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Schauspielhaus Zürich
„Jeder Dissident ist ein wenig Exilant.“ Can Dündar über das Schreiben im Exil
Der Künstler und der Staatsmann? Barbara Frey beschreibt eine Begegnung zwischen Frisch und Furgler
Sept / Okt / Nov 2017
Schweigende Lügner – Ein Brief an Kleists Eve von László F. Földényi
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Luca Schenardi
Inhaltsverzeichnis 04 Editorial 06 Schreiben im Exil – von Can Dündar 14 Frank Castorf über Dostojewski, Vaudeville und die schreckliche Kraft der Demütigung 18 Dramaturgin Karolin Trachte im Interview mit der iranischen Autorin Afsane Ehsandar 20 „Der zerbrochne Krug“ – ein offener Brief an Eve von László F. Földényi 22 „Peter Pan“ – ab November im Pfauen 24 Träume, grösser als die Alpen – Schauspieler Mazen Aljubbeh aus der „Winterreise“
Für diese Ausgabe des Journals hat der Schweizer Künstler und Illustrator Luca Schenardi Collagen und Grafiken mit der Technik des Nitroprint angefertigt. Ausgehend von Produktionen unseres Spielplans kreierte Schenardi Bilder über verlorene Heimaten, Erlebnisse auf der Reise in eine unbekannte Zukunft und die Erfahrungen des Schreibens im Exil. Schenardi illustrierte unter anderem für NEON, Das Magazin, Die Zeit, NZZ oder die WOZ. Eben erschienen: „Meyer spricht von Gratiskaffee“, Edition Patrick Frey, 2017. Seine Illustrationen schöpfen aus einem reichen, erzählerischen und medial anspielungsreichen Bilderkosmos.
über seinen Besuch in der Schweiz
26 In Szene – Schauspieler Jirka Zett 28 Bürgerliche Welten – das „Buddenbrooks“-Ensemble zu Besuch in der Saffran-Zunft 31 Mehr als Zuschauen im Überblick 32 Welches „Mehr als Zuschauen“ passt zu dir? 34 Ins Theater mit Lubna Abukhair 36 „You have no chance, if you don’t change …“ – „Meet me“ von Liv Heløe 38 Lob der inneren Emigration – Kolumne von Stefan Zweifel 40 Schicht mit Kaspar Kägi 44 Close Up – Schmetterling im Karussell 45 Zürcher Gespräche – Dialoge über Gesellschaft, Philosophie und Politik 46 Lesungen im Pfauen 48 Szenen aus dem Repertoire 50 ZKO im Pfauen / Kulturtipps / Impressum
Mehr als Zuschauen
„Mehr als Zuschauen“ begleitet den Spielplan des Schauspielhauses mit zahlreichen Mitmachformaten für jede Altersgruppe. Die Angebote finden Sie hier im Journal gekennzeichnet mit diesem Hinweis bei den jeweiligen Artikeln und auf Seite 31. Ausführliche Informationen unter schauspielhaus. ch/mehralszuschauen
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Editorial
Kunst, Macht, Fernsehen von Barbara Frey
Fast vierzig Jahre sind vergangen, seit am Schweizer Fernsehen jene mittlerweile legendär gewordene Folge der Gesprächsreihe „Unter uns gesagt“ ausgestrahlt wurde, in der Max Frisch auf den damaligen Bundesrat Kurt Furgler traf. Es ist in mancherlei Hinsicht interessant, sich diese Begegnung noch einmal anzuschauen. Man lobte damals die Dialogbereitschaft von Kunst und Staat und der – für einen Moderator aus heutiger Sicht bescheidene – Heiner Gautschy unternahm allerhand, auch durch vornehme Zurückhaltung, um die exquisite Zusammenkunft versöhnlich wirken zu lassen. Frisch und Furgler kommen in ihrem Gespräch überhaupt nicht zusammen, aber ihre unüberwindliche gegenseitige Fremdheit hat trotzdem etwas Erhellendes. Die Fremdheit wird nämlich für den Zuschauer oder die Zuschauerin konkret erfahrbar, sie ereignet sich. Man kann nach nur vier Jahrzehnten das Aufeinandertreffen zweier männlicher Protagonisten des öffentlichen Lebens der Schweiz schon beinahe archäologisch betrachten.
Furglers sphinxhaftes Dauerlächeln nicht einfach zu deuten ist. Hört er wirklich zu, bereitet er nur die nächste Pointe vor oder ist er mit Selbstschutzmassnahmen beschäftigt? Frisch, der Unnahbare, wirkt zunehmend verletzlich und zweiflerisch, während Furgler zu einem einfachen, aber effektiven Trick greift: er überzieht sein Gegenüber immer wieder mit paternalistischem Lob. Er spielt den grossmütigen Staatsmann, der die Kunst liebt und als notwendig erachtet, aber seine Formulierungen bleiben vage und gönnerhaft. Während Frisch für sich den Unterschied reklamiert zwischen dem Staatsbürger, der sich publizistisch äussert, und dem Dichter, der sich poetisch formuliert, behauptet Furgler simpel, er sei immer derselbe. „Poesie isch nöd eo ipso staatsbürgerlich“, bemerkt Frisch und sein Zürcher Dialekt mit lateinischem Einsprengsel wirkt seltsam anrührend. Frisch sucht, Furgler scheint immer schon gefunden zu haben.
Es gibt in der Sendung Zeit zum Luftholen, Zögern und Nachdenken, besonders für Frisch, der sich als Literat in einem Diskurs über den Komplex von Kunst, Macht und Staat entschieden mehr bemühen muss, seine Verantwortung gegenüber der Sprache präzise wahrzunehmen. Der Anfang allerdings misslingt Frisch gehörig. Er fühlt sich zu sicher, redet ohne Unterlass, fährt viele Geschütze gleichzeitig auf – bis Furgler ihn überraschend stoppt mit der Frage, ob er, Furgler, vielleicht auch erstmal guten Abend sagen dürfe. Grosses Gelächter und Applaus. Darauf meint Furgler lapidar, es seien Frisch wohl ein paar Irrtümer unterlaufen, die man korrigieren müsse.
Nicht, weil er ein böser Mensch wäre, sondern weil er nichts versteht von den Skrupeln des Dichters Frisch gegenüber der Sprache, ihrer Möglichkeiten und Verbindlichkeiten. Und er versteht auch nicht, was Frisch über die Poesie sagt: sie unterwandere jedes ideologische Bewusstsein, sie ergreife keine Massnahmen. Frisch beschreibt auch, dass die Kunst die Menschen dort erreiche, wo sie kein Amt hätten. Das ist ein zentraler Gedanke und gewissermassen eine Aufforderung an den Bundesrat Furgler, sich jenseits seines Amtes und seiner politischen Macht berührbar zu zeigen, die Selbstgefährdung zu wagen, die die ernsthafte Auseinandersetzung mit den Künsten immer auch beinhaltet. Aber Frisch glaubt selbst nicht daran, dass das möglich wäre. Vielmehr bleibe die Kunst eine Gegenposition zur Macht.
Frisch qualmt sich im Verlauf des Gesprächs immer wieder mit seiner Tabakpfeife zu; die kurzen, heftigen Züge offenbaren seine permanente Denkarbeit, während
Über die Poesie sagt Furgler dann, sich unbewusst selbst entlarvend: „I ha si geern!“ Alle Künste nennt er mehrfach salbungsvoll „beglückend“. Das ist nichts
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weniger als eine freundliche Disqualifikation seines Gegenübers. Auf ganz schweizerische Art: wohlwollend, scheinbar ohne böse Absicht. Für einen stets mit sich ringenden, international anerkannten Grossdichter wird es nun zunehmend schwierig, zu argumentieren. Kunst gern haben und sich von ihr beglücken lassen sind für ihn keine brauchbaren Kategorien. Furgler redet dann noch über Selbstverwirklichung und dass er „als junge Puurscht“ den Geigenunterricht genossen habe. Und dass die Kunst nicht unterwandernd sei, wie Frisch gemeint habe, als er sie „subversiv“ nannte. Letzterer wird nun auch physisch immer unbeweglicher, während Furgler nochmal zu Hochform aufläuft, in nicht ganz glaubhafter, routinierter Vortragsgestik den Verständnisvollen spielt, letzte Lobhudeleien platziert – und trotzdem nur nach Applaus heischt, als er auf Frischs umständliche Erklärung hin, was das Wort „subversiv“ für ihn als Schriftsteller bedeute, lapidar hinwirft, er selbst leite das Wort halt direkt aus dem Lateinischen ab. Die flotte Belehrung quittiert das Publikum erneut mit Gelächter und Applaus. Auf Frischs schlagfertiges Zugeständnis, da sei Furgler wohl ein „Pfoschteschuss“ gelungen, reagiert der Bundesrat erstaunlich unsouverän, nämlich mit kleingeistigem Triumph: „I frog mi, öb er nöd sogar is Gool sig!“ Genau dadurch aber bestätigt er, dass er Frisch nicht gewachsen ist und sich doch nur auf die fragwürdige Macht der Schulmeisterei zurückziehen kann.
die man untergründig zwischen den Disputanten trotz allem spürt. Es ist unvorstellbar, dass eine heutige Fernsehsendung Platz böte für ein derart interessantes Scheitern, gewissermassen im Zeitlupentempo. Das ist aber kein Fortschritt. Es ist im Gegenteil der Beweis dafür, dass man sich über die unterschiedlichen sprachlichen Sphären – und damit auch über die unterschiedlichen Lebenswirklichkeiten – von Politikern und Künstlern öffentlich kaum mehr Gedanken macht. Das Thema scheint nicht wichtig genug zu sein oder zu anstrengend oder nicht „cool“ genug. Heute leben wir stattdessen, ganz demokratisch, alle in derselben medialen Realität: Hauptsache Streit, alle gegen alle, in atemberaubendem Tempo, hohl, krachend, verletzend. Die Suchbewegung von damals aber gab dem Fernsehen eine schöne theatrale Dimension: Erkenntnisgewinn durch Scheitern – wie in einer guten Komödie.
Kein wirklicher Dialog also zwischen Dichter und Politiker. Die während des gesamten Gesprächs beiderseits immer wieder eingestreuten floskelhaften Beteuerungen, man sei sich in manchem ja durchaus einig, bestätigen nur die monumentale gegenseitige Fremdheit. Aber man macht beim Zuschauen eine Erfahrung, man lebt auf seltsame Weise mit. Das liegt an der Suchbewegung, 5
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Foto: KEYSTONE/LAIF/Andreas Pein
Can Dündar
Schreiben im Exil Can Dündar schreibt aus seinen persönlichen Erfahrungen heraus für das Schauspielhaus über die zwiespältige Situation zwischen Freiheit und Melancholie beim Leben und Schreiben im Exil.
Can Dündar ist ehemaliger Chefredakteur der Cumhuriyet, einer der wichtigsten Zeitungen der Türkei. Dündar floh nach einer Anklage und einem bisher nicht rechtskräftigen Urteil zu fünf Jahren und zehn Monaten Freiheitsstrafe nach Deutschland, wo er seit 2016 lebt. Drei Produktionen unserer Spielzeiteröffnung handeln von Heimat, Flucht und Exil: „Winterreise“ von Yael Ronen und dem Exil Ensemble des Berliner Gorki Theaters läuft als Gastspiel im Pfauen. In der Kammer zeigen wir die Uraufführung „Welches Jahr haben wir gerade?“ der iranischen Autorin Afsane Ehsandar und am Jungen Schauspielhaus kommt „Meet me“ von Liv Heløe zur deutschsprachigen Erstaufführung. Mit Bertolt Brecht und Thomas Mann stehen zwei historische Zürcher Exilanten auf dem Programm. Jeder Dissident ist auf gewisse Weise ein wenig Exilant. In dem Augenblick, da er die Grenzen des allgemein Erlaubten, der in der Gesellschaft etablierten Überzeugungen, des vom Staat gesteckten Rahmens überschreitet, beginnt sein Exil. Lebt er in einer Weltgegend mit niedriger Toleranzschwelle, weiss er, dass er mit düsterer Einsamkeit rechnen muss und damit, abgestraft zu werden durch Befremden und Ausgrenzung, Verleumdung und Bedrohung, Belästigung und Gefängnis und
sogar damit, auf ewig zum Schweigen gebracht zu werden. Dieses Wissen führt manche ins Schweigen, andere ins Exil. Exil geht nicht unbedingt mit Emigration einher. Man kann auch ohne Ortswechsel ins innere Exil gehen. Es fällt schwerer, sich von sich selbst loszureissen, als aus seinem Land gerissen zu werden. Im zweiten Fall gibt es ein Zurück, beim ersten handelt es sich um einen Weg ohne Umkehr. Statt seine Ideen aufzugeben, zieht manch einer es vor, sein Land zu verlassen, in dem seine Ideen nicht länger geduldet sind. Er schultert seine Ideen und geht. Es kann sein, dass er dort, wo er hingeht, mehr Luft bekommt und reichlich Blüten treibt, doch wie bei jeder aus ihrem Klima, aus ihrer natürlichen Flora gerissenen Pflanze ist ungewiss, ob es gelingen wird, am neuen Standort Wurzeln zu schlagen und fruchtbar zu sein. Entweder blüht sie auf oder sie verwelkt und geht ein. Dazwischen liegt noch die Gefahr, zu einem Gewächs in der Glasglocke zu mutieren.
