Moderation Lukas Bärfuss. Wo liegen die Grenzen des Zeig- und Sagbaren? Darf die Kunst sie überschreiten, um sie zu thematisieren, sie auszuloten? Oder gibt es ein Recht der Betrachterin oder des Betrachters, „unbehelligt“ zu bleiben? Suchen wir in der Kunst nur noch das Reibungslose, nur noch Bestätigung statt schroffes Gegenüber? 21. Februar, Pfauen, 20:00

David Chipperfield und Lukas Bärfuss

Barbara Frey © T+T Fotografie

Hanno Rauterberg zvg

Der fertige Rohbau steht wenige Meter entfernt, wenn Lukas Bärfuss und David Chipperfield im Pfauen über Chipperfields Entwurf für die Erweiterung des Kunsthauses diskutieren – 2020 wird es fertig sein und eine Marke am Heimplatz setzen. Im Gespräch geht es um das Verhältnis lokaler Auswirkung und internationaler Ausstrahlung von Architektur, das Verhältnis zur beheimateten Kunst und Konsequenzen für das bauliche Umfeld im Herzen einer Stadt. 19. März, Pfauen, 20:00

Ulrike Guérot und Lukas Bärfuss

David Chipperfield © Ingrid von Kruse

Ulrike Guérots Idee einer europäischen Demokratie fordert das Denkmodell Europa heraus: Wo längst ein Binnenmarkt und eine gemeinsame Währung eingeführt sind, fehlt eine europäische Rechtsprechung. Ihre kontroverse Vision, die zuletzt beim „European Balcony Project“ an verschiedenen Orten in ganz Europa ausgerufen wurde, diskutiert Ulrike Guérot mit Lukas Bärfuss. 14. Mai, Pfauen, 20:30 Ulrike Guérot © Dominik Butzmann

Pop-up-Magazin

Die experimentelle Liveshow mit Lukas Bärfuss, Miriam Meckel, Léa Steinacker und Gästen geht in die zweite Runde: AutorInnen und JournalistInnen bringen an diesem vielfältigen Abend Geschichten, Reportagen, Fragen und Anekdoten auf die Bühne. Thema sind die vielfältig zersplitterten Realitäten, die digital wie analog von Phänomenen wie Fake News und Deep Fake erschüttert, zugleich aber psychisch wie physisch unendlich erweitert werden. 22. Mai, Pfauen, 20:00

Léa Steinacker © Frank Beer

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Apropos …

Jeder kann schreiben! In der dreiteiligen „Apropos“-Reihe des Jungen Schauspielhauses kommen von Kindern und Jugendlichen geschriebene Texte an verschiedenen Orten in Zürich zur Aufführung. Die Texte bieten Ausgangspunkte für Tanz- und Theaterproduktionen. Wir haben die Roman- und TheaterautorInnen Jörg Menke-Peitzmeyer, Lorenz Langenegger, die Lyrikerin und Prosaautorin Lea Gottheil sowie den Spoken-Word-Künstler Jurczok 1001 nach den Gründen gefragt, warum sie regelmässig den Kontakt mit Heranwachsenden suchen. Die enge Zusammenarbeit mit dem „JULL – Junges Literaturlabor Zürich“ ermöglicht es, dass professionelle AutorInnen als Schreibcoaches Primaroder Sekundarschulklassen begleiten.

