journal
Schauspielhaus Zürich
Büchner-Preisträgerin Terézia Mora schreibt über den Wahnsinn der Realität
Goethes „Wahlverwandtschaften“ – über eine Zusammenkunft von Philosophie und Biologie
Sep / Okt / Nov / Dez 2018
Handy, Tablet, Computer – unsere polyphone Kommunikation und was Ibsen dazu gesagt hätte 1
Ihre
Leidenschaft
Unser
Engagement
Inspiration für alle
Schauspielhaus Zürich und Swiss Re – eine inspirierende Partnerschaft. Spannende Perspektiven, neue Horizonte, innovative Ideen – bewegen uns bei Swiss Re. Die Zusammenarbeit mit Menschen auf der ganzen Welt begeistert uns. Auch in Kunst und Kultur. Unser Engagement öffnet Augen, bewegt Herzen, berührt Seelen. Und sucht den Dialog. So entsteht Neues, so gestalten wir Zukunft. Gemeinsam, denn: Together we’re smarter. swissre.com/sponsoring
Skulptur: © 2015 Danh Vo. Alle Rechte vorbehalten.
Luca Schenardi
Inhaltsverzeichnis 05 Editorial 07 Terézia Mora schreibt über den Wahnsinn der Realität und die Macht der Imagination 13 Liebe, Natur, Technik – Der Philosoph Andreas Weber über Goethes „Wahlverwandtschaften“
16 Rezept für ein Glas vom satanarchäolügenialkohöllischen Wunschpunsch 18 Tatort, Hollywood, Pfauen: Der Schauspieler Martin Wuttke im Portrait 20 Interview – Hannes Grassegger über eine „Nora“ im digitalen Zeitalter 24 Mehr als Zuschauen 26 In Szene – Schauspieler Benito Bause 28 Der „Dunkle Hallimasch“ – Christoph Marthaler trifft auf John Cage 30 Ein Gespräch mit Autorin Simone Kucher über die Stimmen der Vergangenheit 32 „Im Wahn wandern“ – Kolumne von Stefan Zweifel 33 Fluchtpunkt Schweiz – Exilliteratur in der Kammer 34 Triff deinen Feind – Meet Your Enemy at the Social Muscle Club 36 Ins Theater mit Alexis Schwarzenbach 39 Gastspiele aus Deutschland und Österreich 40 Lernen jenseits des Klassenzimmers 42 Schicht mit dem Leiter des Foyers Robert Zähringer 45 Brecht für die Zukunft 46 Szenen aus dem Repertoire 49 Zürcher Gespräche 50 Was bewegt Zürich? / Impressum
Zum Leitartikel von Terézia Mora zu unseren ersten Premieren „Lenz“, „Hamlet“ und „Endstation Sehnsucht“ entwirft der Schweizer Künstler und Illustrator Luca Schenardi assoziativ-abgründige Traumszenen. Schenardi setzt sich hier mit dem „Wahnsinn unserer (Alltags-)Welt“ auseinander und hat sich, wie er sagt, bei seiner Arbeit stark vom Schicksal Büchners rastloser Künstlerfigur Lenz inspirieren lassen. Er illustrierte unter anderem für NEON, Das Magazin, Die Zeit, die NZZ oder die WOZ. Zuletzt erschienen: „Meyer spricht von Gratiskaffee“, Edition Patrick Frey, 2017. Seine Illustrationen mit der Technik des Nitroprint erschaffen ein überhöhtes und provokantes Nebeneinander unterschiedlicher gegenwärtiger Bildwelten. lucaschenardi.ch
Mehr als Zuschauen
„Mehr als Zuschauen“ begleitet den Spielplan des Schauspielhauses mit zahlreichen Mitmachformaten für jede Altersgruppe. Die Angebote finden Sie hier im Journal gekennzeichnet mit diesem Hinweis bei den jeweiligen Artikeln und auf den Seiten 24–25. Ausführliche Informationen unter schauspielhaus.ch/mehralszuschauen
3
Theatermontag ist eine Zusammenarbeit von
Besuchen Sie alle BĂźhnen des Schauspielhauses zum halben Preis. www.schauspielhaus.ch 4
Editorial
Eingefrorene Gegenwart von Barbara Frey
In den letzten Wochen ging ein Bild um die Welt, auf dem ein grüner Lastwagen auf einer Brücke zu sehen ist. Die Brücke war unmittelbar vor dem Lastwagen abgebrochen. Auf dem Bild sind keine Menschen zu sehen. Es kursierten auch Fotos, auf denen hinter dem Lastwagen noch andere Automobile stehen. Auch diese Aufnahmen zeigen keine Menschen. Es fällt schwer, genau auseinanderzudividieren, was man auf den Bildern alles wahrnehmen kann, anders gesagt: was wirklich zu sehen ist und was durch Abwesenheit ins Blickfeld rückt. Prägnant ist der unheimliche Stillstand. Ein monumentales Schweigen ist spürbar. Beim Einsturz des Polcevera-Viadukts in Genua kamen über vierzig Menschen ums Leben. Aus den unzähligen Fotos, die nach der Katastrophe veröffentlicht wurden, stach der grüne Lastwagen hervor. Die Aufnahme zeigt einen ungeheuren, schwer fassbaren Moment. Ein Vorher und ein Nachher gleichzeitig, eine radikale, eingefrorene Gegenwart. Der Fahrer des Lasters hatte sein in letzter Sekunde abgebremstes Gefährt fluchtartig verlassen, die Fahrer vor ihm waren in eine Tiefe gestürzt, die auf dem Bild nicht zu sehen ist. Brücken können Meisterwerke der Ingenieurskunst sein. Sie symbolisieren Fortschritt und Standfestigkeit. In der Philosophie und Literatur sind sie metaphorisch präsent – als verbindendes oder trennendes Element, als Wegweiser in unbekannte Gefilde oder in eine ersehnte Heimat. Brücken werden in Kriegszeiten als wichtige Versorgungs- und Verbindungswege oft zuerst zerstört.
Katastrophen können auf menschliches Versagen zurückzuführen sein, auf physikalische Vorgänge, Einflüsse der Natur und so weiter. Die genauen Ursachen zu erforschen erfordert Umsicht, Geduld und höchste Kommunikationsfähigkeit. Die italienische Regierung kümmerte sich weder um eine vertiefte Analyse der Ereigniskette, die zu dem Desaster geführt haben könnte, noch um ein angemessenes Verhalten gegenüber den Opfern und ihren Angehörigen. Stattdessen wurde das Unglück unverzüglich für wohlfeile Schuldzuweisungen benutzt, um die eigene Politikunfähigkeit zu kaschieren. In dem zynischen politischen Durcheinandergebrüll hat das Bild des grünen Lastwagens ein besonderes Schweigen offenbart, dessen Beredtheit ein Innehalten auslöst. Was für eine Realität sehen wir? Und was für einer Realität muss die Politik sich stellen, wenn sie mehr sein will als ein lautstarker Wettbewerb um vermeintliche Wahrheiten, die nur den eigenen kurzfristigen Zielen dienen? Die leeren Fahrzeuge auf dem stehengebliebenen Brückenteil konnten aus Sicherheitsgründen nicht sogleich entfernt werden. Sie standen da noch eine Weile, als stumme blecherne Zeugen eines Desasters, dessen Ursachen eine überforderte Politik womöglich noch lange nicht präzise analysieren wird. Jetzt sind die Autos verschwunden. Die Toten schweigen und das Tauziehen um die Deutungshoheit des Unglücks wird weitergehen.
Der unbemannte Lastwagen am Abgrund des eingerissenen Viadukts ist sowohl Ausdruck unserer Verletzlichkeit als auch Symbol für die Allgegenwart potenzieller Katastrophen in einer durchtechnisierten Welt. Solche 5
6
Der Wahnsinn der Realität und die Macht der Imagination Terézia Mora erhielt soeben für ihre Romane und Erzählungen den Büchner-Preis 2018. Sie widmet sich „Aussenseitern und Heimatlosen, prekären Existenzen und Menschen auf der Suche und trifft damit schmerzlich den Nerv unserer Zeit“, schreibt die Jury. In einem Essay zum Spielzeitauftakt beleuchtet sie drei Figuren der aktuellen Premieren: Hamlet, Lenz und Blanche du Bois aus „Endstation Sehnsucht“ – drei sehr unterschiedliche, allesamt als „wahnsinnig“ in der Literatur berühmt gewordene Existenzen. Sie spürt dem in der Literatur beschriebenen „Sich-selbst-Verrücken“ nach. Einfühlsam und poetisch fragt sie nach dem Potenzial der mannigfaltigen Überlebensstrategien. Den „Wahnsinn“ brauchen wir im Alltag, so wie Hamlet, Lenz und Blanche auf der Bühne, „de facto zum Überleben“, um mit den „unverdaulichen Anteilen der Realität“ zurechtzukommen, sagt sie.
von Terézia Mora
„Blau, rot, gelb, schlierig nachts in Träumen standen mir Bilder vorm Gesicht und ich erfühlte sie als Ordnung. – Im Flug kein Stäubchen ward zunicht. Nun zieht mein Traum als Dämmerlicht durch mich und Ordnung herrscht von Eisen. Ists draussen Tag, drin Sterne gleissen, ists Nacht – in mir der Tag anbricht.“
Der vom ungarischen Dichter Attila József in seinem Gedicht „Besinnung“ beschriebene Zustand der Seele, des Gemüts, des Geistes wird wohl einem jeden Menschen vertraut sein. Die Momente der Absurdität, die nicht willentlich herbeigeführte Verrücktheit, die man in manchen Situationen erfährt. Oder in manchen Zeiten. Häufig an Übergängen, die sich, auch wenn sie tatsächliche Übergänge sind und nicht eine sich für ein Leben festgesetzte permanente Krise, im wahren Leben viel länger hinziehen, als man das
7
später in Geschichtsbüchern nachlesen kann. In den Dimensionen eines Menschenlebens sind 40 Jahre Diktatur nichts wirklich Vorübergehendes. Das Dritte Reich währte nur 12 Jahre, die Auswirkungen werden wir noch 100 Jahre später spüren. Arno Gruen beschrieb in seinem berühmten Langessay „Der Wahnsinn der Normalität“, wie sehr wir Menschen willens und in der Lage sind, etwas als Normalität anzuerkennen, das eigentlich Wahnsinn ist (dass das Dritte Reich pathologische Züge hatte, wird keiner leugnen können). Unsere Neigung, immer wieder soziopathische Kriminelle zu unseren Führern zu machen, setzte er – und andere vom Freudismus beeinflusste Analytiker – mit dem „Todestrieb“ in Beziehung. Tatsächlich scheinen wir 8 Jahre unter einem schlechten Präsidenten besser zu verkraften als unter einem guten. Das Gute zu ertragen, lässt in uns das unangenehme Gefühl entstehen, wir selbst seien nicht gut genug. Aber es gibt natürlich auch noch die anfangs beschriebene umgekehrte Strategie, die ebenso allgemein verbreitet ist: den äusseren Wahnsinn nicht zu internalisieren, sondern zu spiegeln. Wir alle spielen Theater, machen Theater, erscheinen „strange“ (beachte: sowohl merkwürdig als auch fremd), und nicht nur, wenn wir gerade mal wieder der „stranger“ irgendwo sind. Die Strategien, mit den verwirrenden, unverständlichen oder verständlichen, aber unverdaulichen Anteilen der Realität umzugehen, sind mannigfaltig.