Der eine liebt das Exil, der andere kommt darin um Für alle Varianten gibt es Beispiele in der Geschichte.
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Cevat Şakir Kabaağaçlı stammte aus einer der letzten arrivierten osmanischen Familien. Er war ein vorzüglicher Literat. 1925 verfasste er eine Erzählung über Deserteure im Ersten Weltkrieg. Das Land war seit zehn Jahren im Kriegszustand, die Soldaten waren des Kämpfens müde. Doch Fahnenflucht wurde hart bestraft. Zur Abschreckung wurden Deserteure aufgehängt. Manchmal fanden sie sich schon im Schatten des Galgens wieder, wenn sie glaubten, es stünde erst noch ein Prozess bevor. Über sie schrieb Cevat Şakir. Es ist die Geschichte von vier Deserteuren, denen eines Abends, als unverhofft Verwandte zu Besuch kommen, klar wird, was sie am Morgen erwartet. Sie bestechen den Wärter und er bestätigt die bittere Wahrheit. Einer der vier, Kunduzlu Memet, erinnert sich in dieser letzten Nacht an die Fahrt in dem Zug, der ihn an die Palästina-Front bringen sollte, nachdem er an der Front bei Çanakkale mehrfach verwundet worden war. Der Zug passierte sein Dorf. Da sah er von Ferne das Dach seines Hauses und sagte sich: „Ich will noch einmal meine Kinder umarmen“, und sprang aus dem Zug. Dafür sollte er jetzt hängen. Das Urteil führte Kunduzlu Memet an den Galgen, die Erzählung aber Cevat Şakir ins Exil. Er hatte angeblich die Unterstützung der Bevölkerung für das Militär geschwächt. Doch der Verbannungsort, der ihm als Hölle zugedacht war, wurde ihm zum Himmel auf Erden. Bodrum, das antike Halikarnassos, nahm ihn freundlich auf. Nach Ende der Verbannungszeit wollte er nicht zurück. Cevat Şakir nannte sich fortan „Fischer von Halikarnas“ und schrieb unter diesem Pseudonym dort ein viertel Jahrhundert lang seine schönsten Werke. Das Exil war ihm zur Heimat geworden. Es war besser, als in der ursprünglichen Heimat ins innere Exil zu gehen. Stefan Zweig allerdings empfand das nicht so. Er lebte im Exil „wie ein Taucher unter der Glasglocke im schwarzen Ozean
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dieses Schweigens und wie ein Taucher sogar, der schon ahnt, dass das Seil nach der Aussenwelt abgerissen ist und er nie zurückgeholt werden wird aus der lautlosen Tiefe.“ Schliesslich ertrug er das Schweigen nicht länger und zerriss das Seil eigenhändig. Mitten im Krieg ging er in seinem Exil in Rio de Janeiro Hand in Hand mit seiner Frau, die er erst zweieinhalb Jahre zuvor geheiratet hatte, in den Tod. Die Flammen, die sein Land überzogen, verbrannten ihn noch jenseits des Ozeans.
Die Ketten des Exils Befreit das Exil? Nicht unbedingt. Den einen inspiriert es, die andere bedrückt es. Die eine führt es in die Politik, den anderen in die Krise. Den einen verwandelt es in einen Freiheitskämpfer, die andere in eine depressive Melancholikerin. Thomas Mann ging auf der Flucht vor den Nazis in die Schweiz und weiter in die USA, dort engagierte er sich mit Aufsätzen, Vorträgen und Radiosendungen weiter gegen den Nationalsozialismus. Mehmet Âkif Ersoy dagegen, der Dichter der türkischen Nationalhymne, verstummte in seinem elfjährigen Exil in Ägypten. Unmittelbar nach seiner Rückkehr in die Türkei verstarb er. Exil scheint ein Reich grenzenloser Freiheit zu sein. Der Stift ist ohne Ketten, die Zunge ohne Schloss. Doch es kommt vor, dass die Zensur den Schriftsteller von innen her packt, am Herzen oder am Gehirn. Ein Haken, der das Schreiben im Exil erschwert, ist die Hoffnung auf Rückkehr. Jeder kritische Satz rückt diese Hoffnung weiter in die Ferne. Manch ein Literat,
„
Die Fluchtwelle, die die Welt seit rund einem Jahrzehnt prägt, wird zweifellos eine ganz neue Exilliteratur entstehen lassen.
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der mit dem Russ seiner auf schwarzen Listen verbrannten Bücher, mit dem Hauch hasserfüllter Beschimpfungen auf der Haut ins Exil ging, glaubt, Schweigen würde ihm die Türen zur Rückkehr öffnen. Meist ist das ein Irrtum. Und kehrt er doch zurück, wird der Ort, an den er kommt, nicht mehr das Land sein, das er einst verliess, und der Rückkehrer nicht mehr dieselbe Person, die einst fortging. Eine weitere Kette bilden für den Autor im Exil jene, die er zurückliess. Der mutige Stift, den er in die Tinte der Freiheit taucht, entzückt den Schreibenden, gefährdet aber seine Lieben in der Heimat. Aus diesem Grund findet sich in den meisten Büchern von Exilanten, die die Segel gestrichen haben, die Spur ihrer als Geiseln festgehaltenen Angehörigen.
Die Fallstricke des Exils Der Ort des Exils ist ein unbekanntes Dorf. Du weisst weder, wo man einen Gipfel stürmt, noch wo man im Schlamm versinkt. Die Sprache ist fremd, du kannst nicht fragen. Am schlimmsten ist die erste Phase, bis man sich mit seinen Wunden eingerichtet hat. Wie ein vom Baum gerissenes Blatt wirbelt es dich umher; du bist gezwungen, einerseits mit der Sehnsucht und andererseits mit dem Leben in der Fremde fertig zu werden. Und vor dir liegt ein Weg voller Fallstricke. Der bekannteste ist die Gefahr,
vom Gastgeber instrumentalisiert zu werden. Jene, die den Schriftsteller in dem Land aufnehmen, in das er allein, mittellos und ohne irgendwelche Sicherheiten gekommen ist, sind meist Gegner des Landes, aus dem er floh. Jede dem Dissidenten für seine Courage verliehene Auszeichnung führt dazu, dass er in seinem Land einmal mehr als Verräter abgestempelt wird. Es gehört zum Postulat nicht nur des Intellektuellen, sondern ebenso des im Exil Schreibenden, nicht mit dem Strom zu schwimmen, unter allen Umständen und überall, zur Not auch allein, weiterhin Widerspruch zu üben und niemandes Sprachrohr zu sein. Elia Kazan zahlte ein halbes Jahrhundert lang im amerikanischen Exil den Preis für seine unselige Aussage* in den Fünfzigern. Zu Alexander Solschenizyn fällt einem neben seinem kritischen Bericht über den Archipel Gulag auch seine Unterstützung für den Vietnamkrieg der USA ein, wo er im Exil lebte. Dementgegen zahlte der türkische Dichter Nâzım Hikmet im Moskauer Exil den Preis dafür, nicht in diese Falle zu tappen, mit Isolation. In der Türkei waren seine Werke verboten, weil er als Regimegegner galt; als er in Stalins Sowjetunion die Strömung des Sozialrealismus kritisierte, wurden auch dort seine Theaterstücke verboten. Nâzım, der Gefangene im Gefängnis von Bursa, war freier und produktiver als der Dichter im Moskauer Exil. Eine Gefahr des Exils besteht auch
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darin, mit der Triebkraft, die aus der Befreiung aus der Klemme, die aus dem Sprengen der Ketten erwächst, zu einer politischen Figur zu werden. Die Politik dringt dem Schriftsteller unvermeidlich ins Blut, sie hindert ihn daran, anderes zu schreiben. In Gedanken ist er in der Vergangenheit, in seinem Land, und sieht nicht, was vor ihm liegt. Er ist ausserstande, den Wunsch nach Vergeltung aus seinem Herzen zu tilgen. Wut peitscht Kreativität nicht unbedingt auf, sie kann auch ihr Leichentuch sein. Die grösste Schwierigkeit für den Exilierten besteht darin, sich der Axt zu stellen, die ihn von seinen Wurzeln getrennt hat, und sie in Kunst zu verwandeln. Wem das nicht gelingt, der stirbt als Dissident im Exil.
Die Sprache der Exilliteratur: Exilisch
lässt sich sagen, das Exil ist eine gesegnete Klause der Kasteiung für Schriftsteller. Die Bibliothek der Werke exilierter, ihres Landes, ihrer Heimat beraubter Literaten zeigt uns, dass aus reichlich Kummer und Leid ein fruchtbares Gesamtwerk hervorgehen kann. Dessen Name ist Exilliteratur. Die Fluchtwelle, die die Welt seit rund einem Jahrzehnt prägt, wird zweifellos eine ganz neue Exilliteratur entstehen lassen – diese wird weiterhin in der Sprache „Exilisch“ mit einem durch Kummer und Leid gespitzten Stift geschrieben werden.
Aus dem Türkischen von Sabine Adatepe
* Anmerkung der Redaktion: Elia Kazan denunzierte während der antikommunistischen Kampagne Senators McCarthy vor dem „Komitee für unamerikanische Umtriebe“ seine Kollegen. John Garfield wurde danach auf die Schwarze Liste
Bei Namık Kemal war es genau umgekehrt. Der rebellische Dichter, der Atatürk inspiriert hatte, fand an den Orten seiner Verbannung – in Gallipoli, auf Zypern, auf Lesbos – fruchtbaren Boden. Hier schrieb er seine besten Werke. Der Schriftsteller Refik Halit Karay kehrte mit Koffern voller „Heimatgeschichten“ – so der Titel seines anschliessenden Werkes – aus den Städten seiner Verbannung heim. Exil war also imstande, die literarische Geografie eines Autors zu verändern. Aus den Erfahrungen der aus Deutschland Emigrierten entstand die „Frankfurter Schule“. Viele kehrten als Helden in ihre Heimat zurück, doch es gibt auch jene, die heimkehrten, aber nicht wieder Fuss fassen konnten; ihre Geschichte ist eine Tragödie für sich. Wie Alfred Döblin, der nach dem Krieg heimkehrte, aber bald darauf, als er das vermisste kulturelle Klima in Deutschland nicht wiederfand, in das Frankreich seines Exils zurückkehrte. Trotz allem
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gesetzt und erhielt Berufsverbot. Der Dramatiker Arthur Miller kritisierte Kazans Vorgehen öffentlich.
Can Dündar, geboren 1961 in Ankara, ist Journalist, Buchautor, TV-Moderator, Dokumentarfilmer und der ehemalige Chefredakteur der oppositionellen Istanbuler Zeitung Cumhuriyet. Nach dem Studium der Politikwissenschaft und des Journalismus in Ankara und London, promovierte er 1996 in Politikwissenschaft. Dündar wurde in der Türkei wegen der Veröffentlichung von Staatsgeheimnissen verurteilt. Er legte Revision ein. Nach Gerichtsverhandlungen und einem versuchten Mordanschlag auf ihn lebt und arbeitet Dündar heute in Deutschland. Im Oktober 2017 bringt er sein neues Buch „Verräter: Von Istanbul nach Berlin. Aufzeichnungen im deutschen Exil“ zusammen mit Sabine Adatepe bei Hoffmann und Campe heraus.