Failure is cool

Mindestens einmal im Jahr verschreibe ich mich, im wahrsten Sinne des Wortes, der Zusammenarbeit mit Menschen, die oftmals deutlich jünger sind und weniger Erfahrungen mit dem Schreiben haben als ich. Dabei geht es mir nicht darum, dass meine jungen KollegInnen „gute“ Texte schreiben, sondern, dass sie überhaupt schreiben. Und dass sie auch dann weiterschreiben, wenn jemand in ihnen oder da draussen sagt: „Ach, das ist doch Quatsch.“ In dem Heft, in dem ich meine Schreibübungen im Laufe der Jahre gesammelt habe, bewahre ich eine Postkarte auf. Darauf sieht man einen Jungen in einem weissen T-Shirt mit der Aufschrift „Failure is cool“. Die platziere ich als allererstes so im Raum, dass sie jeder sehen kann. Damit alle gleich wissen, wo’s langgeht. Nicht in das Gefängnis der Perfektion, sondern in die Freiheit des Scheiterns. Jörg Menke-Peitzmeyer

Ich war stolz auf den Akt der Verweigerung

Anstelle der drei Seiten lieferte ich acht Zeilen ab. Wenn ich mich richtig erinnere, hatte ich das Freithema gewählt, Warten, und in den acht Zeilen das Warten variiert. In den ersten Zeilen vielleicht das Warten auf den Einfall oder ein ganz konkretes Warten: auf den Bus, auf das Ende der Physikstunde, auf eine Antwort. In der zweiten Strophe – es waren zweimal vier Zeilen – wechselte ich dann den Ton und vollzog eine wohl etwas abrupte Hinwendung zu den grossen Fragen des Lebens, zu einem abstrakteren Warten. Es könnte gut sein, dass die letzte Zeile mit „wir warten ein Leben lang“ endete. Ich war stolz, zum einen auf das Gedicht, mehr noch aber auf den Akt der Verweigerung, einen Aufsatz zu schreiben – und, wenn man so will, auf die künstlerische Umsetzung dieser Verweigerung. Die Reaktion des Deutschlehrers: Ich wurde für meine „Kühnheit“ belohnt. Ich durfte das Gedicht vorlesen, erntete Applaus. Es wurde nicht benotet, da es sich um „Kunst“ handelte. Als Schreibcoach versuche ich heute, die Jugendlichen in „Erzählsituationen“ zu locken, die neue Formen mit sich bringen. Weg vom Schulischen. Oft hilft ein Wechsel ins mündliche Erzählen. Und schon gibt es etwas zu erzählen. Jurczok 1001 42


Die Leere des Blattes überwinden

Ich habe als Jugendliche nur überlebt, weil ich geschrieben habe. Da liegt es nahe, diese Erfahrung auch verschenken zu wollen. Nun darf ich Kinder dazu verlocken, zu erfinden. Schreibend entdecken sie, dass scheinbar banale Begebenheiten eine Bedeutung haben. Immer wieder passiert es, dass ich jungen Schreibenden gegenübersitze, welche die Leere des Blattes nicht überwinden können. Das ist eine meiner Lieblingssituationen: Mein Gegenüber entspannt sich, spinnt Idee um Idee, Zauberei … schreib es auf! Nichts darf verloren gehen! Die Musik der Texte in einer mir fremden Sprache. Die Kraft der einfachen Sätze, ihr Rhythmus, die Poesie. Weshalb ich immer mit leichten Gedanken das JULL verlasse? Die Blicke verändern sich. Vielleicht haben die jungen Leute in stiller Einsamkeit ihr Herz bereist. Vielleicht sind sie jemandem in der Klasse nähergekommen. Vielleicht haben sie sich einfach nur wohlgefühlt, abseits des Alltags. Lea Gottheil

Wir sind alle Autorinnen und Autoren

Wir sind alle Autorinnen und Autoren. Beim ersten Schulhausroman, den ich mit Jugendlichen geschrieben habe, war das für mich noch eine Selbstverständlichkeit. Weil ich gemerkt habe, dass es für alle anderen nicht selbstverständlich ist, Autorin oder Autor zu sein, habe ich eine Regel daraus gemacht. Es ist die einzige Regel, an die sich die Jugendlichen halten müssen. Wir sind alle Autorinnen und Autoren. Die Freiheit der Kunst ist in Artikel 21 der Verfassung garantiert. Niemand kann uns sagen, was richtig und was falsch ist. Wir sind allmächtig, auch was die Rechtschreibung betrifft. Unser Wort gillt! Natürlich kann die Kritik uns vernichten, uns jegliches Talent absprechen, aber sind das nicht alles Geschmacksurteile, über die sich streiten lässt? Autorinnen und Autoren sind auch Leserinnen und Leser. Wir zeigen uns gegenseitig, was wir geschrieben haben. Zur Freiheit gehört Verantwortung. Und die Verantwortung für seinen Text muss jede Autorin und jeder Autor selbst übernehmen. Lorenz Langenegger

