Schauspielhaus Zürich
Milo Rau, Lukas Bärfuss und Muriel Gerstner im Tischgespräch
Über Inklusion am Stadttheater und den Erfolg des Theater HORA
Jan / Feb / Mrz 2017
„In Formation“ – Guy Krnetas Stück über die Schweizer Medien
Welche Rolle spielt Engagement?
Nur wer hinter den Kulissen starke Partner hat, kann auf der B체hne gl채nzen. Deshalb unterst체tzen wir das Schauspielhaus Z체rich seit dem Jahr 2000 als Partner.
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Editorial
Verkehrte Welt von Barbara Frey
Die Autorin und Publizistin Carolin Emcke bekam im Oktober den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 2016 verliehen und musste im Nachgang zu ihrer klugen Dankesrede* allerhand öffentliche Schmähungen erdulden. Man unterstellte ihr „Selbstgerechtigkeit“, meinte, sie mache es sich zu einfach mit ihrer wohlfeilen Forschung nach den Ursachen des Hasses, der Intoleranz und der Ausgrenzungsszenarien in unserer Gesellschaft; sie spreche nur Dinge aus, die sowieso selbstverständlich seien, sie betreibe mit ihrem linksliberalen Diskurs eine „Schönwetterveranstaltung“, sie sei der „Darling der Anständigen“. So weit, so absurd. Parallel zur hämischen Schelte gegen Emcke lief die Endphase des schmutzigsten amerikanischen Wahlkampfs aller Zeiten. Trump, der Rüpel ohne politischen Plan, ist nun gewählt und die Welt hat ihren Darling der Unanständigen. Wie sich aus dem Konglomerat der Herabwürdigungen und Pöbeleien, die seine Wahlkampfstrategie definierten, eine Art politische Vision für Amerika und die Welt herausdestillieren lassen soll, beschäftigt jetzt Medien und Internet Tag und Nacht. Woher soll diese Vision kommen? Ein namhafter Schweizer Rechtspopulist bezeichnete Trumps Wahl elektrisiert als eine „Sternstunde der Demokratie“ und freute sich über die „gigantische Ohrfeige“, welche die „politische Universalkirche der Hochmoral und der richtigen Gesinnung“ kassiert habe. Zu einem allfälligen politischen Programm seines Vaterfigur-Idols fiel ihm nichts ein. Die routinierte, sinnentleerte Häme gegen das tausendfach verfluchte „Establishment“ waren ihm einmal mehr genug. Das ist verständlich, entbindet es ihn doch vom Nachdenken über seine eigene Zugehörigkeit zu einem Establishment – freilich eines der simpleren politischen Rezepte. Der dumpfe Eros der Frontenbildung, der aus den Wutreden des designierten US-Präsidenten herausdünstete, mag für viele Menschen auch deshalb befreiend gewirkt haben, weil sie sprachmüde geworden sind. Die multiplen Kommunikationsmöglichkeiten der sozialen Medien, die dem Dauertwitterer Trump in seinem morastigen Wahlkampf zum Erfolg verholfen haben, konnten die Welt bisher nicht zu einem besseren Ort machen; die auf jenen Kanälen überall feilgebotenen einfachen Lösungsvorschläge konnten und können komplexe Fragestellungen zur Weltordnung nicht wegpolemisieren. Der digitale Kosmos, in dem sich auch die Trump-Wähler tummeln, ist eine Wunschwelt ohne Verpflichtung, ohne Verantwortung, notfalls ohne irgendeine Spur einer
Gegenposition. Man kann darin arg denkfaul werden. Sprachmüdigkeit und infantiler Protest gegen die Kompliziertheit von sozialen und wirtschaftlichen Zusammenhängen in einer globalisierten Welt taugen freilich nicht als Polit-Rezept fürs Weisse Haus – sie würden auch für das politische Spitzenamt einer Schweizer Kleinstadt nicht genügen. Nun ist alle Welt gespannt darauf, ob und wie sich die präsidiale republikanische Rhetorik ändert und was die Ideen und Pläne sein sollen, deren Umsetzung den Entrechteten und Abgehängten Amerikas wirklich helfen kann. Der Wahlkampf hat darüber nichts verlauten lassen, er hat nur über Emotionen berichtet, nicht über Politik. In Europa wäre es unterdessen gut, einen kühlen Kopf zu bewahren und nicht die Falschen zu attackieren, wenn es um die Analyse der Ursprünge von sozialer Verrohung und zunehmender rechter Polemik geht. Wer zum Beispiel Carolin Emcke verspottet, demonstriert damit nur die eigene Ratlosigkeit in Bezug auf nicht aggressive, nicht ressentimentgeladene gedankliche Möglichkeiten, schwerwiegende soziale Krisen anzugehen. Vielleicht wirft man Emcke insgeheim ihre eigene Aggressionslosigkeit vor? Weil man selbst im Grunde den aggressiven Gestus bevorzugt? Auffallend an manchen der herablassenden Statements gegen sie ist eine unverhohlene Verachtung. Eine kleinmütige, zynische Schelte einem vermeintlichen „Gutmenschen“ gegenüber. Zynismus allerdings entlarvt sich immer selbst. Er ist, laut dem britischen Philosophen Bertrand Russell, nichts anderes als „das Ergebnis einer Verbindung von Bequemlichkeit mit Machtlosigkeit“. *nachzulesen auf friedenspreis-des-deutschen-buchhandels.de
Titelbild Yves Netzhammer
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Yves Netzhammer
Inhaltsverzeichnis 03 Editorial 06 Tischgespräch mit Lukas Bärfuss, Muriel Gerstner und Milo Rau 14 Theater HORA im Gespräch mit dem Schauspielhaus 17 Nachwort von Yukio Mishima zu seinem Stück „Madame de Sade“ 18 Mehr als Zuschauen im Überblick 20 „An Onkel Wanja“ – Ein Brief von Katja Früh 22 René Polleschs neues Stück 24 In Szene – Schauspielerin Susanne-Marie Wrage 26 „Inform/Unform“ – Kolumne von Stefan Zweifel 28 „Von Echokammern und Meinungsmache“ – über Guy Krnetas
und Sebastian Nüblings Projekt
31 „Auf Teufel komm raus“ – Kinderkreuzworträtsel 32 „Ich bin der Zuschauerraum“ – Der Kritikerclub 34 Essay über Markus Werners Roman „Zündels Abgang“ 36 Ins Theater mit Regisseurin Stina Werenfels – „Frau Schmitz“ 38 Schicht mit Freddy Andrés Rodríguez 42 „Our Voice/Our Hope“ – Schreibworkshop mit Flüchtlingen 44 Szenen aus dem Repertoire 46 pfauen:sounds 48 Close Up – Ensemblemitglieder zeigen ihre eigenen Arbeiten 50 Was bewegt Zürich? / Kulturtipps… / Impressum
Auch für diese Ausgabe des Journals hat der Schweizer Künstler Yves Netzhammer eigens Zeichnungen angefertigt, in denen sich Motive und Ideen aus „Madame de Sade“ von Yukio Mishima und Milo Raus Pasolini-Auseinandersetzung „Die 120 Tage von Sodom“ spiegeln. Wie auch in seinen Rauminstallationen und mit dem Computer errechneten Videofilmen, mit denen der Künstler international erfolgreich wurde, schöpft er seine Zeichnungen aus einem reichen, erzählerisch aufgeladenen Bildkosmos.
Mehr als Zuschauen
„Mehr als Zuschauen“ bietet Ihnen, unserem Publikum, Gelegenheit, sich in Diskussionen und Begegnungen aktiv mit den Produktionen des Schauspielhauses Zürich auseinanderzusetzen. Den Hinweis auf unsere Angebote finden Sie hier im Journal beim jeweiligen Artikel. Ausführlichere Informationen sind auf der Seite 18 vermerkt sowie in der Broschüre „Mehr als Zuschauen“ oder unter junges.schauspielhaus.ch
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Bühnenbildnerin Muriel Gerstner, Theatermacher Milo Rau und Autor Lukas Bärfuss (v. l.) Foto: Robert Aebli
Tischgespräch
Wir müssen es unbedingt den Jüngeren erzählen! „Frau Schmitz“ von Lukas Bärfuss kam gerade im Pfauen zur Uraufführung, die Bühnenbildnerin Muriel Gerstner erarbeitet zurzeit mit dem Regisseur Sebastian Nübling das Projekt „In Formation“ und der Theatermacher Milo Rau probt mit SpielerInnen des Ensembles und dem Theater HORA ein Projekt zu Pasolinis „Die 120 Tage von Sodom“. Wir haben die drei im charmanten Ambiente des Malsaals im Schiffbau zu einem Abendessen geladen und ihnen dabei zugehört, wie sie sich über ihre Projekte, über Erzählformen und aktuelle politische Entwicklungen unterhalten haben.
Die drei Gäste begrüssen sich. Nach einem langen Probentag, für Milo Rau sogar ohne Mittagessen, freuen sie sich auf etwas Warmes. Cornelia Wettstein vom Kantinenteam serviert Marronisuppe, selbstgebackenes Brot, eine Käseplatte und Wein. Lukas Bärfuss: Wo wohnt ihr jetzt? Muriel Gerstner: Ich pendle meistens. Ich wohne in Nidau in der Nähe von Biel. Milo Rau: Und wie kommst du in dieses Dorf? MG: Zufall! Wir haben einfach was gesucht, das schön, gross, bezahlbar ist. Allerdings habe ich während meiner Ausbildung zur Theatermalerin am Berner Stadttheater schon mal in Biel gewohnt. Also erst war ich anderthalb Jahre in Bern und dann bin ich nach Biel gezogen. Und ich habe aufgeatmet, man kommt einfacher ins Gespräch mit den Menschen. LB: Ich war auch in Biel. In Biel wurde ich eigentlich erst zum Schriftsteller. Ich habe quasi dasselbe erlebt. Aus diesem Bern raus, um in Biel frei atmen zu können. Jetzt wohne ich in Zürich. MR: Ah. LB: Seit April fast 20 Jahre. Ja, meine Kinder sind Zürcher geworden. MG: Und sprechen auch Zürichdeutsch? LB: Ja. Nur wenn sie mich hochnehmen, veräppeln wollen, sprechen sie Berndeutsch.
Sonst sind sie total verwurzelt in Zürich. Etwas, was ich mir nie hätte vorstellen können. MR: Ja, skurril. MG: Wo lebt ihr? MR: In Köln. LB: Ist das dein Lebensmittelpunkt? MR: Ja, der ist in Köln. Zuerst haben wir zwölf Jahre in Berlin gewohnt, aber dann kam die zweite Tochter. Ich bin ja sehr viel unterwegs und meine Freundin hat Familienanhang in Köln. Gleichzeitig ist Köln für mich ideal gelegen, da ich viel in Belgien und Frankreich arbeite – nach Brüssel kann ich fast pendeln. So sind wir dann nach Köln gezogen. MG: Was hast du mit den Belgiern gemacht? MR: Wir haben vor etwa zehn Jahren angefangen, mit belgischen Partnern Koproduktionen zu machen. Ich mag den Stil der belgischen Schauspieler sehr: dieses Intellektuelle, Unabhängige und doch sehr Spielerische. Alle drei einigen sich darauf, Weisswein zu trinken. Rund um die von Bühnenbildassistentin Selina Puorger liebevoll angerichtete Tafel werden Kerzen angezündet. LB: Ich war jetzt gerade bis Samstag in Den Haag auf einem Festival, das „Crossing Border“ heisst und eine Mischung aus Musikund Literaturfestival ist. Den Haag ist eine 7
wahnsinnig schöne Stadt. Das Mauritshuis beheimatet eine der drei schönsten Kollektionen mit Rembrandts, darunter die „Zwei Mohren“ und das letzte Selbstportrait. Also ich war dort und ich brauchte gar nicht in einen Coffeeshop zu gehen, ich war ohnehin schon high. Und dann diese so protestantisch bescheidene und trotzdem prunkvolle Atmosphäre, das ist wirklich etwas Besonderes. MG: Ich finde die Holländer und ihr Verhältnis zum Bauen wirklich inspirierend, wie sie zum Beispiel die Moderne weiterführen. Jedes Mal, wenn ich von Nidau nach Zürich fahre, denke ich: Unser schönes Land und ein architektonischer Albtraum reiht sich an den nächsten. LB: Ja, das ist eigentlich erstaunlich, warum das ausgerechnet in der Schweiz passiert ist, diese „Verhässlichung“. MR: Ausser in den französisch geprägten Städten, die ja auch meist eine gewisse Schönheit haben. Da gibt es diese Inszenierung des öffentlichen Raums, beispielsweise diese Boulevards. Da hat das Bürgertum im 19. Jahrhundert eben mal richtig durchgegriffen. LB: Das ist ein interessantes Thema, das mich auch beschäftigt. Das mit dem 19. Jahrhundert. Gerade in unserer Zeit gilt das 19. Jahrhundert eigentlich als letzte grosse kulturelle Prägung. MG: Meinst du für dich oder generell? LB: Nein, generell! Die Filme der Gebrüder Lumière sind neu editiert worden in einer wunderschönen Ausgabe. Die Rollen waren immer fünfzig Sekunden. Die sind perfekt. Da ist alles enthalten. Es gibt die Aufnahmen, die Inszenierung, die kannst du nicht besser machen, als von diesen Erfindern des Films. Die Ankunft eines Zuges im Bahnhof zum Beispiel oder wie die Leute die Fabrik verlassen. Es ist eigentlich alles vollendet. Und du hast das Gefühl, das, was nachher kam, sei eigentlich ein Rückschritt der Mittel. Ich habe neulich in der Filmhochschule in Ludwigsburg einen Workshop zu der Serie „Homeland“ gemacht. Ich habe sie mit den Romanen des 19. Jahrhunderts verglichen, mit jenen von 8
Dickens vor allem, und du siehst einfach, dass all diese Mittel, die jetzt als innovativ gefeiert werden, da schon entwickelt waren. Aber wie geht es dir eigentlich gerade bei der Beschäftigung mit Pasolini? MR: Ich habe in den letzten zwei Wochen mit dem kompletten Ensemble alle wichtigen Pasolini-Filme angesehen. Aus den Reaktionen der „Horas“ habe ich dann wieder gemerkt, wie fundamental das Medium Kino eigentlich funktioniert, wie viel Konzentration das braucht, wenn du – was ja Pasolinis Stil ist – fast durchgehend Grossaufnahmen von schweigenden Gesichtern hast. MG: Was ich wirklich bemerkenswert finde, ist, dass Pasolini wieder auf unsere Bühnen und in unser Bewusstsein zurückdrängt. Wir haben letztes Jahr „Accattone“, seinen ersten Film, bei der Ruhrtriennale gemacht. Zeitgleich gab es eine riesige Ausstellung in Berlin im Martin-Gropius-Bau zu seinem Gesamtwerk. Der Kulturtheoretiker Georges DidiHuberman gab ein Buch heraus, „Das Überleben der Glühwürmchen“ – eine wunderbare Analyse, weshalb Pasolini auf einmal für uns wieder wichtig wird. Irgendetwas beschäftigt uns wirklich an diesem Werk, sonst würdest du es ja auch nicht machen. MR: Für mich strahlt Pasolinis Werk eine Würde aus, fast eine Heiligkeit – jede Einstellung ist gesetzt, jede Dialogzeile, das hat alles eine hohe, völlig unironische Künstlichkeit. Wir unterliegen ja seit 50 Jahren dem Naturalismus-Terror auf der einen Seite und der Verkleinbürgerlichung unserer Welt auf der anderen. Bei Pasolini gibt es diese Feier des Proletarischen, des Ursprünglichen in „Accattone“ oder im „Evangelium nach Matthäus“. Es gibt diese Transzendenz in der Art, wie er diese oft zahnlosen, zerfurchten Gesichter filmt, diese kleinen Ganoven und Soldaten. Die würdest du heute gar nicht mehr finden. Als Haneke zum Beispiel Tagelöhner gesucht hat für „Das weisse Band“… MG: Da hat er sie nicht mehr gefunden! MR: Genau, und musste sie aus Rumänien holen.