Frank Castorf über Dostojewski, Vaudeville und die schreckliche Kraft der Demütigung In Berlin traf sich die Dramaturgin Amely Joana Haag mit Frank Castorf und stellte ihm eine Frage:
Foto: Thomas Aurin
Seit du 1999 „Die Dämonen“ von Dostojewski an der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz in Berlin – durchaus bahnbrechend – inszeniert und auch verfilmt hast und in der Zwischenzeit nahezu alle grossen Romane von ihm auf die Bühne gebracht hast, befasst du dich nun unter anderem mit den Erzählungen Dostojewskis. Zuletzt hast du „Ein schwaches Herz“ und „Bobok“ an der Volksbühne als Abschiedsinszenierung deiner 25-jährigen Intendanz inszeniert. Hier in Zürich wirst du dich jetzt mit zwei anderen Erzählungen des Autors befassen: „Die fremde Frau und der Mann unter dem Bett“, eine frühe, humoristische Erzählung über den Dämon der Eifersucht und „Der Traum eines lächerlichen Menschen“. In der erstgenannten Erzählung gerät der Antiheld auf seinen nächtlichen Streifzügen durch St. Petersburg, auf welchen er obsessiv seiner Ehefrau hinterherspioniert, in zunehmend lächerliche und absurde Situationen. Die andere Erzählung hat Dostojewski vier Jahre vor seinem Tod geschrieben; sie setzt sich mit metaphysischen Themen auseinander. Der IchErzähler erscheint wie ein später Verwandter von Kirillow aus den „Dämonen“. Es geht um den „logischen Selbstmord“, den Sündenfall und zuletzt um Nächstenliebe und die ersehnte Kreuzigung des Ich-Erzählers. Was interessiert dich an diesen unterschiedlichen Erzählungen? Die frühen Erzählungen und die späten Erzählungen, die grossen Werke – der Unterschied ist gar nicht so wesentlich. Ich mache ja auch bald in München an der Bayerischen Staatsoper „Aus einem Totenhaus“ von Janáček nach Dostojewski. In den „Aufzeichnungen aus einem Totenhaus“ schildert Dostojewski seine Erfahrungen in der Katorga*. Das Totenhaus ist gleichbedeutend mit der Katorga; es ist wie ein Gebilde, das dem Menschen 14
nicht helfen will in der Sünde, sondern ihn demütigen und zerstören will. Dostojewski kam in die Katorga, als er 1849 zum Tode verurteilt wurde. Da kam ein reitender Bote, wie wir ihn aus Molières Stücken kennen oder aus der Commedia dell’ arte als Deus ex Machina, und sagte, der Zar begnadige ihn und erlasse die Todesstrafe auf dem Schafott, auf dem er bereits stand. Verurteilt wurde er, weil er zu dem Literaturkreis der Sozialrevolutionäre Belinski und Petraschewski gehörte. Heute werden wir dafür ja nicht sofort zum Tode verurteilt, sondern eher auf eine Art Schafott geführt, wo das Beil sehr, sehr langsam fällt, zum Beispiel durch den öffentlichen Rufmord, den wir sicherlich alle kennen, wenn wir dem Mainstream nicht entsprechen. Dostojewski war viele Jahre in der sibirischen Verbannung. Kunst spielt im „Totenhaus“ eine Rolle als Moment von Freiheit, wo der Mensch auf etwas, was er nicht hat, egal aus welcher Klasse er kommt, dennoch die Hoffnung behält. Und wenn man im „Totenhaus“ die Musik von Janáček hört und auch die Prosavorlage von Dostojewski liest, dann ist es atemberaubend, dass ein Mensch nicht mit dem einfachen Affekt der Rache, der Wut und des Hasses reagiert, sondern damit, dass er die Bestrafung, die Ungerechtigkeit, die Demütigung annimmt und akzeptiert. Wenn du gezüchtigt wirst mit einem Schlag auf die linke Backe, halte die rechte hin. Das hat Dostojewski vielleicht immer beschäftigt, auch in den frühen Stoffen. In den späteren ist es präsenter im Kampf gegen diese – für ihn verfluchten – westlichen Vertreter, Dichter wie Turgenew und Tolstoi, von denen er sich abgrenzt. Er sagt den bedeutenden Satz: „Die Demütigung ist die schrecklichste aller menschlichen Kräfte“. Die Demütigung hat er erfahren in der Katorga, er hat sie in seinem Leben erfahren durch die toten Kin-
der, die Sucht, die ihm nie fremd war, die Sucht der Obsession, was die Frauen angeht, die Sucht, die das Spielen war, der er sich hingegeben hat. Ich habe ja auch seinen „Spieler“ inszeniert. Die Unberechenbarkeit, der Zufall, die Obsession, die war ihm, glaube ich, von Anfang an gegeben. Die Erzählung „Die fremde Frau und der Mann unter dem Bett“, die gewissermassen in der Tradition des französischen Vaudeville steht, ist komisch, auch weil Dostojewski als ganz junger Mann schon weiss, wie schlimm es sein wird, wenn man diesen Teufel, der vom Kopf Richtung Herz und Seele wandert, nicht mehr los wird. Das heisst, die Eifersucht, die einfach vorhanden ist, bringt das ganze Weltgebäude des Ichs zum Einsturz. Und ein Mann verändert sich vollständig, weil er irgendwas Kleines findet – zum Beispiel ein kleines Taschentuch, einen kleinen Hut oder ein kleines Briefchen, von dem niemand weiss, wer es geschrieben hat – und so wird er St. Petersburg in der grauen Nacht im Nebel durchwandern und wird seine Triebe nie loswerden. Das ist tatsächlich komisch, dass sich ein älterer Ehemann unter einem Bett versteckt und auf dem Bett ein anderes Ehepaar liegt – auch der Mann ist uralt, die Frau jung und betrügerisch – und unterm Bett liegen zwei potenzielle Liebhaber, der ältere Mann und ein junger Liebhaber. Die Missverständnisse komprimieren sich dann durch den Instinkt eines Mopses, eines kleinen Schosshundes, der sich auf einmal für Menschen interessiert, die da nicht hingehören, zum Beispiel unterm Bett, und mit einem Mal tötet man einen Hund. Da kommt man nach Hause und die Ehefrau fragt: „Was hast du in der Tasche?“, und der Mann hat einen toten Mops in der Tasche. Wie kommt der da hin? Der Sinn für die Absurdität des Lebens ist das, was wichtig ist.
Victor Hugo, jemand, dem sich Dostojewski mal sehr nahe gefühlt hat, denkt oft über die Unendlichkeit des Universums nach. Und in den Menschen, die Dostojewski beschreibt, in ihrer Religion, in ihren klösterlichen Exerzitien ist diese Unendlichkeit auch vorhanden, aber in Form des Seelischen. Wir belächeln das oft und denken, dass wir es durch die modernen Technologien ersetzen können. Victor Hugo hatte immer ein grosses Wissen darum, dass der Mensch das Grösste aller Geschöpfe in dieser unendlichen Natur ist und das Kleinste, weil es so traurig sein kann. Bei Dostojewski sind es die Kinder, sind es oft Frauen, die Einsamen, die Asozialisierten, die Sträflinge. In Victor Hugos „Die Elenden“ wird ein grosser, kräftiger, immer gedemütigter und immer rachebedürftiger Mann zu einem Dostojewski’schen Heilsbringer, zu einem Mönch wie der Starez in den „Dämonen“. Dieser Mensch wird seinen Egoismus überwinden und später sein Ziehkind Cosette lieben, schützen und bewahren wollen gegen eine Gesellschaft, die oft feindlich ist. Auf der einen Seite ist es in der Erzählung „Die fremde Frau“ das Vaudeville, das einfache Lachen: ein Mann beisst einem Hund die Kehle durch unter einem Bett, welches eigentlich für die Liebe und die Regeneration des Menschen gedacht ist. Dann gibt es noch – wie im „Traum eines lächerlichen Menschen“ – die Träume, die Analyse, die uns zu Adler und zu Freud führen – da will jemand seinem Leben selbstbestimmt ein Ende setzen. Er denkt nur an sich, an seinen Tod, an seinen Abschied, wie die Rebellen gegen Gott. Zu denen gehören Stawrogin und Kirillow, der Selbstmörder, der in seinem selbstgewählten Tod seine unendliche Freiheit, sein Menschsein – Nietzsche lässt grüssen: „Gott ist tot“ – finden wird. Und so ist auch der Erzähler im „Traum eines lächerlichen Menschen“ mit einem Mal überrascht, dass er einem kleinen Mädchen, das ihn um Hilfe bittet, von dem er weiss, dass es sehr einsam und unglücklich ist, einen Tritt in den Magen versetzt. Und genau das wird ihn daran hindern, die Pistole an die Schläfe zu setzen und sich zu erschiessen. Er wird an dieses Kind denken, er wird es suchen und er wird auf seine Entscheidung reagieren, die er irgendwann als falsch empfinden wird. Dieses Sich-Selbst-Töten-Wollen, das ist eine psychologische, nachvollziehbare Tatsache und man erkennt, dass die darauffolgende Demut eine Kraft ist, die nichts mit unserem Mitleid zu tun hat, wenn wir – denen es besser geht – einem Verkäufer einer Obdachlosenzeitung einen Euro geben. Nein, Demut bedeutet, dass wir uns tatsächlich in Situationen versetzen, die andere Menschen haben, ohne uns besser zu fühlen. Wie die Kinder in St. Petersburg, die 13 Jahre alt sind und sich ihr Leben allein verdienen müssen, ähnlich wie diejenigen im Frankreich der 20er, 30er, 40er Jahre des 19. Jahrhunderts. Dort erreichten bestimmte Schriftsteller einen Zustand, in welchem sie die Demut mit anderen Menschen teilten – entgegen dieser unsäglichen Überheblichkeit unserer westlichen, liberalistischen Gesellschaft, in der es nur darum geht, die eigene Position in der Hierarchie zu finden. Also: nach dem Vaudeville braucht man die Psychologie, die tat-
sächlich modern und naturwissenschaftlich begründet ist in der Analyse des Inneren des Menschen – ich glaube, dass das zusammengehört. Erst kommt das Lachen und dann ist man traurig – aber selbst nach einem Kind zu treten, ist komisch. Das Kind fällt hin, so wie bei W. C. Fields, der als Schauspieler sogar Blinden ein Bein gestellt hat, sodass sie rückwärts in die New Yorker Metro runtergefallen sind. Das ist der böse Humor, wo wir unseren eigenen Totalitarismus, Terrorismus, Faschismus durch das Lachen abreagieren und vielleicht darum wissen, dass wir nicht so gut sind, wie wir eigentlich sein wollen und wie der Mainstream es von uns erwartet. Da ist Geschichte Erkenntnis. Die beiden Sachen gehören zusammen. Insofern ist es ein Trip durch die ganzen letzten Inszenierungen, die ich gemacht habe. Dazu gehört nicht nur Dostojewski, aber er ist die Sonne. * Anmerkung der Redaktion: Katorga war neben der Todesstrafe die schwerste Strafe im Russischen Zarenreich, bei welcher der Sträfling verbannt wurde und Zwangsarbeit zu leisten hatte.
Von 1992 bis zum Sommer 2017 war Frank Castorf regieführender Intendant der Volksbühne am RosaLuxemburg-Platz in Berlin. Wie kein anderes Theater nach dem Mauerfall positionierte sich die Volksbühne politisch und durch eine radikale, avantgardistische Ästhetik aus der Perspektive des Ostens in der deutschsprachigen Theaterlandschaft und prägte diese im letzten Vierteljahrhundert fundamental. Frank Castorf, der bereits zahlreiche Auszeichnungen erhalten hat, bringt im Dezember „Les Misérables“ nach Victor Hugo am Berliner Ensemble auf die Bühne. „Die fremde Frau und der Mann unter dem Bett“ ist seine sechste Arbeit (zuletzt „Amerika“ 2012) am Schauspielhaus Zürich.
Die fremde Frau und der Mann unter dem Bett nach Fjodor M. Dostojewski / Regie Frank Castorf Mit Kathrin Angerer, Gottfried Breitfuss, Robert Hunger-Bühler, Johann Jürgens, Robert Rožić, Siggi Schwientek Premiere 28. September, Schiffbau/Box 2./5./6./8./10./11./13./15./22./23./24./26. Oktober (zum vorerst letzten Mal!)