Apropos … „Du bist schuld!“

Apropos … „überecho“ SekundarschülerInnen vom Schulhaus Riedenhalden Schreibcoach Jurczok 1001 Künstlerische Leitung und Choreografie Buz Premiere 30. Januar, Tanzhaus Zürich In Zusammenarbeit mit dem Tanzhaus Zürich

Inszenierungseinblick 17. Januar, 19:00–20:30, Treffpunkt Schiffbau/Foyer Theaterlabor 2. Februar, 13:00–17:00, Treffpunkt Schiffbau/Foyer 6. Februar, 18:30–21:00, Treffpunkt Schiffbau/Foyer Theater im Gespräch zu „Apropos … ‚überecho‘“ & „Totart Tatort“ 21. März, 19:00–20:30, Treffpunkt Schiffbau/Foyer

5.- und 6.-Klässler vom Schulhaus Limmat C und 4.-Klässler vom Schulhaus Fluntern Schreibcoach Jörg Menke-Peitzmeyer Regie Enrico Beeler Premiere 2. März, Schiffbau/Matchbox

Inszenierungseinblick 20. Februar, 19:00–20:30, Treffpunkt Schiffbau/Foyer Theater im Gespräch zu „Apropos … ‚Du bist schuld!‘“ & „Justiz“ 20. Mai, 19:00–20:30, Treffpunkt Schiffbau/Foyer

Apropos … „Urknall“

SekundarschülerInnen vom Schulhaus Kappeli Schreibcoaches Lea Gottheil und Lorenz Langenegger Regie Daniel Kuschewski Premiere im Mai, externer Spielort

Inszenierungseinblick 12. März, 19:00–20:30, Treffpunkt Schiffbau/Foyer

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Schicht mit

Guido Brunner

von Sandra Suter

Die Schlosserei des Schauspielhauses befindet sich im Erdgeschoss des Schiffbaus. Sie ist der Entstehungsort der grossen und vor allem schweren Teile einer Bühne, der Metallbauten, Gerüste, Rahmen, Gitter. Sie halten das Bühnenbild im Innersten zusammen. Seit 38 Jahren arbeitet Guido Brunner in der Schlosserei und leitet die Abteilung seit 24 Jahren – ein Besuch in seiner Werkstatt. Foto: Philip Frowein

7:00

Durch die Montagehalle, wo die Gruselkulisse von „Der satanarchäolügenialkohöllische Wunschpunsch“ gerade unter den Händen der Schreiner Form annimmt, erreicht man die Schlossereiwerkstatt – einen schlauchförmigen hohen Raum, wo zwischen Eisenstangen, Schleif-, Bohr- und Biegemaschinen, Schweissapparaten und zwei an der Decke montierten verschiebbaren Kränen geschweisst, gebohrt und gestanzt wird. Guido Brunner, der schon vor einer halben Stunde eingetroffen ist, um die heutigen Aufgaben vorzubereiten, erwartet seine Mitarbeiter zum Team-Meeting. Ein grosser Stern soll für das Kinderstück an die Kulisse gehängt werden und die Schlosserei baut hierfür eine Aufhängvorrichtung.