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Für mich strahlt Pasolinis Werk eine Würde aus, fast eine Heiligkeit – jede Einstellung ist gesetzt, jede Dialogzeile, das hat alles eine hohe, völlig unironische Künstlichkeit.
MG: „Accattone“ wird eingeleitet mit einem Dante-Zitat. Pasolini eröffnet sofort den Dialog mit seiner kulturellen Erbschaft. Und, wenn du dir den Film sehr genau anschaust, dann findest du zu jedem Bild eine Korrespondenz in der Malerei. Es gibt zum Beispiel die liegende Frauenfigur, die Prostituierte Magdalena, die mit tausend liegenden Venusfiguren der Renaissance korrespondiert. Sie erfährt bei Passolini aber eine interessante Umschrift, denn diese Frau hat ein gebrochenes Bein. Das heisst, du hast da eine Magdalena liegen, die einen Gips trägt, also buchstäblich gebrochen ist. Die andere Frauenfigur, die Arbeiterin Stella, erscheint immer aufrechtstehend aus dem Dunkeln – eine Persephone-Figur, die aus der Dunkelheit ins Licht kommt. Und zwischen diesen beiden Frauen ist Accattone positioniert. MR: Ja das stimmt. Für mich ist Pasolini vielleicht der einzige Künstler oder Intellektuelle, bei dem ich bei jeder Zeile oder jeder Einstellung denke: „Ja, das stimmt eigentlich, was er sagt.“ Auch wenn ich nicht gleicher Meinung bin, denn er war ja wahnsinnig idiosynkratisch, wahnsinnig verbohrt in seinen Überzeugungen. Er war beispielsweise gegen die Abtreibung: Das Leben war für ihn heilig. Gleichzeitig ist seine Gegnerschaft natürlich dialektisch. Er sieht den Widerspruch zu seinem sonst sehr libertären Denken etwa in Bezug auf die Selbstbestimmung der Frau. Es ist interessant, Pasolinis Paradoxien weiterzudenken. Heute führt die Pränataldiagnostik dazu, dass die Mitglieder des Theaters HORA, von denen die meisten Trisomie 21 haben, die letzten ihrer Art sind: Es werden keine neuen mehr geboren, die werden alle abgetrieben. Und da leuchtet Pasolinis eigentlich konservative Rede von der „Heiligkeit des Lebens“ wieder ein. LB: Ich glaube, was die Generation von
Pasolini erlebt hat, ist technologisch unvergleichlich viel umstürzlerischer gewesen, als das, was wir heute erleben. Ich finde es immer wieder erstaunlich … Hans Staub zum Beispiel, einer der Fotografen der Schweiz der Dreissiger- bis Sechzigerjahre, hat grosse Reportagen gemacht und ist durchs Land gereist. Von dieser Schweiz, die er gefilmt hat, gibt es keine Spur mehr, die ist zwischen 1965 und 1980 verschwunden. Du siehst es an den Hüten! Es gibt keine Hüte mehr. Wenn du dir die Berufe anschaust, da gab es noch den Drechsler, Korber, Schmied. Dagegen ist das, was in den letzten zwanzig Jahren geschehen ist, wirklich Pipifax. Ich habe das auch in den letzten fünf Jahren lernen müssen, dass wir jetzt in die Position kommen, dass wir den Menschen, die zwanzig oder zehn Jahre jünger sind, gewisse Dinge erzählen müssen. Ich finde, das ist eine total schwierige Transformation innerhalb des erwachsenen Lebens. Dass du nämlich plötzlich merkst, es gibt niemanden mehr, der jetzt noch Traditionsträger ist. Und wir müssen es unbedingt den Jüngeren erzählen!
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MR: Ich habe noch eine Frage an euch beide: Wenn man nach Israel geht, hat man bei vielen linken Intellektuellen diesen melancholischen, eigentlich sehr konservativen Postzionismus. Wenn man nach Russland kommt, wird man sogar von Feministinnen mit antiinternationalistischen Positionen konfrontiert und in Frankreich gibt es viele ehemals linke Intellektuelle, die heute konservative Positionen vertreten. Was haltet ihr davon? Ich meine jetzt nicht die vollkommen zynischen Populisten à la Trump, sondern die modernen Pasolinis, die konservative und linke Ideen zusammenbringen. Habt ihr euch mit denen ausgetauscht? 11
LB: Ich finde es sehr erstaunlich, wie deutlich das geworden ist. Also für mich ist schon in den letzten Monaten und Jahren sehr viel eindeutiger geworden, wo die Menschen stehen, wofür sie stehen und was der Boden ist, aus dem sie gewachsen sind. Ich denke, gerade rechte Positionen sind ja mittlerweile überall. Da muss man fast schon suchen, dass man das Andere findet. MG: Ich würde es differenzieren. Also zum Beispiel wenn du sagst postzionistisch – das ist einfach eine unglaublich heikle Debatte. Da merke ich, das könnte mir jetzt auch passieren, dass ich da hineinfalle: Wenn du als jüdischer Mensch – was ich von der Herkunft her bin –, in einen tendenziösen Diskurs ver12
wickelt wirst, dann wirst du ihn je nachdem einfach mit einer Haltung abkürzen und konterkarieren, weil es in dem Moment ein Gegengewicht braucht. Aber was mich derzeit wirklich fassungslos macht, ist, von wie vielen Leuten ich die unsäglichsten Tiraden über Frau Clinton höre. Weil ich denke, okay, man kann ihr dies vorwerfen, man kann ihr jenes vorwerfen, aber unter dem Strich muss man sagen, es ist einfach eine brillante Frau mit ernomer Erfahrung, die die Aufgabe von innen heraus kennt. Ich kann mir im Moment nichts Besseres wünschen als das. Was ist los? Wie frauenfeindlich ist der Diskurs? Und wie ist unser Selbstbild als Frauen geprägt, dass wir so negativ auf diese Frau reagieren?
LB: Ja, man schaue nur die Reaktionen auf Carolin Emckes Paulskirchenrede an, dann weiss man, wie mies der Diskurs ist. MG: Da finde ich ja „Frau Schmitz“ extrem brauchbar und die Frage, wie ein weiblicher und ein männlicher Diskurs funktioniert. Was passiert, wenn man mit Frau Schmitz als Frau Schmitz oder mit Frau Schmitz als Herrn Schmitz, die ja ein und dieselbe Person sind, konfrontiert ist? Was passiert, wenn man als Arbeitgeber Herrn Schmitz eigentlich behalten will, Frau Schmitz aber sagt „I would prefer not to“, sie würde lieber als Frau die Karriere fortsetzen. Das ist ja auch für diese unsägliche Situation in Amerika total interessant: Du hast eigentlich eine „phallische“ Frau, eine Frau, die sagt: „Ja ich kann, ja ich will und ich glaube auch, dass ich die Richtige bin im Moment.“ LB: Unerträglich. Für Männer ist das unerträglich. MG: Die Antwort auf Clinton ist in der Tat auch höchst rigide und möglicherweise eine gute Illustration dafür, was Antonio Gramsci ein morsches Symptom genannt hat. Etwas, dass am Ende einer Epoche auftaucht, in Umbruchzeiten also. An Trumps Kampagne und deren Wirkungsweise lassen sich übrigens auch ganz viele Fragen verhandeln, die uns in unserer Produktion „In Formation“ beschäftigen. Wie sieht es aus mit dem Rüstzeug, mit dem wir bis dato Demokratie verhandelt haben? Bricht uns mit den erdrutschartigen Verschiebungen in unserem Informationsverhalten, das sich immer mehr ins Internet und in unbezahlte Kanäle verlagert, die sogenannte vierte Säule weg, sprich zuverlässiger Journalismus? Was kommt auf uns zu, wenn Politik aufwendig als Soap inszeniert wird und dies die bisweilen mühsame Argumentation mit Fakten ersetzt. Wie gehen wir damit um, dass in unserer Welt, die uns eigentlich täglich zu komplexen Verknüpfungen zwingt, immer weniger Leute bereit zu sein scheinen, sich auf eine Botschaft einzulassen, die Twitterlänge übersteigt? LB: Was mich eigentlich beunruhigt an der politischen Grosswetterlage in Europa, sind gar nicht so sehr die Extremisten. Die Extremisten sind etwas, was die europäische Geschichte schon immer begleitet hat. Ich glaube, es gibt eine unglaubliche Zukunftsverdrossenheit. Eine Angst davor, dass wir eigentlich in einer Latenzzeit leben und wir
alle auf eine ganz bestimmte Katastrophe zuleben müssen, nach der dann alles irgendwie bei null beginnen könnte. Und das macht mir deshalb Sorgen, weil wir als Künstler eigentlich immer die Zukunftspessimisten hätten sein müssen, oder? Ich griff heute aus der Badewanne blind nach einem Buch im Bücherregal und hatte den Band von Marcel Reich-Ranicki über Thomas Bernhard in der Hand. Und diese Freude, dass es da noch einen Künstler gibt, der sich in diese Weltuntergangsszenarien und in diese misanthropischen Exzesse hineingibt, und diesen Bildungsbürger, der darauf verweist, wie wichtig diese Position ist. Und du liest das und denkst, das ist jetzt mehrheitsfähig, diese Position, dieser misanthropische Thomas Bernhard. Das ist genau das, was überall eigentlich zum Tragen kommt. Das ist nur ein kleiner Auszug des Gesprächs, das bis in den späten Abend fortgeführt wurde. Die drei Gäste fanden keine positivere Beschreibung der derzeitigen politischen Stimmungslage, die ein paar Tage darauf in der Präsidentschaftswahl in den USA befürchtetermassen auch entsprechend zum Ausdruck kam. Aufgezeichnet von Gwendolyne Melchinger und Irina Müller.
Frau Schmitz von Lukas Bärfuss / Regie Barbara Frey Uraufführung Mit Gottfried Breitfuss, Carolin Conrad, Lambert Hamel, Henrike Johanna Jörissen Lisa-Katrina Mayer, Dominik Maringer, Markus Scheumann, Friederike Wagner, Susanne-Marie Wrage, Milian Zerzawy 28./31. Dezember / 3./10./19./28. Januar, Pfauen Unterstützt von der Stiftung Corymbo
Die 120 Tage von Sodom siehe Seite 15
Madame de Sade siehe Seite 18
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Diskussion
Who the fuck is Jérôme Bel? Die Theatergruppe HORA probt mit dem Projekt „Die 120 Tage von Sodom“ zum ersten Mal am Schauspielhaus Zürich und zusammen mit dem Schweizer Theatermacher Milo Rau. Als das Theater HORA 2016 den Schweizer Theaterpreis gewann, hielt der Leiter Giancarlo Marinucci eine Rede, die davon erzählte, dass HORAs Erfolge noch keine Garantie für Diversität in den künstlerischen Berufsfeldern garantiert. Um über die gemeinsame Arbeit zu diskutieren, trafen sich Theater HORA und das Schauspielhaus Zürich in grosser Runde.
Zum Gespräch trafen sich vom Theater HORA Giancarlo Marinucci (Gesamtleiter), Michael Elber (Künstlerischer Leiter), Urs Beeler (Ausbildungsleiter), Nele Jahnke (stellvertetende künstlerische Leiterin) sowie vom Schauspielhaus Gwendolyne Melchinger (Dramaturgin), Petra Fischer (Leiterin Junges Schauspielhaus) und Klaus Brömmelmeier (Ensemblemitglied und Regisseur eigener Projekte). Gwendolyne Melchinger: Die Theatergruppe HORA ist das einzige professionelle Theaterensemble von geistig behinderten Menschen in der Schweiz. Ihr wart beim Berliner Theatertreffen, habt mehrere Preise bekommen. Was 14
hat sich dadurch seither verändert – extern wie intern? Michael Elber: Was sich geändert hat, ist, dass andere Partner interessiert sind, mit uns zu arbeiten – so wie jetzt das Schauspielhaus. Eine Jérôme-Bel-Produktion ist eben eine Jérôme-Bel-Produktion. Und „Die 120 Tage von Sodom“ wird eine Milo-Rau-Produktion sein, die auch von den entsprechenden Zuschauerkreisen wahrgenommen wird. Nele Jahnke: Bei unseren Schauspielern und und Schauspielerinnen habe ich das Gefühl, dass sie gerne arbeiten, auch mit unterschiedlichen Leuten. Sie spielen einfach
gerne, das ist für sie das Wichtigste – egal ob hier oder in Brüttisellen. Petra Fischer: In meiner Wahrnehmung verändert sich auch der Zuschauerkreis jeweils mit den Partnern, mit denen ihr zusammenarbeitet. Und dadurch, dass ihr mit so verschiedenen Leuten kooperiert, erweitert sich der Kreis schon, aber es ist immer alles konkret projektgebunden. Michael Elber: Es ist eine andere Art von Arbeiten, aber grundsätzlich ist es fürs Image von HORA natürlich gut, mit Theaterschaffenden zu arbeiten, die eben keinen IV-Stempel haben. Das ist als Inklusion für alle wichtig, ob sie bekannt sind oder nicht. Denn „Who the fuck is Jérôme Bel?“! Das war ja für Jérôme wunderbar, dass die HORA-Spieler keine Ahnung hatten, wer er ist. Statt wie sonst, wenn er mit Schauspielern oder Tänzern arbeitet, die vor Ehrfurcht erstarren, wenn sie mit Jérôme arbeiten dürfen. Das war denen scheissegal. Der hat mal Leute gehabt, die ihm nichts vorspielen! Gwendolyne Melchinger: Auch wir profitieren enorm, wenn eure Darsteller bei uns und mit uns spielen, das ist unumstritten. Neben der Arbeit mit dem HORA-Ensemble bildet ihr auch Menschen mit Behinderung zu Schauspielern aus. Urs, du hast eine Schauspielausbildung aufgebaut. Und jetzt gibt es massive Probleme bei der Finanzierung der Ausbildung. Giancarlo hat in seiner Rede darauf hingewiesen. Worum geht es da? Urs Beeler: Im Moment ist das erste Ausbildungsjahr finanziert. Und dann kommt es von Fall zu Fall darauf an, wer die Beratung übernommen hat. Das ist völlig personenabhängig. Wenn du einen IV-Berater oder eine IV-Beraterin hast, der oder die der Sache zugetan ist, dann kannst du darauf hoffen, dass du das zweite Ausbildungsjahr für die betreffende Person bezahlt bekommst und wenn nicht, dann nicht. Die Einwilligung, dieses zu übernehmen, macht die IV davon abhängig, dass perspektiv rententangierend Lohn verdient wird (mind. 1500 CHF monatlich). Diese Praxis widerspricht der UN-Behindertenrechtskonvention. Dies bedeutet, dass ich andauernd Rekurse schreiben muss, einerseits über unzulängliche Ausbildungsfähigkeit und andererseits zu Kostengutsprachen für das zweite Lehrjahr. Beides wird von der IV bestimmt.* Gwendolyne Melchinger: Wie kann das denn die IV bestimmen?