Theater im Gespräch zu „Die fremde Frau und der Mann unter dem Bett“ & „Der zerbrochne Krug“ 20. November, 19:00–20:30, Treffpunkt Schiffbau/Foyer
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„Man kann die Angst nicht einfach loslassen.“ Das Stück „Welches Jahr haben wir gerade?“ der iranischen Autorin Afsane Ehsandar ist der Dialog eines Paares, mal Traumerzählung, mal verworrene Erinnerung, mal ein scharfes Verhör. Erst nach und nach findet man heraus: sie waren auf der Reise, wurden getrennt. Was ist Albtraum, was Realität? Das Stück kam in einer Inszenierung der Schweizer Regisseurin Mélanie Huber in Koproduktion mit dem Deutschen Theater Berlin im Rahmen der Autorentheatertage zur Uraufführung. Dramaturgin Karolin Trachte traf die Autorin zum Gespräch. Foto: Arno Declair
Wofür steht der Titel des Stücks? Der Satz „Welches Jahr haben wir gerade?“ ist sowohl der Titel als auch der letzte Satz im Stück. Die Frage steht für das Durcheinander von Erinnern und Träumen. Erzählungen von „heute Morgen ...“ oder überhaupt aus dem neuen Leben vermischen sich bei der Frau mit Albträumen und früheren Erlebnissen in ihrer Heimat, als sie im Gefängnis war und Opfer von gewalttätigen Übergriffen wurde. Es gibt noch eine dritte Ebene, ein Spiel zwischen Mann und Frau: die erträumte Zukunft. Was ist diese Fantasie für ein Spiel? Welche Rolle spielt dabei das Tonband? Im Spiel tun Mann und Frau so, als wären sie zusammen und glücklich und hätten ein gemeinsames Kind. Das Spiel ist ihre Flucht in die Fantasie. Die Frau kann die Realität nicht mehr ertragen, will diese Vergangenheit hinter sich lassen. Aber sie muss versuchen, die Geschehnisse zu sortieren für den Termin beim Asylbeamten, der am nächsten Tag ansteht. Der Mann sagt ihr dabei immerzu: „Du musst diese Geschichte erzählen … nein, warte, das ist gefährlich, du musst es anders erzählen!“ und so weiter. Im Prinzip muss man als Opfer seine Geschichte bei der Asylbehörde komplett mit Beweisen erzählen. Aber wie kann man denn alles beweisen? Es kann sogar ein Fehler sein, manches zu erzählen – selbst wenn es der Wahrheit entspricht. Wenn der Richter Zweifel daran haben könnte und nach Beweisen fragt, die man nicht hat, wird damit vielleicht der gesamte Asylgrund in Zweifel gezogen. Für die Vorbereitung hatte der Mann die Idee, dass die Frau Tonbänder aufnimmt. Ich stelle mir vor, sie nimmt jeden Tag mühsam eine Episode ihrer Flucht auf. Aber sie kommt dabei nur noch mehr durcheinander. Eines 18
Tages hört sie ihre Stimme auf einer Aufnahme – aber sie kann sich nicht an das erinnern, was sie da erzählt. Sie fragt sich, ob sie diese Erzählung von irgendwem gehört hat oder ob der Mann ihr teilweise Geschichten vorgegeben hat, die sie bei den Interviews erzählen soll. Statt der wahren Geschichten beginnt sie, ihre Fantasiegeschichten auf die Tonbänder zu sprechen. Sie möchte sich nicht erinnern, sie möchte ein neues Leben ohne Vergangenheit anfangen. Aber man kann seine Angst nicht einfach durch Fantasie loswerden. Auch nicht durch radikale Integration – wie die Frau es zum Beispiel in der FKK-Szene versucht. Man kann die Angst nicht einfach loslassen. Wie kam es, dass du angefangen hast, auf Deutsch zu schreiben? Als ich in Berlin in den Integrationskurs gekommen bin, habe ich das sofort das erste Mal probiert. Mein erster Text auf Deutsch ist der kurze Monolog „Wer bin ich?“. Ich habe einen Lektor, der mir hilft und sprachlich Korrekturen macht. Wenn ich auf Deutsch schreibe, ist das zwar nicht meine Muttersprache, aber es sind – anders als bei einer Übersetzung – meine Worte, meine Melodie. Übrigens habe ich unter anderem zum Deutschlernen eine persische und eine deutsche Übersetzung von Harold Pinters „Ashes to Ashes“ parallel gelesen. Ein Stück, das später für mich beim Schreiben von „Welches Jahr haben wir gerade?“ eine wichtige Rolle gespielt hat. Harold Pinters Stück hat eine rätselhafte Dramaturgie, die man bei dir wiedererkennt: Aus vielen kleinen Hinweisen kann man die aktuelle Situation von diesem Paar herausfinden, dass sie sich in Deutschland, er aber noch auf der Flucht befindet und welche Geschichte sie miteinander haben. Man kann manches
Afsane Ehsandar, geboren 1981 in Teheran, war in ihrer Heimat als Autorin und Lektorin tätig. Seit drei Jahren lebt sie in Berlin und schreibt seither auf Deutsch. Ihre Stücke drehen sich häufig um Fragen von Identität, Gewalt und Sexualität. Von 2014 bis 2016 wirkte sie im Chor von Nicolas Stemanns Jelinek-Inszenierung „Die Schutzbefohlenen“ am Thalia Theater in Hamburg mit. 2015 wurde ihr Monolog „Wer bin ich?“ auf Kampnagel in Hamburg uraufgeführt. Dort hatte im Rahmen des KRASS-Festivals 2016 auch ihr Stück „Holy Shit“ Premiere. Das Kurzstück „Welches Jahr haben wir gerade?“ gewann als eines von drei Stücken den Stückwettbewerb der Autorentheatertage 2017. Ihr jüngstes Stück hat den Titel „Die Trunkenheit der Pferde“.
auch leicht übersehen. Gibt es einen Grund, dass du so schreibst? Ich begann so zu schreiben, als ich anfing, über Homosexualität zu schreiben. Die Beamten, die im Iran die Zensur durchführen, haben häufig keine Ahnung von Theater oder Literatur, deswegen kann man vieles verschleiern. Dabei entsteht diese komplizierte Form, bei der nicht jeder gleich versteht, was ich meine. Ich habe lange für das Radio gearbeitet und habe viel Übung darin. So ist das bei einem meiner Theaterstücke in Teheran gelungen – das haben wir ohne Probleme aufgeführt. Nur meine intelligenten Kunstlehrerinnen haben bemerkt, dass es von Homosexualität handelt. Übrigens gibt es im Persischen nur ein Pronomen für beide Geschlechter, nämlich „u“. Wenn ich also sage „Ich habe gestern mit u geschlafen“, kann das Mann oder Frau bedeuten – sowas hilft mir.
Welches Jahr haben wir gerade? von Afsane Ehsandar / Regie Mélanie Huber Uraufführung Mit Sarah Gailer, Sarah Hostettler, Nicolas Rosat und Isabelle Menke (Stimme) Zürcher Premiere 17. September, Pfauen/Kammer
Was passiert mit Stücken oder Texten, die nicht durch die Zensur kommen? Wir haben einen privaten Verlag, in dem wir zum Beispiel viele Theaterstücke über Sexualität privat veröffentlicht haben. Solche Literatur gibt es im Iran, aber man kann sie nicht einfach im Buchladen kaufen.
29. September / 4./5./9./12./14./15. Oktober
Du bist selbst von Teheran nach Berlin migriert, gibt es im Text autobiografische Aspekte oder sind Geschichten darin verwoben von Menschen, die du kennst? Fragst du, ob dieses Stück meine Geschichte ist? Nein. Es ist natürlich Fiktion, wie immer im Theater. Ich meine, mal ehrlich, ich bin Autorin, ich kann etwas erfinden und dramatisieren! Das bedeutet nicht, dass das alles meine Geschichten sind oder dass ich diese Geschichte von einer anderen Frau persönlich gehört habe. Also, das ist eine völlig unwichtige Frage (lacht).
Theater im Gespräch zu „Welches Jahr haben wir gerade?“
Unterstützt von der Gesellschaft der Freunde des Schauspielhauses Koproduktion mit dem Deutschen Theater Berlin im Rahmen der Autorentheatertage
& „Die Dreigroschenoper“ 29. September, 19:00–20:30, Treffpunkt Schiffbau/Foyer Publikumsgespräche nach den Vorstellungen des Kurzstücks 4./5. Oktober mit der Autorin Afsane Ehsandar 9. Oktober mit der Regisseurin Mélanie Huber 12./15. Oktober mit dem Ensemble
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Offener Brief an Eve, die wegen des zerbrochenen Krugs fast ihre Ehre verlor Liebe Eve Bei deiner Verhandlung sass auch ich mit im Publikum. Mir wurde schnell klar, dass für dich der höchste Wert das Vertrauen ist. Jedenfalls was das Vertrauen angeht, das in dich gesetzt wird. Du bist ein ehrliches Mädchen, du hast dich Ruprecht verschrieben und dich in deinem Entschluss von niemandem erschüttern lassen. Deine Seele ist fest wie ein Felsen; zu Recht sagtest du zu deinem Bräutigam, dass er, sollte er einmal durch ein Schlüsselloch beobachten, wie du dich mit einem anderen vergnügtest, immer noch denken sollte: „Ev’ ist brav, es wird sich alles ihr zum Ruhme lösen“. Ja, du bist über jeden Zweifel erhaben. Du bist genauso unschuldig, wie du es im Augenblick deiner Geburt gewesen bist. Deshalb mache ich mir Sorgen um dich. Denn die Welt ist keinesfalls so rein, wie du es bist. Dir kann jeder vertrauen; du aber solltest niemandem vertrauen. Warum ich das schreibe? Weil ich das Gefühl habe, dass du von dir auf andere schliesst und dazu neigst, auch sie für unbescholten zu halten. Und dann kommen die grossen Enttäuschungen und Überraschungen. Auch Richter Adam hattest du anfangs vertraut und nun siehst du, wohin das geführt hat. Zum Glück wurde er entlarvt und wird bald seiner gerechten Strafe zugeführt. Dank wem? Dem Gerichtsrat Walter, der damals unerwartet in Huisum eintraf und innerhalb weniger Stunden alles löste. Zur allgemeinen Zufriedenheit, jedenfalls für die, die bei der Verhandlung zugegen waren. In mir hingegen blieb ein ungutes Gefühl zurück, deshalb wende ich mich mit diesem Brief 20
an dich. Nach der Flucht Richter Adams hast du dein Vertrauen in die Rechtsprechung nun zurückgewonnen. Aber erinnerst du dich, warum du Richter Adam früher vertraut hattest? Du selbst sagtest: „Wenn er log ..., konnt ichs nicht prüfen. Ich musste seinem Wort vertraun.“ Du vertrautest seinem Wort, wie du jetzt Walters Wort vertraust. Aber nach dem, was geschehen ist, würde es nicht schaden, auf der Hut zu sein. Denn was wäre, wenn auch Walter dich täuschen wollte, wenn auch er nur danach trachtete, was Adam verwehrt geblieben war? Ich weiss, du weist meine Annahme empört zurück. Aber denke einmal nach. Wie kam Walter in Huisum an? Unvermutet, unangekündigt. Wie er tags zuvor schon in Holla eingetroffen war, wo er den Richter ebenfalls suspendierte – mit der Folge, dass der sich gleich auf dem Dachboden erhängte. In Huisum geschah dasselbe: Noch am selben Abend suspendierte er Adam. So viel Unvermutetes erscheint mir an sich schon seltsam; als verkörpere Walter gar nicht so sehr das Gesetz als die Willkür. Und dann erinnere dich an die Verhandlung. Als die Pause verkündet wurde, gingt ihr alle hinaus, ich aber blieb drinnen. Und weisst du, was geschah? Der Dorfrichter und der Gerichtsrat begannen hemmungslos zu trinken: Adam schenkte immer wieder ein, Niersteiner Wein, Walter leerte ein Glas nach dem anderen. Bemerktest du danach nicht, dass er nach Wein roch? Sahst du nicht, dass er ab und zu ins Torkeln geriet? Auch die verstohlenen Blicke, die er dir im Trubel der Verhandlung immer wieder zu-
warf, fielen dir nicht auf, mir aber sehr wohl! Die gleichen Blicke, die dir auch Richter Adam zugeworfen hatte. Und dann begann er, obwohl das mit der Verhandlung nichts mehr zu tun hatte, dir Gott und die Welt zu versprechen. Zum Beispiel, dass Ruprecht nicht nach Batavia geschickt werde. Er gab dir sein Wort – worauf der besonnen denkende Ruprecht zu Recht bemerkte, es sei nicht das erste Mal, dass dir jemand sein Wort gebe. Und dann die zwanzig Gulden. Erinnerst du dich? Die Gewähr, dass wenn Ruprecht nach Asien geschickt wird, du sie behalten dürfest, wenn aber nicht, sie mit Zinsen zurückzahlen müssest. Aber um welches Geld handelt es sich? Die neugeprägten Gulden tragen das Antlitz des Spanierkönigs und Walter überreichte sie dir mit den Worten: „Meinst du, dass dich der König wird betrügen?“ Bemerktest du nicht, dass das Geld falsch war? Denn Holland war ein längst freies, von Spanien unabhängiges Land, wie du während der Verhandlung auch selbst betont hast. Walter wollte dich mit einer offensichtlichen Lüge erpressen. Und wozu? Um das zu schaffen, was Richter Adam nicht gelungen war: dich zu küssen. Und tat er es? Und ob! Mit weinvernebeltem Atem. Und dann liess er deinen Bräutigam wissen, dass sein Bruder, der in Utrecht Hauptmann von der Landmiliz sei, ihn in seine Obhut nehmen, er ein Jahr bei ihm dienen werde. Als gäbe es in Holland keine Gesetze, sondern hinge alles von persönlichen Verbindungen ab! Und hast du vielleicht vergessen, was er ganz am Ende, vor dem Abschied, sagte? Dass er in einem Jahr zu eurer Hochzeit zurückkehren werde. Vielleicht für einen weiteren Kuss. Vielleicht aber auch für mehr. Wenn er nicht schon viel früher wieder in Huisum einkehrt, natürlich während dein Bräutigam in der Ferne weilt! Vielleicht bilde ich mir das alles ein und Walter ist wirklich über jeden Verdacht erhaben. Aber wenn du einmal getäuscht worden bist, warum solltest du nicht auch ein zweites Mal getäuscht werden? Du kannst weder schreiben noch lesen, bist gezwungen, den Worten zu vertrauen. Worte sind jedoch unzuverlässig. Zudem lügen die Menschen oft nicht durch das, was sie sagen, sondern durch das, was sie verschweigen. Womöglich sagt auch Walter die reine Wahrheit. Was ihm dabei durch den Kopf geht und was er verschweigt, wirst du jedoch nie erfahren. Und wenn doch, wird es bereits zu spät
sein. Sei also auf der Hut, Eve, versuche von jetzt an, auch hinter die Worte zu blicken. Das ist schwer, ich weiss. Im Leben wirst du damit aber besser fahren. Mit bangen und besorgten Grüssen, László F. Földényi Aus dem Ungarischen von Akos Doma
László F. Földényi, geboren in Debrecen (Ungarn), ist Kunsttheoretiker, Literaturwissenschaftler und Essayist. Er zählt zu den bedeutendsten ungarischen Intellektuellen und leitet als Professor den Lehrstuhl für Kunsttheorie an der Akademie für Theater und Film Budapest. Er ist Herausgeber der gesammelten Werke von Heinrich von Kleist in ungarischer Sprache und veröffentlichte 1999 die Enzyklopädie „Heinrich von Kleist – im Netz der Wörter“. 2017 erschien der Essay „Orte des lebendigen Todes: Kafka, de Chirico und die anderen“ bei Matthes & Seitz. Foto: Thomas Burla, Zürich
Der zerbrochne Krug Ein Lustspiel von Heinrich von Kleist / Regie Barbara Frey Mit lnga Busch, Hans Kremer, Lisa-Katrina Mayer, Markus Scheumann, Michael Tregor, Graham F. Valentine, Friederike Wagner Premiere 21. Oktober, Pfauen 23./27. Oktober / 3./8./13. November / 2./4. Dezember Unterstützt von der Hans Imholz Stiftung
Inszenierungseinblick 6. Oktober, 19:00–20:30, Treffpunkt Schiffbau/Foyer Theater im Gespräch zu „Der zerbrochne Krug“ & „Die fremde Frau und der Mann unter dem Bett“ 20. November, 19:00–20:30, Treffpunkt Schiffbau/Foyer
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Salzbuckel und Klabautermann! Ich hasse Peter Pan!