Selbstzitat: „Die Frau, die das lange Warten in der Schlange in der Post nicht aushält, von einem Bein aufs andere hüpft und sich heftig an den Unterarmen kratzt und winselt. Der pathologisch Fitte. Der alte Mann im schwarzen Anzug, der in der Einkaufsstrasse mit einem Transparent steht und den Weltuntergang verkündet. (Hättest du wohl gerne, mein Lieber. Hättest du wohl gern. Wenn deine Seele, wenn dein Verstand, dann eben wir alle.) Die Alkoholiker, öffentlich, überall. Drogensüchtige. Die Kettenraucherin, die nicht still sitzen kann. Die Frau, die vor Hindernissen in der Pflasterung komplizierte Schrittfolgen ausführen muss, bevor sie weitergehen kann. Die Leute, die still vor sich hinschimpfen, was immer sie auch tun. M, der am Montag einer ist, am Dienstag ein anderer, am Mittwoch ein dritter, am Donnerstag alles verleugnet, was er zuvor behauptet hat, und am Freitag behauptet, dass es den Donnerstag niemals gegeben hat, und DU bist diejenige, die eine Macke hat. Die Schneidemale am Unterarm einer unbekannten jungen Frau. Der Obdachlose, der statt Hosen einen Wandteppich um den Unterleib trägt und amerikanische Lieder singt.“
Ich denke zwar nicht, dass die klinische Schizophrenie eine Antwort auf die Unvereinbarkeit zwischen Welt und Individuum ist (wobei Umweltfaktoren eine Rolle spielen können), aber das, was wir im Alltag als „schizophrenes Verhalten“ beschreiben, durchaus. Die Abspaltung von Teilen seiner Selbst, die der Mensch vornehmen muss, um in einer ihm auf die eine oder andere Weise nicht bekömmlichen Umwelt zu überleben. Denn diese häufig so zerstörerischen Muster beginnen alle als Überlebensstrategie. (In Klammern muss man dazu anmerken: all das gilt in Friedenszeiten. Wenn Krieg herrscht, wenn er hier herrscht, so, dass du ihn sehen kannst, wenn er in deinem sogenannten Wohnzimmer angekommen ist, dann sind noch ganz andere Strategien gefragt.) Die Strategien des Sich-selbst-Verrückens sind für den menschlichen Geist nicht schwer zu entwickeln, da wir sie de facto zum Überleben brauchen,
8
aber sie sind heikel im Umgang, da sie unter ungünstigen Umständen nicht mehr in einem ausreichenden Masse steuerbar sind. Obwohl Hamlet den Irren nur vorspielt, ist für die Psyche das, was vorgespielt wird, tatsächlich da, mal mehr, mal weniger und wenn mehr, dann tötet Hamlet aus Versehen Polonius. Was bei Lenz zunächst noch als eine normal zu nennende Wahrnehmung eines empfindsamen Menschen gelten kann, ein Zustand, den man je nach Zeit Nervenfieber, Neurasthenie („Blanche ist so müde, wie das nur Neurastheniker kennen“, schreibt Tennessee Williams in den Regieanweisungen zu „Endstation Sehnsucht“) oder Hochsensibilität und noch vieles mehr genannt hat, endet in einer handfesten Psychose. Was allerdings Blanche anbelangt, wollen wir nicht ausser Acht lassen, dass ihr Verhalten erst nach einer erneuten Traumatisierung durch Stanley von einer noch als normal gelten könnenden Exaltiertheit und bewusster (und eigentlich harmloser) Täuschung und Selbsttäuschung zu einem klinischen Zustand wird, respektive: von anderen als solcher bestimmt wird. Zeiten zermalmen Menschen. Menschen zermalmen Menschen. Familien zermalmen ihre Mitglieder. (Bei Tennessee Williams kann man nicht umhin, an seine Schwester Rose zu denken, die als Inspiration für Alice in einem anderen berühmten Stück, der „Glasmenagerie“, diente. Rose war emotional instabil und wurde mit Zustimmung der Eltern mit einer Lobotomie „behandelt“. Ein Verfahren, das in nicht nur einem Werk der Zeit Eingang gefunden hat.) Sich in den Wahnsinn zu flüchten, ist auch deswegen eine sehr gefährliche Strategie, weil man mit psychisch und mental Kranken (oder krank Erscheinenden) bis in die jüngste Vergangenheit nicht gerade pfleglich umgegangen ist. (Erinnern wir uns nur daran, dass man bis Maria Montessoris Auftreten sogar dachte, die Kinder psychisch kranker Frauen müssten selbst automatisch psychisch krank sein und seien keine Schulbildung wert.) In der Kunst allerdings werden diese „Wahnsinnigen“ als die Träger einer alternativen Realität hoch gehandelt. Was nicht dasselbe ist wie alternative Fakten. (Die Benutzung dieses Wortes verrät, in der Zeit welchen Wahnsinns ich das hier schreibe. Der Unterschied ist nur ein Wort. Eine ganze Welt.) Die Kunst selbst ist eine alternative Realität, die wir brauchen, um die „Welt da draussen“ zu verstehen oder wenigstens zu ertragen. Die wir brauchen, um die Wahrheit sagen zu können. Siehe Hamlet mit der berühmten „Theater-imTheater“-Szene. Die Sache mit den Kindern, den (Hof-)Narren und der Wahrheit. In der Kunst hat das Scheitern einer Figur an der Lebenswirklichkeit auch dann heroische Züge, wenn die Figur nichts tut oder sagt, das überlebensgross, also heldenhaft wäre. Während im wahren Leben derjenige, der scheitert – und noch mehr der, der willentlich scheitert – kein sehr hohes Ansehen geniesst. Dafür braucht es den Schutzraum der Kunst. Die Kunst ist nicht zu unserem Vergnügen da, auch wenn sie Vergnügen bereitet, sie ist da, weil wir sie brauchen. Nur der Mensch produziert Kunst im eigentlichen Sinne. Die alternativen Erzählungen zeigen selten lebbare Varianten. Stella oder Blanche? Wir wären natürlich lebenstüchtiger als jede der beiden. Lenz untersteht überlebensgrossen Mächten, ihm ist hier auf Erden nicht zu helfen. Und einfach jeder in „Hamlet“ wird den höchstmöglichen Preis zahlen. Die Imaginationen der Figuren sind nicht dazu da, endgültige Lösungen zu erschaffen oder aufzuzeigen, sondern um die Dimensionen ihrer Welt zu erweitern und damit auch die Möglichkeiten (manche sagen auch: Räume) innerhalb des Kunstwerks und ausserhalb. Damit ich mich daran erinnern kann, dass ich ein Mensch bin, und nicht enden muss wie eine Figur. Figuren sind dazu da, geopfert zu werden. Menschen, um ihre Verhältnisse lange genug, eventuell sogar gut und möglichst in Würde zu überleben.
11
Hamlet von William Shakespeare / Regie Barbara Frey Mit Benito Bause, Gottfried Breitfuss, Jan Bülow, lnga Busch, Iñigo Giner Miranda, Claudius Körber, Markus Scheumann, Edmund Telgenkämper Premiere 13. September, Pfauen Unterstützt von Swiss Re
Lenz Foto: Peter von Felbert
nach der Erzählung von Georg Büchner / Regie Werner Düggelin Mit Jan Bluthardt, André Jung, Jirka Zett Premiere 15. September, Schiffbau/Box Unterstützt von der LUMA Foundation
Terézia Mora schreibt Romane, Erzählungen, Essays,
Endstation Sehnsucht
Hörspiele und Theaterstücke. Bis sie nach der Wende zum
von Tennessee Williams / Regie Bastian Kraft
Studium der Theaterwissenschaft und Hungarologie nach Familie lebt, wuchs sie zweisprachig (Deutsch und Unga-
Mit Klaus Brömmelmeier, Henrike Johanna Jörissen, Miriam Maertens, Severin Mauchle, Michael Neuenschwander, Nicolas Rosat, Lena Schwarz u. a.
risch) in Ungarn auf. In Ungarn regiert seit 8 Jahren Viktor
Premiere 20. Oktober, Pfauen
Orban, dem immer wieder die systematische Einschränkung
Unterstützt von der Zürcher Kantonalbank
Berlin zog, wo sie bis heute als freie Autorin mit ihrer
der Menschenrechte, aber auch der Freiheit der Künste vorgeworfen wird. Bereits 1999 erhielt Mora den IngeborgBachmann-Preis für ihre Erzählung „Ophelia“, in ihrem
Zu „Hamlet“:
ersten Erzählband „Seltsame Materie“. 2013/14 hielt sie
Theater im Gespräch zu „Hamlet“ & „King A“ 25. September, 19:00–20:30, Treffpunkt Schiffbau/Foyer
die Poetik-Dozentur der Goethe-Universität Frankfurt am Main und wurde u. a. mit dem Deutschen Buchpreis und 2018 mit dem Georg-Büchner-Preis ausgezeichnet. Zuletzt erschien ihr Erzählband „Die Liebe unter Aliens“ im Luchterhand Literaturverlag.
Backstage-Pass für VeranstalterInnen englischsprachiger Freizeitangebote in Zürich, 26. September, 18:00 Theaterlabor 29. September, 13:00–17:00 Treffpunkt Schiffbau/Foyer Zu „Endstation Sehnsucht“: Inszenierungseinblick 11. Oktober, 19:00–20:30 Treffpunkt Schiffbau/Foyer Theaterlabor 27. Oktober, 13:00–17:00, Treffpunkt Schiffbau/Foyer Theater im Gespräch zu „Endstation Sehnsucht“ & „Lenz“ 29. Oktober, 19:00–20:30, Treffpunkt Schiffbau/Foyer Backstage-Pass für niedergelassene PsychotherapeutInnen und PsychiaterInnen, Termin im Monatsspielplan November Zu „Lenz“: Einführung Spezial mit Literaturwissenschaftler und Schriftsteller Peter von Matt, 19. September, 19:30, Schiffbau/Matchbox Theater im Gespräch zu „Lenz“ & „Endstation Sehnsucht“ 29. Oktober, 19:00–20:30, Treffpunkt Schiffbau/Foyer
12
Wir müssen fühlen Der Philosoph und Biologe Andreas Weber erzählt, warum er Goethes Denken über den menschlichen Umgang mit Liebe, Natur und Technik noch immer für radikal modern hält. Die Regisseurin Felicitas Brucker inszeniert bereits zum zweiten Mal einen ihrer Lieblingstexte – Goethes „Wahlverwandtschaften“.
Goethes Roman „Die Wahlverwandtschaften“ steckt voller metaphorischer Bezüge zur Natur beziehungweise ihrer nutzbringenden Gestaltung. Goethe sah sich als Teil der organischen Natur, war aber auch fasziniert von technischen Grossprojekten seiner Zeit – wie zum Beispiel dem Sueskanal. Wie kommen wir heute zu einem Naturbegriff, der die technischen Entwicklungen nicht ignoriert und gleichzeitig nicht für eine massive Entfremdung sorgt? Wie viel Natur ist noch in der Natur? Wie natürlich ist man selbst darin? Goethe hat für die Antworten auf diese Fragen den Weg gewiesen. Selbst heute tun wir uns noch schwer mit seinem Standpunkt, obwohl das beginnende Anthropozän endlich für das passende kulturelle Mindset sorgt. Goethes Haltung bestand darin, die Natur nicht als ein Reich der Gegenstände und zwischen ihnen waltenden reinen Dinggesetzen dem Menschen gegenüberzustellen. Für ihn sind der Mensch und seine kreativen Impulse (also die menschliche Kultur) nicht von der materiellen Wirklichkeit und deren schöpferischen Potenzialen getrennt. Ein fundamentaler kreativer Impuls durchdringt die Realität, ein Sichausdrücken und Sichzeigen. Diese Haltung ist der Grund, warum Goethe als Künstler Lebensforscher war und als Lebensforscher, als Biologe, Dichter blieb (der Roman „Die Wahlverwandschaften“ als chemisches Experiment, die „Urpflanze“ als poetische Manifestation). Wirklichkeit stellt sich immer als individuell sinnliches Phänomen dar, in dem allein das Ganze zum Ausdruck kommt. Der Mensch ist Natur als Materie. Und als Materie ist er Zeuge dafür, dass diese Materie eine innewohnende Schöpferkraft und auch Sensibilität hat. Diese Schöpferkraft als Welt manifestiert sich exemplarisch in der Arbeit des Künstlers Goethe. Sie ist das Modell einer Kultur, die von innerhalb der Wirklichkeit operiert und diese nicht von aussen zu kontrollieren versucht. Die Gestaltung von Leben zwischen den Polen der Kultur und der Technik wird dadurch zu einer künstlerischen Fragestellung. Wie sehr der Mensch und
Die Fragen stellte die Dramaturgin Viola Hasselberg
auch die menschliche Gesellschaft dazu in der Lage sind, dies zu erkennen, was dabei schiefgehen kann und wie sich die Natur angesichts unserer Selbstherrlichkeiten ihre fundamentale Freiheit bewahrt, so zu mischen, dass Fruchtbarkeit das Prinzip bleibt, darüber handeln sowohl „Faust II“ als auch „Die Wahlverwandtschaften“. Goethe selbst hat alle möglichen Formen unkonventioneller Liebesbeziehungen gelebt. In dem biochemischen Experiment seiner „Wahlverwandtschaften“ nehmen die überkreuzten Neigungen und mit ihnen die neuen Paarbeziehungen einen verhängnisvollen Verlauf. Das Ganze ereignet sich als eine Art Katastrophe in Zeitlupe. Ist jeder Versuch, sich eine Ordnung zu gestalten – zum Beispiel auch in Beziehungen – zur Absurdität verurteilt? Ist der Mensch von nichtbewussten Mächten getrieben? Sind wir wirklich frei, zu wählen, frei, zu scheitern? Zu sagen, Goethes Experiment zeige, dass der menschliche Heroismus, seine eigene Ordnung zu gestalten, zum Scheitern verurteilt sei, ist eine Lesart, wie sie für die letzten fünf Jahrzehnte typisch war. Die Freiheit, das eigene Sein zu gestalten, die an der Kälte der Natur scheitert, die Tragik, als Mensch mit seinen Wünschen und Sehnsüchten an einer unbeweglichen und letztlich unverstandenen Natur zugrunde zu gehen, die Idee, dass etwas unrettbar nicht mit uns stimmt, das ist eine zentrale Haltung der Moderne, ja vielleicht der ganzen Neuzeit. Ich glaube, wir würden Goethe hier falsch verstehen. In den „Wahlverwandtschaften“ – was ja ein Begriff der damaligen Chemie ist, mit der die unerklärlich willkürlich scheinende Affinität etwa des Sauerstoffes zum Wasserstoff beschrieben wird (die dann Wasser ergibt) – zeigt Goethe weder das Scheitern heroischer Individualität an einer zu engen Gesellschaft, noch das Zuschandengehen heroischer Humanität an einer zu engen Natur. Er demonstriert, auf wie viele Arten unser Verständnis schöpferischer Gegenseitigkeit zu einem 13
14
Foto: Florian Büttner
Andreas Weber, geboren 1967, ist Philosoph und Biologe. In seinen literarischen Sachbüchern setzt er sich für eine Überwindung der mechanistischen Interpretation von Lebensphänomenen ein – „Lebendigkeit. Eine erotische Ökologie“, 2014 und „Enlivenment. Eine Kultur des Lebens“, 2015