7:24

Alle Änderungen, die in einem Bühnenbild gewünscht werden, kommen in der Morgensitzung zur Sprache. Es ist keine Seltenheit, dass im Verlauf der Proben mit den RegisseurInnen und BühnenbildnerInnen neue Ideen entstehen oder alte verworfen werden. Gerade bei den Kinderstücken müssen Kulissen, Bäume, Äste und Ähnliches häufig von den Schlossern mit Metall verstärkt werden. Im Fall der riesigen Gorillahand aus Styropor für die Produktion „Ich weiss nicht, was ein Ort ist, ich kenne nur seinen Preis“ musste die Schlosserei eine von der Konstrukteurin Maya Harrison entworfene Metall-Tragkonstruktion bauen.

8:07

Nach der Besprechung nehmen Guidos Mitarbeiter die Werkstatt in Betrieb. Ich setze mich mit ihm an den Computer, an dem er die Arbeit nach den Plänen der Konstrukteure und Konstrukteurinnen vorbereitet. Guido zeigt mir den Bauplan für das Bühnenbild des Kinderstücks „Der satanarchäolügenialkohöllische Wunschpunsch“. Auf der Rückseite eines überdimen-

sionierten Cheminées hinten im Bühnenbild befindet sich ein Wagen aus Eisen, von dem aus während der Vorstellung über Gummizüge, Schnüre und eine Eisenstangenkonstruktion zwei Skeletthände bewegt werden sollen.

9:24

Konstrukteur Paul Baer erscheint im Werkstattbüro. Guido bespricht mit ihm den Entwurf des Bühnenbildes für das Stück „Totart Tatort“ von Herbert Fritsch. Es handelt sich um einen dunkelblauen rechteckigen Tunnel, der sich nach vorne zum Publikum hin ausweitet. „Paul hat hinter den Wänden wieder ganz viel Eisen eingezeichnet“, lacht Guido, der sich immer die Frage stellen muss: Wie mache ich das, damit es finanziell und zeitlich möglichst unaufwendig wird?

10:36

Guido erklärt mir den Ablauf beim Bau eines Bühnenbildes: Erst gibt es eine „Bauprobenvorbesprechung“ mit dem Technischen Leiter, dem Bühnenmeister, dem oder der BühnenbildnerIn und den KonstrukteurInnen. Dann findet eine Bauprobe statt, bei der ein Bühnenbild aus stoffbespannten Lattenrahmen zum ersten Mal in den richtigen Ausmassen auf der Bühne aufgebaut wird. Gewisse Fragen tauchen erst auf, wenn die Verhältnisse eins zu eins sichtbar werden. Auf der Grundlage der Bauprobenbesprechung werden die Pläne angepasst und fertiggestellt bis zur Planabgabe durch die BühnenbildnerInnen. Nachdem alle Teile eines Bühnenbildes fertig konstruiert sind, steht der nächste Termin an: die Technische Voreinrichtung – hier werden die Stahl- und Holzbauten in der Montagehalle im Schiffbau aufgebaut. Danach werden sie wieder demontiert und in den Pfauen befördert, wo das Bühnenbild 14 Tage vor der ­Premiere zur TE, zur Technischen Einrichtung, von 45


der Bühnentechnik wieder zusammengebaut wird. Dies ist ein wichtiger Moment für die Produktion – denn nun wird für die Endproben zum ersten Mal das fertige, originale Bühnenbild auf die Bühne gestellt. Mit der TE geben Guido und die anderen Techniker­ Innen das Bühnenbild sozusagen aus der Hand, die ­Bühnenproben beginnen.

12:00

Beim Mittagessen in der Schiffbaukantine erzählt mir Guido, dass er gelernter Metallbauschlosser ist. Als er sich 1980 am Schauspielhaus für eine ausgeschriebene Stelle bewarb, dachte er erst, es ginge um Unterhaltsarbeiten für die Räumlichkeiten, und staunte nicht schlecht, als er herausfand, wo er da hineingeraten war! Als Christoph Marthaler die Theaterleitung übernahm, waren die Schlosser die ersten, die im Februar 2000 in den Schiffbau zogen.