Peter Pan von J. M. Barrie / Regie Ingo Berk Ab dem 11. November im Pfauen
Inszenierungseinblick 1. November, 14:00–15:30, Treffpunkt Pfauen/Foyer Spielclub 10+ und 60+ Kick-off 25. Oktober, 14:00–16:30, Treffpunkt Schiffbau/Foyer bis Februar jeweils mittwochs, 14:00–16:30
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Träume, grösser als die Alpen Das neu gegründete Exil Ensemble am Berliner Maxim Gorki Theater besteht aus Schauspielerinnen und Schauspielern aus Afghanistan, Syrien und Palästina, die nach Deutschland geflohen sind. Für ihre erste Produktion „Winterreise“ unternahmen sie mit der Regisseurin Yael Ronen („Common Ground“) eine Busreise durch Deutschland und die Schweiz. „Winterreise“ ist ein rasantes Theater-Roadmovie, das komisch und unverblümt von Flucht und Ankunft erzählt. Ab September gastiert die Produktion im Pfauen. Vor vielen Vorstellungen informieren Experten über die aktuelle Situation von Geflüchteten in Zürich.
Am Schauspielhaus erfuhren die NeuberlinerInnen mehr über die Zeit des legendären Zürcher Exil-Ensembles, das während des Zweiten Weltkriegs am Schauspielhaus zusammenfand. Sie hörten von Zeitzeugen, wie prekär die Lebensumstände der damals gefeierten SchauspielerInnen, Regisseure und Dramatiker waren. Mazen Aljubbeh schreibt über seine Eindrücke während des Besuchs in Zürich im vergangenen Winter: Mein Name ist Mazen Aljubbeh. Ich stamme aus Damaskus, der Hauptstadt Syriens. Ich lebte an den Hängen des 1150 Meter hohen Hausbergs Quasiyun mit grandioser Aussicht über die Stadt. Vor dem Krieg war dies ein äusserst beliebtes Ausflugsziel, voller Restaurants, Kultstätten und Höhlen – kurz: voller Leben.
In der Schweiz waren dies die Berge, die schmalen Pflasterstrassen, die Frau, die ich im Theater traf. Ich würde nicht sagen, dass sie meiner Mutter ähnelte, aber ihre warmherzige Umarmung glich der einer Mutter. All diese Details sorgten dafür, dass ich mich einen Moment lang fühlte, als wäre ich in meiner Heimat. Krieg handelt nicht nur von der Gefahr, erschossen zu werden. Krieg zerstört die Träume oder macht sie ganz klein. Meine Träume waren einst grösser als der Berg Quasiyun, auf dem ich lebte. Heute aber sind meine Träume grösser als die Alpen – und niemals werde ich zu träumen aufhören.
Die Schweiz und die Alpen kannte ich aus Filmen und Geografiebüchern. Niemals stellte ich mir vor, je zu diesen Bergen zu reisen, die mit bis zu 4810 Metern Höhe etwa viermal höher waren als meine Berge in Syrien. Seit ich mein Land verlassen musste, halte ich nun Ausschau nach Dingen, die mich für kurze Zeit wie zu Hause fühlen lassen.
Winterreise von Yael Ronen & Exil Ensemble / Regie Yael Ronen Zürcher Premiere 16. September, Pfauen 1./2. Oktober / 15./16./24./25./30. November / 1. Dezember Koproduktion mit dem Maxim Gorki Theater Berlin, gefördert durch die deutsche Kulturstiftung des Bundes, die LOTTO-Stiftung Berlin, die Stiftung Mercator sowie durch den Lotteriefonds des Kantons Zürich.
Einführung Spezial, Pfauen/Foyer 1. Oktober mit Dascha Krizan, Projektleiterin MAPS Züri Agenda – AOZ Soziale Integrationsprojekte, 18:15 2. Oktober mit Joël László, Autor, Islamwissenschaftler, Übersetzer, 19:15 24. November mit Verena Mühlethaler, Offener St. Jakob, Solinetz, und Séverine Vitali, Solinetz, 19:15 1. Dezember mit Bea Schwager, Sans-Papiers Zürich, 19:15 Theaterlabor Spezial 1. Oktober / 24. November, im Anschluss an die Vorstellung, jeweils Treffpunkt Pfauen/Foyer Theater im Gespräch zu „Winterreise“ & „MEET ME“ 5. Dezember, 19:00–20:30, Treffpunkt Schiffbau/Foyer Exiltheater in Zürich 26. Oktober, 19:30–21:00, Uni-Zürich Zentrum, Volkshochschule Early Birds „KünstlerInnen im Zürcher Exil I“, 17. November, 9:00–11:00, Treffpunkt Pfauen/Foyer
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und ngen u n t f i t S lic h e rmög r e r e te f ü G önn int r it E e s nlo und koste h te te c e n. ü l f Ge e rIn n b a h - In er rLe gi s unt o f Kultu n I re us.ch Weite ie lha p s u sc ha
Fotos: Esra Rotthoff
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„Theaterschlaf ist der beste Schlaf“, sagte Jirka. Ein weisses Kaninchen hoppelte im Kreis; es hatte leuchtend rote Augen. Gorillas erschienen und verschwanden wieder. „Kein Grund zur Panik“, versicherte Jirka. Er verwandelte sich in einen Schmetterling, flog zu mir an die Bühnenrampe und rauchte eine Zigarette – so genüsslich, so gelassen, als gäbe es in der Tat nichts Richtigeres zu tun als das. Unbemerkt flatterte er ins Dunkle. Als ich ihm nachsah, hörte ich hinter mir ein Grunzen. Ein Schweinchen wühlte sich aus der Gasse. Ich wollte es vertreiben und begann mit ihm zu kämpfen. Durch eine Verletzung in der Schweinehaut konnte man sehen, dass es nur eine Tarnung war. In Wirklichkeit war es Jirka. Eine Weile später wurde er ein Mädchen, vielleicht 7 Jahre alt und sehr anarchisch; wir sangen und er machte Witze. Alle im Theater mussten lachen, aber nicht so ein Theaterlachen, ein anderes, besonderes Lachen. Als ich ihn das nächste Mal sah, kam er als junger Ritter auf einem stattlichen Pferd angeritten. Er erzählte die
An einem anderen Abend trafen wir uns im Schiffbau. Er war unruhig, strotzte nur so vor Energie, tanzte und rannte durch die Halle, provozierte eine Schlägerei, bedrohte jemanden mit einem Rasiermesser, schrie herum und versuchte, eine Katze zu retten. Es war verblüffend. Vielleicht hatte er Fieber, denn er halluzinierte und obwohl es Suppe gab, wollte er nur Erbsen. Alle waren so grausam zu ihm und trotzdem war er kein Opfer. Selbstbewusst und aufrecht trug er diesen Abend. Ich hatte ihn betrogen und er war rasend eifersüchtig. Am Ende hat er mich umgebracht, brutal an sich
Geschichte seines Lebens und wurde dabei älter. Er sprach nicht wie ein Märchenonkel, sondern wild und schnell und kämpferisch und wütend und wirr und tattrig, als würde er die Erlebnisse, von denen er erzählte, just in diesem Moment erneut erleben. Somit war es nur logisch, dass er innerhalb von Minuten in sich zusammensackte, grau und faltig wurde und schliesslich als alter, weiser König starb.
Jirka Zett
von Henrike Johanna Jörissen
In Szene
Sciencetainmentreihe „Wildes Wissen“.
der Schauspielschule gemeinsam auf der Bühne, zuletzt in der
zu erleben. Er und Henrike Johanna Jörissen stehen schon seit
Jirka Zett ist zurzeit als Mackie Messer in „Die Dreigroschenoper“
Jirka fährt gerne Fahrrad und ist ein guter Schauspieler. Der Rest ist Schweigen.
Ich weiss nicht genau, wie Jirka das immer macht. Vielleicht ist das alles so klug gedacht, auch ein bisschen anders, aber immer so intelligent, dass man ihn am Ende versteht.
hochgezogen und immer wieder auf mich eingestochen und trotzdem waren die Zuschauer, glaube ich, auf seiner Seite. So wie man bei einem gelungenen Banküberfall in der Regel auch für die Gangster ist und nicht für die Polizei. In unserem Fall also keine Empathie für die ermordete junge Frau, sondern für den Mörder.