Giancarlo Marinucci: Die haben einfach ihre Ärzte. Sie machen IQ-Tests und ähnlich genormte Tests, von denen ich nichts halte, und entscheiden: „Nein, der oder die ist nicht ausbildungsfähig“, weil er oder sie zum Beispiel nicht rechnen, lesen oder schreiben kann. Gwendolyne Melchinger: Aber warum ist denn Rechnen, Lesen und Schreiben ein Kriterium? Michael Elber: (lacht) Das ist es ja eben! Giancarlo Marinucci: Sie gehen nach den Kulturtechniken. Klaus Brömmelmeier: Das ist das grundsätzlich Kranke im System. Statt dass das Schauspielhaus Zürich einen behinderten Schauspieler ins Ensemble engagiert, sollte es sich als Kulturorganisation in einer relativ kleinen Stadt wie Zürich viel mehr gemeinschaftlich begreifen und die Qualitäten da suchen, wo sie sich befinden. Wenn ich die Qualität der „Horas“ nur kriegen kann, indem ich ein zweites Ausbildungsjahr bezahle als Schauspielhaus Zürich, dann könnte ich sagen: „Wir machen sicher eine Koproduktion pro Jahr, denn wir wollen, dass die Leute da anständig Geld verdienen“. Und auch eine Kulturbehörde oder eine IV-Ärztegemeinschaft könnte sagen: „Wir merken, dass wir nur Qualität finden, wenn wir das so ermöglichen können“. Gwendolyne Melchinger: Aber was würde es bedeuten, einen Schauspieler mit geistiger Behinderung an ein Stadttheater zu engagieren? Spontan wäre ich dagegen. Das hat zwei Gründe. So wie der Betrieb aufgebaut ist, müsste er oder sie sich diesem System unterordnen, weil es kaum Raum für andere Arbeitsformen und Zeitstrukturen gibt. Ausserdem habe ich das Gefühl, dass sie in dieser Konstellation immer als „Exoten“, als „behinderte Schauspieler“ wahrgenommen und eingesetzt werden würden. Viel interessanter wäre es, wenn das HORA-Ensemble ein eigenes (Stadt-)Theater bekommen würde, mit Kooperationen und Öffnungen nach aussen und vielleicht sogar mit einer eigenen Ausbildungsstätte. Nele Jahnke: Da haben wir alle verschiedene Haltungen. Für mich spielen verschiedene Faktoren eine Rolle. Zuerst die Frage, was ein Schauspieler ist. Ein Schauspieler ist auf eine Art und Weise ein Repräsentant. In meiner Schauspielschulklasse gab es gerade 15
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„Who the fuck is Jérôme Bel?“ Es war für Jérôme wunderbar, dass die HORASpieler keine Ahnung hatten, wer er ist. Statt wie sonst, wenn er mit Schauspielern oder Tänzern arbeitet, die vor Ehrfurcht erstarren, wenn sie mit Jérôme Bel arbeiten dürfen. Das war denen scheissegal. Der hat mal Leute gehabt, die ihm nichts vorspielen!
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mal eine Frau unter 1,72 Meter und eine Frau, die nicht Kleidergrösse 36 bis 38 hatte. Da wird schon mal ganz stark ein Bild geformt, wie ein Schauspieler sein soll. Das ist genau die gleiche Debatte, die man bei Menschen mit „Migrationshintergrund“ hat, wenn beispielsweise ein Kollege mit türkischem Hintergrund dreimal einen Diener spielt und danach gesagt wird: „Ach, das ist uns gar nicht aufgefallen. Sorry!“ Urs Beeler: Ich glaube, es bräuchte ein Haus, in dem die Regisseure das unbedingt wollen und die Schauspieler dazu Lust haben – und dann funktioniert es. Und dann wird es auch nicht passieren, dass die Behinderten Behinderte spielen, weil das dann kein Thema mehr ist. Gwendolyne Melchinger: Was wünscht ihr euch denn für die Zusammenarbeit mit Milo Rau und dem Schauspielhaus im Zusammenhang mit dem Pasolini-Stoff? Michael Elber: Er hat mein Vertrauen. Und ich bin gespannt auf die Zuschauerreaktionen, aber ich muss mich als künstlerischer Leiter auch etwas vorbereiten. Am Anfang war die Haltung vielerseits, dass ein geistig behinderter Mensch nicht auf die Bühne darf. Fertig. Und dann war er doch auf der Bühne. Und irgendwann auch mal halbnackt. Das wurde ein grosses Thema beispielsweise für die Eltern. Was mutet man den Spielerinnen und Spielern da eigentlich zu? Nele Jahnke: Ich finde, man sollte grundsätzlich beim Schauspiel darüber reden: Was mutet man zu? Und wo ist es gut und sinnvoll, 16
dass man eine Zumutung ist, dass man Risiken eingeht und wo sind Grenzen? Was ist denn, wenn du dich zehnmal hintereinander ausziehst und dann sagst, du möchtest es nicht mehr? Ich erhoffe mir von der Produktion und Zusammenarbeit, dass man auch mehr von den „Horas“ als einzelnen Schauspielern redet. Giancarlo Marinucci: Ich erhoffe mir einfach, dass das nichts Aussergewöhnliches mehr ist. Das Stück soll aussergewöhnlich sein, interessant und künstlerisch herausfordernd. Michael Elber: Und was ich ausserdem hoffe, ist, dass die Lust und die Begeisterung nicht nachlässt, wenn Milo, der ja doch sehr genau arbeitet, merkt, dass unsere Leute eben nicht so genau geführt werden können. Am Anfang macht es immer allen extrem Spass, aber wenn dann Julia und Nikolai sich Freiräume nehmen, kann es auch schwieriger werden. Gwendolyne Melchinger: Und gibt es für dich etwas von der Produktion oder Zusammenarbeit, das dir wichtig wäre? Urs Beeler: Dass es weitergeht. Dass so ein Projekt nicht eine Eintagsfliege wird, das hoffe ich eigentlich am meisten. * Das Gespräch wurde am 31.10. geführt. Die jüngsten rechtlichen Entwicklungen zur Thematik sind deswegen noch nicht berücksichtigt.
Die 120 Tage von Sodom von Milo Rau nach Motiven von Pier Paolo Pasolini und Donatien Alphonse François de Sade Uraufführung Kooperation mit dem Theater HORA Text und Regie Milo Rau Mit Noha Badir, Remo Beuggert, Gianni Blumer, Matthias Brücker, Nikolai Gralak, Matthias Grandjean, Julia Häusermann, Sara Hess, Robert Hunger-Bühler, Dagna Litzenberger Vinet, Michael Neuenschwander, Matthias Neukirch, Tiziana Pagliaro, Nora Tosconi, Fabienne Villiger Premiere 10. Februar, Schiffbau/Box
Inszenierungseinblick zu „Die 120 Tage von Sodom“, 23. Januar, 19:00–20:30, Treffpunkt Schiffbau/Foyer Theater im Gespräch zu „Die 120 Tage von Sodom“ und „Madame de Sade“, 9. März, 19:00–20:30, Treffpunkt Schiffbau/Foyer
Kreisen wie Planeten um einen Fixstern Alvis Hermanis inszeniert „Madame de Sade“ des japanischen Autors Yukio Mishima. Das Stück thematisiert den Skandal der sexuellen Grenzüberschreitung, die Utopie eines Menschen, der seine Triebe auslebt. Der Autor erlebte als Homosexueller selbst gesellschaftliche Ächtung: Mit einem Bein stand er in der traditionellen Gesellschaft Japans, mit dem anderen Bein in der kriminalisierten Geheimgesellschaft der Homosexualität. Die Hauptfigur in diesem Stück, die Marquise de Sade, ist der Wunschtraum einer Partnerin, die ihren Gatten akzeptiert und sein gespaltenes Leben zusammenhält. Im Nachwort zu der deutschen Übersetzung erklärte der Autor: Beim Lesen des Buches „Das Leben des Marquis de Sade“ von Tatsuhiko Shibusawa beschäftigte mich als Schriftsteller das Geheimnis aufs Äusserste, warum wohl die Marquise de Sade, nachdem sie ihrem Gatten während der drei Jahre seiner Kerkerhaft so unbedingt die Treue gehalten hatte, sich im gleichen Augenblick von ihm abwandte, als er endlich die Freiheit wiedererlangte. Dieses Rätsel wurde zum Ausgangspunkt meines Stückes, mit dem ich versuche, eine logische Lösung zu bieten. Ich verspürte die
Gewissheit, dass hier etwas zutiefst Unverständliches und doch zugleich zutiefst Wahrhaftes der menschlichen Natur verborgen lag, und habe das Leben des Marquis erforscht, wobei ich bemüht war, alles unter dem erwähnten Aspekt zu betrachten. Dieses Theaterstück könnte den Titel „De Sade in den Augen der Frauen“ tragen, was mich verpflichtete, die Marquise in den Mittelpunkt zu stellen und das Motiv dadurch zu verdichten, dass ich alle anderen Rollen 17
ebenfalls Frauen übertrug. Madame de Sade steht für weibliche Ergebenheit, ihre Mutter, Madame de Montreuil, für Recht und Gesetz, die Gesellschaft und die Moral, die Baronin Simiane für Religion, die Gräfin Saint-Fond für fleischliche Begierden, Anne, die jüngere Schwester der Marquise, für weibliche Unbekümmertheit und Mangel an Prinzipien und die Beschliesserin Charlotte für das gemeine Volk. Ich hatte versucht, diese Personen in Beziehung zu Madame de Sade zu bringen und sie um die Marquise kreisen zu lassen wie Planeten um einen Fixstern. Ich fühlte mich veranlasst, die üblichen trivialen Bühneneffekte zu meiden und die Handlung ausschliesslich mit Hilfe des Dialogs voranzutreiben. Das Aufeinanderprallen der gegensätzlichen Meinungen musste das dramatische Moment hergeben und Gefühle hatten im Gewande der Vernunft zu erscheinen. Ich war der Meinung, das visuelle Bedürfnis würde höchstwahrscheinlich durch die prächtigen Rokokokostüme befriedigt werden. Das Ganze sollte sich wie ein präzises, geometrisches System um Madame de Sade herum aufbauen. Mit diesen Vorstellungen begann ich die Niederschrift des Stückes, bin allerdings nicht ganz sicher, ob das, was ich vorhatte, mir auch wirklich gelungen ist. Aber eines steht für mich fest: dieses Theaterstück stellt die Endsumme der logischen Schlussfolgerungen aus Ansichten dar, die ich seit Langem über das Theater hegte. Yukio Mishima, 1965 Deutsch von Kai Molvig
Madame de Sade von Yukio Mishima / Regie und Bühne Alvis Hermanis Mit Miriam Maertens, Lisa-Katrina Mayer, Sunnyi Melles, Kuan-Ling Tsai, Friederike Wagner, Susanne-Marie Wrage Premiere 2. Februar, Pfauen
Mehr als Zuschauen Spielen, Forschen, Schreiben: „Mehr als Zuschauen“ bietet Ihnen, unserem Publikum, Gelegenheit, sich aktiv mit den Produktionen des Schauspielhauses, ihren Inhalten, ästhetischen Besonderheiten, Arbeitsweisen und Theater im Allgemeinen auseinanderzusetzen. Alle Angebote sind mit dem Hinweis gekennzeichnet. Weitere Angebote und Termine finden Sie direkt bei den Beiträgen in diesem Journal, auf unserem Faltflyer „Mehr als Zuschauen“ und unter schauspielhaus.ch/mehralszuschauen
Für Kinder und Familien
Augenblicke hinter den Kulissen
Führung durch die Theaterwerkstätten im Schiffbau für Kinder und Familien 18. Januar, 14:00–15:30 / 23. Februar, 10:30–12:00 / 8. März, 14:00–15:30 Treffpunkt Schiffbau/Foyer
Kinderkulturakademie Zürich KKAZ
Frühlingssemester, für Kinder von 7 bis 9 Jahren sowie Jugendliche von 10 bis 13 Jahren, 3. Mai bis 28. Juni Anmeldung ab 1. Januar unter kkaz.ch In Zusammenarbeit mit dem Museum Haus Konstruktiv
Für Erwachsene und Jugendliche Backstage – Verwandlung
Vor bzw. nach Vorstellungen von „Die Verwandlung“
Spielclub 60+ „Verwandlungen“
zu „Die Verwandlung“ Abschlusspräsentation 17. Februar, 19:00 / 18. Februar, 15:00 und 19:00 Treffpunkt Pfauen/Foyer
Inszenierungseinblick
zu „Die Wildente“, 28. Februar, 19:00–20:30 Treffpunkt Schiffbau/Foyer
Inszenierungseinblick zu „Räuber“, 6. März, 19:00–20:30 Treffpunkt Schiffbau/Foyer
Inszenierungseinblick Inszenierungseinblick zu „Madame de Sade“ 17. Januar, 19:00–20:30, Treffpunkt Schiffbau/Foyer Theater im Gespräch zu „Madame de Sade“ und „Die 120 Tage von Sodom“ 9. März, 19:00–20:30, Treffpunkt Schiffbau/Foyer
zu „Grimm“, 20. März, 19:00–20:30 Treffpunkt Schiffbau/Foyer
Für Jugendliche Schlachtfeld Familie
Antiker Stoff in drei Jahrhunderten 17./31. Januar / 9./28. Februar / 2./7. März Nähere Informationen unter schauspielhaus.ch/mehralszuschauen In Zusammenarbeit mit dem Opernhaus Zürich
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19 „Mehr als Uni“ Workshop – Vorstellungsbesuch – Kantinengespräch. Weitere Informationen und Termine unter schauspielhaus.ch/mehralszuschauen/furstudierende
An Onkel Wanja W
eisst du, Onkel Wanja, wir sind jetzt die, die 120 Jahre später leben. Die von denen du und dein On- and Off-Freund Astrow so oft gesprochen habt. Die, von denen ihr geglaubt habt, dass es ihnen so sehr viel besser gehen wird, die von denen ihr gedacht habt, sie werden auf euch hinabsehen, auf euch unwürdige Kreaturen, die ihr Leben vergeudet haben. Aber das tun wir nicht, denn trotz allem, was sich geändert hat, sind wir noch gleich. Traurig sind wir auch, auf unsere Weise. Und viele haben das Gefühl, im falschen Leben zu leben und wissen nicht, was das richtige sein könnte. Oder sie glauben, eigentlich jemand ganz anderer zu sein, wie du, vielleicht Schopenhauer oder Dostojewski, hätten sie nur nicht zu lange damit gewartet und falschen Idealen hinterhergejagt. Aber heute, spätestens nach deinem missglückten, lächerlichen Mordversuch, hätte man dich natürlich in Behandlung gegeben zu einem Psychologen. Man hätte dir wahrscheinlich eine chronische Depression diagnostiziert und es erst mal mit einer Gesprächstherapie versucht. Und das hättest du geliebt, weil du ja gerne redest, vor allem über dich selbst und dein Unglück. Du hät-
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test tausend Tipps bekommen, denn heute hat man für alles eine Lösung. Jahrelang hätte man mit dir über deine Kindheit gesprochen und das Verhältnis zu deiner Mutter. Das sich dadurch aber alles andere als verbessert hätte. Der Psychologe hätte dich schliesslich weitergeleitet zu einem Psychiater, denn der darf dich medikamentös behandeln. Zu den Serotoninwiederaufnahmehemmern verschreibt er dir Sport und du löst ein Abo in einem Fitnessclub und strampelst dich auf Laufbändern und Crosstrainern ab. Kannst du dir das vorstellen, Wanja? Vorübergehend geht es dir besser, denn die Pillen wirken und das findest du wirklich toll. Du schläfst nicht mehr so lange, denn dein Antrieb ist morgens wieder in Ordnung und der verordnete Spaziergang vor der Arbeit tut dir wirklich gut und du siehst die Natur wieder und das Wetter. Du bist auch wieder etwas freundlicher zu Sonja und zu Marina und der arme Streuselkuchen Telegin geht dir nicht mehr nur auf die Nerven. Nur deine Mutter bedrückt dich immer noch genauso. Du hast in der Therapie zwar herausgefunden, dass du es aufgeben solltest, um ihre Anerkennung zu buhlen, aber das schaffst du nicht. Du gibst deinem Psychiater die Schuld daran und wechselst ihn. Du entscheidest
dich für eine Frau, in der Hoffnung, sie könne dir etwas über die Liebe erzählen. Aber sie mäkelt nur an deinem Frauenbild herum, bezeichnet deine Liebe zu Jelena als Projektion, findet, du müssest dein inneres Kind wieder zulassen, und schickt dich in eine Männergruppe. Dort fühlst du dich hoffnungslos überfordert, denn sie wollen, dass du dein Machotum ablegst und deine feminine Seite stärkst. Dieser Meinung bist du nicht und du verlässt die Gruppe nach kurzer Zeit wieder. Deine Therapeutin wäscht dir den Kopf, sie ist damit nicht einverstanden. Sie hält dir deinen Hang zur Idealisierung vor, kommt auf Serebrjakow zu sprechen, will wissen, was du an ihm so bewundert hast, dass du, wie du es beschreibst, dein Leben für ihn geopfert hast. Sie provoziert dich mit Sätzen wie: Ist Ihre Bewunderung für diesen Professor nicht vielleicht eine Ausrede, sich nicht mit Ihren eigenen Talenten und Grenzen auseinanderzusetzen? Und überhaupt! Sie sind doch intelligent, wie konnten Sie so lange nicht bemerken, dass Sie da einen Blender und Narzissten anbeten? Haben Sie vielleicht gehofft, dass dadurch ein bisschen Ruhm und Glanz für Sie selbst abfällt? Und sich auch darum in seine schöne Frau verliebt? Du brichst die Therapie ab, sie geht dir auf die Nerven. Du stürzt dich in die Arbeit, weil sie das einzige ist, was dich ablenkt vom Hamsterrad, vom täglichen, sinnlosen Einerlei. Und dann wirst du zum Workaholic und beginnst wieder mehr zu trinken, hast einen Zusammenbruch, spielst mit Suizidgedanken und dein Arzt diagnostiziert ein Burnout. Dafür gibt es schicke Kliniken, aber du bist schlecht versichert. Stattdessen besuchst du ein Mindfulness-Based-Stress-Reduction-Training, bist aber zu träge, täglich zu üben und zu meditieren. Und so geht das weiter, denn wie du siehst, Wanja, bei uns, heute, gibt es ein breites Angebot an Lösungsmöglichkeiten. Erlösungsmöglichkeiten? Nur die, die Sonja damals gewählt hat – einfach auf ein besseres Jenseits zu hoffen –, ist aus der Mode gekommen. Irgendwann gibst du die Therapien, die Gruppen und Kurse auf, denn dass du nicht verrückt bist, hast du immer gewusst. Du bleibst bei deinem Landleben, weil es dein Leben ist, be-
treibst das Gut mit Sorgfalt, siehst zu, dass alles bleibt, wie es immer war. Einen Sinn siehst du darin vielleicht immer noch nicht. Aber heute, wo die Menschen denken, damals vor 120 Jahren sei alles wahr und echt gewesen, sähen sie dich vielleicht als einen Aussteiger und eure, Sonjas und deine Arbeit würde im Magazin „Landlust“ gewürdigt werden und obwohl du lieber Schopenhauer oder Dostojewski geworden wärst, wäre das doch immerhin etwas. Deine Katja Früh
Katja Früh ist Autorin, Regisseurin, Schauspielerin und Kolumnistin bei „Das Magazin“, wo sie sich durch ihre Texte als Kennerin des heutigen gesellschaftlichen Umgangs mit depressiven Zuständen erwiesen hat. Sie schreibt durch einen Zeittunnel hindurch diesen Brief an Onkel Wanja.