13:05

Zurück im Büro klopft der Konstrukteur Siegfried Fuchs an die Tür. Guido bespricht mit ihm die Statik des Bühnenbildes für das Stück „Frankenstein“. Im Moment kann die Mitte des Plafonds ein Gewicht von etwa 600 Kilo tragen. Doch der Plafond selbst ist schon 600 Kilo schwer und es müssen darauf noch

zwei Personen herumgehen können. Siggi wird die Konstruktion etwas stabiler machen. Für Guido ist die genaue Absprache mit seinen Mitarbeitern und den anderen Abteilungen sehr wichtig. Viele Dinge werden im Teamwork mit den KonstrukteurInnen entwickelt.

15:07

Es ist kurz vor Feierabend in den Werkstätten. Ich frage Guido nach dem Unterschied zwischen der Schauspielhaus-Schlosserei und einer regulären Schlosserei. Er erklärt, dass die Abteilungen am Haus zu einem grossen Teil auch Dienstleistungsbetriebe sind und nicht wie sonst üblich nur Produktionsbetriebe. „Wir sind wie ein Laden, wo man etwas bestellen kann.“ Die Schlosserei ist für alles zuständig, was aus Eisen besteht, also meist die Bühnenunterkonstruktion, die Wagen, Podeste, Geländer, Dinge, die für das Publikum oft gar nicht sichtbar sind. Die NZZ schrieb zur Eröffnungspremiere von „Hamlet“: „Ort des Geschehens ist, man reibt sich die Augen, die nackte Pfauen-Bühne.“ Guido lacht: „Dabei war das eine riesige Konstruktion mit viel Holz, Stahl, Stoff, Wagen, Rollen, Aufbauten, Geländer, Treppen, gefakten Galerien! Aber es ist eigentlich ein Kompliment: Von hinten sieht man das alles, für die ZuschauerInnen aber muss die Bühne so beschaffen sein, dass sie die Handlung in den Vordergrund rückt.“

Unser Tipp: Gastspiel aus Sibirien

Foto: Victor Dmitriev

. 7. / 8z Mär 2019

Drei Schwestern von Anton Tschechow / Regie Timofej Kuljabin Produktion des Teatr Krasnyi Fackel, Nowosibirsk Mit Linda Achmetsjanowa, Sergej Bogomolow, Elena Drinewskaja, Denis Frank, Darja Jemeljanowa, Claudia Kachussowa, Irina Kriwonos, Alexej Meschow, Ilja Musyko, Sergej Nowikow, Pawel Poljakow, Konstantin Telegin, Andrej Tschernych, Anton Woynalowitsch

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„Nach Moskau, nach Moskau!“ – Die drei Schwestern Olga, Mascha und Irina leben in der russischen Provinz. Ihre Heimatstadt Moskau liegt weit entfernt und mit ihr die glücklichen Jugendjahre. Die Zeit vergeht. Was bleibt, ist das Traumbild von einem anderen, besseren Leben in der verheissungsvollen Grossstadt und der Wunsch nach Ausbruch aus der Enge der Provinz. Timofej Kuljabin zählt zu einer neuen Generation russischer Theatermacher. In dieser Spielzeit stellt er sich dem Zürcher Publikum mit einer radikalen Neuinterpretation von Henrik Ibsens „Nora oder Ein Puppenhaus“ vor. Die Figuren Tschechows bleiben in dieser Inszenierung von „Drei Schwestern“ still, denn Kuljabin inszeniert den weltbekannten Theaterklassiker in russischer Gebärdensprache. Mit diesem Zugriff kreiert er einen völlig neuen Einblick in den TschechowText. Die Verzweiflung der Schwestern, so weit von Moskau entfernt zu sein, spiegelt sich in der Stille auf der Bühne wieder. Das vermeintliche Schweigen durch die Verwendung der Gebärdensprache stellt die dramatische Strahlkraft des viel gesprochenen und gezeigten Stücks wieder her. Kuljabin gewann bereits mehrere internationale Theaterpreise und war 2016 erfolgreich mit den „Drei Schwestern“ bei den Wiener Festwochen zu sehen.