Foto: Lieblinge
„Im Grunde bin ich ein Schauspieler. Mein Leben ist eine einzige Aufführung.“ (Thomas Mann, Buddenbrooks)
Bürgerliche Welten
Fotos: Philip Frowein
von Benjamin Große und Karolin Trachte
In seinem Jahrhundertroman „Buddenbrooks“, den Thomas Mann mit gerade einmal 25 Jahren beendet, schont er das Bürgertum nicht. „Verfall einer Familie“ nennt er sein Buch im Untertitel und erzählt den Niedergang einer grossbürgerlichen Kaufmannsfamilie samt Firma über vier Generationen. Gewerbegeschichte ist in Zürich eine Geschichte der Zünfte. Zum Probenstart der Produktion „Buddenbrooks“ hat sich das Team an einem warmen Junitag aufgemacht, die Zürcher Zünfte zu entdecken. Was haben die Zürcher Zünfte mit Thomas Mann zu tun? In seinen „Buddenbrooks“ geht es zwar nicht um deren Untergang, wohl aber um die Geschichte einer Lübecker Kaufmannsfamilie und des absteigenden Bürgertums und dessen schwindende Macht und Legitimation – eine Geschichte, die auch in den Zürcher Zünften spielen könnte. Das Saffran-Zunfthaus repräsentierte schon früher die Macht und Finanzkraft der Zürcher Zünftler. Seit 1445 heisst diese Krämerzunft „Zunft zur Saffran“ – nach dem Wappengewürz der Kaufleute, erklärt uns der Zunftmeister Alex Rübel. Wir stehen in einem der festlichsten Repräsentationsräume des historischen wie heutigen Zürcher Bürgertums, anwesend sind die Mitglieder der Zunftvorsteherschaft und ihre Ehefrauen. Regisseur Bastian Kraft verleiht seinem schlechten Gewissen Ausdruck: Ausgerechnet in der 28
Saffran-Zunft wollen wir dieses Projekt über den Niedergang einer Kaufmannsfamilie präsentieren? Die meisten lachen, das Eis ist gebrochen. Zu den Apéro-Häppchen gesellen sich GeschichtsLeckerbissen aus der Historie des Hauses und der Zünfte in Zürich. Es verspricht in allem ein kulinarischer Abend zu werden. Das Schauspielhaus-Team gibt erste Einblicke in die Konzeption der Buddenbrooks-Inszenierung. Bastian Kraft hat die Bühnenfassung des Romans selbst verfasst, nicht zuletzt, weil er sich einen besonderen Zugriff gewünscht hat. Die Geschichte wird aus der Sicht des jüngsten Familienmitglieds erzählt, Hanno Buddenbrook, ein Alter Ego von Thomas Mann. Sehr „familiär“, so umschreibt Herr Rübel immer wieder das Gefühl in der Zunft, während er mit uns einen Rund-
„Zunftmitglied zu sein, bedeutet, einer langen Tradition anzugehören.“ (Thomas Mann, Buddenbrooks)
„Wir sind nicht dafür geboren, was wir mit kurzsichtigen Augen für unser eigenes, kleines, persönliches Glück halten, denn wir sind nicht lose, unabhängige und für sich bestehende Einzelwesen, sondern wie Glieder in einer Kette.“ (Thomas Mann, Buddenbrooks) Das Buddenbrooks-Team und Zunftmeister Dr. Alex Rübel (Mitte)
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„Sei mit Lust bei den Geschäften am Tage, aber mache nur solche, dass wir bei Nacht gut schlafen können!“ (Thomas Mann, Buddenbrooks)
gang macht: „Hier werden Kontakte geknüpft!“ Und beim Sechseläuten habe man das Gefühl, Zürich würde wieder zum Dorf. Familiär bedeutet hier, dass man sich hilft und zusammensteht, finanziell oder bei Krankheit. Teilweise lassen sich die Zunftfamilien – wie beim Stammbaum der Buddenbrooks – weit zurückverfolgen, hier sogar bis ins 13. Jahrhundert. Einige Familien sind bis heute im Handel tätig. Und hier findet sich der vielleicht deutlichste Anknüpfungspunkt zu den „Buddenbrooks“: dieses Selbstverständnis einer heutigen Generation aus einer langen Geschichte heraus – eine Ehre und eine Bürde zugleich. „Schliesslich gehörst du nicht dir allein an“, heisst die Maxime bei den „Buddenbrooks“, die jedem Familienmitglied immer wieder vor Augen geführt wird. Sie alle sind keine „lose, unabhängige und für sich bestehende Einzelwesen, sondern wie Glieder in einer Kette“, die „nicht denkbar“ wären ohne ihre Ahnen, die ebenfalls „einer erprobten und ehrwürdigen Überlieferung folgten“. Zu diesem auch heute noch anzutreffenden Selbstbewusstsein des Bürgertums, welches sich auf Verantwortung durch traditionelle Verbundenheit beruft, gesellt sich ein weiterer Aspekt, den man heute mit dem Bürgerlichen in Verbindung bringt, nämlich die immanente Beziehung zur städtischen Marktwirtschaft. Diese liegt sowohl der realen bürgerlichen Welt der Zunft zugrunde als auch den bürgerlichen Welten der Literatur von Boccaccio über Fontane bis hin zur autobiografisch angereicherten Lübecker Welt Thomas Manns. Auch heute wird aus dieser Nähe zur Marktwirtschaft Selbstbewusstsein ge30
schöpft. In den Sphären der Stadt bleibt bürgerliches Selbstbewusstsein lebendig, selbst wenn es mit der ökonomischen Realität in vielen Fällen nicht mehr im Einklang steht. Saffran stand an erster Stelle in der Rangordnung der Zünfte nach der Constaffel, der „Krämerzunft“, und versammelte Berufe, wie sie die Buddenbrooks im Roman über viele Generationen hinweg ausüben: Kaufleute, Apotheker, Seidenweber und Krämer, kaufmännische Berufe. Und der Blick wandert über die Reihe der Familienwappen auf der Holzvertäfelung, während wir uns noch einmal einen kräftigen Schluck Zunftweisswein zu Gemüte führen.
Buddenbrooks nach Thomas Mann / Regie Bastian Kraft Mit Benito Bause, Jean-Pierre Cornu, Henrike Johanna Jörissen, Claudius Körber, Matthias Neukirch, Lena Schwarz, Daniel Strässer, Edmund Telgenkämper, Susanne-Marie Wrage, Milian Zerzawy Premiere 30. September, Pfauen 6./9./11./17./26. Oktober / 5./7./17./23./27. November Unterstützt von der Georg und Bertha Schwyzer Winiker Stiftung
Theater im Gespräch zu „Buddenbrooks“ & „Fratelli“ 24. Oktober, 19:00–20:30, Treffpunkt Schiffbau/Foyer Theater Campus: Workshop – Vorstellung – Kantine 26. Oktober, ab 17:00
Mehr als Zuschauen Spielen, forschen, schreiben: „Mehr als Zuschauen“ bietet Ihnen Gelegenheit, sich aktiv mit den Produktionen des Schauspielhauses auseinanderzusetzen. Hier finden Sie eine Auswahl unserer zahlreichen Theaterangebote zum Mitmachen. Weitere Angebote und Termine sind direkt bei den Beiträgen in diesem Journal vermerkt. Die gesamte Übersicht des begleitenden Programms finden Sie unter schauspielhaus.ch/mehralszuschauen und online im Monatsspielplan. Informationen & Anmeldung unter mehralszuschauen@schauspielhaus.ch
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mehrtägige Kurse für Kinder zwischen 7 und 12 Jahren an. Informationen
Musik, Text, Fotografie, Spiel, Bühnenraum, Bewegung, Licht –
COOL-TUR
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verschiedene Theaterbereiche können zusammen mit Inszenierungsbeteiligten praktisch erprobt werden. Fotografie und Schauspiel, 8. November Bildwelten und Schauspiel, 21. November Musik und Schauspiel, 7. Dezember jeweils 18:30–21:00, Treffpunkt Schiffbau/Foyer Theaterlabor Spezial, Auftakt 28. Oktober, 13:00–17:00, Zeughaus 3, Militärstrasse 49
Bert
Interkultureller Spielclub ab 16 Jahren Der Jugendclub für neugierige junge ZürcherInnen mit und ohne Fluchthintergrund, die gemeinsam Theater spielen und schauen möchten. Schnupperprobe am 4. Oktober, 16:00–18:00, Treffpunkt wird bei Anmeldung bekanntgegeben.
Spielclub Generationen 13+ und 60+
Jugendliche zwischen 13 und 15 Jahren und SeniorInnen spielen gemeinsam Theater. Kick-off am 21. Dezember, 18:30–20:30, Treffpunkt Schiffbau/Foyer
Theater Campus
Ob in Workshops, Probenbesuchen oder Gesprächen: Studierende haben viele
Für Erwachsene Inszenierungseinblick
zu „Den Schlächtern ist kalt“, 17. Oktober zu „BEUTE FRAUEN KRIEG“, 23. November zu „Mir nämeds uf öis (Wir nehmen es auf uns)“, 4. Dezember jeweils 19:00–20:30, Treffpunkt Schiffbau/Foyer
Spielclub Generationen 13+ und 60+
SeniorInnen und Jugendliche zwischen 13 und 15 Jahren spielen gemeinsam Theater. Kick-off am 21. Dezember, 18:30–20:30, Treffpunkt Schiffbau/Foyer
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Ins Theater mit
Lubna Abukhair
Foto: zVg
Am 14. September feierte Bertolt Brechts und Kurt Weills „Dreigroschenoper“ im Schauspielhaus Zürich in der Inszenierung von Tina Lanik Premiere. Wir haben dazu die syrische Theaterwissenschaftlerin und Performerin Lubna Abukhair in den Pfauen eingeladen. Sie studierte und arbeitet als Theatermacherin in diversen Kontexten in Damaskus und Beirut. Seit 2016 lebt Lubna Abukhair in der Schweiz, lernt Deutsch und arbeitet als Freelance-Journalistin. Zurzeit schreibt sie an einem Theatertext über die Figur Ophelia, zu welchem sie Texte des deutschen Dramatikers Heiner Müller inspiriert haben. Am Schauspielhaus Zürich nahm sie 2016 an „Our Voice/Our Hope“, einem Schreibprojekt für Menschen aus dem arabischen Raum, teil.
Von woher kamen Sie zu der Vorstellung ins Schauspielhaus? Ich kam aus Solothurn, weil ich dort gerade lebe. Jeden Tag fahre ich nach Olten, wo sich meine Sprachschule befindet, in der ich jeden Tag 4 Stunden am Deutschunterricht teilnehme. Auf dem Weg in den Pfauen habe ich noch im Zug gearbeitet. Ich schreibe für ein englischsprachiges Magazin einen Beitrag zum Thema Heimat; darüber, wo man diese überall finden oder wiederfinden kann.
Kannten Sie das Stück vorher? Ja, natürlich! Ich war auf einer Theaterschule in Damaskus und habe auch Theaterwissenschaften studiert. Wir haben dieses Stück dort gelesen und analysiert, weil es wahrscheinlich das bekannteste Stück von Brecht ist. Ich kann mich dran erinnern, dass einige meiner Lehrer in Damaskus Kenner und Liebhaber von deutscher Dramatik, nicht allein von Brecht waren. Viele der „grossen Namen“ hier sind auch in Syrien bekannt.
Was hatten Sie an dem Abend an? Eigentlich nichts Besonderes. Aber ich versuche, mich fast jeden Tag schick anzuziehen. Das ist mir generell wichtig. Ich verlasse auch selten das Haus ohne Make-up. Aber heute Abend war es, weil ich den ganzen Tag unterwegs war, dann doch die Bluse zu einer Jeans anstelle des Abendkleids.
In welcher Stimmung waren Sie in dem Moment, als im Zuschauerraum das Licht ausging? Ich war entspannt und glücklich, hier zu sein. Ich bin allein gekommen, aber so eine Premiere ist für mich immer eine kleine Feier. Es hat mich an meine Besuche in der Oper von Damaskus erinnert. Auch wenn Zürich und Damaskus zwei voll-
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kommen unterschiedliche Orte sind, sind doch Atmosphäre und Stimmung, wie sich Menschen vor einem Theater- oder Konzertbesuch verhalten, ähnlich. Sie begrüssen sich herzlich und reden miteinander. Haben Sie während der Vorstellung gelacht? Ich musste sehr lachen über den Auftritt von Klaus Brömmelmeier als Peachum, wenn er das erste Mal die Bühne betritt. Er spricht und singt von oben, von der Rolltreppe herab wie von einer Kanzel oder einem Rednerpult. Er redet wie ein Geistlicher oder Politiker, trägt dabei jedoch einen golden glitzernden Bademantel. Was hat Sie berührt? Ich muss ehrlich sagen, das ist zumindest keine Geschichte, die mich auf Anhieb berührt. Auch ist der opernhafte, ironische Schluss
für mich erstmal merkwürdig. Ich mochte die Drehbühne mit der Rolltreppe darauf. Ich kann ja nicht perfekt Deutsch. Aber der Abend war visuell sehr schön. Ich habe darüber nachgedacht, was ich machen würde, wenn ich so eine Bühne für eins meiner Projekte zur Verfügung hätte. Ich muss aber gestehen, dass mich bei solchen Gedanken die grosse Halle im Schiffbau mehr reizt als die Pfauenbühne mit ihrer Guckkastenperspektive. In welchem Moment haben Sie zum ersten Mal auf die Uhr geschaut? Ich habe nicht auf die Uhr gesehen. Es gab so viel Songs und Show. „Die Dreigroschenoper“ ist einfach ein sehr unterhaltsames Stück. Finden Sie, dass die Aufführung etwas mit Ihnen zu tun hat? Nein, eigentlich nicht. Ich habe auch keine armen Menschen auf der Bühne gesehen, was doch irgendwo das Thema der Dreigroschenoper ist. Eher verkommene Menschen. Die Rolltreppe erinnert mich wiederum an den Eingang des Casinos in Zürich. Das ist eher ein Ort für Reiche und nicht für Arme.