Onkel Wanja von Anton Tschechow / Regie Karin Henkel Mit Gottfried Breitfuss, Carolin Conrad, Alain Croubalian, Markus Scheumann, Alexander Maria Schmidt, Lena Schwarz, Siggi Schwientek, Nikola Weisse Premiere 14. Januar, Pfauen
Inszenierungseinblick zu „Onkel Wanja“ 5. Januar, 19:00–20:30, Treffpunkt Schiffbau/Foyer Theater im Gespräch zu „Onkel Wanja“ und „High (du weisst wovon)“ 31. Januar, 19:00–20:30, Treffpunkt Schiffbau/Foyer
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Einblick
Ich spreche zu den Wänden
von René Pollesch
René Pollesch inszenierte zuletzt eine zweiteilige Arbeit mit dem schönen Titel „Diskurs über die Serie und Reflexionsbude (Es beginnt erst bei Drei), die das qualifiziert verarscht werden great again gemacht hat etc. Kurz: Volksbühnen-Diskurs.“ an der Berliner Volksbühne. Ob nach Teil 1: „Ich spreche zu den Wänden“ und Teil 2: „Es beginnt erst bei Drei“ ein dritter Teil – bei dem es dann möglicherweise „erst beginnt“ – noch entsteht, darüber darf noch spekuliert werden. In Zürich ist unterdessen ab dem 7. Januar Polleschs neuste Inszenierung „High (du weisst wovon)“ in der Halle zu sehen. Das Sprechen muss doch für mich selbst was bedeuten.
High (du weisst wovon) von René Pollesch / Regie René Pollesch Uraufführung Mit Hilke Altefrohne, lnga Busch, Marie Rosa Tietjen, Jirka Zett und einem Damensprechchor Premiere 7. Januar, Schiffbau/Halle
Theater im Gespräch zu „High (du weisst wovon)“ und „Onkel Wanja“ 31. Januar, 19:00–20:30, Treffpunkt Schiffbau/Foyer
Und jetzt könnte man polemisch sagen: Das Theater ist überhaupt nicht dazu da, dass sich da Leute versammeln, wo dann auf der einen Seite jemand ist, der zu denen spricht, die sich da versammeln, sondern das Theater, dieses ganze Gebäude, ist eher sowas wie ’ne Kirche, damit ich mich hören kann. Damit ich meine Stimme hören kann. Die sitzen da auch, die Leute. Die Zuschauer sitzen da auch. Aber die sitzen da nicht deswegen, weil da jemand steht auf ’ner Bühne und zu ihnen spricht, sondern die nehmen an was ganz anderem teil. Eigentlich ist das Ding gebaut für mich, damit ich mich hören kann, damit ich in den Genuss meines Sprechens komme. Und in den Genuss, dass das Sprechen irgendwas bedeutet für mich. Das andere war nie die Idee von Theater, das ist einfach ein Irrtum. So wie in der Kirche – in der Kirche geht es nie darum, dass zu ’ner Gemeinde gesprochen wird, sondern, dass der Priester sich hören kann. Also die Leute sitzen da, um zu erleben, wie jemand dieses Erlebnis für sich hat, dass das Vergnügen bei uns liegt. Und dadurch, dass es bei uns liegt, und dadurch, dass wir uns hören können, dadurch, dass wir was machen, womit wir was anfangen können, ist das, was an den Zuschauer geht, eigentlich nur wie Sägespäne. Und der Rest ist einfach nur Infektion. Dass die Leute sich da treffen und ihre Bakterien austauschen, dazu braucht man einfach Gebäude und das geht im öffentlichen Raum nicht. Jenseits der öffentlichen Theater funktioniert das mit den Infektionen nicht so gut und das mit dem Sich-selber-Hören.
Regisseur und Autor René Pollesch, geboren 1962 in Friedberg/Hessen, studierte Angewandte Theaterwissenschaft in Giessen. Er wurde 1999 Hausautor am Luzerner Theater, kurz darauf am Deutschen Schauspielhaus Hamburg und war anschliessend bis 2007 künstlerischer Leiter des Praters der Berliner Volksbühne. Er erfand mit seiner Spielweise und seiner Art, zu schreiben, eine einmalige Ästhetik, die vielleicht am ehesten als Pop-Diskurs-Theater bezeichnet werden kann. Der Volksbühne blieb Pollesch während der Intendanz Frank Castorf eng verbunden. Zugleich arbeitete er kontinuierlich an verschiedenen grossen Theatern im deutschsprachigen Raum und inszenierte mit den jeweiligen Ensembles Arbeiten, bei denen er sowohl Autor als auch Regisseur ist. Am Schauspielhaus Zürich waren von ihm unter anderem „Bühne frei für Mick Levčik!“ (2016) und „Love/No Love“ (2015) zu sehen. 22
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Während ich darüber nachdenke, wie ich dich in 2000 Zeichen portraitieren könnte, fallen mir zuallererst viele ganz wunderbare Rollen ein, in denen ich dich schon gesehen habe. Ich denke an deine Senora, in Bastian Krafts „Andorra“-Inszenierung und an deine berührende Vollzugsbeamtin in Andres Veiels Film „Wer wenn nicht wir“. Ich denke aber auch daran, was uns beide verbindet, und das geht schon länger zurück, als die meisten wissen. Das erste Mal gesehen habe ich dich vor knapp zehn Jahren in „Der Kick“ am Schauspiel Stuttgart. Innerhalb der ersten Augenblicke der Vorstellung hast du mich mit deiner Strahlkraft und Präsenz und deinem atemberaubenden Changieren zwischen Herzenswärme und Eiseskälte, zwischen Täter und Opfer in deinen Bann gezogen. Ein paar Jahre und ein Schauspielstudium später
begegnete ich dir persönlich, als du als Mitglied der Prüfungskommission mitverantwortlich dafür warst, dass ich zum Masterstudium an der ZHdK zugelassen wurde. Damit hast du mir den Weg dafür geebnet, dass wir uns ein knappes Jahr später aufgrund einer kurzfristigen Umbesetzung am Schauspielhaus erstmalig als Kolleginnen treffen sollten. „Die Radiofamilie“ war unsere erste gemeinsame, sehr schöne Arbeit, samt herrlicher Gastspielreise nach München zu „Radikal jung“. Umbesetzungen sollten sich ab dann durch unsere gemeinsame Geschichte ziehen, denn von fünf Stücken, die wir bislang miteinander gespielt haben, trafen wir in dreien aufgrund von Umbesetzungen aufeinander: neben der „Radiofamilie“ auch als Schwester „MonikaMonika“ in den „Physikern“ und im „Doppelten Lottchen“, wo du binnen kür-
Foto: Lieblinge
Premiere ist am 2. Februar.
Bühne in „Madame de Sade“ in der Regie von Alvis Hermanis,
Lisa-Katrina Mayer stehen demnächst wieder gemeinsam auf der
Die beiden Ensemblespielerinnen Susanne-Marie Wrage und
zester Zeit als meine Mutter eingesprungen bist und damit unsere Premiere gerettet hast. Immer wieder hast du dich als wunderbare Schauspielerin, als erfahrene Theaterfrau, als herzliche Kollegin und als Vorbild gezeigt. Wer dich auf der Bühne sieht, spürt deine Liebe zum Theater, zur Verwandlung, deine Fantasie, dein Strahlen, deinen Facettenreichtum, deine Klarheit und Direktheit und deinen untrüglichen Instinkt. Wie schön, mit dir spielen, dir beim Proben zusehen, von dir lernen und gemeinsame Lebenszeit mit dir verbringen zu dürfen!
Susanne-Marie Wrage
von Lisa-Katrina Mayer
In Szene
Inform/ Unform von Stefan Zweifel
„Alles wird hassenswert, wenn man es als Pensum auffasst.“ Michel Leiris in der Zeitschrift „Documents“, Nr. 2, 1930
Doch, denkt man sich da, erfülle nicht auch ich nur noch mein Pensum? Als Literaturkritiker von Messe zu Messe hetzend, hinter dem neusten Roman herhechelnd, anstatt mich dem Anderen auszusetzen, der Realität, der bildenden Kunst, der Poetik der Politik? Träumen wir nicht alle im Moment, wo das klassische Feuilleton unter dem Spardruck der Verleger vergilbt, damit sie sich bunte Schlipse kaufen können, der Literaturclub am Flachbildschirm gegen kranke Bücher von kranken Autorinnen hetzt und Zeitschriften wie das „Du“ zum Ausverkauf stehen, von einer Erneuerung? Hat die Ankündigung einer neuen Plattform rund um den unvergleichlichen Constantin Seibt nicht utopische Wünsche freigesetzt, weil wir von Publikationen träumen, die uns nicht mit Infotainment abfüllen, sondern ins Ungedachte hinausreissen? Eine solche Zeitschrift führten Michel Leiris und Georges Bataille 1929: „Documents“ versammelte Studien über das Andere, das Heterogene, das aus unserem Bewusstsein ausgeschieden wird. Georges Bataille schrieb hier nicht nur über den verfemten Marquis de Sade und druckte zum ersten Mal dessen Manuskriptrolle der „120 Tage von Sodom“ ab, die sich de Sade in einem Rosenholzdildo in den Hintern geschoben hatte, um sich zu neuen Perversionen aufzureizen, sondern auch über Münzkunde. Im Biedersten entdeckte man den Reiz des Unbekannten: Die Zeitschrift war Batailles Schlachtross – eben auch gegen die auf Münzen geprägten akademischen Darstellungen des Pferdes, während die Münzen der barbarischen Gallier das Pferd als das eigentlich monströse Wesen darstellten, das letztlich nicht zu bezähmen ist, irrheidnisch verzerrt zur Figur des „Pferde-Affen“. Der Mensch, der seine Triebe genauso gezähmt hatte wie die wilde Urkraft des Pferdes, wird nun aus dem Sattel geworfen und landet im Dreck, im Sumpf der niederen Materie. Die akademische Form löst sich im Unförmigen auf, der platonische Dialog im Wiehern des Pferdes, im Schrei des Menschen, der verzweifelt versucht, in der dionysischen Ekstase sein Ich hinter sich zu lassen. Wieder und wieder versuchte man, Bataille zurückzubinden und doch entzog er sich dem Diktat der Herausgeber und Mäzene der Zeitschrift, bis sie eingestellt werden musste. 26
Am Ende des Zweiten Weltkrieges lancierte Albert Skira „Labyrinthe“. Dies nun war nicht eine Hochglanzzeitschrift für Kunstgeniesser, sondern eine ganz normale Zeitung. Jeden Monat wurden Leute mit Mützen, auf denen das Wort „Labyrinthe“ gedruckt war, in die Strassen von Genf geschickt, nach Paris auch, um die Schrecken der Konzentrationslager anzuprangern und die Philosophie des Existenzialismus von Sartre und Simone de Beauvoir populär zu machen – wer würde heute eine solche Zeitung finanzieren, die im Stadtbild auftaucht und nicht nur beim Klick durchs Virtuelle, wo sich letztlich doch nur Gleichgesinnte treffen? Dieses Abenteuer währte zwei Jahre und führte in dialektischer Umkehr dazu, dass auch Künstler ermuntert wurden, sich in literarischen Texten an die Leser zu wenden. Gipfelpunkt waren die Aufsätze von Alberto Giacometti zur Grausamkeit in den Werken von Callot und Laurens, vor allem aber zu seinen eigenen Erfahrungen im Schlüsseltext „Le Rêve, le Sphinx et la mort de T“. Darin schildert er seinen Schrecken, als er in einem Traum von einer gelblich eiternden Spinne bedroht war, während er nach einem Besuch am letzten Abend seines geliebten Bordells „Le Sphinx“ in Paris eine Geschlechtskrankheit konstatierte, die er in der Apotheke mit dem Schild „Au rêve“ behandeln wollte. Diese kuriose Geschichte ist bis heute auf unserer Hunderternote verewigt, wie ich in meiner letzten Kolumne dargelegt habe. Leider führten neue Kunstzeitschriften in Paris, von Galerien lanciert, dazu, dass diese monatliche Zeitung eingestellt wurde. Das Parkett des Kunsthandels wurde glattpoliert. Jede Publikation erfüllt ihr Pensum für eine kleine Zielgruppe, die sich in ihrem Wissen einigelt, statt sich dem Unbekannten zu öffnen, schutzlos, stotternd und stammelnd. Man kann heute nur noch davon träumen, dass Künstler monatlich ihre eigenen Erfahrungen in literarische Texte verwandeln – wie damals Giacometti – und Autoren die Werke der Künstler umschreiben wie etwa Bataille das Werk von Henri Michaux oder André Masson – oder die Münzkunde neu prägen, ins Wertlose ummünzen. Und so träumt man heute wohl vergeblich von einer Zeitung, die monatlich auf den Strassen von Zürich und Genf durch Verkäufer angepriesen und ausgerufen wird, wie damals die Zeitung „Labyrinthe“. Denn es würde uns alle, Autoren, Kritiker und Kolumnisten, aus dem Pensum ins Labyrinth ungekannter Leidenschaften locken. In einen Dialog, wo das Du und das Ich nicht mehr an die solitären Denksysteme von Parteien und Pensen verkauft werden, sondern im Wir des Poetischen entgrenzt würden.
Stefan Zweifel lädt in seiner Reihe „Zweifels Zwiegespräche“ Menschen aus Literatur, Philosophie, Musik und Kunst zum Gespräch. Nach Milo Rau und Dieter Meier werden 2017 unter anderem Clemens J. Setz, Robert Menasse und Werner Düggelin bei ihm zu Gast sein.