Ein Film von Jeshua Dreyfus Dimitri Stapfer Katja Kolm Sibylle Canonica Miriam Joya Strübel Dani Levy

ab 14. März im Kino 47


Liebespaar mit Katze, 1917, Kunsthaus Zürich, 1933 (DETAIL), © Fondation Oskar Kokoschka / 2018, ProLitteris, Zürich

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KUNSTHAUS.CH


Fluchtpunkt Schweiz Exilliteratur in der Kammer Mary Shelley, Else Lasker-Schüler, Wolfgang Langhoff, die Familie Mann, die Schauspielerin Therese Giehse – sie alle kamen aus verschiedenen Richtungen in die Schweiz. Nachdem das Schauspielhaus aktuelle Perspektiven von Flucht und Migration in seinen Produktionen behandelt, präsentiert die Literaturreihe „Fluchtpunkt Schweiz“ einen Einblick in das Schaffen historischer ExilkünstlerInnen an einem für die Exilgeschichte der Schweiz bedeutenden Ort: dem Pfauen. Drei renommierte Zürcher ­L iteraturexpertinnen – Elisabeth Bronfen, Eveline Hasler und Ursula Amrein – zeigen, wie jener Raum der ungleichen Begegnungen von den KünstlerInnen begangen wurde. Inwiefern wichen ihre Fluchtpunkte von einer oft idealisierten Perspektive des Arbeitens und Schreibens im Exil ab? Die szenischen Lesungen werden von SchauspielerInnen des Zürcher Schauspielensembles mitgestaltet. Unterstützt von Glen Fahrn im Oberdorf

Das „Zürcher Exilensemble“ mit Therese Giehse als Mutter Courage und ­Wolfgang Langhoff als Eilif (Uraufführung 1941) Foto: Stadtarchiv Zürich / Bestand Schauspielhaus Zürich

27. Januar – Elisabeth Bronfen In dieser Ausgabe von „Fluchtpunkt Schweiz“ führt uns die renommierte Literaturwissenschaftlerin Elisabeth Bronfen in die Welt der Schriftstellerin Mary Shelley (1797–1851). Elisabeth Bronfen spürt gemeinsam mit der Schauspielerin Susanne-Marie Wrage Mary Shelleys Exilerfahrungen und ihrem Bild der Schweiz nach, wo sie im Sommer 1816 den „Frankenstein“, einen der bedeutendsten Schauerromane der Weltliteratur, geschrieben hat. Im Januar inszeniert Stefan Pucher Dietmar Daths Neubearbeitung des Romans auf der Pfauenbühne.

6. Februar – Eveline Hasler Die Autorin Eveline Hasler stellt das Wirken des Schauspielers, Regisseurs und Autors Wolfgang Langhoff (1901– 1966) am Schauspielhaus Zürich vor. Langhoff wurde 1934 aus einem deutschen KZ entlassen und floh mithilfe des damaligen Intendanten des Zürcher Schauspielhauses, Ferdinand Rieser, in die Schweiz. Die szenische Lesung zeichnet ein Bild von einem Künstlerleben in den stürmischen 1930er-Jahren am Schauspielhaus Zürich nach.