Beim Schauen dachte ich auch, dass wir hier in der Schweiz gerade hervorragende Voraussetzungen für Theater haben. In Damaskus sind die meisten Theater geschlossen und trotzdem gibt es natürlich auch dort aktuell Theater an alternativen Orten, in Bars und in Cafés zum Beispiel. Viele meiner Freunde und Kommilitonen von früher leben aber heute in Berlin oder Beirut. Also sind Sie auch eine ExilTheatermacherin? Wir sind alle Exil-TheatermacherInnen gerade. Hätten Sie Lust, das Bühnenbild zu betreten? Würden Sie sich einen bestimmten Platz darin wählen? Es wäre mein Traum, hier im Pfauen oder auch an einem anderen Ort wieder auf der Bühne stehen zu dürfen, was aber gerade noch schwer ist. Es braucht, denke ich, noch Zeit, bis ich wieder einen Ort gefunden habe, an dem ich mit anderen Theater machen kann.
Die Dreigroschenoper von Bertolt Brecht, Musik von Kurt Weill / Regie Tina Lanik Mit Miguel Abrantes Ostrowski, Christian Baumbach, Klaus Brömmelmeier, Fritz Fenne, Johannes Hegemann, Svenja Koch, Julia Kreusch, Katrija Lehmann, Julian Lehr, Miriam Maertens, Isabelle Menke, Elisa Plüss, Lucas Riedle, Jirka Zett Orchester: Zoro Babel, Florian Egli, Sachiko Hara, Raphael Kalt, Polina Lapkovskaja, Matthias Lincke, Lukas Reinert, Wanja Slavin, Matthias Spillmann u. a. Premiere 14. September, Pfauen 7./14./19./22./25. Oktober / 4./6./12./22./26. November Unterstützt von der Zürcher Kantonalbank
Theater im Gespräch zu „Die Dreigroschenoper“ & „Welches Jahr haben wir gerade?“ 29. September, 19:00–20:30 Treffpunkt Schiffbau/Foyer Theaterlabor Spezial 6. November, 18:30–22:30 Treffpunkt Schiffbau/Foyer Early Birds „KünstlerInnen im Zürcher Exil I“ 17. November, 9:00–11:00 Treffpunkt Pfauen/Foyer
Jirka Zett (links), Christian Baumbach (als Hure), Katrija Lehmann (als Molly), Lucas Riedle (als Zweite Hure), Johannes Hegemann (als Vixer), Julia Kreusch, Julian Lehr (als Bettler), Miguel Abrantes Ostrowski (als Alte Hure), Svenja Koch (als Dolly), Foto: Matthias Horn
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„You have no chance, if you don’t change …“* „MEET ME“ von Liv Heløe ist die Geschichte von Shaya, Feda und La’lia. Allen Widerständen zum Trotz behaupten sie ihre Ansprüche ans Leben und versuchen, in der Welt Fuss zu fassen. Im Zusammenhang mit dem Stück trafen sich Claudio Bergamin (Berater Berufsintegration, Förderverein cocomo), Sandra Costantini (Fachperson für Kinderrechte, Partizipation und Kindesinteresse, Save the Children Schweiz), Katrin Jaggi (Städtebauerin und Architektin, Gründerin Welcome2school) zu einem Gespräch über das Ankommen und Integrieren. Sandra Costantini: Das gefällt mir so gut an dem Stück: Es gibt immer wieder Szenen, die von jugendlichem Leichtsinn und Leichtigkeit geprägt sind, wo man schmunzeln muss und teilweise – aus der Sicht eines „vernünftigen Erwachsenen“ – auch den Kopf schüttelt. Aber dadurch, dass Shaya ein Asylsuchender ist, bekommt das Ganze eine tragische Komponente. Dass La’lia ihm Geld gibt, damit er etwas aus sich macht und nicht aussieht wie ein Asylsuchender, verleiht der Szene etwas Dramatisches. Es hat etwas von „Anpassen auf Teufel komm raus“ und von „nicht Auffallen, um keinen Preis“. Als Sozialpädagogin stand ich immer wieder im Spannungsfeld: Wie sehr soll ich die jungen Menschen dazu anhalten, sich möglichst systemkonform zu verhalten, um sich keine Zukunftschancen zu verbauen, und ihnen gleichzeitig mit auf den Weg geben: Werdet keine „Schafe“, nur weil ihr Asylsuchende seid. Darum finde ich den Ansatz sehr schön, dass immer wieder Fragen aufgegriffen werden, die uns alle betreffen. Das Publikum wird mit der Herausforderung konfrontiert, dass ein gelingendes Zusammenleben nicht nur von der Anpassung der Asylsuchenden abhängt. Ich finde, es ist unsere gemeinsame Aufgabe, Neues zu schaffen. Wir werden eine buntere Gesellschaft sein in Zukunft. Katrin Jaggi: Ich sehe das auch so, dass wir sicher in eine vielfältigere Zukunft gehen. Trotzdem: sie sind eine Minderheit hier und sie werden nicht viele Chancen haben, wenn sie sich nicht integrieren. Ich habe mir viele Gedanken darüber gemacht, wie die Jugendlichen, die unsere Welcome2school besuchen, hier leben können, ohne ihre Identität zu verlieren. Sie wissen gewisse Sachen, aber diese haben hier kaum Wert. Das Motto unserer Schule
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„Integration durch Bildung“ ist ein möglicher Weg, sich hier einzufügen. SC: Aber die grössere Frage ist: Was macht das mit unserer Gesellschaft? Was für eine Art Zusammenleben wollen wir? Es ist nicht nur die Frage, wie ich zum Beispiel einem einzelnen afghanischen Jugendlichen hier eine gute Zukunft ermöglichen kann. Du hast gesagt, sie haben Kompetenzen, aber diese sind bei uns nichts wert. Wieso? Das, was sie mitbringen, ist so wertvoll! Langfristig nützt es nichts, wenn wir von ihnen erwarten, dass sie einfach nur pünktlich zum Vorstellungsgespräch kommen und „Schweizer“ werden. KJ: Ich überlege, welche Kompetenzen das genau sind. Die „Kompetenz des Schafseins“ in einer Grossfamilie, die bringen sie mit. Ducken, sich unterordnen, das haben sie nicht bei uns gelernt. Sie haben sehr viele Kompetenzen – aber ob es tatsächlich interessant wäre, die alle in unsere Gesellschaft aufzunehmen, bezweifle ich. Ich finde es beschönigend, zu sagen, sie bringen wahnsinnig viel Wertvolles mit – ohne zu sagen, dass man froh ist, wenn es gelingt, ihnen auch eine Welt zu eröffnen. Einer unserer Schüler hat gesagt: „Bevor ich hierhergekommen bin, habe ich gedacht, es ginge im Leben nur ums Essen, Schlafen und Kinder machen. Hier in der Schweiz ist für mich eine Welt aufgegangen.“ Es hat für mich einen hohen Stellenwert, wenn jemand sagt, dass er plötzlich Kultur erlebt und erfährt, was es bedeutet, ein Individuum zu sein. Claudio Bergamin: Interkulturelle Flexibilität ist gefragt. Doch diese stellt eine extreme Herausforderung dar, da sie die Wahrnehmung anderer Denk-
weisen betrifft. Und dennoch glaube ich, dass sich die Flüchtlinge anpassen müssen, wenn sie hier ankommen wollen – zumindest bis zu einem gewissen Grad. Es gibt Sachen, die verlangt werden, ohne die unser gesellschaftliches Zusammenleben nicht funktioniert. Die Vorstellungen und Erwartungen der Leute, die hierherkommen, und die Realität, die sie antreffen – da liegen teilweise wortwörtlich Welten dazwischen. Sich der hiesigen Realität anzunähern, ist für junge Menschen eine grosse Herausforderung.
einen Platz in dieser Gesellschaft? Werde ich anerkannt oder ausgegrenzt? Wie kann ich einen jungen Menschen, egal ob Flüchtling oder nicht, auf seinem Weg begleiten, damit er sich als Einzelner bestmöglich entfalten, aber auch Teil des Ganzen werden kann? Ich glaube, dass man ihm auch vermitteln muss: „Du hast das jetzt zu akzeptieren, so läuft das in der Schweiz.“ Pragmatischerweise ist das der Rat, durch den man auch in der Gesellschaft ankommen kann.
SC: Ich finde das Wort Flucht noch in einem ganz anderen Zusammenhang sehr spannend. Wie viele Schweizer flüchten? Alkoholismus, Spielsucht, Drogen, Sekten etc. Auch der Schweiz und Europa krankt es an der Seele.
CB: Dennoch – das finde ich wichtig – darf man ihnen das Wissen, das unser Bildungssystems vermittelt, nicht einfach „überstülpen“. Es ist nicht zwingend, dass jemand den ganzen Schulstoff der Oberstufe intus hat. Für einen erfolgreichen Berufseinstieg ist oftmals anderes Wissen oder sind andere Kompetenzen notwendig. Es geht darum, herauszufinden, welches die relevanten Themen für die einzelnen Berufsfelder sind und welche Spielregeln wo gelten. Aus unserer Perspektive soll dies möglichst handlungs- und praxisorientiert passieren.
CB: Die aufnehmende Gesellschaft und die Ankommenden – beide Seiten stehen vor grossen Aufgaben. SC: Ich würde mir wünschen, dass verstanden wird, dass sie sowieso kommen. Auch jemand, der diese Menschen hier nicht will, muss doch langsam einsehen, dass das Zusammenleben sehr unangenehm werden kann, wenn wir keinen gemeinsamen Weg finden. Wir gewinnen alle, wenn wir uns öffnen. KJ: Umgekehrt, wir verlieren alle, wenn wir uns nicht öffnen. Vielleicht ist das wirklich ein Unterschied zwischen uns: du hast das Gefühl, wir gewinnen etwas und ich das Gefühl, wir verlieren etwas, wenn wir uns nicht öffnen. Das Engagement ist das gleiche, aber die Motivation ist eine andere. Für mich war ein Satz von meinem Mann ausschlaggebend: „Schau, die Leute kommen sowieso, jetzt gibt es nur eins: Wir müssen sie an unserem Leben teilnehmen lassen, alles andere … ist ein Schiffbruch.“ CB: Aber was tun wir dafür, damit genau dieser „Schiffbruch“ nicht passiert? Es geht um unsere Grundeinstellung, um den Abbau von Vorurteilen und Ängsten. KJ: Genau deshalb sind die kulturellen Beiträge zu diesem Thema so wichtig. SC: In meiner Arbeit habe ich häufig erlebt, dass ein Verhalten, bei dem man im ersten Moment dachte, es sei fluchtbedingt oder es liege an kulturellen Unterschieden, nur teilweise mit Herkunft und Kultur zu tun hatte. Viele Themen werden im Zusammenhang mit Flucht und Migration wie unter einem Brennglas nochmal fokussierter brisant. Vieles, was in „MEET ME“ aufgegriffen wird, sind allgemeingültige Themen. Was passiert mit meinem Leben? Finde ich
KJ: Die jungen Menschen wollen von uns lernen. Darum finde ich auch das Wort Integration nicht schlimm, denn sie wollen verstehen, wie es hier läuft. Unsere Schüler hängen den Lehrpersonen an den Lippen. Aber auch Schwänzen ist Programm. Das ist zwar ein Widerspruch, aber wenn sie da sind, sind sie sehr aufnahmebereit. Jeden Schritt, den wir ihnen neu erklären, finden sie spannend. Ich beobachte, wie sie unsere Gesellschaft nur so aufsaugen. Meine These ist, die jungen Menschen wollen integriert werden. Darum finde ich, wie blöd kann die Schweiz sein, diese Energie nicht zu nutzen. *aus: „MEET ME“
MEET ME von Liv Heløe / Regie Enrico Beeler Schweizer Erstaufführung Mit Robert Baranowski, Dominik Blumer, Tabea Buser, Josef Mohamed Premiere 16. November, Schiffbau/Matchbox 17./18./22./24./25./27./28./30. November / 1./4./5./7. Dezember
Inszenierungseinblick 25. Oktober / 7. November jeweils 19:00–20:30, Treffpunkt Schiffbau/Foyer Theater im Gespräch zu „MEET ME“ & „Winterreise“ 5. Dezember, 19:00–20:30, Treffpunkt Schiffbau/Foyer Theaterlabor Spezial 7. Dezember 18:00–21:00, Treffpunkt Schiffbau/Foyer
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Lob der inneren Emigration
sämtliche erdenklichen Varianten von Exil finden sich in der Literatur beredte Beispiele. Es ist nicht zufällig, dass man von Exilliteratur redet, aber nicht von Exilmalerei. Cy Twombly in Rom oder Gauguin in Tahiti waren nicht wie Brecht oder Thomas Mann in Kalifornien von einer fremden Sprache umgeben, sondern von vertrautem Licht, vertrauten Farben, einfach intensiver und tiefer.