Theatermontag ist eine Zusammenarbeit von
Besuchen Sie alle BĂźhnen des Schauspielhauses zum halben Preis. www.schauspielhaus.ch
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Von Echokammern und Miriam Meckel, Constantin Seibt, Elisabeth Bronfen und Dirk Baecker (v. l.) Foto: Robert Aebli
In Formation: ein Stückausschnitt
„Aagno d Demokratie wär drann intressiert, dass sech müglechscht viu Lüt müglechscht guet informiere. Aagno d Demokratie würd meine, für sech ar Demokratie chönne z beteilige, müess öper guet informiert sy. Aagno für sech ar Demokratie chönne z beteilige, müesst niemer guet informiert sy, e Meinig würd länge. Aagno fürne Meinig, bruchti’s keni Informatione. Aagno für ne Meinig würd’s länge, e Meinig z ha. Aagno es wär hüt kes Problem sech z informiere. Aagno es gäb hüt z viu Informatione, für sech drinn chönne z rächtzfinge. Aagno für sech chönne z rächtzfingen i den Informatione, würd me sech uf öper vrla. Aagno me würd sech uf Lüt vrla, wo me kennt. U aagno uf Lüt, wo me nid kennt, würd me sech nid vrlah. U aagno itz würd öper, wo me nid kennt, öpis angers sägen aus öper, wo me kennt. U aagno öper, wo me kennt, würd angers informiere, aus öper, wo me nid kennt. U aagno öper, wo me nid kennt, würd itz erwarte, dass me synen Informatione gloubt. U aagno öper, wo me nid kennt, würd vrlange, dass me synen Informatione meh gloubt aus dene vo öperem, wo me kennt. U aagno öper, wo me nid kennt, würd vrlange, dass me synen Informatione meh gloubt aus dene vo öperem, wo me kennt, nume wüu me drfür zaut. Aber werum sött men öperem, wo me nid kennt, gloube, nume wüu men drfür zaut? U werum sött me für das, wo dä seit u wo öpis angers isch aus das, wo angeri säge, wo me kennt, o no wöue zale?“ Guy Krneta
© SRF Kultur / Lukas Maeder
Meinungsmache Spoken-Word-Autor Guy Krneta und Regisseur Sebastian Nübling recherchieren für ihr Theaterprojekt „In Formation“, wie sich die Schweizer Medienlandschaft im Zuge der Digitalisierung verändert – sowohl politisch als auch ökonomisch. Vor Probenbeginn luden sie vier ExpertInnen ein: Die Medienwissenschaftlerin und Chefredakteurin der Wirtschaftswoche Miriam Meckel, der Zürcher Journalist Constantin Seibt, die Kulturwissenschaftlerin und Anglizistin Elisabeth Bronfen und der Soziologe Dirk Baecker diskutierten zum Thema. Höhepunkte des Gesprächs sind ebenso Teil der Inszenierung wie eine Diskussion mit wechselnden JournalistInnen. Vier Statements.
Constantin Seibt über Meinungen
Meinungen sind ja im Moment sehr en vogue. Meinungen sind auch die billigste Ware, weil sie einem wachsen wie Haare. Man hat eine Meinung zu China oder zur HomoEhe oder zur Kindererziehung, selbst wenn man davon keine Ahnung hat. Es gab ja schon immer das Paradox, dass die angesehenste Artikelsorte – der Leitartikel – und die, die am meisten verachtet wurde, – der Leserbrief – eigentlich aus dem gleichen Stoff bestehen. Und das Einzige, was sie unterscheidet, ist, dass „etwas-zusagen-haben“ ja im Wortsinne sowohl vom Inhalt wie auch von der Macht kommt und dass die Machtposition eigentlich das Interessante an der Meinung ist. Es gibt zwei Sorten von Meinungen: die eine ist die überlegte, die andere ist die Meinung, die man einfach so äussert und gar nicht weiss, dass man sie irgendwo auf-
geschnappt und angelesen hat. In dem Moment ist die Meinung das Geschmacksurteil. In meiner Jugend habe ich mich in eine Punkerin verliebt. Diese Punkerin hat behauptet, sie sei Kommunistin. Als ich dann auch mit einem roten Buch erschienen bin, hat mich der Rektor sofort vorgeladen. Schon hatte ich meine politische Richtung weg. Und Jahre später konnte ich halbwegs begründen, warum: Beim Geschmacksurteil baut man ästhetische Pakete, zu denen man gehört. Es könnte vielleicht ein tiefes Bedürfnis sein, sich wieder zu Stämmen oder zu Gruppen zusammenzuschliessen, sozusagen durch die Lagerbildung Wärme zu schaffen. Das könnte auch noch eine Funktion der Geschmacksurteilsmeinung sein: Du findest dich unter Gleichgesinnten und es fühlt sich irgendwie warm und „cosy“ und nach Zuhause an. 29
Dirk Baecker über die „Lügenpresse“
Ich bin dafür, dass wir folgende beiden Themen trennen und einerseits über Medienkonsum, Medienqualität und argumentative Standards reden – wo sehen wir diese? Wann sehen wir sie erfüllt? – und dann andererseits die aktuelle politische Situation in den Blick nehmen und fragen: Woher kommt dieser Vorwurf der Lügenpresse? Mit Blick auf die Medienqualität muss man ja alarmieren und entwarnen zugleich. Alarmieren, weil der Stil der Auseinandersetzung so gehässig ist, wie man es früher allenfalls vom Stammtisch gewohnt war. Und entwarnen, weil es gleichzeitig nach wie vor in überregionalen Zeitungen, grösseren Rundfunkredaktionen und anspruchsvolleren Fernsehredaktionen eine ausserordentlich differenzierte, gut recherchierte und argumentativ lebendige Qualität der Beiträge gibt. Die andere Frage ist spannender: Woher kommt der Vorwurf der Lügenpresse? Er kommt meines Erachtens daher, dass die differenzierende Argumentation als bedrohlich erlebt wird. Man sieht die für sicher gehaltenen Gewohnheiten des eigenen Lebens, der eigenen Arbeit, der Erziehung der eigenen Kinder und so weiter und sucht nach einer Orientierung, nicht nach noch mehr Problemen. Man hält die Unsicherheiten der Weltlage nicht aus und sucht händeringend nach Instanzen, wenn es sein muss auch Autoritäten, welche die eigenen Geschmacksurteile bestätigen. Und man findet sie nicht oder nur in der eigenen Blase. Spätestens seit den 1960er Jahren gibt es gegenüber den Massenmedien einen generellen Manipulationsverdacht. Auch die gute Zeitung muss alles dafür tun, dass ihre Auflage gesichert ist. Was wir heute erleben, geht darüber hinaus. Heute gilt schon die differenzierende Argumentation als verdächtig. Man erlebt es als Zumutung, dass jemand nicht urteilt. Denn so gerne würde man die Reihen schliessen und die Leute nach ihren Meinungen unterscheiden. Dann wüsste man, wer dazugehört und wer nicht. Und könnte sich in der trügerischen Sicherheit wähnen, gemeinsam etwas gegen die unklare Weltlage zu unternehmen.
Miriam Meckel über Echokammern
Wie beweisbar ist es, dass es so etwas wie das Phänomen einer Echokammer gibt, in der Menschen in der Komplexität der vorhandenen Informationen dazu neigen, sich lieber mit dem auseinanderzusetzen, was ihre eigene Position bestätigt? Es gibt eine Menge an Hinweisen, dass das so ist. Es gibt eine amerikanische Studie von acht Forschern, die über vierzig Millionen FacebookAccounts betrachtet haben und versucht haben, mit Gegenthesen zu den vordringlichen Positionen, die dort in diesen personalisierten Streams vorhanden waren, Überzeugungsarbeit zu leisten. Es zeigte sich, dass eigentlich kein Gegenargument gelten gelassen wurde, sondern dass die Antwort auf das konfrontative Argument sofort war: Verschwörungstheorie. Also das, was nicht zur eigenen Meinung passt, gehört in den Bereich Verschwörungstheorie. Ich glaube, dass viele Menschen nicht wissen, wie das funktioniert und dass das natürlich eine Auswirkung hat auf die Art und Weise, wie man Informationen aufnimmt. Vor allen Dingen, wenn man nicht mehr bereit ist, sich einer konfrontativen Meinung auszusetzen 30
und zu sagen: „Ich nutze die, um mich daran zu reiben“, sondern einfach nur sagt: „Alles, was nicht meine Position ist, ist Verschwörungstheorie.“
Elisabeth Bronfen über Gespräche
Für den amerikanischen Philosophen Stanley Cavell ist das Miteinander-Sprechen das Gegenstück zur Echokammer und zum Narzisstischen; seine Formel dafür ist der Begriff der „separateness“. Also zu erkennen, dass ich nicht das Gleiche bin wie du, dass wir zwei unterschiedliche Positionen sind. Ich kann mir nie sicher sein, dass wenn ich das Wort Schmerz sage, der andere das Wort Schmerz so verstehen wird, wie ich es meine. Dass wir trotzdem miteinander reden und zwar nicht nur obwohl, sondern gerade weil ich weiss, der andere ist anders, ist der wichtige Punkt. Das ist die Herausforderung: über diese grundsätzliche Differenz hinweg tatsächlich miteinander zu sprechen. Das ist auch die Arbeit, die geleistet werden muss. Und da komme ich auf den Begriff des Zuhörens: Das ist eine Mischung von Zuhören, aufeinander Eingehen, Versuchen zu verstehen, Abtasten, ob ich da jetzt verstanden worden bin. Der grundsätzliche Punkt ist der: ein Gespräch miteinander führen können nur Leute, die auf irgendeiner Ebene gemeinsame Kriterien haben. Man kann das jetzt konservativ deuten und sagen, sie müssten aus einem ähnlichen gesellschaftlichen oder kulturellen Kreis kommen. Man kann es aber auch ein bisschen grosszügiger sehen, dass man nämlich die Kriterien miteinander erarbeitet, bis man an einen gemeinsamen Punkt kommt. Meine Gegenhaltung zur Verschwörung ist Vertrauen. Und Vertrauen, das hat mit „audacity of hope“ (etwa: Mut zur Hoffnung; nach dem Titel eines Buches von Barack Obama) zu tun: Ich vertraue jetzt einfach mal darauf, dass wir, wenn wir uns lange genug austauschen, irgendwann an einen Punkt kommen, an dem wir beide sagen können: „Ok, ich glaube, jetzt haben wir tatsächlich etwas verstanden.“
In Formation von Guy Krneta / Regie Sebastian Nübling Uraufführung Mit Klaus Brömmelmeier, Laurin Buser, Rahel Hubacher, Henrike Johanna Jörissen, Nicolas Rosat Premiere 17. Dezember, Schiffbau/Box Publikumsgespräche 4.1. Philipp Cueni, Chefredaktor Medienmagazin EDITO 8.1. Barbara Villiger Heilig, Journalistin 9.1. Dirk Baecker, Soziologe 11.1. Ariane Tanner, Historikerin und Texterin 12.1. Susan Boos, Redaktionsleiterin WOZ 14.1. Pietro Supino, Verleger und Verwaltungsratspräsident von Tamedia 16.1. Hansi Voigt, Online-Medienpionier 18.1. Kaspar Surber, stv. Redaktionsleiter WOZ Unterstützt von der Gesellschaft der Freunde des Schauspielhauses
Theater im Gespräch zu „In Formation“ und „Die Verwandlung“, 10. Januar, 19:00–20:30 Treffpunkt Schiffbau/Foyer
Auf Teufel komm raus 1 Was ist Felix’ besonderes Talent? 2 Welchen Beruf haben die Stiefeltern von Felix, die ihn als Kleinkind aufge nommen haben? 3 Jeanne-Charlotte wächst am könig lichen Hof auf. Na klar, denn sie ist die … 4 Welchen Spitznamen hat sie? (mit Bindestrich) 5 Die Frau des Königs ist nicht Jeanne Charlottes Mutter, sie ist ihre … 6 Der König wettet, dass er schlimmer sei als der … 7 Wenn Felix das einmal wäre, dann würde er dafür sorgen, dass es allen Menschen gut geht. Er wäre ein gütiger … 8 Der König schickt Felix mit einem … mit königlichem Siegel zum Hofe. 9 Um dem Teufel seine drei goldenen Haare zu rauben, gehen die Prinzessin und Felix in die … 10 Unterwegs sehen sie, welche Schwierig- keiten es im Land gibt. Am Baum wachsen schwarze Äpfel und aus dem ... kommt kein Tropfen Wasser mehr. 11 Hinüber auf die Insel der Hölle bringt sie der alte … auf seinem Boot. 12 In der Hölle sind der Teufel und seine Frau, aber auch die … des Teufels. 13 Felix hat ein grosses Talent und Selbst vertrauen. Für seinen Auftrag, zum Teufel zu gehen, braucht er ausserdem …
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Lösungswort:
Felix wird als kleiner Junge gerettet. Die Müllerin und der Müller finden ihn in einem …
Die Umlaute Ä, Ö und Ü werden ausgeschrieben: AE, OE und UE.
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Der Teufel mit den drei goldenen Haaren nach einem Märchen der Brüder Grimm mit Live-Musik von Schtärneföifi, in einer Bearbeitung von Meret Matter und Stefanie Grob Regie Meret Matter Mit Sibylle Aeberli, Christian Baumbach, Ludwig Boettger, Adrian Fiechter, Thomas Haldimann, Boni Koller, Julia Kreusch, Elisa Plüss, Julian Anatol Schneider u. a. Unterstützt von Credit Suisse
Theater im Gespräch zu „Der Teufel mit den drei goldenen Haaren“ und „Der Josa mit der Zauberfiedel“ 4. Februar, 16:00–17:00, Treffpunkt Schiffbau/Foyer
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Das Lösungswort schickt ihr per Mail an: marketing@schauspielhaus.ch oder per Post an: Schauspielhaus Zürich, Marketing, Stichwort „Verlosung“, Zeltweg 5, 8032 Zürich Unter allen richtigen Einsendungen verlosen wir 3x3 Tickets für die Vorstellung am 29. Januar, 11:00. Einsendeschluss ist der 15. Januar 2017. Der Rechtsweg ist ausgeschlossen. 31
Ich bin der Zu Ein Theaterbesuch besteht nicht nur aus der Vorstellung selbst, sondern immer auch aus den Gesprächen davor und danach, den Gedanken auf dem Heimweg und bestenfalls in den folgenden Tagen. Wer gerne versucht, diese ausschweifenden Gedanken, die häufig neue und eigene Assoziationen, Kriterien und Erzählansätze
hervorbringen, in Worte zu fassen, der ist richtig beim Kritikerclub. Hier werden gemeinsam Inszenierungen besucht und Kritiken verfasst.
Sämtliche kursiven Stellen im Text sind in Kritikerclubs der letzten Spielzeiten entstanden, in Gesprächen oder in Kritiken.