27. März – Ursula Amrein Die Germanistin Ursula Amrein erinnert an die Zürcher Exiljahre der Familie Mann in den 1930er-Jahren. Deren Schaffen war eng mit dem Schauspielhaus und der Ensemblespielerin Therese Giehse (1898–1975) verknüpft. 49


A

B

D

E

G

H Fotos: Raphael Hadad, Toni Suter / T+T Fotografie, Tanja Dorendorf / T+T Fotografie, Matthias Horn

A Nachspielzeit

Szenen aus dem

Repertoire 50

von Jan Sobrie Regie Jan Sobrie

B Wahlverwandtschaften nach dem Roman von Johann Wolfgang von Goethe Regie Felicitas Brucker


C

F

I C

E

G

I

Endstation Sehnsucht

Ausschliesslich Inländer

Der satanarchäolügenialkohöllische Wunschpunsch

Hamlet

von Tennessee Williams Regie Bastian Kraft

D Sweatshop – Deadly Fashion Ein Projekt mit Texten von Güzin Kar, Lucien Haug & Ensemble Regie Sebastian Nübling

Ein Georg-Kreisler-Abend von Nikolaus Habjan und Franui Regie Nikolaus Habjan

von Michael Ende Regie Christina Rast

F

H

Die Physiker

Yvonne, die Burgunderprinzessin

von Friedrich Dürrenmatt Regie Herbert Fritsch

von William Shakespeare Regie Barbara Frey

von Witold Gombrowicz Regie Barbara Frey

D

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Theatermontag ist eine Zusammenarbeit von

Besuchen Sie alle BĂźhnen des Schauspielhauses zum halben Preis. www.schauspielhaus.ch 52


Von virtuellen Welten und dem schieren Offline-Sein

von Christian Ritter und Karolin Trachte

Selbstlernende Algorithmen, LED-Drohnen, die in Schwärmen eine komplexe Choreografie fliegen, virtuelle Räume, die wir mithilfe einer VR-Brille betreten – solche Gegenwart gewordenen Technikvisionen sind auch in den Künsten Realität geworden. Können wir zum Theaterschauen bald zu Hause bleiben und nur noch virtuell am Bühnengeschehen teilnehmen? Ein Roboter namens „Sofia“ hat als Darstellerin bereits die Theaterbühne gekapert. Wie kann und soll das Theater digitale Medien verwenden und in welcher Absicht? Ermöglicht die Verbindung von performativer Kunst, Sprache und Technik eine Ästhetik der Kritik – oder ist das Theater der geschützte Ort, an dem wir uns umso rückhaltloser in die Illusion und die Sinnlichkeit der neuen Technik hineinstürzen dürfen? Die DramaturgInnen des Schauspielhauses trafen sich mit Fellows und MitarbeiterInnen des transdisziplinären Forschungsinstituts „Collegium Helveticum“. Diese beschäftigen sich im Rahmen der aktuellen Fellowperiode (2016–2020) mit dem Thema „Digital Societies“. Im Workshop berichteten Theatermacher Alexander Giesche

und Bühnenbildnerin Barbara Ehnes aus ihrer künstle­ rischen Praxis, die Mitglieder des Collegiums fragten aus ihrer Forschung heraus zurück. Die an dem Anlass diskutierten Beispiele zeigten, dass Kunst und Technik auf der Ebene der Herstellung von Räumen und Settings längst ineinandergreifen, aber auch als „Akteure“ in den Inszenierungen immer wichtiger werden. Ehnes entwirft ihre Bühnenbilder mithilfe von 3-D-Modelling oder benutzt im Prozess des künstlerischen Entwerfens Software wie Googles „Deep Dream“. Aber was geschieht, wenn die Algorithmen immer komplexer werden? Werden sie irgendwann ein wirkliches Gegenüber in einem künstlerischen Prozess – der Algorithmus als Bühnenpartner? Wo die Digitalisierung für die ZuschauerInnen sichtbarer Bestandteil oder – wie bei Alexander Giesche – Thema einer künstlerischen Arbeit ist, ermöglicht die Kunst zugleich sinnliche Begegnung, Kritik und Reflexion. Diese Art von „affirmativer Sabotage“ ist eine Gratwanderung und eine Herausforderung, auf die sich die Künste einlassen sollen. collegium.ethz.ch

Ausschnitt aus der Arbeit „field” von Rainer Kohlberger. Die App interpretiert und übersetzt den Input der Smartphone-Kamera (Helligkeit, Sättigung und Farbe) in audiovisuelle Werke.