tragischen Verkennen werden kann. Goethe wirft das Problem auf, wie wir Beziehungen gestalten können, aber nicht vor dem Hintergrund der Idee einer Welt als dringend reformbedürftig (Ehesitten, Naturkontrolle), sondern einer Wirklichkeit, die radikal aus sich selbst heraus Beziehungen stiftet, welche wir uns nicht ausgesucht haben. Nicht unbewusste Mächte treiben den Menschen, sondern die Mächte einer Welt der gegenseitigen Verwandlung anhand unvorhersehbarer Affinitäten. Wir können diese nicht ignorieren, ohne aufzuhören, wir selbst zu sein – und wir müssen sie gestalten, wenn wir wir selbst bleiben wollen. Wir sind nur frei, insofern wir uns der ganzen Wirklichkeit in all ihrer Notwendigkeit stellen. Das zu tun, was getan werden muss, aber in vollkommener Ungezwungenheit, ist wie das Werk des werdenden Seins selbst, ganz ein Spiel und ganz das Erscheinen der Schönheit. Alle vier Figuren in den „Wahlverwandtschaften“ scheitern an diesem Anspruch. Der Hauptmann ist zu besitzergreifendkontrolliert. Die beiden Gartenbesitzer Eduard und Charlotte sind nicht radikal genug, er zu ungeduldig, sie zu eifrig. Und Ottilie, die doch das romantische Modell eines Einklangs mit der poetischen Welt repräsentieren konnte – auch sie scheitert, weil sie allein das süssHeimelige, kindlich Emotionale des schöpferischen Lebens sieht und nicht, dass es auch das Prinzip des Werdens aus dem Sterben birgt. Keiner der Helden wählt so, dass er sich in das Notwendige fügt und es zugleich zu einem Akt der Freiheit macht. Ich sage nicht, dass das leicht sei – aber es würde, denkt man Goethe weiter, das einzige Kriterium einer Kultur auf Augenhöhe der selbst organisierenden Wirklichkeit sein. Die Regisseurin Felicitas Brucker interessiert sich für den radikal unterschiedlichen Umgang mit Gefühlen innerhalb der Konstellation von vier Liebenden. Welcher Umgang mit Gefühlen verspricht die meiste Lebendigkeit? Sind wir in der Lage, mit ihnen zu leben oder überfordern beziehungsweise zerstören sie uns? Nicht umsonst ist Goethes Roman eine „education sentimentale à quatre“ und vier verschiedene Spielarten des Fühlens manifestieren sich in den vier Helden. Gefühle sind die Stimme des fruchtbaren Ganzen im Einzelnen. Sie sind die Wuchskräfte des Gartens, die man nicht ignorieren kann, aber gleichwohl falsch zu interpretieren Gefahr läuft. Gefühle, das zeigt Goethe, sind ebenso objektiv wie die Kräfte zwischen den Elementen der Materie (den chemischen Elementen, die einander suchen und finden). Nur ist der Umgang mit ihnen anders als der, den Forscher fälschlich für die Materie
vorgeschlagen haben. Er erfordert nicht kontrollierende Betreuung und auch kein passives Überlassen, sondern eine Identifikation damit, selbst Materie zu sein. Ist das nicht ein radikaler Gedanke Goethes? Das Scheitern der Figuren verweist auf Goethes Skepsis gegenüber dem Phänomen der Romantik, dessen Zeitgenosse er ja war. Die romantische Frage bestand für ihn darin, wie wir auf fruchtbare Weise uns selbst als Welt von innen entwerfen können. Diese ist eigentlich heute noch genauso wenig beantwortet wie zu Goethes Zeiten. Und auch heute müssen wir fühlen, nicht nur konzeptualisieren, um tatsächlich an der Wirklichkeit teilzunehmen. Alle, die sich einmal auch nur ansatzweise an seelischem Leiden gequält haben, wissen, dass Gefühle objektiv sind: Sie sind da wie das Begehren des Sauerstoffs nach dem Wasserstoff. Das Fehlen des Fühlens ist der Beginn der Depression. Ohne Gefühle hören wir auf, unsere eigene Lebendigkeit wahrzunehmen. Sie sind notwendig – aber wie jeder Notwendigkeit muss man ihnen in Freiheit begegnen und nicht als Sklave wie die bemitleidenswerten Helden in Goethes Roman. Das Individuum, verloren zwischen totaler Kontrolle und Gefühllosigkeit auf der einen Seite und sentimentalem Hedonismus auf der anderen – müsste man so nicht auch die Extreme unserer Gesellschaften beschreiben? Die verbreitete Sicht, dass das Reale das Humane notwendig überfordere, ruft dazu auf, einen abgesonderten Raum des Nur-Menschlichen zu bauen, in dem wir von den Unbilden des Realen geschützt sind. Das Endspiel eines solchen humanen Sonderraumes ist der Spätkapitalismus. Goethe sucht woanders. Er weiss, dass real sein bedeutet, lebendig zu sein.
Wahlverwandtschaften nach dem Roman von Johann Wolfgang von Goethe Regie Felicitas Brucker Mit Hans Kremer, Julia Kreusch, Matthias Neukirch, Elisa Plüss Premiere 29. September, Pfauen Unterstützt von der Hans Imholz Stiftung
Inszenierungseinblick 17. September, 19:00–20:30 Treffpunkt Schiffbau/Foyer Theater im Gespräch zu „Wahlverwandtschaften“ & „Liebe Grüsse … oder Wohin das Leben fällt“, 6. November, 19:00–20:30 Treffpunkt Schiffbau/Foyer Backstage-Pass für VeranstalterInnen von Single-Events 11. Oktober, 18:00
15
„Beim sauren Regen und Treibhauskollaps!“ Es ist gar nicht mehr viel Zeit bis zum neuen Jahr und bis dahin wollten die Geldhexe Tyrannja Vamperl und ihr Neffe Prof. Dr. Beelzebub Irrwitzer eigentlich die Erde restlos zerstört haben. Bald schlägt es zwölf und auf den letzten Drücker soll ihnen jetzt ein höllischer Wunschpunsch helfen. Nicht nur Kater Maurizio di Mauro und Rabe Felix Krakel vom Geheimen Rat der Tiere, sondern auch die Zürcher Helvetia Bar haben mittlerweile von dem teuflischen Getränk Wind bekommen. Die Helvti-Bar schlägt deshalb ein anderes Wunschpunsch-Rezept vor, mit dem sich die Vernichtung der Welt vielleicht doch noch aufhalten lässt. Mit diesem Zaubertrank stossen wir mit vielen guten Wünschen auf die Zukunft und auf die Premiere unseres Familienstücks „Der satanarchäolügenialkohöllische Wunschpunsch“ von Michael Ende am 10. November im Pfauen an. Die Regie führt Christina Rast, die bereits „Das doppelte Lottchen“ im Schauspielhaus inszeniert hat.
Zutaten Wunschpunsch:
eine halbe, gekochte Blutfrucht aus dem Garten der Villa Albtraum (1/2 Rande) eine Zwergenhand voll smogfreiem Wolkenpulver (1 Teelöffel Zucker) ein Schluck goldgelber Nektar einer fair gehandelten Zauberfrucht mit Krone (6 cl Ananassaft) ein Fingerhut voll säuerlichem Saft der kleinen grünen Kugelfrucht ohne Pestizide (3 cl Limettensaft) 2–3 grüne duftende Wunschblätter aus dem Wald des Hohen Rats der Tiere, dem die Rodung droht (2–3 Basilikumblätter)
Der satanarchäolügenialkohöllische Wunschpunsch von Michael Ende / Regie Christina Rast Mit Ludwig Boettger, Vera Flück, Claudius Körber, Hans Kremer, Friederike Wagner Premiere 10. November, Pfauen
Inszenierungseinblick 31. Oktober, 15:00–16:30 Treffpunkt Pfauen/Foyer Nationaler Zukunftstag 8. November, 9:00–17:00 Pfauen und Schiffbau
einige Stücke Eis, nicht von einem sterbenden Gletscher, sondern aus dem heimischen Tiefkühler mit energiesparender, positiver Umweltbilanz
Zubereitung:
Alle Zutaten mit dem Mixer oder auch Zauberstabmixer mixen und auf Eis servieren; mit einem duftenden Wunschblatt garnieren. 16
Die legendäre Bar, von Zürchern und Kennern liebevoll „Helvti“ genannt, ist Treffpunkt einer illustren Gästeschar. Wenn der Bartender nicht gerade Rezepte für die Rettung der Unwelt verfasst, mixt er leckere Cocktails für Gross und Klein. (hotel-helvetia.ch)
17
Wuttke, Wuttke, Wuttke von Karolin Trachte
Im Dezember spielt Martin Wuttke zum zweiten Mal in einer Inszenierung von René Pollesch auf der Bühne des Schauspielhauses Zürich. Bekannt ist er als grosser Heiner-Müller-Schauspieler, aber auch in Hollywood trat er schon auf den Plan. Ein Kurzporträt. Wenn man etwas über Martin Wuttke erfahren will, erzählen die meisten von diesem gewissen „Bann“, in den er das Publikum schlägt, wenn er die Bühne betritt. Und von einer seiner wichtigsten Rollen, die er seit der Premiere 1995 am Berliner Ensemble bis heute spielt – die Titelrolle in Brechts „Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui“ in der letzten Inszenierung von Heiner Müller. Mit Heiner Müller verband ihn eine enge Zusammenarbeit. In den 90er Jahren war Wuttke kurzzeitig selbst Intendant des Berliner Ensembles. Mittlerweile ist er ausserdem einem breiten Fernsehpublikum bekannt – 2007 bis 2015 war er im „Tatort“ neben Simone Thomalla als Kommissar Andreas Keppler zu sehen. 2009 spielte er Hitler in Quentin Tarantinos Film „Inglourious Basterds“. Wuttkes Engagements führten ihn aber vor allem an die grossen Bühnen: an das Schauspielhaus Frankfurt, an das Thalia Theater und ans Schauspielhaus Hamburg, an die Münchner Kammerspiele, ans Deutsche Theater Berlin, ans Schillertheater Berlin, an die Schaubühne am Lehniner Platz, ans Berliner Ensemble und an die Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz in Berlin. Seit 2009 ist er Ensemblemitglied am Wiener Burgtheater. Er hat mit einigen der wichtigsten deutschen Regisseure eng zusammengearbeitet, darunter Einar Schleef und Heiner Müller. Später Christoph Schlingensief, Frank Castorf und Christoph Marthaler. Heute gehört auch Pollesch zu den wichtigen Regisseuren in Wuttkes künstlerischer Arbeit. Die Zusammenarbeit zwischen Wuttke und Pollesch erzählt sich so: Auf der Bühne sah Pollesch Martin Wuttke erstmals Mitte der 80er Jahre als „Hamlet“ in Frankfurt (Regie Holger Berg) – das war während seines Studiums „Angewandte Theaterwissenschaften“ in Giessen. 18
„Danach habe ich die ganze Zeit nur von Wuttke gesprochen und gleich ein Stück geschrieben, das hiess ‚Wuttke, Wuttke, Wuttke‘.“ Später ging Pollesch an die Volksbühne, wo er künstlerischer Leiter des Prater wurde. Hier sind sich Wuttke und Pollesch persönlich begegnet und in der Produktion „Tausend Dämonen wünschen wir den Tod“ arbeiteten sie 2004 erstmals zusammen. Es folgte eine zweite Produktion im Prater 2004 „Strepitolino – i giovanotti disgraziati“. Die dritte gemeinsame Arbeit trägt einen der schönsten (und längsten) der charakteristischen Pollesch-Titel: „L’Affaire Martin! Occupe-toi de Sophie. Par la fenêtre, Caroline! Le mariage de Spengler. Christine est en avance.“ und war Polleschs erste Arbeit auf der grossen Bühne der Volksbühne. Unter vielen weiteren gemeinsamen Arbeiten folgte auch 2009 „Calvinismus Klein“ am Schauspielhaus Zürich. Martin Wuttke hat auch Regie geführt und über die Jahre selbst viele Projekte initiiert. Bestes Beispiel ist die Berliner Molière-Trilogie von 2012, die er der Volksbühne vorschlug. Molière, der selbst Schauspieler, aber eben auch Autor und Regisseur war, fasziniert Wuttke. Und er übernahm zuallererst die Doppelfunktion der Titelrolle und Regie der Produktion „Der eingebildete Kranke“. Bei Volksbühnen-Intendant Frank Castorf spielte er „Der Geizige“ und schloss mit „Don Juan“ in der Regie von René Pollesch nach Molière die Trilogie ab. Die Idee zu der Produktion am Schauspielhaus Zürich und der Titel „Ich weiss nicht was ein Ort ist, ich kenne nur seinen Preis (Manzini-Studien)“ entstand 2017. Martin Wuttke und René Pollesch sprachen über den Ort „Volksbühne“, wo mit der Intendanz Chris Dercon gerade die Ära Castorf zuende ging – die Pollesch und Wuttke stark mitgeprägt haben. Sie sprachen auch über den Prater als Ort und ob man diese konkreten Orte braucht – oder ob es eher Zusammenhänge sind von Leuten, die eine künstlerische Zusammenarbeit verbindet. Pollesch: „Ich hör’ selten Leuten so zu wie ihm. Er ist ein Intellektueller, ein Philosoph, ein Denker. Und er vertritt unsere Praxis, unsere Errungenschaften.“
Er ist ein Intellektueller, ein Philosoph, ein Denker Die Arbeit eines Schauspielers wird häufig als ein emotionaler Beruf begriffen. Als Martin Wuttke einmal in einem Interview darüber sprach, sagte er „Ich bin kein Kraftwerk der Gefühle.“ Daraus wurde in dem Artikel die Zwischenüberschrift „Ich bin ein Kraftwerk der Gefühle.“ So wird dieser Beruf missverstanden. Ein Thema, das auch in René Polleschs Stücken auftaucht. „Dass Schauspieler Körpermenschen sind, obwohl sie solche Kopfmenschen sind, das ist überhaupt kein Widerspruch“, sagt er und resümiert: „Und er ist eben auch ein toller Spieler, weil er ein toller Regisseur ist. Er ist ein cooler Joe, total relaxed und cool. Spieler wie Martin Wuttke haben ihren Beruf neu erfunden.“
Foto: Tibor Bozi
Ich weiss nicht, was ein Ort ist, ich kenne nur seinen Preis (Manzini-Studien) von René Pollesch / Regie René Pollesch Mit Kathrin Angerer, Marie Rosa Tietjen, Martin Wuttke Uraufführung 14. Dezember, Pfauen
Theater im Gespräch zu „Ich weiss nicht, was ein Ort ist, ich kenne nur seinen Preis“ & „Nora oder Ein Puppenhaus“ 19. Dezember, 19:00–20:30, Treffpunkt Schiffbau/Foyer Theaterlabor 12. Januar, 13:00–17:00, Treffpunkt Schiffbau/Foyer
19
Die Zukunft ist ein Flop Der Regisseur Timofej Kuljabin, einer der talentiertesten Vertreter einer jungen Generation russischer Theatermacher, wählt für seinen Regiezugriff häufig Texte aus dem klassischen Repertoire, um auf diese einen neuen Blick zu eröffnen. In der Inszenierung „Nora oder Ein Puppenhaus“ werden die Figuren fast ausschliesslich das digitale Wort verwenden, per Handy, Tablet und Computer, ganz so, wie es unserem gegenwärtigen Alltag der polyphonen Kommunikation entspricht. Die Dramaturgin Amely Joana Haag fragte den Ökonomen Hannes Grassegger nach seiner Einschätzung unserer Kommunikation in der Zukunft und was Henrik Ibsen wohl dazu gesagt hätte.