Guten Abend. Ich bin der Zuschauerraum. Sie sind hier, weil Sie Geschichten erleben möchten. Ich kenne die Geschichten dort auf der Bühne. Am Ende des Abends kennen Sie diese Geschichten ebenfalls. Aber ich erlebe noch etwas anderes. Ich erlebe Sie. Eine unterschwellige Gefahr erfüllt den Raum. Ihre Gedanken. Ihre Gespräche. Ein Mosaik aus Eindrücken. Ich bin der Zuschauerraum. Es steckt schon im Wort, ich bin der Raum für die Zuschauer. Darum gebe ich Ihnen Raum für Ihre Gedanken … Es gilt die Lücken zu füllen in diesem Spinnengeflecht … Die Gedanken sind es wert, finde ich. Aber was ist das, das Publikum? Das Publikum ist dazu verdammt, Publikum zu sein. Abend für Abend fliesst es in mich hinein, verharrt einen Moment – und verlässt mich wieder. Ein vielköpfiges groteskes Knäuel, dessen Einmarsch den Reigen komplettiert. Ein gemeinsames Gruseln — Alle im Chor singen und lächeln zähnefletschend … Die Vorstellung beginnt … Sie werden still. Eine gähnend ungewisse Schwärze … wie ein schwarzes Loch … Was ist das, der Zuschauer? – frage ich mich immer wieder. Der alte Herr, der den Ausgang aus dieser irren Welt sucht. Vielleicht. Er kommt aus unserer Mitte und drängt sich an den Rand, in den Schatten. Schon eher. Gottähnlich ist er manchmal grell erleuchtet. Was erhofft sich das Publikum? Dass man selbst von einem strengen Urteil verschont wird. Es ist doch erstaunlich, so viele Menschen auf so engem Raum … — Nähe oder Intimität stellt sich nicht ein. — Jeder erkennt den Anderen als seinen Verwandten. Sie sitzen da, still und versunken. Dort oben die Schauspieler, denen sie zuschauen … die verlorenen Figuren, die man zu sehen bekam. — Faszinieren lassen wir uns. — Das weckt Begierden! — Erst durch den Blick der Anderen existieren wir. — … eine gegenseitige Gefangennahme … — … meine Blicke kontrollieren sie. Ich bin der Zuschauerraum und höre ihren Gedanken zu. Es wimmelt von Doppelgängern und Parallelen. Sie sind einen Abend lang hier, weil sie ein Ticket erworben haben … im weltentrückten Wartesaal … und am nächsten Abend sitzt eine andere Person am selben Platz und
schauerraum denkt Ähnliches. Oder ganz anderes. — Die Szenerie ist bunt geworden. — Man könnte das glatt missverstehen. — Jeder schmiedet auf seine Weise bestialische Pläne. Kommen Sie mit … Es gibt kein Ausweichen in heimliche Ecken … dort an der Garderobe … Im Kreis geht das zähnefletschende Lachen. Die Vorstellung ist vorbei. Ein Mann bezirzt eine Frau im violetten Kleid. Hören Sie zu: — Ausschweifend und pompös. Doch auch beengend. — Schlicht und opulent zugleich. — Ein Hauch von barockem Big Brother! — Du darfst darüber lachen. — Bedrängt von seinen vielen Abbildern … — Was will das Stück? — Ohne Bier geht das hier nicht. — Ein Zitat auf das Theater selbst? — … die eigentliche Aussage … ? Ich mag es, wenn die Zuschauer noch ein bisschen bleiben, miteinander reden, diskutieren … nachspielend, in Erinnerungen schwelgend. — … eine Assemblage aus gestärktem Pastell. — Das Wesentliche erzählt die Körpersprache. — Er holt die Waffe raus wie eine Zahnbürste. — Zerfasernder, verwobener Erzählstrang … Ich sammle diese Gedanken. Ich teile sie gerne. Es sind Ihre eigenen Gedanken. Nehmen Sie sie ruhig. Man war dabei und kann es dennoch nicht bezeugen: Ich bin ich. Ich bezeuge es Ihnen. Ich höre noch Ihre letzten Gedanken beim Schliessen der Eingangstüre: — Es entlässt mich unsicher in die kalte Nacht … — Ich tappe nach Hause, zerbreche mir den Kopf … — Wenn man nur selbst genug Zeit hätte … Ich bin der Zuschauerraum, ich kann nicht weg. So viel Stille … Die Spielfläche ist plötzlich ungemein gross und gespenstisch leer. Des Nachts bin ich alleine und denke vor mich hin. An wen richtet sich die Kritik? Ich wünschte, es gäbe einen Ort, wo ich Ihre Geschichten und Eindrücke teilen könnte. Bevor man es merkt, steht man auf der Bühne. Ich möchte gerne mit Ihnen lachen, möchte erzählen, was Sie selbst gedacht haben … Die Verdopplung fächert sich in eine Vermehrung auf. Man würde reden darüber. Man würde miteinander teilen, man würde sich mitteilen. Man teilt sich schliesslich gerne mit, hier auf dieser Bühne erzählt man gerne. In die Dunkelheit da unten, in die Scheinwerfer hinein. Bis herauskommt, dass eine Person zu wenig ist. Diese Person, das sind Sie. Man fühlt sich allenthalben herausgefordert. Mit solchen Überlegungen wurde das Publikum alleingelassen. So sieht vielleicht der Zuschauer auch einfach zu. Alles, was der Inszenierung bleibt, ist, den Zuschauer in das Geschehen miteinzubeziehen …
Gute Nacht. Albrecht Lehmann, der Autor dieses Textes, ist Dramaturg und Leiter des Kritikerclubs.
Kritikerklub Start des Kritikerclubs ist am 14. Januar, ein zweiter Club startet Anfang April. Weitere Informationen unter kritikerclub.wordpress.com. Anmeldung bis 10. Januar unter junges@schauspielhaus.ch
„Mein
Lieblingswort ist ABER
“
von Gwendolyne Melchinger
Zu Markus Werner und seinem Roman „Zündels Abgang“ Etwas ist am Anfang immer schon da. Eine Figur zum Beispiel oder ein Name. So ein Name, aus dem dann eine Figur wird, die eine Geschichte haben wird. Fest steht von Anfang an das Ende. Das ist wichtig, sonst könne er, Markus Werner, nicht „anfangen“ zu schreiben. Das Wissen um das Ende beruhigt, wenigstens ein wenig. Heisst es doch auch, dass es schon eine Richtung, ein Ziel hat, dass es einen Punkt gibt. Das Schreiben ging dem Schweizer Autor, der im vergangenen Sommer verstorben ist, nicht leicht von der Hand. „Harzig, unendlich langsam und schubweise“ nannte er diesen Vorgang, das „Schrift-Stellen“. Eigentlich kaum zu glauben, wenn man sein Debüt „Zündels Abgang“ liest, in dem die Sprache so mühelos leichtfüssig daherkommt und sich spielerisch und wie von selbst zu einem poetischen Sprachkunstwerk verdichtet. Wenn auch der Schreibprozess für ihn kein leichter war, so hat Markus Werner doch sieben beeindruckende und sehr unterschiedliche Romane zu Papier gebracht. Ganz anders als mit dem Schreiben verhielt es sich mit den Themen. Die kamen einfach, waren plötzlich da, beschäftigten einen und hielten einen auf Trab. „Scheitern im Allgemeinen und das Scheitern in der Liebe“ sind Grundthemen, sagte er, die in allen seinen Büchern vorkommen. Auf die Frage, ob die Lakonik und Verknappung seiner Sprache etwas typisch Schweizerisches sei, meinte er einmal: „Eine gewisse Trockenheit ist eventuell schon helvetisch. Möglicherweise 34
ist es aber auch mein Individualstil, dass ich zum ausladend Epischen unfähig bin, dass die Verknappung mein Stilprinzip ist.“ Konrad Zündel, der Antiheld in „Zündels Abgang“, steckt in einer Beziehungskrise und beginnt eines Tages zu schreiben. Er beobachtet die Welt, wie sie sich ihm zeigt und er schreibt auf, was er sieht. Er beschreibt nicht, sondern er „er-schreibt“ sich die Welt. Mal ist er empört, mal verzagt, dann wieder beglückt und fast übermütig in seiner Sicht auf die Welt. Sein Vater, als der ewig Abwesende, ist omnipräsent. An ihn richtet Zündel seine Geschichte, seine Aufzeichnungen, die er als präziser Beobachter notiert. Er setzt sich zur Welt in Beziehung, einer Welt, die ihm durch seine Beobachtungen nicht näher-, sondern immer weiter fortrückt, fremder und seltsamer wird. Sein barockes Lebensgefühl, in der unmittelbaren Nähe von Vitalität und Todesbereitschaft, zieht sich durch die ganze Geschichte, nur ohne jegliches religiöses Fundament. In seiner Diagnose über die Welt kann er sich als ihr Bewohner nicht mehr wiederfinden. Also zieht er es vor, zu gehen. In den verwinkelten Gassen von Genua trifft er auf Matrosen, Gangster und leichte Frauen, dort lockt die Unterwelt mit ihren eigenen Gesetzen und er lässt sich treiben, verführen und betrügen. Bis er, wieder nüchtern, allein in billigen Hotelzimmern konstatiert: „Die Welt hat mich zum errati-
Markus Werner Foto: Selwyn Hoffmann
schen Block gemacht, sie soll sich die Zähne an mir ausbeissen. An mir zerschellen Zukunft, Weiber und Osterglocken und alles, was mich sonst noch so verlogen umgurrt und umbimmelt.“ Die Komik und der Aberwitz der eigenen Existenz und der Situationen, in die man gerät, ist für Markus Werner ein „unbewusstes Gegengift, das hineinsickert, die mehr bejahende Seite, die sich meldet, das Befreiende.“ Sie schaffen reichlich Platz für Sentenzen und Aphorismen – richtige Merksätze und Lebensweisheiten, die versuchen, etwas festzuhalten und als Tatsache hinzustellen, zu behaupten. „Wer Schlechtes nicht mit Wucht verwirft, weiss nicht, was Liebe ist.“ Zündel ist leichtgläubig, naiv und besonders empfänglich für bestimmte Gefahren, denen er allerdings immer wieder entkommt. Aber das Scheitern „ewiger Liebe“ führt ihn auf eine Reise, von der er nicht mehr zurückkehren wird. „Die Liebe als etwas Utopisches, Insulares und in höchstem Grad Gefährdetes“ bekommt Zündel am eigenen Leib zu spüren. Er hatte sich entschieden, wegzufahren, um der Liebe zu seiner Partnerin Magda vielleicht danach eine neue Chance zu geben. Doch dieser Plan muss scheitern, weil Zündel, auf sich selbst zurückgeworfen, nur tiefer in die Liebeskrise gerät und schliesslich sein altes Leben, seine Beziehung zu Magda, ganz hinter sich lässt und sich selbst verliert. Zündel ist einem Leben ausgesetzt, das
seine Selbstverständlichkeit verloren hat. Und er hat darin keine Rolle mehr. Halt findet er in der Entdeckung des Alltäglichen. Das sind für Markus Werner auch Qualitäten des Schreibens. „Die Literatur“, so Werner, „soll sich ans Banale halten. Es ist das Typische. Dass am Ende der Tod steht, dass nur ein Kadaver übrigbleibt, das kann ich nicht als negative Sicht empfinden. Wenn am Schluss der Kadaver ist, ist doch das Bedürfnis, es schön zu haben, solange man noch zappelt, besonders stark. Diese Hinfälligkeit ist einfach die Realität, nichts Zynisches. Sie schliesst Schönheit mit ein.“ Keiner weiss am Ende, wie es eigentlich zum Verschwinden von Zündel kam. Am allerwenigsten er selbst. Auf einmal war er weg und was bleibt, sind die anderen. Magda, seine Frau, und Viktor, sein Freund. Sie sind die Chronisten und Zeugen von Zündels Leben, das ein Rätsel und widersprüchlich bleibt und sich ihren – und unseren – Erklärungen widersetzt. Die Zitate sind aus dem Buch „Allein das Zögern ist human“ von Martin Ebel (Hrsg.). Fischer Verlag, Frankfurt am Main, 2006.
Zündels Abgang nach dem Roman von Markus Werner / Regie Zino Wey Mit Fritz Fenne, Julia Kreusch, Julian Lehr, Edmund Telgenkämper Premiere 25. Februar, Pfauen/Kammer
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Foto: Anni Katrin Elmer
Ins Theater mit
Stina Werenfels Die Schweizer Filmeregisseurin Stina Werenfels hat mit „Dora oder die sexuellen Neurosen unserer Eltern“ das (fast) gleichnamige Stück von Lukas Bärfuss auf die Leinwand gebracht. Dora, ein Mädchen mit Behinderung, entdeckt ihre Sexualität und kämpft um Selbstbestimmung. Die Verfilmung wurde, wie bereits ihr vorheriger Film „Nachbeben“, an der Berlinale uraufgeführt und in mehreren Kategorien für den Schweizer Filmpreis nominiert. Am 22. Oktober besuchte Stina Werenfels die Uraufführung von Lukas Bärfuss’ Stück „Frau Schmitz“ in der Inszenierung von Barbara Frey.
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Von woher kamen Sie zu der Vorstellung ins Schauspielhaus? Ich war kurz zuvor noch in der Küche und habe meiner Tochter das Abendessen in die Pfanne gehauen. Dann bin ich durch die Dunkelheit zum Pfauen geeilt. Davor standen noch die Raucher und kühlten sich mit Bärfuss an der Luft. Was hatten Sie an? Das, worauf ich gerade Lust hatte. Kannten Sie das Stück vorher? Da es sich bei „Frau Schmitz“ um eine Uraufführung handelt, lag der Text meines Wissens vor dem Premierenabend noch nicht offiziell vor. Ich kannte ihn also nicht und finde das besonders interessant. Denn so stellt sich stets die Frage: was ist Text und was ist Inszenierung? In welcher Stimmung waren Sie in dem Moment, als im Zuschauerraum das Licht ausging? Neugierig und erwartungsvoll: Seitdem ich „Die sexuellen Neurosen unserer Eltern“ von Lukas Bärfuss verfilmt habe, weiss ich um die schillernde Hintersinnigkeit seiner Geschichten. Auch hier übrigens rückt er eine Frau beziehungsweise einen Mann mit einem Stigma ins Zentrum: Statt Dora heisst sie jetzt Frau Schmitz. Während wir sehr wenig über ihr Innenleben erfahren (sie ist ja fast
stumm), erzählen die Figuren, welche sie umkreisen und sich an ihr abarbeiten, von sich und der Gesellschaft, in der sie leben. Haben Sie während der Vorstellung gelacht und wenn ja, worüber? Ehefrau Leni, gespielt von SusanneMarie Wrage, pflegt und überwacht liebevoll Frau Schmitz’ seidene Unterhemdchen. Die grossen Fragen der Geschlechteridentität prallen hier mit den kleinen des Alltags zusammen. Das finde ich komisch. Auch als Lambert Hamel seinen burlesken Auftritt als postoperative Frau Schmitz hatte, musste ich an Tony Curtis in „Some Like It Hot“ denken und laut lachen. Hat Sie etwas an der Vorstellung berührt? Die Familienkonstellation hat mich berührt: Ein Mann – Frau Schmitz – heiratet eine Frau, zeugt eine Tochter und entscheidet sich, selbst Frau zu werden. Aber statt dass uns jetzt die Familie um die Ohren fliegt, richten sich die ProtagonistInnen weiter gemütlich im Kokon der Kleinfamilie ein. Selbst als Frau Schmitz von Narbe, Schönheits-OP und Alter entstellt ist, halten Ehefrau und Tochter unbeirrt an ihrer Liebe zu ihr fest. Ja, sie bestehen darauf, nichts Ungewöhnliches darin zu sehen. Dahinter steckt womöglich eine starke
Botschaft: Dass uns in dieser wechselhaften Welt nur die Liebe daran erinnert, wer wir sind und wer wir einmal waren. Obwohl wir also eine enge Welt vorgelegt bekommen, vermittelt diese uns eine utopische Kraft. Haben Sie sich nach der Vorstellung über das Stück unterhalten? Oder haben Sie auf dem Heimweg noch darüber nachgedacht? Frau Schmitz reist ja nach Pakistan: Ist Karachi ein dramaturgischer Kniff? Oder eine eurozentristische Chiffre? Oder steckt noch etwas anderes dahinter? Welche Frage würden Sie dem Regieteam dieser Aufführung gerne stellen? Warum wurde für die Komödie eine so strenge Form gewählt?
Frau Schmitz von Lukas Bärfuss / Regie Barbara Frey Uraufführung Mit Gottfried Breitfuss, Carolin Conrad, Lambert Hamel, Henrike Johanna Jörissen, Dominik Maringer, Lisa-Katrina Mayer, Markus Scheumann, Friederike Wagner, Susanne-Marie Wrage, Milian Zerzawy 28./31. Dezember / 3./10./19./28. Januar, Pfauen Unterstützt von der Stiftung Corymbo
Mehr als Uni zu „Frau Schmitz“ 10. Januar, 17:00
Foto: Matthias Horn
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Schicht mit
Freddy Andrés Rodríguez
von Sandra Suter Fotos: Robert Aebli
Für die Zuschauer werden bei einem Theaterbesuch vor allem zwei Abteilungen des Theaters sichtbar. Die SchauspielerInnen auf der Bühne und die Mitarbeiter an der Theaterkasse beim Kauf des Tickets. Doch was passiert eigentlich in den Räumen hinter dieser Theke alles, damit der Verkauf reibungslos läuft? Um dies herauszufinden, habe ich Freddy Rodríguez, den Leiter der Theaterkasse einen Tag lang begleitet. 38
9:00
Es ist ungewohnt leer und ruhig im Büro. Freddy nutzt die Ruhe vor dem Sturm am Morgen, um die Abrechnung der Abendkasse des Vortages zu machen. Er zählt das Bargeld und rechnet dieses mit den Kartenabrechnungen zusammen. „Homo faber“ war gestern wieder ausverkauft.