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Theater Campus Festival 6. – 15. März

Ab hinter die Kulissen! Theater Campus zwischen Uni und Theater Seit September 2018 sind die beiden Studentinnen Jana Bersorger und Kati Stark das neue Theater-Campus-Team. Sie führen das Netzwerk von Studierenden für Studierende am Schauspielhaus Zürich weiter und haben es sich zur Aufgabe gemacht, einen kreativen Freiraum zu schaffen und Zürichs jungen, theaterbegeisterten Menschen eine Plattform zu bieten, um die Vielseitigkeit des Schauspielhauses zu entdecken. „Als ich zum ersten Mal durch die Werkstätten im Schiffbau geführt wurde, fühlte ich mich wie in einer Traumfabrik. BühnenbildnerInnen und RegisseurInnen kommen mit einer Idee, ganz egal ob ‚Wand aus Eis‘ oder ‚überdimensionales Kissen‘ – und aus dieser Idee wird im Laufe der Zeit Wirklichkeit“, erinnert sich Kati Stark. Und Jana ergänzt: „Als Germanistikstudentin reizt mich am Theater die Unmittelbarkeit des gesprochenen Worts und die Vielfalt an Möglichkeiten, Geschichten zu erzählen. Theater bietet einen Freiraum, der von der Gesellschaft inspiriert wird und umgekehrt auch den gesellschaftlichen Diskurs inspirieren kann.“ Nicht nur auf der Bühne, in jeder der 29 Abteilungen des Hauses wird Tag für Tag an Ideen gefeilt, bis am Ende ein Gesamtkunstwerk entsteht. Die meisten BesucherInnen bekommen nur das Endprodukt, die Inszenierung, zu sehen, dabei ist der Entstehungsprozess mindestens genauso spannend. Theater Campus ermöglicht Studierenden Einblicke in die Theaterarbeit vor und hinter den Kulissen des Schauspielhauses oder sie treffen einfach 54

mal SchauspielerInnen und andere theaterinteressierte Studierende nach der Vorstellung in der Theaterkantine zum Gespräch. Jährliches Highlight ist das „Theater Campus Festival“, die Studierendentage am Schauspielhaus. In der vergangenen Saison gab es rund um das Festivalzentrum Workshops zu Regie, Schauspiel, Dramaturgie und Führungen mit TheatermitarbeiterInnen. Ob an der Uni oder im Schauspielhaus: Das Team von Theater Campus freut sich über eine rege Teilnahme und über Fragen und Anregungen!

Infos zu den monatlichen Veranstaltungen, Aktionen für Studierende und dem Festival: auf Facebook, Instagram, auf der Internetseite des Schauspielhauses unter „Theater Campus“ und im monatlichen Theater-Campus-Newsletter Kontakt: theatercampus@schauspielhaus.ch


Ihre

Leidenschaft

Unser

Engagement

Inspiration für alle

Schauspielhaus Zürich und Swiss Re – eine inspirierende Partnerschaft. Spannende Perspektiven, neue Horizonte, innovative Ideen – bewegen uns bei Swiss Re. Die Zusammenarbeit mit Menschen auf der ganzen Welt begeistert uns. Auch in Kunst und Kultur. Unser Engagement öffnet Augen, bewegt Herzen, berührt Seelen. Und sucht den Dialog. So entsteht Neues, so gestalten wir Zukunft. Gemeinsam, denn: Together we’re smarter. swissre.com/sponsoring

Skulptur: © 2015 Danh Vo. Alle Rechte vorbehalten.

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t n i e h c s r E i m A p r il 2019

Schauspielhaus Zßrich 2009 – 2019


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