Wenn Ibsen geahnt hätte, dass 140 Jahre, nachdem er „Nora oder Ein Puppenhaus“ geschrieben hat, unsere alltägliche Kommunikation derartig anders funktioniert, dass ein Theaterregisseur sein Stück fast ausschliesslich per digitalem, nicht mehr per gesprochenem Wort auf die Bühne bringen wird, hätte er das sicher kaum glauben können. Denken Sie, dass in den kommenden 140 Jahren abermals eine dermassen rasante Entwicklung stattfinden kann? Sehr gute Frage! Denn sie verweist auf das Verschwinden als eigentlichen Kern des Fortschritts. Ibsen könnte ja erstmal völlig enttäuscht sein davon, wie wenig sich eigentlich entwickelt hat. Er starb 1906, damals gab es Trams, Autos, erste Telefone, ein weltweites EchtzeitKommunikationsnetzwerk via Telegraf. Zürich vom Bahnhof aus sah aus wie heute (bis auf das CoopProvisorium). 1888 erscheint erstmals der ScienceFiction-Roman „Ein Rückblick aus dem Jahre 2000 auf das Jahr 1887“ und im deutschen Vorwort dazu steht, dass es ja „heutzutage“ eigentlich nicht mehr möglich sei, überhaupt noch Science-Fiction zu schreiben. Für derart fortgeschritten hielt man sich damals bereits und derart ausgemalt schien die Zukunft. Wo sind denn die Luftschlösser, die Marskolonien, die uns versprochen wurden, oder Isaac Asimovs humanoide Roboter? Es gibt sie nicht, die Flugtaxis, die sich die deutsche Digitalministerin herbeisehnt, und die fliegenden Skateboards aus „Zurück in die Zukunft“. Die Zukunft ist ein Flop. Das würde Ibsen denken. 20
Auf den zweiten Blick aber würde Ibsen vieles nicht mehr wiederfinden: den Smog, der zu seiner Zeit der Industrialisierung Europa plagte, eine ganze Menge Krankheiten … Ibsen würde Mühe haben, Stenotypisten für seine Briefe aufzutreiben. Lauter Berufe wären verschwunden. Viel Bargeld wäre weg, ebenfalls das Dreiklassenwahlrecht. Wir Menschen neigen dazu, uns die Zukunft bildlich vorzustellen. Das ist falsch. Wir müssen sie systemisch denken. Eher aus gesellschaftlichen Wünschen heraus. Und wir müssen uns „Fortschritt“ als kalte, neutrale Weiterentwicklung vorstellen. Richtung Paradies und genauso Richtung Hölle. In dem Inszenierungskonzept von Timofej Kuljabin verschwindet das gesprochene Wort. Es gibt nur noch Zeichen. Jetzt gerade scheint das total Sinn zu machen. Unsere Gegenwart ist obsessiv mit Eingabegeräten als Verbindung zum mehr oder minder neuartigen Internet. Die Leute rennen auf der Strasse ineinander, weil alle in ihre Smartphones tippen. Alle sind am Datenerfassen, überall. Ich sehe aber das Gegenteil kommen. Wir sind bereits an einem Wendepunkt. Wir beginnen mit den Maschinen, den Netzwerken zu sprechen, über Siri, Amazons Sprachbox Alexa und so weiter. Und sie antworten. Unser Grundgefühl: Tippen nervt. Die Interfaces also müssen verschwinden. Erst verschwanden die Tastaturen vom Natel, nun bald die Mobiltelefone. Damit verschwinden auch die vorderhand sichtbaren Zeichen. Die ganzen Textnachrichten auf Screens und so weiter.
Durch die Mobiltelefonproduktion sind Sensoren sehr billig geworden. Künftig wird unsere Umgebung sensorisiert. Das beginnt mit sowas wie smarten Kühlschränken, Temperatursensoren im Toaster, Smart-TV, Autos mit Sensoren. Und das wird weitergehen. Die Kaffeetasse soll spüren, wann ein Refill benötigt wird im Restaurant. Dadurch findet ein Verschmelzen herkömmlicher physischer mit neuer digitaler Realität statt. Die Umgebung hört uns und kann antworten. Die Welt wird zum Flatscreen. Sie sprechen einfach los, an jedem Ort, völlig ohne Gerät und als Google-Kunde beispielsweise würde Ihnen Google antworten und an manchen Flächen etwas anzeigen. Das Netz wird dadurch körperlich. Und unsichtbar. Das Internet an sich als Begriff wird verschwinden. Ein kleiner Beleg für die These: Apple konnte sein iPhone X, das teuerste der Geschichte, nicht mehr erfolgreich platzieren. So viel ist den Leuten das Interface nicht mehr wert. Der Höhepunkt des SmartphoneKultes ist überschritten. Die Geräte sind am Ende. In Timofej Kuljabins Inszenierung werden die Zuschauer polyphon verfolgen können, wie die SchauspielerInnen in ihren verkörperten Figuren die jeweiligen Texte per SMS tippen, verbessern, verwerfen, senden oder zunächst nur speichern, wann sie antworten, ob sie überhaupt antworten, wie hastig oder besonnen ihre Hände jeweils tippen und so weiter. Auf dieser Ebene lässt sich trotz der verschiedenen Räume auch viel erzählen über Emotionen und Beziehungen. In
Ihrem Buch „Das Kapital bin ich“ schreiben Sie treffend über unsere digitale Leibeigenschaft: „Mein digitales Ich, das sind meine Gedanken (E-Mails), meine Gefühle (emoticons), meine Affekte (Twitter), meine Beziehungen (Facebook), meine Geschäftsbeziehungen (Xing).“ Wem also gehört das digitale Wort, wo hört unsere Innenwelt auf und wie unmerklich befinden wir uns längst im Aussenraum? Ich zitiere in meinem ultrakapitalistischen Pamphlet „Das Kapital bin ich“ den postkommunistischen Ökonomen Franco Berardi, einen Medientheoretiker. Dessen These ist, dass der Kapitalismus zuerst den Aussenraum erobert und vermarktet hat und nun dabei ist, den Innenraum zu erobern. Das heisst: unsere Gedanken, Gefühle, Körperzustände. Wenn sie diese kennen, dann können sie ja wissen, welche Produkte sie mir anbieten können, zu welchem Preis. Und auch welche politischen Kandidaten. Das ist das neue Kapital. Weil das vorher unsichtbare Innenleben nun potenziell wertvolle Ware ist, wird das alles sozusagen „gefördert“, also nach aussen geholt, „gedrillt“. Das würde Ibsen sicher total überraschen: was alles sichtbar geworden ist. Was wir heute alles verraten über uns, was der norwegische Gentleman im 19. Jahrhundert nicht einmal seinem Pfarrer anvertraut hätte. Hier sieht man eine andere wichtige Tendenz des Fortschritts: dass informelle Vorgänge formalisiert werden, zu Produkten werden. Früher erzählte man sich die Neuigkeiten, später druckte man Zeitungen. 21
Daher sprechen wir vom Ende der Privatsphäre: Unser Innenleben ist zum Produkt geworden. In der jetzigen Phase gehören all diese Daten dem, der sie erhebt. Die Unternehmen haben uns Plattformen gegeben, wir dürfen sie nutzen, aber die Früchte dieser Arbeit gehören uns nicht. Wir greifen hunderte Male am Tag auf irgendwelche digitalen Services zu, füttern ständig irgendwelche Datenerfassungsdienste – Facebook fragt ja wirklich wörtlich „What’s on your mind?“ – und müssen dazu die Nutzungsbedingung akzeptieren, dass uns diese Daten nicht gehören. Sowas wie Fitbit, also diese Fitnesstracker, dafür zahlen wir heute Geld! Früher nannte man das „elektronische Fussfessel“ und es war eine Strafe. Wir haben mittlerweile dank der EU-Datenschutzverordnung ein paar Rechte bekommen, beispielsweise unsere Daten zu erfragen, auf Anfrage löschen zu lassen oder uns Kopien geben zu lassen. Aber im Prinzip gilt, dass wir in einer Art digitalen Leibeigenschaft stecken.
Google und Co lesen automatisiert unsere Mails, werten sie aus, nutzen diese Informationen als Produkt. So kamen die grössten Reichtümer in der Menschheitsgeschichte zusammen. Als mein Buch in der ersten Ausgabe vor vier Jahren erschien, habe ich mal die Cashbestände der Handvoll grössten Silicon-ValleyFirmen zusammengerechnet. Apple, Alphabet, Facebook … wie viel ist in deren Hosensack? Das war damals etwa eine Billion Dollar. Zur zweiten Auflage habe ich das aktualisieren müssen. Die gleichen Unternehmen halten jetzt 2,4 Billionen Dollar in ihrer Portokasse.
Nora oder Ein Puppenhaus von Henrik Ibsen / Regie Timofej Kuljabin Mit Christian Baumbach, Fritz Fenne, Giorgina Hämmerli, Ilona Kannewurf, Lisa-Katrina Mayer, Isabelle Menke, Anja Elisabeth Rüegg, Nico-Alexander Wilhelm Premiere 16. November, Schiffbau/Box Unterstützt von der Schaefer AG
Foto: Sebastian Magnani
Inszenierungseinblick 9. November, 19:00–20:30 Treffpunkt Schiffbau/Foyer Theaterlabor 24. November, 13:00–17:00 Treffpunkt Schiffbau/Foyer Theater im Gespräch zu „Nora oder Ein Puppenhaus“ & „Ich weiss nicht, was ein Ort ist, ich kenne nur seinen Preis“, 19. Dezember, 19:00–20:30 Treffpunkt Schiffbau/Foyer Backstage-Pass für Organisationen und Läden, die sich für hörbehinderte und gehörlose Menschen engagieren. Termin im Monatsspielplan November
Hannes Grassegger (1980) ist Ökonom und Autor. Er arbeitet als Reporter für Das Magazin. Seine Texte behandeln die Frage der Autonomie des Individuums im digitalen Zeitalter. Weltweit bekannt wurden seine Enthüllungen zu Cambridge Analytica (2016, mit Mikael Krogerus) und Facebooks Zensurapparat (2017, mit Till Krause & Julia Angwin). Grasseggers Digitalisierungsreportagen erscheinen auch im SZ-Magazin, The Guardian, Reportagen, Internazionale und Pro Publica. 2018 ist Grassegger Swiss Fellow am Wilson Center in Washington D. C. Am 10. Juli 2018 erschien die überarbeite Neuauflage seines Digitalpamphlets „Das Kapital bin ich“.
22
1/2 Inserat
Das Spektakel der Revolution 14.9.2018 – 20.1.2019
www.landesmuseum.ch
GESELLSCHAFT DER FREUNDE DES SCHAUSPIELHAUSES
gfs
RZ_Ins_215x143_Schauspielhaus_Imagine68.indd 1
FOR THE HAPPY FEW Nur für Theaterfans: Werden Sie Mitglied bei der Gesellschaft der Freundinnen und Freunde des Schauspielhauses!