10:25
Ins Büro der Theaterkasse kommt Bewegung, die Kassenmitarbeiterinnen finden sich für die Tagesplanung im Büro ein. Zehn Kolleginnen teilen sich insgesamt 6.15 Vollzeitstellen. Heute sind sie zu fünft. Das Team berichtet Freddy von einem turbulenten Abend mit einem ausverkauften Pfauen und einer zusätzlichen Veranstaltung im Rahmen von „Kultur Campus“. Diese Woche ist das Programm ganz den Studierenden gewidmet mit verschiedenen Diskussionsveranstaltungen und Workshops zum Thema Theater und Politik.
10:45
Es wird im Team besprochen, was für den heutigen Tag ansteht. Es bedarf einer genauen Koordination, um die 600 Vorstellungen pro Jahr auf fünf Bühnen an den zwei Standorten Pfauen und Schiffbau reibungslos in den Verkauf zu bringen.
11:00
Kassenöffnung. Punkt 11 Uhr klingeln alle Telefone gleichzeitig und während die Anrufe fleissig beantwortet werden, kommt auch bereits der erste Kunde, ein älterer Herr, an den Schalter zu Christa Müller. Er ist Premierenabonnent und holt sich seine Karten ab. Die nächste Kundin steht am Schalter: „Grüezi Frau Schweizer“. Frau Schweizer hat per E-Mail Karten für das Stück „Frau Schmitz“ bestellt und sie möchte wissen, ob „Andorra“ auch einmal an einem Montag gespielt wird. Am Montag kosten alle Tickets die Hälfte.
11:10
Nun kommen gleich mehrere Kunden an die Kasse und es bildet sich eine Schlange. Christa Müller beantwortet viele Fragen und verabschiedet jeden einzelnen Kunden und jede einzelne Kundin mit Namen. Freddy erklärt mir, dass das Schauspielhaus sehr grossen Wert auf die Beratung der Kunden legt. Die Mitarbeiterinnen sehen sich die Inszenierungen an und die Dramaturgie des Hauses nimmt sich viel Zeit, ihnen die Besonderheiten jeder Inszenierung zu erklären. „Die Kasse ist die Visitenkarte des Theaters“, sagt Freddy. „Die Kunden lassen sich begeistern von einer guten Beratung. Eine offene, freundliche und zugängliche Kasse und die Nähe zum Publikum zeichnet uns aus“, meint er stolz.
15:15
Nach dem Mittagessen stelle ich Freddy die Frage aller Fragen: „Was will das Publikum sehen?“ – „Die Zürcher lassen sich nicht gerne auf unbekanntes Terrain ein. Am meisten Erfolg bringt eine Kombination aus einem bekannten Titel, guten Kritiken in den Zeitungen sowie guter Mund-zu-Mund-Propaganda. So eine Kombination hatte man hier am Haus zum Beispiel bei der Produktion ,Die Physiker‘ “. Da Freddy früher in Berlin am Deutschen Theater gearbeitet hat, kann er die beiden Städte miteinander vergleichen. Seiner Meinung nach hat in Zürich die Mund-zu-Mund-Werbung viel stärkeren Einfluss als in Berlin, wo das Publikum eher auf die Zeitungskritiken reagiert. So kann es in Zürich vorkommen, dass ein Stück mit schlechten Kritiken trotzdem viel Zulauf hat, weil zum Beispiel der Regisseur oder das Stück beliebt ist.
17:10
Übernächste Woche beginnt der Vorverkauf für Dezember. Dieser Tag im Monat sei für die Kasse wie Vollmond, sagt Freddy. Alles muss rechtzeitig zum Verkaufsstart bereit sein, sonst habe er schlaflose Nächte. Weitere wichtige Termine im Jahr sind Premieren, Vorstellungen für AbonnentInnen und – im Moment wieder aktuell – das Familienstück. „Kinder im Haus zu haben, ist was ganz Besonderes“, schwärmt Freddy. „Diese junge Energie, die das Haus erfüllt, wenn kurz vor 10 Uhr die aufgeregten kleinen Köpfe unter der Kasse durchstürmen!“ Für die Vorbereitung des Verkaufs muss Freddy im Ticketsystem die Vorstellungen einrichten und aufgrund der Vorlage der Technischen Direktion, die je nach Bühnenbild variiert, den Saalplan und die Plätze einzeichnen. Die Stücktitel erhält er jeweils von der Dramaturgie, die Daten und Zeiten der Vorstellungen von der Chefdisponentin aus dem Künstlerischen Betriebsbüro. Die Preise werden in der Verwaltungsdirektion besprochen. Verschiedene Ticketaktionen werden vom Marketing initiiert. So hat Freddy permanent Kontakt zu vielen anderen Abteilungen. Ausserdem ist eine Absprache mit dem Foyerpersonal nötig, wenn es eine ungewöhnliche Einlasssituation gibt oder wenn die Zuschauertribünen speziell bezeichnet werden sollen, wie es im Schiffbau meist der Fall ist.
19:00
Pünktlich um 19 Uhr öffnet die Abendkasse. Jetzt sind am Schalter nur noch Tickets für den jeweiligen Abend erhältlich. Die Erfahrung in den letzten Jahren zeigt, dass die Gäste immer knapper vor Stückbeginn ihre Tickets an der Kasse abholen. Da der Eingang des Pfauen gleich neben der Tramhaltestelle liegt, kann es passieren, dass auf einen Schlag fünfzehn oder zwanzig Leute gleichzeitig an die Kasse kommen. Studierende erhalten seit dieser Spielzeit Last39
Minute-Tickets bereits ab Öffnung der Abendkasse und müssen diese nicht mehr erst kurz vor Vorstellungsbeginn abholen. Das entlastet die Kasse bei vollen Vorstellungen etwas und schenkt den Studierenden eine zusätzliche Dreiviertelstunde Vorlauf für ein günstiges Ticket.
19:20
Freddy erzählt mir, wie er beim Theater gelandet ist. Er hat in Kuba, wo er aufgewachsen ist, Kunstgeschichte studiert. Die wissenschaftliche Arbeit war ihm zu einsam und die Theaterluft gefiel ihm. Seine erste Berufserfahrung sammelte er als Dramaturgieassistent bei der Hörspielabteilung eines Radiosenders. Das Theater blieb bis heute sein ständiger Begleiter. Er liebt den Kontakt mit Kunden, liebt es, Probleme zu lösen, Alternativen zu suchen, kleine Herausforderungen anzunehmen und sich für die Kunden einzusetzen. Die grosse Flexibilität, die geforderte Dynamik und Fähigkeit, schnell mit Problemen umzugehen, die Spontaneität, Anpassungsfähigkeit und ein schnelles Denken sind für Freddy ganz klar theaterspezifische Eigenschaften und unterscheiden auch seine Arbeit hier vom Vertrieb in anderen Umfeldern. Ich frage Freddy, was er den Leuten als Vermittler zwischen Theater und Publikum zum Schluss mitteilen möchte.
Freddy mit Kassenmitarbeiterin Christa Müller (l.) und seiner Stellvertreterin Evelyne Albin.
„Man könnte mehr aufeinander hören. Das Publikum sollte neugierig bleiben, sich einlassen auf neue Theaterströmungen und sich vom Theater begeistern lassen. Das Haus sollte ein Ohr für die Interessen und Bedürfnisse der Zuschauer haben. Wenn man das schafft, kann man sich gegenseitig begeistern.“
du – seit 1941 16.12. 2016 – 19. 3. 2017
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www.landesmuseum.ch
GIACOMETTI MATERIAL UND VISION KUNSTHAUS ZÜRICH
Alberto Giacometti, Werke 1949 – 1965, Kunsthaus Zürich, Alberto Giacometti-Stiftung, Foto: Dominic Büttner, © Succession Alberto Giacometti / 2016 ProLitteris, Zürich
EIDENBENZ / ZÜRCHER AG
28.10.2016 — 15.01.2017
Die Meisterwerke in Gips, Stein, Ton und Bronze
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Our Voice/ Our Hope
Foto: Raphael Hadad
Eine Gruppe von zehn jungen Menschen, die in die Schweiz geflohen sind, traf sich im Herbst im Schauspielhaus zu einem zehntägigen Schreibworkshop. Begleitet vom syrischen Dramatiker Mudar Alhaggi und vom Schweizer Dramaturgen Erik Altorfer setzten sie sich mit ihren eigenen Geschichten auseinander und begannen zu schreiben. Entstanden sind Texte, die sich von der Vergangenheit bis in die Gegenwart ziehen. Hier einige kurze Auszüge daraus. Die vollständigen Texte des Schreibworkshops können Sie im Original und in der deutschen Übersetzung unter schauspielhaus.ch/ourvoice nachlesen.
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Der Diskrete
B rie f: ic h se in e n b in, se h e … du n o h eute sc d ehören … h g ir r Tü r …“ m e G le ic h n ach d st r ir n k lie g t vo ich … du w e h m f sc e au G te in „War gt das Buch n ach, e auf. Dort lie ir … S ch au e m si t on jetz t rs se ö h is e g tt Papier: „V zur Tür, re la ll B e n in h e d sc n e u die UrIc h renn ib Mahfuz s Buch ist alili von Nag en … Diese id e esc hic hte, b G Khan al -Kh s r n u re fang unse n dieses Buch A rt en ö am h t e h g an es ste , heute füg res Glücks, ginnen … ja e se b n l u e it e ap ch ad K m sa eues ar wa Ah heute ein n zu …“ von M in der wir e Zeile hin u e n e in e sam wir gemein
uf dich Ich warte aem ic h aufgewacht
m? er Frau as ist mit ih Der Hass ein dem Bild? W i r Junge auf Er starb be
Das Glück, das niemand en
liebt Du musst einfac h weiter leben. Du musst dic h abf inden mit dem Elend und dem Kummer. Und gleichzei tig wartest du auf die baldige Erleic hterun g, wartest auf die grösste Freude, das ewige Glück, das da heisst: der Tod. von Ahm ed Om er
hichte jede nnte Gescn Sinn kommt, ist, dass jener a k e b n u e e h Die d ic e in L as mir ie die
e, d ic h el geht, w Das einzig hat. Wenn ieses V iert d h rc u d gesc haff t n rt fo ke ic o s tr s Frau, die h fac ass ic h ie man ein nen hat, d , n e o b g le e Frau ist, d b e d it am e zu En e n, d a s d und Weis ie man mein Leb diese Art f u Leic he, d a , e te in s e s r u u m n die n h c e u rn le hluss a ic h, dass ic h am Sc ntsc heide e t , das n e e ig m n o dann bin e e das W diesem M rf e In w t. h ff Ic a h fortsc de hat. rreisse die tz t ein En ke und ze je c E te e h ic in h e c Ges habe, in gestric k t A bo uk he ir ic h bisher . von Lubna d ie L m e in e it S tille m
Auf die Stirn geschr iebe
n Sie tausc hten heim lic h Blicke aus. Im Verlauf der Tage verwande lten sic h diese Blick e in eine grosse Liebe. Abdu rahman ging zu Ma rja ms Vater und hielt um ihre Hand an. Der Vater war bereit, zuzustimmen , die Mutter aber sa gte: „Unmöglic h. Er ist arm. Er hat nic hts. Nic ht einmal eine ric htige Familie. Sc hlimmer noch, er gehört zum Dim ani-Clan.“ von Rezkiya Abd ulla h
Fa r e s
Fares is t der N ame ein wo ic h es Sc hü Mathem ler s in atik unte g r o s s. der Sc h rric htete Sein Ge ule, . Fa r e s sic ht is breit, s t r u n d, ist mit te eine Ha s e lin u e Sc hult t weiss Er hat s und sein ern c har fe e A u W gen … S vor alle angen v m stark ein L äc oll … heln ist und mu meinem ti sc hön u g … All d er sten nd ies hab Unterric vo n R a s e ic h an htstag e h a A k ta a ntdec k t.
Ich und die Musik
fühle für , weil sie unsere Ge Ich liebe die Musik ha be die Ich kt. rüc sd ue r au Lie be, Gl üc k un d Tra sc hen arabischen und kurdi Musik mit den alten klein ch no nt. Sc hon als ich Liedern lieben geler habe Ich bt. lie ge r alten Liede war, habe ich diese len füh Ge ren se un t siker mi erl eb t, wi e die Mu hic hte n un s mi t ihr en Ge sc sie e wi d un sp iel en deutlich, ich . Manc hmal spüre Sc hmerzen zufügen eines ich nn we , inen werde wie ich sofor t loswe kh Mu sa She a zaif Hu von er höre. dieser Lieder wied
Me in Va ter ko mm t mi t all en gu t au s un d und setzt sic h imme r für die Familie ein . Er ist empfindlic h un d weint sc hnell. We nn jemand etwas brauc ht, hilft er sofor t, eg al, ob es jemand aus der Familie oder ein Fre un d, ein Na ch ba r od er so ga r ein Fremder ist. Wenn ihm etwas abhanden kommt, sogar wenn man ihm etwas kla ut, sagt er nic hts. Er for dert nie etwas ein. Das geht so weit, dass es zu einem Proble m wird. (N.N.)
de er Sohn. Sie: Wer ist n vierjährig von derDas ist mei : er r Sohn wurde hr te fa ei us B zw n ei M wird nie f. d if enangr hre alt un einem Raket r ist ac ht Ja E n. fe . of en tr or e ge en verl selben Raket t seine Aug habe, nnen. Er ha kö n ild gesehen B he se es r es di meh h ic t ei S mir leid. . Sie: Das tut s dem Kopf nichts cht mehr au ni ir Sie können m . ng nu rd geht es O in n ho sc t Das is Busfahrer: a Ah m ad Ol n vo r. dafü
Das Schicksal
Nazir war zwanzig Jah re alt. Er war ein hü bscher junger Mann, hatte Charakte r und war verliebt in ein schönes Mädchen: Handarin. Sie stammte aus ein em anderen Dorf. Nazir liebte sie sehr. Er wollte sich verlobe n und schickte deshalb seinen ältere n Bruder und seine n Onkel los, um in seinem Namen um ihre Hand anzuhalten .
von Hozan Mo ham ma d
▲ Alle links- und obe nstehenden Tex te aus dem Arabische n von Joël Lás zló
se Hindernis r e ll o v a e urop noc h ein e n ac h E Sc hlafen Au s . e g a Eine Reis einen Platz zum T n die
ie eder ir z ählte hte auf d Es gab w B a d e n. W m u z wir Gedic it n e e k u h b z c e li ri m g h U Mö n s! er sc ren Lebe und Trau ngnis des bit te Sc hmerz n . Im Gefä e n g le n ie ru p e n rs n o v ri E s a r. llte, Mau e n wir etw erden so , musste estraft w b en vor, r n e dusc hen ih W : n e ir spielt Gesetz ir in e W s t. e urden w rr b e w ga ingesp . Dann e n d e a lt r B e g fü rü ussten wurde im nd uns p t. W ir m strit ten u ingesperr e d. r a dass wir e B m ar das leine Zim n. Dort w e in z wei k ib le b en dort 24 S tund H am id i u l K h al il vo n A b d
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Szenen aus dem
Repertoire A
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Der Besuch der alten Dame
Der Teufel mit den drei goldenen Haaren
Das Gelübde
von Friedrich Dürrenmatt Regie Viktor Bodó
nach einem Märchen der Brüder Grimm, mit Live-Musik von Schtärneföifi, in einer Bearbeitung von Meret Matter und Stefanie Grob
B Frau Schmitz von Lukas Bärfuss Regie Barbara Frey
D Homo faber nach dem Roman von Max Frisch Regie Bastian Kraft
E Die Verwandlung nach der Erzählung von Franz Kafka Regie Gísli Örn Garðarsson
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von Dominik Busch Regie Lily Sykes
G Der Josa mit der Zauberfiedel nach dem Original von Janosch Regie und Bearbeitung Enrico Beeler
C
D
Fotos: T+T Fotografie und Matthias Horn
E
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F
pfauen:sounds Lambchop Scott Matthew / Rodrigo Leão Michael Nyman Drei hochkarätige Konzerte erwarten die Besucher der neuen Konzertreihe im Pfauen. Im Februar stellt Mastermind Kurt Wagner mit „Flotus“ sein wagemutiges neues Album vor. Im Zentrum steht seine Stimme: gesampelt, gefiltert, bearbeitet und mit neu daraus erzeugten Beats. In Zürich wird die legendäre USKultband beweisen, dass dies noch immer unverwechselbar nach Lambchop klingt.