28.06.18 09:58
Bitte beachten Sie die gfs-Anmeldekarten im Foyer. Informationen T 044 258 72 06
23
Mehr als Zuschauen
Theaterfans und alle, die es werden möchten, stürmen die Bühne. Menschen jeden Alters und Gruppen können im Rahmen von „Mehr als Zuschauen“ selbst Theater spielen, KünstlerInnen und Theatermitarbeitende treffen, erleben, wie Inszenierungen entstehen, Vorstellungen besuchen und sich austauschen, hinter / unter / über Kulissen schauen und ihre kreativen Talente erproben. 24
Eine Auswahl Kontakt und Anmeldung unter mehralszuschauen@schauspielhaus.ch
Kulturführerschein 2018/19 Weiterbildungskurs für Pensionierte November 2018 bis Mai 2019 Informationstreffen am 2. Oktober, 17:30–18:30, Pfauen / 25. Oktober, 9:00–9:45, Schiffbau Early Birds Spartenübergreifende Kulturvormittage 5. Oktober / 16. November, jeweils 9:00–11:00 Abenteuer Freundschaft Herbstferienkurs für Kinder COOL-TUR 2018 8. bis 11. Oktober, 9:00–16:00, Schiffbau / Migros Museum für Gegenwartskunst / GZ Buchegg Anmeldung, kulturvermittlung-zh.ch Bert*a Interkultureller Spielclub ab 16 Jahren 24. Oktober 2018 bis Juni 2019, mittwochs Schnupperprobe am 3. Oktober, 18:00–20:00 Treffpunkt Schiffbau/Foyer Doppelspiel Workshop für Kinder parallel zum Vorstellungsbesuch der Eltern zu „Hamlet“ und zu „Endstation Sehnsucht“, Termine im Spielplan November Mehrgenerationen-Spielclub 13+/60+ Kick-off am 9. Dezember, Schiffbau Impulsprogramm Gruppenausflug in den Pfauen, nur in Kombination mit einem Vorstellungsbesuch möglich, Termin nach Vereinbarung
Foto: Philip Frowein
Weitere Angebote finden Sie unter den Artikeln zu den jeweiligen Inszenierungen. Gesamtübersicht unter schauspielhaus.ch/mehralszuschauen „Mehr als Zuschauen“ wird unterstützt von der Max Kohler Stiftung, der Ernst Göhner Stiftung, der Avina Stiftung, der Stiftung Symphasis sowie von den Paten und Komplizen des Jungen Schauspielhauses.
25
26
27
27
Ob es wohl hilft, wie er, kein zerstreuendes iPhone zu besitzen? Sicher ist: von Benito kann man sich inspirieren lassen. Er verleiht seinen Figuren eine Klarheit, ohne ihr Geheimnis zu verraten, schmeisst sich grosszügig in jeden Augenblick, ohne dabei verkrampft zu wirken. Zum Beispiel wenn er in
Konzentration, Lockerheit und Klarheit aus, die ich seitdem an ihm beobachte und bewundere. In sämtlichen Rollen und Probensituationen, in denen ich Benito erlebt habe, ist mir besonders aufgefallen, wie pur er sich dem Augenblick hingeben kann – mit ansteckender Wirkung! Im Theater wird oft von „Präsenz“ gesprochen und Benito ist genau das: Präsent. Es wirkt, als wäre er jede Sekunde voll und ganz dabei. Das beschreibt den für mich essenziellen Teil unserer Kunst. „Dabei sein“ macht Theater und Musik aus – und das Leben!
Foto: Jack Pryce
in „Ausschliesslich Inländer“.
Elisa Plüss und Benito Bause spielen in dieser Saison gemeinsam
„Buddenbrooks“ in seiner Rolle des jungen Liebenden Morten auf einem Tisch sitzend in nur wenigen Minuten Strand, Meer, Sommerliebe und Melancholie zaubert. Ein persönlicher Lieblingsmoment ist es, ihn hinter seiner „Grenzbeamtenpuppe“ in der Produktion „Ausschliesslich Inländer“ zu beobachten. Der Kontrast von Benitos wachen Augen, die mit voller Konzentration auf die alte, schrullige Beamtenklappmaulpuppe fokussiert sind, bringt mich jedes Mal innerlich zum Lachen. Ich freue mich auf hoffentlich noch viele Gelegenheiten, mit Benito zu musizieren, zu spielen und gemeinsam „dabei zu sein“.
Benito Bause
Soundcheck für Benito Bause. Bis auf ein freundliches Händeschütteln hatte ich unseren neuen Schauspielkollegen bisher nicht kennengelernt. Benito betrat mit seiner Gitarre die Bühne, um sich für seinen Auftritt beim Saisoneröffnungsfest vorzubereiten – sein erster Auftritt auf der Pfauenbühne. Auf dem Programmzettel stand „Queen – Bohemian Rhapsody“. Neugierig sass ich im Zuschauerraum und Benito begann zu musizieren: „Mama, just killed a man …“. Eine zauberhaft warme, berührende und kräftige Stimme erfüllte den Saal. Mein Körper klappte sofort aus dem gemütlichen Sessel nach vorne, um genauer hinzuhorchen. Es schien mir unglaublich, dass diese Stimme direkt aus Benito kam. Er sang und „es“ sang. Als wäre in diesem Moment ein zusätzlicher Raum im Pfauensaal geöffnet worden. Dabei strahlte Benito eine geheimnisvolle Mischung aus
von Elisa Plüss
In Szene
Der „Dunkle Hallimasch“ Foto: James Klosty
John Cage und Christoph Marthaler auf der Suche nach dem grössten bekannten Lebewesen des Planeten Sind auf dieser Seite Reproduktionen aus der Partitur von John Cages Komposition „44 Harmonies from Apartment House 1776“ zu sehen, deren Titel sich Christoph Marthaler für seine neue Inszenierung im Schiffbau ausgeliehen hat? Streng musikwissenschaftlich betrachtet: nein; denn abgebildet sind Ausschnitte aus Cages sogenanntem „Mushroom Book“ („Pilz-Buch“). Und doch gibt es Verbindungslinien zwischen dem einen und dem anderen, denn Cage war werkübergreifend mit der Frage beschäftigt, ob sich ein Zusammenhang herstellen liesse zwischen der Welt der Klänge und der Welt der Pilze*. Solche Dinge interessieren auch Christoph Marthaler. Und so ist es nur folgerichtig, dass sich der Schweizer Regisseur und der amerikanische Künstler nun im Schiffbau gemeinsam auf die Suche nach dem Dunklen Hallimasch begeben. Cage hat ihn bereits vor Längerem besucht. Für Marthaler ist es eine Premiere.
44 Harmonies from Apartment House 1776 von Christoph Marthaler und Ensemble / Regie Christoph Marthaler Mit Hyazintha Andrej, Benito Bause, Marc Bodnar, Rapahel Clamer, Isabel Gehweiler, Elisa Plüss, Ueli Jäggi, Nadja Reich, Graham F. Valentine, Susanne-Marie Wrage Premiere 6. Dezember, Schiffbau/Halle
Theater im Gespräch zu „44 Harmonies from Apartment House 1776“ & „Frankenstein oder Der moderne Prometheus“ 22. Januar, 19:00–20:30, Treffpunkt Schiffbau/Foyer
* Dass Cage sich mit Pilzen auseinandersetzte und zeitweise sogar eine eigene Pilzshow im amerikanischen Fernsehen verantwortete, wurde dem Künstler als eigenartiger Spleen ausgelegt. Doch die Dinge dürften anders gelegen haben, denn die Pilze bilden, neben den Pflanzen und Tieren (zu denen auch der Mensch gehört), ein eigenständiges biologisches Reich mit vollkommen autarken Organisationsstrukturen und teils beeindruckenden Protagonisten: So trägt der grösste bekannte Pilz der Welt den Namen Dunkler Hallimasch, befindet sich in einem Naturschutzgebiet in Oregon und wird mit einer Ausdehnung von fast tausend Hektar Wald als das grösste bekannte Lebewesen betrachtet. Sein Gewicht wird auf 600 Tonnen geschätzt, sein Alter auf fast 2000 Jahre. Solche Dinge interessierten Cage, denn in seinem künstlerischen Denken und Handeln spielten gerade solche Phänomene eine bedeutsame Rolle, die abseits des rundum Beleuchteten das Wirken der planetarischen Lebewesen beeinflusste: das uralte chinesische Orakel I-GING, der Reichtum von Alltags- und Naturgeräuschen und eben auch – und vor allem – die Pilze. Zwar gibt es neben den hier abgebildeten Ausschnitten aus „The Mushroom Book“ keine expliziten Pilzkompositionen von John Cage, aber das majestätische, stoische und souverän weltabgewandte Wuchern und Wachsen dieser besonderen Eukaryoten scheint sich auf zahllose Werke Cages ausgewirkt zu haben.
28
John Cage, Mushroom Book, 1972 © The Museum of Modern Art, New York © 2018 DIGITAL IMAGE, The Museum of Modern Art/Scala, Florence
29
Knisternde Stimmen der Vergangenheit „Eine Version der Geschichte“ erzählt von den verdrängten Erinnerungen einer armenischen Familie und schliesslich von der Annäherung an ihre rätselhafte Geschichte und Herkunft. Das Stück der Berliner Autorin Simone Kucher ist aus der Perspektive einer jungen Frau der dritten Generation erzählt, die auf den armenischen Genozid stösst. Ihre Erinnerungsreise beginnt im Heute und führt uns von Berlin über die USA, Paris, Istanbul bis nach Tabris und Musch in die armenischeuropäische Vergangenheit. Das im Rahmen der Autorentheatertage Berlin 2018 ausgezeichnete Stück, das am Schauspielhaus von Marco Milling inszeniert wurde, wirft Blitzlichter auf Fragmente und Versatzstücke von Vergangenheiten. Nicht nur die Hauptfigur, auch das Publikum setzt diese zu einer eigenen Version der Geschichte zusammen. Die Fragen stellte der Dramaturg Benjamin Große
In wenigen Worten – worum geht es in deinem Stück „Eine Version der Geschichte“? Angeregt durch ein Tonband, beginnt die Violinistin Lusine sich ihrer Familiengeschichte zu stellen. Auf dieser Originalaufnahme von 1918 aus dem Berliner Lautarchiv meint ihr Bruder Sammy, die Stimme ihres Grossvaters zu hören. Zeit ihres Lebens weigerte Lusine sich, an die Geschichte zu glauben, weil es keine öffentliche Auseinandersetzung dazu gab und gibt. Obwohl nach Schätzungen circa 1,5 Millionen Armenier auf den Deportationen durch die jungtürkische Regierung 1915 ermordet wurden, wird dieser Genozid bis heute von der Türkei geleugnet und von vielen Ländern nicht anerkannt. Das Schweigen auf der politischen Ebene übertrug sich und wurde zu einem Schweigen innerhalb der Familie. Lusine beginnt allmählich doch die Fakten, Anhaltspunkte und Fragmente ihrer Erinnerung zu sortieren und spiegelt ihre Version der eigenen Geschichte in den historischen Ereignissen, in den Ritualen, der Sprache und in den konkreten Orten. Was sind die Gründe für das Vertuschen der Familiengeschichte? Warum ist bei deiner Hauptfigur die Ablehnung so vehement? In der Familiengeschichte meiner Hauptfigur ist eine grosse Leerstelle, die einen Sog erzeugt, vor dem sie Angst hat. Sie hat einen Schutzmechanismus entwickelt. Das Nichts oder diese Leerstelle ist eine Metapher für den unausgesprochenen, unfassbaren Schmerz in der Familie. 30
Fehlt das kollektive Gedächtnis in der Familie? Kann es sowas wie ein kollektives Gedächtnis überhaupt geben? Ich denke, ein kollektives Gedächtnis kann erst in einem zweiten oder dritten Schritt nach der Erinnerung und der öffentlichen Auseinandersetzung mit ihr entstehen. Im historisch einzigartigen Fall des Genozids an den Armeniern geht es immer noch darum, die Dimension und die Begrifflichkeit anzuerkennen. Dann erst kann die individuelle Aufarbeitung in Gang gesetzt werden, was wiederum zu einem kollektiven Gedächtnis führt. Das Stück spielt mit armenischen Originalstimmen und für die Hauptfigur ist die Fremdheit in der eigenen Muttersprache ein wichtiges Thema. Das, was eine Sprache bieten soll, eine Struktur, eine Semantik, eine Entzifferbarkeit, einen rationalen Halt, eine Geschichte, gibt Lusine die armenische Sprache nicht. Für sie ist das Armenische die „Muttersprache“, die Wohlfühl-, Wut- oder Liebessprache, die sie nur gehört und gesprochen hat, nie gelesen oder geschrieben. Das ist ein Paradox, mit dem das Stück spielt. Über Deutsch als Schriftsprache hat Lusine die Struktur von Sprache überhaupt erst kennengelernt. In deinem Text spielen Stimmen und Tonbandaufnahmen eine wichtige Rolle. Marco Milling greift das in seinem Regieansatz auf als eine Art „Stimmen aus der Vergangenheit“. Du schreibst auch Hörspiele, welche Rolle spielen Stimmen für dich im Theater?
Foto: Lutz Knospe
Ich denke, dass man auch unabhängig von der Sichtbarkeit eine Hörbarkeit auf der Bühne erzeugen kann, die genauso spannend ist wie die Bilder einer Geschichte. Beim Hören geht es weniger um die Entzifferbarkeit der Welt. Wir sind darauf konditioniert, Bilder sofort zu entziffern. Mit der Stimme und über das Hören transportiert sich noch mehr als die reine Information oder Bedeutung. Es gibt sehr viele Armenier in Zürich und in Genf. Was bedeutet es für dich, dass dein Stück hier in Zürich uraufgeführt wird? Ich freue mich auf die Auseinandersetzung zu dem Thema in der Schweiz. Die Schweiz hat 2003 als eines von wenigen Ländern den Genozid anerkannt und sich 2009 für ein Freundschaftsabkommen zwischen der Türkei und Armenien eingesetzt – das sind wichtige Schritte für eine Politik des Friedens.
Das Stück von Simone Kucher ist eines der Gewinnerstücke der Autorentheatertage Berlin 2018. Kucher lebt in Berlin. Neben Theaterstücken, die auf internationalen Festivals gezeigt und mehrfach nachgespielt wurden, schreibt sie Hörspiele und Kurzgeschichten. Letztere sind erschienen bei Lange/Müller und im Suhrkamp Verlag.
Eine Version der Geschichte von Simone Kucher / Regie Marco Milling Uraufführung Mit Christian Baumbach, Ludwig Boettger, Lisa-Katrina Mayer, Isabelle Menke, Matthias Neukirch Premiere 4. Oktober, Pfauen/Kammer Koproduktion mit dem Deutschen Theater Berlin im Rahmen der Autorentheatertage Unterstützt von der Gesellschaft der Freunde des Schauspielhauses Zürich
Inszenierungseinblick 27. September, 19:00–20:30 Treffpunkt Schiffbau/Foyer
31
Im Wahn wandern von Stefan Zweifel
Mitten im Gebirge, vom Wandern verwandelt, wundert sich Lenz, weshalb er eigentlich nicht auf dem Kopf gehen könne. Bei seinem Gang ist er aus sich und über sich hinausgegangen. Er hat die Grenzen der Vernunft hinter sich gelassen; umtobt von Eindrücken verschmilzt er in seiner Ekstase mit dem All-Einen der Natur, wird selbst zum schmelzenden Gletscher, stürzt als Gebirgsbach aus sich heraus und an sich herunter. Irrende wie er kommen nie am Ziel an, sondern: bei sich selbst, beim Anderen des eigenen Ichs. Die Menschen werden ihn ausstossen, denn er, der Zweifüssler, ist ein Kopffüssler geworden. Seine Grenzerfahrung bedroht eine Welt, in der man für Wanderer das Ziel gelb ausschildert und man immer weiss, wo das Ziel liegt: Nach 2 ¾ Stunden landet man wieder einmal – in Rorschach. Und so bleibt man eben ein Leben lang ein Oberlin, der Dorfpfarrer, der Lenz bei sich aufnimmt. Hüter von Heim und Herd, stets in den Grenzen der Vernunft oder wenigstens der Religion. So wurde Lenz zum Wegweiser einer radikalen Moderne, die das Wandern als ein Aus-sich-Herausgehen zelebrierte, um im Unbekannten anzukommen, nach dem wir uns alle sehnen. „Baar ins Leben“ tretend, wie Hölderlin schrieb, barfuss und nackt muss der Dichter des eigenen Ichs zwischen „Hain und Höhn“ ganz den Lauten lauschen. Die Räume durchdringen sich, wenn der Dichter „baar“ in die Versfüsse tritt, bald nach Wolken greifend, den „fernhintönenden“, bald ins Tal schauend, wo „woogenluftig“ das „Wassergewölk“ aufstiebt: So wird dem Dichter das Wasser zur Wolke, das oben zu unten, bis er jede Orientierung verliert und allein mit Natur und Göttern verschmilzt – „schwindelnd“ stürzt er in die Tiefe, den Kopf zerschmettert neben Orpheus’ Laute, doch selbst im Tod noch „schützet die Einfalt ihn“. In die fand auch er, Hölderlin, nach seinem gewaltigen Fussmarsch von Stuttgart nach Bordeaux, von dem er zurückkam, verwildert und verwirrt. Anstatt komplexe Hymnen zu schreiben, ging er nur noch in den Garten, beugte sich über Blumen und stammelte: „Oui oui“. Das stammelte Hölderlin auf Französisch, weil sich bereits sein Vorbild Rousseau auf seiner Flucht durch Europa ins Sinnliche der Gegenwart flüchtete, als er auf der Petersinsel auf allen vieren die Blumen und Gräser studierte und selbst zu einem Korbblütler wurde, der die Senfsamen seines Wahns in die Zukunft hin zu den Blumenkindern von 68 streute. Darin folgten ihm viele: Arthur Rimbaud, der nach seinem revolutionären Werk „Eine Zeit in der Hölle“ aus ebendieser Hölle, dem Literaturbetrieb in Paris, ausbrach, um 32
nie mehr zu schreiben, sondern nur noch das eigene Leben zu dichten: In Gewaltmärschen querweltein, durch knietiefen Schnee über den Gotthard brach er ins Fremde aus, denn „Ich ist ein anderer“. Und so wie Rimbaud mit einem Goldgürtel um die Hüften durch die Hochebenen von Äthiopien streifte, wird Antonin Artaud, der Surrealist und Erfinder eines „Theaters der Grausamkeit“ aus Europa ausbrechen, um bei den Tarahumara-Indianern durch die Hochebenen von Mexiko zu schweifen und die Peyote-Wurzel zu schlucken, die ihn in Drogenräuschen ans andere „Ufer des Seins“ hinübergleiten lassen. Da wird ihm die ganze Welt zum Buch, die Schlünde der Berge sind vaginale Klüfte, die Felsspitzen zeichnen ein geheimnisvolles „H“ in den Himmel, die Natur spricht zu ihm und die Gesänge der Indianer mischen sich mit Artauds eigenem Atem: „Pipi kharna rena rarina / rena rarina arita (…) Es ist mir scheissegal, ob meine Sätze wie Französisch oder Papuanisch klingen. / Aber wenn ich ein wildes Wort wie einen Nagel einramme, möchte ich, dass der Satz wie ein Bluterguss aus hundert Löchern eitert.“ Zuletzt trugen die Tarahumara den französischen Dichter auf einer Sänfte durchs Gebirg. Kopfüber vielleicht, so wie es sich Büchners Lenz erträumte. Zurück in Frankreich traf Artaud auf keinen Oberlin, sondern wurde in die Irrenanstalten gesteckt. Über 50 Elektroschocks konnten aber seinem Drang zum Freien nichts anhaben. Nach letzten Auftritten in Paris fand man ihn 1947 auf dem Bett seiner Zelle, tot, aber im Tod noch einen Schuh in der Hand. Bereit für einen neuen Aufbruch. Den wagten dann Freunde von ihm wie Roger Blin. Und dessen Geist wetterleuchtet jetzt bald auch über Zürich, wenn Werner Düggelin, von seiner Pariser Zeit mit Roger Blin geprägt, Büchners Lenz endlich nicht mehr als Wahnsinnigen zeigt, sondern als Mahnmal für uns alle, als Wahnmal, dass es ein Leben jenseits der Gesellschaft mit all ihren Zuschreibungen und Zumutungen gibt. Dort, wo man barfuss über die stichelnden Halme von Weizenfeldern streift und dem Klatschmohn zunickt. Oui oui.
Stefan Zweifel ist Philosoph, Übersetzer und Kurator. Am Schauspielhaus ist er Gastgeber der Reihe „Zürcher Gespräche“, wo ausser ihm auch Lukas Bärfuss und Miriam Meckel regelmässig Gäste aus Kunst, Philosophie und Politik zum Gespräch laden. Die Eröffnung bestreitet Lukas Barfuss am 14. September im Pfauen mit dem ersten Gast David Graeber. Der britische Anthropologe und Anarchist hat sein neues Buch „Bullshit Jobs“ im Gepäck.
Fluchtpunkt Schweiz Exilliteratur in der Kammer jeweils mittwochs um 19:30
Immer wieder hat das Programm am Schauspielhaus Zürich die Geschichte(n) der Flucht in den Blick genommen und von der aktuellen und gegenwärtigen Seite beleuchtet. Die vierteilige Literaturreihe „Fluchtpunkt Schweiz“ knüpft nun an das Thema der Schweiz als Exilland aus historischer Perspektive an. Das Schauspielhaus öffnet in dem „Extra“ zusammen mit vier renommierten Zürcher Literaturexpertinnen einen Spielraum für die Lebensgeschichten und literarischen Texte verschiedener ExilkünstlerInnen. Vier Abende stellen jeweils das Leben und Schreiben einer ausgewählten Persönlichkeit vor, für die die Schweiz, Zürich und das Schauspielhaus wichtige Anlaufpunkte waren. Sie werden begleitet von SchauspielerInnen des Ensembles, die ausgewählte Texte der AutorInnen lesen. Unterstützt von Glen Fahrn im Oberdorf
14. November – Beatrice von Matt Die Literaturkritikerin Beatrice von Matt berichtet anhand eines bisher unbeachteten, formal kühnen experimentellen Prosaprojekts „Tagebuchzeilen aus Zürich“ von Else Lasker-Schüler (1869–1945) über deren Zürcher Emigration.
Im Januar – Elisabeth Bronfen Die Anglistin Elisabeth Bronfen beleuchtet die Schriftstellerin Mary Shelley (1797–1851), die vor 200 Jahren in der Nähe des Genfersees mit „Frankenstein“ einen der bedeutendsten Schauerromane der Weltliteratur geschrieben hat. Er kommt diese Spielzeit in einer Inszenierung von Stefan Pucher auf die Pfauenbühne.
6. Februar – Eveline Hasler Die Autorin Eveline Hasler stellt das Wirken des Schauspielers, Regisseurs und Autors Wolfgang Langhoff (1901–1966) am Schauspielhaus Zürich vor.
27. März – Ursula Amrein Die Germanistin Ursula Amrein erinnert an die Zürcher Exiljahre der Familie Mann in den 1930er Jahren. Ihr Schaffen war eng mit dem Schauspielhaus und der Ensemblespielerin Therese Giehse (1898–1975) verknüpft. 33
Foto: Martin Zeller
Meet Your Enemy at the Social Muscle Club 5./6. Oktober 2018, Schiffbau
Konzept Benedikt Wyss und Social Muscle Club Support Boris Nikitin Koproduktion mit ZH-REFORMATION.CH In Kooperation mit Republik.ch Trainiere deine zwischenmenschliche Kraft! Ein UFO aus Livemusik, Performances, Essen und Trinken, Open-Stage, Freiheit und Chaos landet im Schiffbau. „Was wie ein Fitnessstudio klingt, ist etwas ganz anderes. Ein Erlebnis, eine Party mit sozialer Komponente und überraschenden Wendungen, eine Mischung aus buntem Abend, szenigem Treffpunkt, Kunstaktion und Engagement. Im Kern geht es um etwas ganz Grundlegendes: Ums Geben und Nehmen.“ Rahel Walser, SRF 34
„Der Social Muscle Club stösst auf enorme Resonanz. Das Konzept ist von klassischen Vorstellungen der Vermittlung weit entfernt. Der spielerische Abbau von Interaktionshemmschwellen hat den Effekt, dass sich beliebige, sich nicht kennende Teilnehmende zu beschenken beginnen.“ Daniel Binswanger, Jahresbericht Abteilung Kultur Basel-Stadt
35
Ins Theater mit Alexis Schwarzenbach Am 26. Oktober wird die erfolgreiche Produktion der letzten Spielzeit „Ausschliesslich Inländer“ aus dem Schiffbau in den Pfauen umziehen. Nikolaus Habjan und unser Ensemble schwingen sich auf zu einem fantasievollen, fast surrealen Abend an einer Schweizer Grenzstation mit Liedern von Georg Kreisler und lassen dabei einige Puppen tanzen. Wir haben Alexis Schwarzenbach eingeladen, sich die Vorstellung anzuschauen, und ihm einige Fragen gestellt. Schwarzenbach ist Historiker, Autor, Kurator und seit 2015 Professor an der Hochschule Luzern am Departement Design & Kunst. Zurzeit arbeitet er an einer Geschichte der Zürcher Seidenindustrie. Foto: Ayse Yavas
Wie war der erste Eindruck, den das Haus auf Sie gemacht hat? Der erste Eindruck war, dass vor dem Schiffbau ein Public Viewing der WM stattfand. Was hatten Sie an? Sind Sie aufgefallen? Ich trug einen Blazer, Chinos und ein Hawaiihemd. Unter den sonst eher bieder gekleideten Männern war ich damit wohl etwas frech. Haben Sie sich vor der Vorstellung mit Georg Kreisler und seinen Liedern befasst? 36
Ich hatte das Programmheft gelesen. Das war für das Verständnis des Inhalts wichtig und aufschlussreich. In welcher Stimmung waren Sie in dem Moment, als im Zuschauerraum das Licht ausging? Ich habe mich auf einen schönen Abend gefreut. Haben Sie während der Vorstellung gelacht und wenn ja, worüber? Immer wieder habe ich über die bitterbösen Texte von Georg Kreisler geschmunzelt und gelacht.
Hat Sie etwas an der Vorstellung berührt? Die Szene, wo der Hund erschossen wird. Ich bin ein Hundenarr und vertrage es deutlich besser, wenn man „Tauben vergiftet im Park“, wie es in dem einen Lied sarkastisch heisst, als wenn Hunde getötet werden. In welchem Moment haben Sie zum ersten Mal auf die Uhr geschaut? Als mein Sitznachbar auf seine Uhr schaute, sah ich, dass es schon halb zehn war.
Finden Sie, dass die Aufführung etwas mit Ihnen zu tun hat? Wenn ja, was? Natürlich hat die Aufführung etwas mit mir zu tun. Wir leben in einer Welt, in der die Dichotomie zwischen den sogenannten Inländern und den Anderen tagtäglich instrumentalisiert wird. Das geht uns alle an. Wie zufrieden waren Sie mit dem Publikum? Worüber haben Sie sich geärgert oder gefreut? Das Publikum hat sich, wie ich, grösstenteils gut amüsiert. Haben Sie sich nach der Vorstellung über das Stück unterhalten? Wir haben uns in unserer Gruppe intensiv über das Stück unterhalten.
Eine Freundin, die an der Produktion mitgearbeitet hat, nahm ihren Geburtstag zum Anlass, ihre Freunde ins Theater einzuladen. Eine sehr schöne Idee! Welche Frage würden Sie dem Regieteam dieser Aufführung gerne stellen? Mich würde interessieren, wie der Prozess des Verwebens der Lieder in ein Stück funktioniert hat, was die Herausforderungen waren und wie sie gelöst wurden.
Ausschliesslich Inländer Ein Georg-Kreisler-Abend von Nikolaus Habjan und Franui / Regie Nikolaus Habjan Mit Benito Bause, Nikolaus Habjan, Claudius Körber, Miriam Maertens, Michael Neuenschwander, Elisa Plüss und der Musicbanda Franui Wiederaufnahme 26. Oktober, Pfauen
Welches Stück würden Sie gerne das nächste Mal am Schauspielhaus sehen? Kleists „Prinz Friedrich von Homburg“.