G
Schauspielhaus auf Reisen Nathan der Weise
Zwei Stars von zwei Kontinenten, zwei Meister der bittersüssen Melancholie spielen im März exklusiv im Schauspielhaus: Der in New York lebende australische SingerSongwriter Scott Matthew mit dem samtig-rauen Bass und den ironischeigenwilligen Songs und Rodrigo Leão, Musiklegende aus Portugal, stellen ihr erstes gemeinsames Album „Life Is Long“ vor. Im Mai gibt uns der grosse Filmmusiker Michael Nyman mit seiner 14-köpfigen Band die Ehre. Nyman ist berühmt für seine Musik in Jane Campions „Das Piano“ und vor allem in Peter Greenaways Filmen wie beispielsweise „Der Koch, der Dieb, seine Frau und ihr Liebhaber“ oder „Prosperos Bücher“ – der Verfilmung von Shakespeares „Der Sturm“. Nach über zwanzig Jahren ist Nyman nun mit Neukompositionen und seinen grössten Erfolgsstücken wieder in Zürich zu hören.
Landestheater Niederösterreich, St. Pölten, 17./18. Februar
Der Besuch der alten Dame Haus der Kultur „Walther von der Vogelweide“, Bozen, 15./16. März
pfauen:sounds
Wer hat Angst vor Hugo Wolf?
Die Konzertreihe des Schauspielhauses Zürich in Kooperation mit AllBlues Konzert AG:
National Performing Arts Center — National Theater & Concert Hall, Taipeh, 17./18. März
Bühne frei für Mick Levcˇ ik! Theater Chur, 11. Januar
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Lambchop: 8. Februar; Scott Matthew / Rodrigo Leão & Band: 16. März; Michael Nyman & Band: 10. Mai, jeweils Pfauen, 20:00
Ab 22. Dezember im Kino
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Hans Kremer im Atelier, Fotos: Isabelle Krötsch
„Bald norwegisch kalt, bald ägyptisch feurig ... ...
und immer mit einem liebenden Blick.“ Im neuen Format „Close Up“ zeigen Ensemblemitglieder ihre eigenen Arbeiten. Dramaturgin Gwendolyne Melchinger sprach mit Ensemblespieler Hans Kremer und Künstlerin Isabelle Krötsch über die Arbeit an ihrem neuen Projekt „PEER.GYNT“, einer szenischen Lesung mit Musik und Live-Zeichnung.
Nach Büchners „Lenz“ beschäftigt ihr euch jetzt mit dem grossen IbsenDrama „Peer Gynt“. Ihr habt ein ganz eigenes Format und daraus eine besondere Arbeitsweise entwickelt. Könnt ihr das ein wenig beschreiben? Mit dem LAUT.MALEN feiern wir die vereinten Künste. Diese kommen im Theater heutzutage zwar fast immer zusammen, aber bei uns findet diese Begegnung so statt, dass man das feinsinnige Zusammenspiel wie in einem Brennglas betrachten und das 48
Entstehen des gemeinschaftlichen Kunstwerks in einem Atelier mitverfolgen kann. Das Geschichtenerzählen, die Musik und die LiveZeichnung ergeben erst beim Zuschauer ein ganzes – und dadurch sehr individuelles – Bild. Wir arbeiten zudem im Kollektiv, das heisst alle, in diesem Fall vier, Künstler wirken – gleichberechtigt und verantwortungsvoll auf das Gesamte wie auf den Partner achtend – in einer Werkstatt zusammen. Unsere Arbeit ba-
siert dabei auf einer Grundpartitur von Text, Musik und Motiven, die sich Abend für Abend weiterentwickelt. Hans, was ist für dich das Besondere an „PEER.GYNT“? Mir liegt das Geschichtenerzählen besonders am Herzen. Unser „PEER.GYNT“ ist eine heterogene Mischung der Kunststile und Denkformen; das entspricht meiner pluralistischen Weltanschauung. Der Impuls
Demnächst
Der Junge, den es nicht gab nach dem Roman von Sjón Mit Michael Neuenschwander Regie Sophia Bodamer Der isländische Autor und Songwriter Sjón erzählt vor dem historischen und politischen Hintergrund Islands eine packende, bildgewaltige, manchmal ins Traumhafte abgleitende
ist, dieses dramatische Gedicht mit verwegener Laune in seinem Spielmaterial auszuschöpfen. Wir begehen und bilden ab mit Distanz, mit Einfühlung, bald norwegisch kalt, bald ägyptisch feurig und immer mit einem liebenden Blick. „Peer Gynt“ ist, ähnlich wie „Faust“ oder bestimmte Stücke von Shakespeare, einer der Theatertexte, die zeitlos das Wesentliche des Lebendigen an sich unter die Lupe nehmen und zugleich alle essenziellen Themen unserer Gesellschaft in einem sagenhaften Wurf vereinen. Allen, die für Denken und Staunen im Theater etwas übrig haben, sei „PEER.GYNTLAUT.MALEN“ empfohlen. Isabelle, was ist für dich das Besondere an eurer Art, zu arbeiten? Das Tolle am Live-Zeichnen als Teil einer Theaterform ist, dass es in gewisser Weise eine Art des Live-InSzene-Setzens ist, das anders als ein Regiekonzept oder eine gebaute Bühnenarchitektur nur den Hauch eines Augenblicks existiert und als Impuls ausreicht, ganze Assoziationswelten zu entfachen, die man als Schöpfer der Zeichnung nicht kontrollieren kann. Da wir eine offene Werkstatt sind, können auf diese Weise auch aktuellste Erkenntnisse subkutan in die Arbeit einfliessen.
„Peer Gynt“ ist sowohl hoch philosophisch, als auch politisch aktuell, dabei aber auch lebensnah und sinnlich. Das übt auf mich als Künstlerin eine enorme Anziehungskraft aus und stellt eine Herausforderung dar. Über das Zeichnen kann ich diese unterschiedlichsten Aspekte des symbolischen Lebenswegs sanft oder auch mal frech unterstreichen und der Zuschauer hat dennoch immer genügend Raum, sich seine eigenen Gedanken dazu zu machen. Und wir hören-sehen ja in gewisser Weise auch eine ganze Peer-Gynt-„Oper“ mit Edvard Griegs Bühnenmusik und einigen weiteren grossartigen Komponisten. Und das alles live! Es ist eine wunderschöne Aufgabe, diese PeerGynt-Opulenz zu vermitteln. Die LiveZeichnung ist ein wundervolles Medium dazu. peer.gynt.ch
Geschichte eines 16-jährigen Jungen und Aussenseiters und seiner Leidenschaft für den Film, den Stummfilm … März, Pfauen/Kammer
Hans Schleif von Matthias Neukirch und Julian Klein Mit Matthias Neukirch Regie Julian Klein Hans Schleif war Architekt, Archäologe, Familienvater und ranghohes Mitglied der SS. Sein Enkel Matthias Neukirch, seit der letzten
PEER.GYNT
Spielzeit Mitglied im Ensemble des Schau-
Eine szenische Lesung mit Musik und Live-Zeichnung
dessen Biografie. Mit dem Versuch, Vergangen-
Mit Hans Kremer (Wort und Spiel), Norbert Groh (Akkordeon und Klavier), Isabelle Krötsch (Live-Zeichnung und Gesamtgestaltung), Esther Schöpf (Violine und Gesang) 13./15. Januar, Pfauen/Kammer
spielhauses, begibt sich auf die Suche nach heit und Gegenwart zu verknüpfen, macht seine sehr persönliche Arbeit, die für den Friedrich-Luft-Preis nominiert wurde, die Geschichte unmittelbar greifbar. 21. Januar / 5. Februar, Pfauen/Kammer
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Warum ich gerne Theater schaue … Was bewegt Zürich?
Ensemblemitglieder fragen nach Claudius Körber: „Was hat dich dazu bewegt, in Zürich einen Club zu gründen, und was denkst du, kann Zürich woanders bewegen?“ Nik Bärtsch: Mit vier Partnern zusammen den Club Exil zu gründen, war Hilfe zur Selbsthilfe. Da ich in meiner Heimatstadt Zürich keine Institution im Rücken hatte, in der ich zusammen mit meinen Kollegen mehrmals im Jahr (geschweige denn jede Woche) spielen und üben konnte, habe ich 2004 den ehemaligen Bazillus-Club montags gemietet und zusammen mit dem Drummer Kaspar Rast geleitet, um dann 2009 meinen eigenen Club, das Exil, mitzubegründen. Mit den Montagskonzerten haben wir eine Bonsai-Institution gezüchtet und weitergepflegt, in der wir als WorkingBand jede Woche ein lokales Meisterschaftsspiel bestreiten, um permanent fit für die Champions League zu sein. Wie meine Exil-Partner wollte ich nicht Bestehendes kritisieren, sondern unsere Idee eines lebendigen Clubs von Musikern und Musikliebhabern für MusikliebhaberInnen verwirklichen. Das ist brutal lehrreich – man trägt plötzlich den Hut des Veranstalters und lernt, wie sich der anfühlt, ob er einem ins Gesicht rutscht oder wie man in ihn hineinwachsen kann. Co-Founding, Co-Leading, Co-Learning: Kooperationen ganz allgemein gefallen mir sehr. Der Community-Organismus Exil macht gerade deshalb ungeheuer Spass. Ich glaube, am meisten durch Initiativen bewegen zu können, die aus echten Bedürfnissen und purer kreativer Lust entstehen. Diese Form von künstlerischer Initiative – oder neudeutsch: cultural entrepreneurship – kann viel Ausstrahlung entwickeln und in der ganzen Welt Schule machen. Man erlernt lokal geerdetes Know-how, das dann plötzlich andere aktive Freaks interessiert und Schule machen kann. Wie zum Teufel haben die das gemacht?
Nik Bärtsch ist ein international erfolgreicher Zürcher Pianist, Komponist und Musikproduzent. Er ist unter anderem Mitgründer des Clubs Exil im Kreis 5. Claudius Körber, geboren 1982 in Dresden, wechselte 2013 vom Schauspielhaus Graz ans Schauspielhaus Zürich.
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Kulturtipps aus dem Schauspielhaus Zürich Auch für waschechte oder alteingesessene Zürcher ist es spannend, eine Stadtführung mitzumachen. Oft sieht man altbekannte Orte mit neuen Augen. Interessant ist beispielsweise eine Nachtwächterführung durch die Altstadt. Oder thematische Rundgänge über Zürcher Geschäfte mit Geschichte oder Powerfrauen in Zürich. Wer lieber allein unterwegs ist, kann mit Büchern wie „Zürich. Eine Stadt in Biographien“ oder „Spaziergänge durch das Zürich der Literaten und Künstler“ Zürcher Geschichte(n) auf eigene Faust entdecken. Katrin Hohenacker, Eventmanagerin
Wer sich einmal etwas gönnen will, dem kann ich wärmstens einen Besuch im Seebad Enge ans Herz legen, da ist jetzt nämlich Saunazeit. Sowohl in der Sauna, im Ruhebereich als auch im Café geniesst man den Seeblick und sobald es dämmert, wird die Feuerschale angezündet. Und ja, nach dem Aufguss springt man in den See.
Diese Frage hat Rita von Horváth, seit 1995 am Schauspielhaus, beantwortet. In ihrer Tätigkeit als Souffleuse betreut sie alle Proben und Vorstellungen einer Inszenierung. Der besondere Blickwinkel, der sich daraus ergibt, spiegelt sich in ihrer Antwort: „Hand aufs Herz : interessieren Sie sich für die Folgen der Familienfehde zwischen den Montagues und den Capulets? – Ich nicht. Ich gehe nicht ins Theater, um interessante Geschichten erzählt zu bekommen, über Menschen in Krisen, an Wendepunkten oder Ähnliches. Ich gehe ins Theater, um Schauspieler zu sehen, die sich kunstfertig unterwerfen. Die mit Leichtigkeit, gedanklicher und gefühlsmässiger Anbindung Sätze sagen, die jemand heute, vor zweihundert Jahren oder vor zweitausend Jahren geschrieben hat. Wenn ich Schauspieler sehe, die das „Eingesperrtsein in einem Satz“ mir als ganze Welt präsentieren, mir zeigen, dass ihr Vehikel, der Text, sie zu Herren über grenzenlosen Raum macht, dass sie in der Lage sind, im Moment auf das Vorangegangene zu reagieren und zu antworten, dass sie dem Vorangegangenen gefolgt sind und mir im Moment ihres Sprechens alles über die Figur und ihre Situation erzählen, dann bin ich verzaubert.“
Simon Sramek, Bühnenbildassistent
Unerwartet eine Terminlücke – ich bin im ToniAreal (Campus der Zürcher Hochschule der Künste ZHdK), meine Kollegin muss los, zum Abschied der Tipp: „Warst du schon auf der Dachterrasse? Mach das doch jetzt gleich!“ Kitschigerweise geht die Sonne gerade unter. Also Fahrstuhl in den 8. Stock, alle Gänge sind leer – ich frage mich, ob ich wirklich einfach so da hinauf darf. Bei jeder Tür und jeder Reinigungsfachkraft vermute ich das Ende meines kleinen Ausflugs, aber niemand hält mich auf. Dann steh ich da, über Zürich, hab’ ein riesiges Dach für mich allein. Es riecht nach Grossstadtherbst und Rushhour – quatsch, das zu beschreiben: nehmt einfach den Fahrstuhl in den 8. Stock bei Sonnenuntergang. Anne Britting, Theaterpädagogin
Audio-Einführungen Zu allen Pfauen- und Schiffbauproduktionen finden Sie kurze Stückeinführungen unter schauspielhaus.ch – alles, was Sie wissen müssen in drei Minuten. Über unseren YoutubeKanal youtube.com/SchauspielhausZ erhalten Sie die Einführungen und ausserdem spannende Trailer und Künstlerinterviews im Abo.
Impressum journal Januar / Februar / März 2017 Redaktionsschluss 12. Dezember 2016 Abonnement Das Journal erscheint 3x jährlich und kann gegen einen Unkostenbeitrag von 12 Franken pro Jahr unter schauspielhaus.ch abonniert werden. Herausgegeben von der Schauspielhaus Zürich AG Zeltweg 5, 8032 Zürich Intendanz Barbara Frey Redaktion Christine Ginsberg (Bildredaktion), Karolin Trachte (Redaktionsleitung), Amely Joana Haag, Andreas Karlaganis, Gwendolyne Melchinger, Irina Müller, Sandra Suter Korrektorat Johanna Grilj, Daniela Guse, Annika Herrmann-Seidel, Sandra Suter, Karolin Trachte Gestaltung Studio Geissbühler, Selina Lang Druck Speck Print AG, Baar Auflage 15’000 Das Journal wird unterstützt von der Hulda und Gustav Zumsteg-Stiftung.
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Schauspielhaus Zürich und Swiss Re – eine inspirierende Partnerschaft. Spannende Perspektiven, neue Horizonte, innovative Ideen – bewegen uns bei Swiss Re. Die Zusammenarbeit mit Menschen auf der ganzen Welt begeistert uns. Auch in Kunst und Kultur. Unser Engagement öffnet Augen, bewegt Herzen, berührt Seelen. Und sucht den Dialog. So entsteht Neues, so gestalten wir Zukunft. Gemeinsam, denn: Together we’re smarter. swissre.com/sponsoring
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