Benito Bause, Michael Neuenschwander, Claudius Körber, Foto: Toni Suter / T+T Fotografie
37
DELAUNAY ROBERT UND PARIS
31. 8.– KUNSTHAUS 18. 11. 18 ZURICH 38
WWW.KUNSTHAUS.CH
La Tour Eiffel et jardin du Champ-de-Mars, 1922 (Detail) © 2018 Hirshhorn Museum and Sculpture Garden, Smithsonian Institution, Washington, DC
Gastspiele Die Welt im Rücken
nach dem Roman von Thomas Melle / Regie Jan Bosse Produktion des Burgtheaters Wien
18. 17./ m b e r e N ov 8 201
Mit Joachim Meyerhoff
Ein Mann wird plötzlich zum Verrückten, der laut den Verkehr beschimpft, sich selbst für den Messias hält und behauptet, mit Madonna geschlafen zu haben. Er verliert sich in nächtlichen Partyexzessen, auf die nur noch der Absturz und die Depression folgen. Die Romanvorlage von Thomas Melle, dessen Stück „Versetzung“ auch diese Spielzeit am Schauspielhaus zu sehen ist, wurde für den Deutschen Buchpreis nominiert. Regisseur Jan Bosse war mit dieser Inszenierung zum Berliner Theatertreffen 2018 eingeladen und Joachim Meyerhoff wurde für seine Darstellung zum Schauspieler des Jahres gewählt.
Unendlicher Spass von David Foster Wallace / Regie Thorsten Lensing Eine Produktion von Thorsten Lensing in Koproduktion mit dem Schauspielhaus Zürich
Foto: Reinhard Werner / Burgtheater
„Immer wieder setzt einen dieser unglaubliche Nerven-Schauspieler in Erstaunen. Diese Aufführung ist grandios.“ (Die Presse) „Das Theater wird von Theaterleuten im Scherz gern mit einer geschlossenen Anstalt verglichen. An diesem Abend kann man ganz unironisch sehen, dass da was dran ist: Theater spielen hat etwas Manisches.“ (Süddeutsche Zeitung)
12. 11./ r a Janu 9 201
Mit Jasna Fritzi Bauer, Sebastian Blomberg, André Jung, Ursina Lardi, Heiko Pinkowski und Devid Striesow Schiffbau/Box
Wallace’ 1500-seitiger Roman erzählt davon, wie es sich anfühlt, heute zu leben, von Geburten, Todeskämpfen, übertriebenem Speichelfluss, bildschönen Krankenschwestern und Vögeln, die mitten im Flug einen Herzinfarkt erleiden. Mit viel Gespür kristallisiert Thorsten Lensing, der bereits mit seinen gefeierten Inszenierungen „Karamasow“ und „Der Kirschgarten“ in Zürich zu Gast war, die existenzielle Tragik und Komik der Textvorlage heraus.
Foto: David Baltzer / bildbuehne.de
„Ein kluger, tiefer, aber auch sehr lustiger Theaterabend“ (Berliner Zeitung) „Einen Kampf mit den Abhängigkeiten und Beschädigungen, dieses Ringen um Sinn und Erlösung exerziert Thorsten Lensing in vier fast rundweg fesselnden Stunden. Mit einem fantastischen Ensemble, dessen teils grell divergente Spielstile sich zu einem Ganzen fügen. Und nicht zuletzt mit Gespür für die existenziell verzweifelte Komik der Vorlage. Ein dunkler Spass.“ (Der Tagesspiegel)
39
Lernen jenseits des Klassenzimmers Gemeinsam mit den schulischen Behörden ermöglicht das Junge Schauspielhaus Zürich, dass Schülerinnen und Schüler auch jenseits des Klassenzimmers „lernen“ – dank geförderter Theaterbesuche als Klasse oder privat. Warum das wichtig ist und bleibt, darüber sprach die Leiterin des Jungen Schauspielhauses, Petra Fischer, mit VertreterInnen des Volksschulamtes und Stadt Zürich Schulkultur. Auf welche Angebote des Schauspielhauses freut ihr euch aus schulischer Sicht am meisten? Ariane Werder Es ist so gut, dass Stücke aus dem Repertoire gezeigt werden, mit denen die Lehrpersonen bereits Erfahrungen sammeln konnten, wie zum Beispiel „Liebe Grüsse … oder Wohin das Leben fällt“, „Die Physiker“ und „Räuber“, „MEET ME“… Noémie Blumenthal Ja, auch dass die Produktion „King A“ für die Mittelund Oberstufe noch einmal zu erleben ist, ist sehr erfreulich. Anhand der mittelalterlichen Tafelrunde und deren Protagonisten werden brandaktuelle Themen wie Demokratie, Selbstbestimmung oder Rollenzuschreibungen mit Leichtigkeit verhandelt. Beat Krebs Dabei erlebt das junge Publikum auch Theater in einem grossen Raum. Das ist wichtig und viel zu selten möglich. In der Stadt Zürich findet Theater für ein junges Publikum meist nur auf kleinen Bühnen und in kleiner Besetzung statt. Doch es muss auch gross gedacht werden, in jeder Hinsicht. Susanne Spreiter Für Kinder und Jugendliche ist es elementar, dass Stoffe auf die Bühne kommen, die etwas mit ihrer eigenen Welt zu tun haben. Daher freue ich mich auf die Vorstellungsserie von „Shut up“ – eine Produktion zum Thema „anders sein“. Jede Schülerin, jeder Schüler hat zum Thema „Ausgrenzung“ eine Erfahrung. „Shut up“ eignet sich perfekt, um im Klassenverband Vorstellungen und Erfahrungen auszutauschen. Noémie Blumenthal Der biografische Zugang zur Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus, wie ihn Matthias Neukirch in „Hans Schleif“ zeigt, ist ergreifend, zutiefst menschlich
40
und verwebt historische Ereignisse mit dem aktuellen Zeitgeschehen. Für Jugendliche eröffnet dieser Theaterabend eine neue Perspektive auf ein düsteres historisches Kapitel und eignet sich gut als Ergänzung zum Geschichtsunterricht. Susanne Spreiter Einen ganz besonderen Reiz hat es, wenn das Theater direkt ins Klassenzimmer kommt und Geschichten wie die von Malala in der täglichen Umgebung der SchülerInnen mit theatralen Mitteln präsentiert. Warum ist Theater als ausserschulischer Lernort wichtig? Noémie Blumenthal Wenn ungewöhnliche Geschichten, authentische SchauspielerInnen und theatrale Räume aufeinandertreffen, können intensive Momente entstehen, die das Publikum berühren und inspirieren. Zurück im Schulalltag kann mit den Anregungen aus dem Theater auf vielfältige Weise umgegangen werden. Beat Krebs Das Schauspielhaus vereint unterschiedlichste Arbeitsfelder unter seinem Dach und ist für die Sekundarstufe auch in Sachen Berufsorientierung interessant. Dass sich die speziell dafür entwickelten Berufsführungen im Angebot des JSHZ etabliert haben, freut mich sehr. Das gibt den Jugendlichen die Möglichkeit, durch den Austausch mit Lernenden und Ausbildnern in direkten Kontakt mit der Arbeitswelt zu kommen. Susanne Spreiter Beim Projekt „Apropos 1–3“ werden Kinder und Jugendliche zu PartnerInnen der KünstlerInnen. Das JSHZ schliesst sich dafür mit anderen ausserschulischen Lernorten zusammen, dem JULL – Junges Literaturlabor, Tanzhaus Zürich und weiteren. AutorInnen begleiten Kinder und Jugendliche aus sechs Schulklassen
Foto: Toni Suter / T+T Fotografie
beim Schreiben und die dabei entstehenden Texte sind der Ausgangspunkt für drei Theater- beziehungsweise Tanzproduktionen. SchauspielerInnen, RegisseurInnen, MusikerInnen, BühnenbildnerInnen setzen sich intensiv mit Gedanken, Fragen, Beobachtungen der 10- bis 16Jährigen auseinander und geben ihnen in professionellen Aufführungen eine Öffentlichkeit. Das ist Partizipation pur. Beat Krebs Das gefällt mir auch beim Projekt „piccolo concerto grosso“. 6.-Klässler erarbeiten zusammen mit SeniorInnen, professionellen MusikerInnen und SchauspielerInnen ein Konzert der besonderen Art, eine Musiktheaterwerkstatt. Ariane Werder Und es ist so typisch, dass das JSHZ diese Zusammenarbeit mit ox&öl gleich dafür nutzt, mit dem Schulhaus Chriesiweg ein ganzes Schulhausprojekt aufzugleisen. Die Kinder der 3. bis 6. Klassen und deren Familien haben ein ganzes Schulhalbjahr Zeit, die Theaterwelt zu entdecken – ihrem Alter entsprechend und im Austausch mit denjenigen, die an Inszenierungen wie „Der Josa mit der Zauberfiedel“, „Der satanarchäolügenialkohöllische Wunschpunsch“ und anderen beteiligt sind. Beat Krebs Kultur und Bildung entwickeln Formate der Begegnung und des gegenseitigen Lernens, und das in Kooperation mit verschiedensten Partnern, inklusive Ausbildungsinstitutionen. Wir sehen unsere Funktion in der Unterstützung solcher kontinuierlichen Zusammenarbeiten. Noémie Blumenthal und Beat Krebs sind Mitglieder des Volksschulamtes der Bildungsdirektion des Kantons Zürich. Susanne Spreiter und Ariane Werder vertreten Stadt Zürich Schulkultur.
Liebe Grüsse ... oder Wohin das Leben fällt von Theo Fransz / Regie Theo Fransz Mit Grégoire Gros, Lina Hoppe, Daniel Kuschewski Wiederaufnahme 29. September, Schiffbau/Matchbox
Malala – Mädchen mit Buch Theater im Klassenzimmer nach dem Theaterstück von Nick Wood / Regie Enrico Beeler Mit Robert Baranowski /Silvan Kappeler
Apropos … Junges Literaturlabor trifft Junges Schauspielhaus In Zusammenarbeit mit JULL – Junges Literaturlabor Zürich Gefördert vom Lotteriefonds des Kantons Zürich Teil 1 „Apropos … überecho“ Regie Buz Premiere 30. Januar, Tanzhaus Zürich Teil 2 Regie Enrico Beeler Premiere März, Schiffbau/Matchbox Teil 3 Regie Daniel Kuschewski Premiere Mai, externer Spielort
piccolo concerto grosso Partizipatives, generationenübergreifendes Sprechmusiktheater 2. Oktober, Pfauen In Zusammenarbeit mit öx & öl
Theater im Gespräch zu „Liebe Grüsse … oder Wohin das Leben fällt“ & „Wahlverwandtschaften“, 6. November, 19:00–20:30 Treffpunkt Schiffbau/Foyer
41
von Sandra Suter
Schicht mit
Fotos: Philip Frowein
Robert Zähringer Robert Zähringer, der Leiter des Foyers und des Empfangs am Schauspielhaus, kennt sich nicht nur mit Garderobenständern und Tischdekorationen aus, sondern hat durch seine Vergangenheit als Kostümschneider, Gewandmeister und Leiter der Herrenkostümabteilung des Theater Basel den Theaterbetrieb schon aus allen möglichen Blickwinkeln gesehen. Er ist Gastgeber und Manager des „Vorderhauses“, leitet ein Team von über 40 Mitarbeitenden und schafft es dabei, immer elegant auszusehen.
9:33
Robert steht ein langer Tag bevor: Im Pfauen findet die Preisverleihung der Schweizer Theaterpreise mit Gästen aus der gesamten Schweizer Theaterszene und unter anderem mit Bundesrat Alain Berset als Redner statt. Roberts offizieller Arbeitstag beginnt in der Pfauenkantine. Hier kommt er häufig auf informelle Weise an Neuigkeiten, die sonst viel später zu ihm gelangen. Die nur vom Innern der drei Haustrakte zugängliche Terrasse verbindet drei Gebäude, die in mehreren Umbauten zusammengeschlossen wurden. „Es hat etwas Verwunschenes, wie dieses Haus gewachsen ist“, schmunzelt Robert – im weiteren Verlauf des Tages wird mich das Gefühl befallen, dass auch er irgendwie mit dem Pfauen verwachsen ist. Pepino, der Kantinenkoch, ist gerade dabei, die Apéro-Häppchen für heute Abend vorzubereiten.
10:05
Zufällig taucht Requisiteurin Marianne Boos auf, die gerne einige Garderobenständer ausleihen würde – statt Jacken werden dort morgen Abend Stoffhüllen für ein Gastspiel drapiert, die sie frisch gebügelt hat. Roberts Aufgaben bewegen sich häufig in einer Grauzone zwischen verschiedenen Bereichen. Mit der Requisite sind regelmässige Absprachen notwendig. Wenn zum Beispiel Getränke im Foyer verteilt werden, übernehmen dies Roberts Leute. Werden die Getränke aber wie beim Stück „Hans Schleif“ in der Kammer verteilt, gehört die Aufgabe eigentlich in den Bereich Requisite, weil es sich um eine sogenannte „szenische Aktion“ handelt. Der Einfachheit halber hat das aber beim Stück „Hans Schleif“ Roberts Team übernommen.
42
11:39
Nun kontrolliert Robert das Foyer. Für mich sieht schon alles tipptopp aus, doch Robert ist nicht zufrieden: Bei beiden Saaleingängen stehen sechs Stühle an der Wand – dabei sollen auf der rechten Seite aus Platzgründen nur fünf stehen und auf der linken dafür sieben. Auch die Stehtische sind nicht optimal platziert, da keine Möbel oder Gegenstände den direkten Fluchtweg zwischen Saaleingang und Foyereingang verstellen dürfen. Aber damit noch nicht genug: Jemand hat Stühle vor den Feuerkasten gestellt – auch das muss sofort in Ordnung gebracht werden.
12:01
Robert koordiniert die Diensteinsätze von insgesamt 45 Empfangs- und Foyermitarbeitenden im Pfauen und im Schiffbau. Er zeigt mir seinen präzise ausgearbeiteten Einsatzplan. Für jeden Abend gibt es eine hauptverantwortliche Person, die das Foyer vor der Abendvorstellung auf den Besuch der Gäste vorbereitet. Diese Position nennt sich V für Verantwortung. E ist der Einlassdienst. N ist der Normaldienst an der Garderobe und P steht für den Programmheftverkauf am Büchertisch. Die Organisation des Büchertischs liegt in den Händen von Roberts Stellvertreterin Isabel Zimmermann.
12:34
Ein Techniker der Tonabteilung taucht im Foyer auf und schickt sich an, das DJ-Pult für die anschliessende Feier zu installieren. Sofort interveniert Robert: Hier ist während des Apéros vor der Veranstaltung noch
43
ein Büchertisch geplant, das DJ-Pult kann also erst aufgebaut werden, wenn sich alle Gäste im Saal befinden. Am meisten Freude hat Robert an der Gastgeberrolle, die ihm neben seinen administrativen Aufgaben zukommt. „Meine Stärke ist es, im Moment auf Unvorhergesehenes zu reagieren. Eines der schönsten Komplimente, das ich bekommen habe, war: ‚Wenn du da bist, hat man keine Angst, dass etwas nicht läuft.‘“
13:21
Immer wieder klingelt Roberts Handy und er antwortet kreuz und quer auf allerlei Fragen. Ich bin neugierig, in welcher anderen Abteilung er gerne einen Tag lang arbeiten würde. Nach langem Überlegen nennt er die Inspizienz – wirft aber sofort ein, dass er nicht wisse, ob er den Nerv dazu hätte. „Oder ich würde gerne mal einen Tag mit unserer Intendantin verbringen!“ Beim Haupteingang wird nun ein roter Teppich verlegt, wobei Robert plötzlich auffällt, dass sich deswegen die Foyertüren nicht mehr schliessen lassen. Im Keller besorgen wir deshalb Absperrbänder, die Robert vor die offenen Türen stellt.
16:55
Kurz vor 17:00 ruft die Kantonspolizei am Empfang an. Es wird eine abschliessbare Garderobe für Herrn Berset benötigt. Während Robert diesen Auftrag dem Stellvertreter des Technischen Direktors Carsten Grigo übergeben kann, kümmert er sich um das erste Fernsehteam, das in diesem Moment eingetroffen ist. Es stellt sich heraus, dass nicht zwei, sondern fünf Fernsehteams erscheinen werden. Einige Logenplätze sind auf dem Balkon noch frei und lassen sich dementsprechend einrichten. Doch
eines der fünf Teams wird am Ende doch nicht auftauchen. Den Anteil an planbaren Aufgaben schätzt Robert auf etwa 70% ein. Der Rest sind Dinge, auf die er spontan reagieren muss. Wie um dies zu beweisen, meldet nun der Foyerverantwortliche ein Problem beim Aufschliessen des Kassentresors. Robert vermutet, dass die Batterie leer ist. Doch ausgerechnet heute gibt es am Empfang keine Ersatzbatterien mehr. Schliesslich werden wir bei der Tonabteilung im zweiten Stock fündig.
17:30
Nun ist Roberts ganzes Foyerteam eingetroffen und es findet ein Briefing statt, wie man es beim Chef de Service kennt. „Wie in der Gastronomie muss auch mein Team wissen, was heute die ‚Sonderangebote‘ und das ‚Tagesgericht‘ sind“, sagt Robert. Als ich nach den Anforderungen an sein Team frage, antwortet er: „Ich habe ein tolles, loyales, lässiges und kompetentes Team, dessen Mitglieder ich fast alle selber eingestellt habe. Dabei war mir wichtig, dass sie den Geist des Hauses, den Geist der Gastfreundschaft mittragen.“ Die Gäste haben sich inzwischen zahlreich im Kassenfoyer versammelt und endlich werden die Absperrungen von Robert entfernt – die Besucher strömen ins Foyer.
18:30
Die erste Eröffnungsrede beginnt. Der Raum ist komplett überfüllt – auch bei der Kasse und vor dem Haus stehen die Leute. Robert mahnt die Gäste im Kassenfoyer zur Ruhe, um dem Redner Gehör zu verschaffen. Nach den Reden verläuft der Einlass in den Saal nach Plan und Robert meint aufatmend: „Wenns anfängt, habe ich Pause!“ – und ich folge ihm in die Kantine.
20:30
Doch die Aufregung ist noch nicht überstanden: Auf einmal hören wir die Durchsage des Inspizienten, die Foyermitarbeiterinnen sollen sich für das Verteilen der Blumen auf der Bühne bereitmachen – 30 Minuten zu früh! In aller Eile ruft Robert seine zwei Mitarbeiterinnen herbei und lässt den Caterern derweil ausrichten, sie sollen sofort mit dem Einschenken des Sektes beginnen, denn die Durchsagen der Inspizienz sind im Foyer nicht zu hören.
21:46
Auch während des anschliessenden Apéros ist Robert noch im Einsatz. Seine letzte Amtshandlung ist das Einstellen der Beleuchtung auf „Partystimmung 2“ – da wird noch getanzt, aber der grösste Teil der Gäste hat das Foyer bereits verlassen. Nach 24:00 stossen wir in der Kantine auf Pepinos Geburtstag an – nach dem langen Tag haben sich alle den Feierabend verdient!
44
Drei Klassiker! Schauspielhaus Zürich Für alle KlassikerliebhaberInnen und die, die es werden wollen, bieten wir ein besonderes Herbstspecial an. Besuchen Sie drei Schauspielklassiker und erhalten Sie 20% Rabatt auf den Vollpreis.
Hamlet von William Shakespeare Regie Barbara Frey
Mit g hrun f Ein ü eder vor j lung! el Vorst
≈ 26. September, Pfauen, 20:00 Einführung um 19:15
Wahlverwandtschaften nach dem Roman von Johann Wolfgang von Goethe Regie Felicitas Brucker ≈ 2. November, Pfauen, 20:00 Einführung um 19:15
Endstation Sehnsucht von Tennessee Williams Regie Bastian Kraft ≈ 23. November, Pfauen, 20:00 Einführung um 19:15
Buchen Sie jetzt an der Theaterkasse vor Ort, telefonisch +41 44 258 77 77 oder unter schauspielhaus.ch
Foto: Matthias Horn
Brecht für die Zukunft „Zitieren, wir müssen zitieren, um mit unseren Worten eine Wirkung zu erzielen. Das nennt man Kultur“, wiederholt Sophie Rois im Zürcher Pfauen in „Bühne frei für Mick Levčik!“, April 2016, Regie René Pollesch. Bert Neumann entwarf die Idee für diesen Abend: Angeregt von Bertolt Brechts Theaterlabor 1948 in Zürich und Chur, liess er für die Produktion im Zürcher Pfauen die damalige fast leere Raumbühne von Caspar Neher nachbauen. Es entstand eine Art Readymade im Sinne von Brechts zeitgenössischem Theater und als Weiterentwicklung des einstigen Antigone-Modells 1948. Die Arbeit erhielt grosse Resonanz, reiste auf Gastspiel ans Berliner Ensemble und zum Theater Chur (zurück an den Entstehungsort von Brechts AntigoneModell 1948). Und auch der Brecht-Forscher Werner Wüthrich begeisterte sich für diese Arbeit als zeitgenössische Brecht-Interpretation und sieht in der Inszenierung „einen weiteren Anstoss und Impuls zu der aktuellen Debatte über Brechts praktische und theoretische Theaterarbeit“ (aus dem Vorwort). Er lancierte die Theaterdokumentation von „Bühne frei für Mick Levčik!“ als Datenstick, der nun erhältlich ist. Er enthält neben der Aufzeichnung der Premiere im Pfauen auch Videointerviews mit René Pollesch und Sophie Rois sowie verschiedene Arbeitsmaterialien. Gedacht ist die Materialsammlung für ZuschauerInnen, Schauspielschulen, Theater, Liebhaber, oder SchauspielerInnen. Ganz im Sinne Bertolt Brechts ist sie nicht kommerziell und kann zum Unkostenpreis von CHF 20 erworben werden am Büchertisch des Schauspielhauses Zürich oder bei ConfectaMedia Medienkonfektion, Martin Dreier, martin@dreierbern.ch 45
B
Szenen aus dem
Repertoire A
C
A
C
E
Mass für Mass
Die Physiker
von William Shakespeare Regie Jan Bosse
von Friedrich Dürrenmatt Regie Herbert Fritsch
Liebe Grüsse … oder Wohin das Leben fällt
B
D
Ausschliesslich Inländer
Rechnitz (Der Würgeengel)
Ein Georg-Kreisler-Abend von Nikolaus Habjan und Franui
von Elfriede Jelinek Regie Leonhard Koppelmann
46
von Theo Fransz Regie Theo Fransz
F Zündels Abgang nach dem Roman von Markus Werner Regie Zino Wey
E
D
Fotos: Toni Suter / T+T Fotografie, Raphael Hadad, Tanja Dorendorf / T+T Fotografie
F
D
47
un film di
matteo Garrone
ÂŤeine bittere wie brillante Gesellschaftsparabel.Âť nZZ
aB 18. oKtoBer im Kino 48
Zürcher Gespräche – Dialoge über Gesellschaft, Philosophie und Politik ec
kel
e Zw
i fe
l
St
iri
M
Lu
M
an
ss
ef
fu
am
r Bä
ka
s
Die Gastgeber
Da
vi
d
Die Reihe im Pfauen lädt grosse Persönlichkeiten zum Gespräch und schafft Begegnungen mit ihrem Werk und den gesellschaftlichen Entwicklungen, die sich darin spiegeln. Die amerikanische Autorin Siri Hustvedt, der Regisseur Peter Stein, die Stadtpräsidentin Corine Mauch, der Autor Robert Menasse und der ehemalige Präsident der Schweizer Nationalbank Philipp Hildebrand waren in der letzten Spielzeit zu Gast.
G
ra
eb
er
Erster Gast: David Graeber 14. September, 20:00, Pfauen Lukas Bärfuss diskutiert mit dem Anthropologen David Graeber über dessen neuestes Buch „Bullshit Jobs“. Veranstaltung auf Englisch / Talk in English Weitere Informationen und Termine unter schauspielhaus.ch Infomation in English: schauspielhaus.ch/englishseason 49
Foto: Benjamin Rauber
Impressum journal Sep / Okt / Nov / Dez 2018 Redaktionsschluss 30. August 2018
Was bewegt Zürich? Das Schauspielhaus fragt nach … … bei Nadja Zela: Einer deiner bekanntesten Songs heisst „Wrong Side of Town“ – gibts die auch in Zürich? Ich bin an der „Pfnüselküste“ aufgewachsen, in Wollishofen, damals das „Altersheim von Züri“ genannt. Wir Teenager fanden aber bald den Weg in die Rote Fabrik … Züri war in dieser Zeit ein verschlafenes Nest mit circa 5000 Banken, 3 Kaufhäusern, endlos viel Platz am See zum Herumhängen und ein paar IllegalBars, die dafür sorgten, dass man herausfand, wer man werden wollte. Heute ist es eine Kleinstadt mit zirka 5000 Banken, 3000 Kaufhäusern, null Platz am See für „s’Tüechli“ und Millionen von legalen Bars, die dafür sorgen, dass jeder Fleck in der Stadt so bewirtschaftet wird, dass man keine Chance mehr hat, herauszufinden, wer man ist oder werden will. Manchmal ist mir Züri zu überdefiniert. Die kulturelle Fülle ist toll, aber ich brauche auch die Leere, das Einfache. Das in der Stadt zu finden, macht mir Spass. Im Migros-Resti die Alten beobachten oder auf dem Friedhof hocken, wo niemand mir etwas verkaufen will. Ich mag die „falschen Seiten“ der Stadt halt genauso gern. Nadja Zela ist Sängerin, Songschreiberin und Gitarristin aus Zürich und hat als Frontfrau diverser Formationen und als Solo-Künstlerin die Indie-Rock-Szene in der Schweiz geprägt.
50
Abonnement Das Journal erscheint 3x jährlich und kann gegen einen Unkostenbeitrag von 12 Franken pro Jahr unter schauspielhaus.ch abonniert werden. Herausgegeben von der Schauspielhaus Zürich AG Zeltweg 5, 8032 Zürich Intendanz Barbara Frey Redaktion Christine Ginsberg (Bildredaktion), Benjamin Große, Karolin Trachte (Redaktionsleitung), Anne Britting, Petra Fischer, Christine Ginsberg, Amely Joana Haag, Viola Hasselberg, Andreas Karlaganis, Sandra Suter Korrektorat Johanna Grilj, Daniela Guse, Annika Herrmann-Seidel, Simone Schaller, Sandra Suter Gestaltung Selina Lang, Studio Geissbühler Druck Multicolor Print AG Auflage 15’000
Mit unserem Ticket-Upgrade haben Sie im Schauspielhaus bessere Karten.
Mehr unter zkb.ch/schauspielhaus
Wir sind stolze Partnerin vom Schauspielhaus ZĂźrich. Unsere Kundinnen und Kunden profitieren von einer besseren Sitzplatz-Kategorie. 51
Hamlet Schauspielhaus Zürich
52
Studio Geissbühler / Foto Jack Pryce