von Stefan Zweifel
„ Alle Literatur trägt das Exil in sich.“ Roberto Bolaño
Es mag angesichts der Schrecken, die heutige Dichter und Denker aus Syrien im Exil bedrängen, kokett erscheinen, und doch, es muss gesagt werden: Immer sehnt sich die Literatur und das Theater nach: Exil – nach jenem Stempel, den die umstürzlerische Kraft der künstlerischen Gegenwelten als Gütesiegel trägt. Diese Sehnsucht besteht, seit Ovid an die Küste des schwarzen Meeres verbannt wurde und dort Sprache, Dichtung und Mythen einer gewaltigen Metamorphose unterzog. Die Gesellschaft reagiert auf radikale Kunst durch Ausschluss oder Einschluss. In unserem Kulturkreis schickt sie die Dichter nicht mehr nach Sibirien wie Dostojewski, vertreibt sie nicht mehr wie Bolaño aus Chile nach Spanien, sondern umzingelt sie mit Stipendien und Marktforschung. Man frisiert sie im Windkanal des Konsumismus. So vergessen sie, dass das Exil ihr einziger Ort ist. Denn jeder wahre Dichter rettet die Worte vor dem Bedeutungszwang, entzieht sie der kommunikativen Funktionalität, dem Schicksal, letztlich nur Befehlsträger zu sein. Er erkundet, was das Wort jenseits seines Sinnzwangs an Ahnung und Sinnlichkeit in sich trägt, wie man mit einer zersprengten Syntax gesellschaftliche Vorurteile und Denkgitter durchbrechen kann. Schon Marcel Proust wusste: Jedes wahre Werk ist „in einer Fremdsprache“ geschrieben. Über sein eigenes Französisch höhnten die damaligen Kritiker, es sei „barbarisch“. So schuf sich Proust auf dem Bett in seinem Zimmer, das mit Kork tapeziert war, damit nicht der Lärm des Gemeinsinns zu ihm durchdrang, seine eigene Insel: Als „Barbar“ aus der Gemeinschaft der wohlformulierenden Franzosen ausgebürgert. Kafka flüchtete sich vor Felices Liebe in seine Briefe an sie, Beckett fand für seine Figuren im Französischen eine heimatliche Fremde, Ezra Pound dichtete in offener Landschaft in einen Käfig gesperrt seine Cantos, Hölderlin stammelte im Turm seines Wahns und Rimbaud verstummte in Afrika – für 38
Statt mit Ausschluss operiert die heutige Gesellschaft lieber mit Einschluss: Noch die obszönsten Provokationen der Gegenwartskunst werden im internationalen Kapitalfluss zu Warenwerten. Anders im Theater: Dort operiert der Einschluss mit den Mitteln von Subvention und Evaluierung als Standortvorteil. In einer Welt, in der das Wort im Bannstrahl der Marktforschung steht, können sich die Autoren, Schauspieler und Regisseure solchen Zumutungen entziehen und Inseln des Widerstands schaffen, wie sie jeder Schauspieler in seinem Rachenraum bergen kann, wenn er die Worte anders gewichtet, die Syntax verfremdet. In jedem Satz kann der Schauspieler den Worten ein Exil geben, das sie aus der Vernutzung abhebt und ihnen ihren Eigensinn wiedergibt. Nichts ist heute verstörender und anregender als ein Theater, das ganz auf die Kraft des Wortes setzt, und der multimedialen Berieselung jenen harten Widerstand der Worte entgegensetzt, der die Dichter immer wieder ins Exil trieb. Die Vertreibung ins Exil unterstrich ex negativo die Kraft der Kunst. Nietzsche hoffte mit verzweifelter Selbstironie, dass man ihm mitten in Europa ein Sibirien aus einem gewaltigen Berg „gelato“ errichte. Vergeblich. Er ahnte schon: Schlimmer als Ausschluss ist das ebenso eintönige wie eingängige Summen der „Fliegen des Marktes“. Im Kampf gegen politisches Exil sollte man nicht vergessen, dass die poetische Befreiung des Wortes selbst schon politisch ist und Isolation ein Kampf gegen die Quote. Gustave Flaubert hat mit seiner Grammatik ein Feld eröffnet, das unsere Wahrnehmung der Welt genauso radikal revolutionierte wie es jede Literatur, jede Aufführung eines Bühnenstücks vermag, die weiss, dass der wahre Ort der Kunst das Niemandsland des Exils bleibt.
Stefan Zweifel ist als Gastgeber der „Zürcher Gespräche“ weiterhin regelmässig mit unterschiedlichen Gästen am Schauspielhaus im Dialog zu erleben. Am 1. November ist der österreichische Schriftsteller und leidenschaftliche Europa-Fan Robert Menasse sein Gast. Neu tritt in dieser Spielzeit neben Stefan Zweifel und Lukas Bärfuss auch die Kommunikationswissenschaftlerin und Journalistin Miriam Meckel als Gastgeberin auf.
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E I R O T S A T AN
Detail aus «Guido Santo», Sammlung Würth, Künzelsau
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Schicht mit
Kaspar Kägi
von Sandra Suter Foto: Philip Frowein
Erst seit 2015 besitzt das Schauspielhaus Zürich eine offizielle Stelle mit der Bezeichnung „Archivverantwortlicher“. Das Gespräch mit Kaspar Kägi eröffnet den Blick auf vergangene Theaterzeiten und lässt staunen, dass die Aufbewahrung und Archivierung von vielem teils wertvollen Material bisher so stiefmütterlich behandelt wurde.
8:35
Kaspar Kägi trifft im Büro ein, das er sich mit der Grafikerin Caroline Grimm teilt. In seiner Hälfte des Zimmers stehen Kisten mit alten Programmheften, Plakaten und anderen Dokumenten – Dinge, die irgendwo im Haus gefunden wurden und von ihm gesammelt, geordnet und systematisiert werden. Als erstes startet Kaspar seinen Computer. Regelmässig erhält er Mailanfragen von Mitarbeitenden des Schauspielhauses, aber auch von externen Privatpersonen oder Institutionen wie Universitäten oder Archiven, die in den meisten Fällen schnell beantwortet sind: Welcher Schauspieler spielte 1950 den Mackie Messer in der Dreigroschenoper? Könnten Sie uns ein Exemplar des Programmhefts der Inszenierung „Faust 1–3“ vom März 2012 zuschicken? Wie häufig wurden am Schauspielhaus Brecht-Stücke inszeniert? Ein Blick in Kaspars Aufführungsliste ergibt: Seit den Aufzeichnungen 1941 wurde genau 30 Mal Brecht gespielt, davon viermal „Die Dreigroschenoper“. Zur Eröffnung der Spielzeit 17/18 beehrt nun dieses erfolgreichste aller Brecht-Stücke den Pfauen zum fünften Mal. Die Bewahrung dieses Wissens über die eigene Geschichte ist für den schnelllebigen Betrieb am Schauspielhaus natürlich nicht die erste Priorität. Als ich wissen möchte, ob Kaspars Stelle mit 40% nicht zu knapp bemessen sei, sagt er: „Das kommt auf den Auftrag an. So wie die Bewahrung der eigenen Dokumente bisher gehandhabt wurde, nämlich nicht systematisch, wäre die Stelle überflüssig. Wenn man aber den Kulturauftrag wahrnehmen möchte, diesen Teil der Zürcher Kulturgeschichte zu dokumentieren, dann sollte die Stelle sogar eher ausgebaut werden.“ – „Hat das Theater denn einen historisch-dokumentarischen Auftrag?“ – „Das Theater hat meiner Meinung nach nicht den Auftrag, historisches Wissen zu vermitteln. Aber das Theater sollte darum bemüht sein, dass sein Beitrag zum kulturellen Erbe erhalten bleibt.“
Im Gegensatz zum Schauspielhaus hat das in nächster Nachbarschaft gelegene Stadtarchiv neben seiner Funktion als Archiv der städtischen Verwaltung auch den Auftrag, das wirtschaftliche, kulturelle und politische Geschehen der Stadt abzubilden und zu dokumentieren – dazu gehört auch die Geschichte des Schauspielhauses. Dieses übergibt dem Stadtarchiv regelmässig sein Material, welches dort einen der gefragtesten Bestände darstellt – neben dem Verkehrswesen, Bauwesen und den Polizeiunfallfotos.
9:47
Kaspar packt nun eine Schachtel mit alten Programmheften in den Lift und fährt in den Keller des Hauses, in den sogenannten „Archivraum“. Eine der dringendsten Aufgaben für Kaspar ist das Aufräumen der „Altlasten“. „In den letzten Jahren ist die Archivstelle am Schauspielhaus verwaist“, erzählt er. Die Aufgaben wurden von mehreren Mitarbeitern nebenher erledigt. Plakate, Unterlagen, Fotografien, Briefwechsel, Abrechnungen, Aufenthaltsgenehmigungen: Alles war ungeordnet. Erst 2014 entschied man, jemanden einzustellen, der sich darum kümmert. Man musste herausfinden, worum es sich jeweils handelte, von wem es stammte und wie wichtig oder wie heikel die Sachen waren. Wir stehen nun im kleinen Kellerraum. Dieser bietet keine idealen Bedingungen für einen Archivraum, wie Kaspar mir erklärt. „Die Gestelle beanspruchen zu viel Platz und die Sicherheit von heiklen Dokumenten ist nicht gewährleistet. Aber: ein verschliessbarer Archivraum mit platzsparenden Rollregalen wird über den Sommer gebaut und im Estrich kriegen wir einen eigenen Plakatraum!“
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11:05
Als nächstes hat Kaspar eine Besprechung mit Jens Zimmer, dem Leiter der Ton- und Videoabteilung. Die beiden planen ein längst fälliges Archivprojekt: In den letzten Jahrzehnten haben sich durch die schnelle Entwicklung der technischen Möglichkeiten und Geräte immer mehr Ton- und Videodokumente angesammelt, für die bisher noch keine spezielle Archivierungslösung notwendig war. Auch das Stadtarchiv hat bisher keinen Auftrag, Video- und Tondokumente des Schauspielhauses aufzubewahren. Viele dieser Dokumente, wie zum Beispiel alte VHS-Kassetten, sind heute vom Zerfall bedroht. Das geplante Projekt sieht die Digitalisierung dieser Aufnahmen vor. Doch gilt es, eine Reihe von Hürden zu überwinden, wie Kaspar berichtet. „Einerseits stellt sich die Frage nach der Finanzierung des Projekts, da die Reinigung, Digitalisierung und digitale Aufbewahrung alter Videoaufnahmen kostspielig ist. Andererseits muss geklärt werden, in welchem Format die digitalisierten Aufnahmen aufbewahrt werden sollen: Welches digitale Video-Format kann in 20, 30 Jahren noch geöffnet und angesehen werden?“ Laut Kaspar setzen sich momentan zahlreiche Archive mit dieser Frage auseinander. Er und Jens lassen sich in dieser Frage von Memoriav beraten, einem vom Bundesamt für Kultur finanzierten Verein, der die Erhaltung des audiovisuellen Erbes der Schweiz zum Ziel hat.
12:12
Die Dramaturgin Gwendolyne Melchinger hat bei Kaspar einiges an Material zum Stück „Die Dreigroschenoper“ angefordert, das er sich nun beim Stadtarchiv bestellt: Briefwechsel und Vertragsverhandlungen zur Aufführung von 1950, Zeitungskritiken und Fotos der Aufführung aus den Siebzigerjahren sowie Programmhefte von allen vier bisherigen Inszenierungen am Haus.
13:53
Nach dem Mittagessen begleite ich Kaspar an den Neumarkt ins Stadtarchiv. Nun kriege ich einen Einblick in die „klassische“ Archivarbeit. Im Lesesaal stehen für uns schon drei Kisten mit Papier bereit. 1945 hatte man sich am Schauspielhaus gegen eine Schweizer Erstaufführung der „Dreigroschenoper“ entschieden: Aus Angst vor Verdacht auf Bolschewismus wollte das Schauspielhaus nichts mit Ostdeutschland und Brecht zu tun haben. „Die Dreigroschenoper“ wurde aber Brechts grösster Erfolg und Kurt Weills Song von Mackie Messer ging um die ganze Welt: von Frank Sinatra bis zu den Toten Hosen – überall wurde er gespielt! Schliesslich war 1950 in Zürich dann doch die Zeit reif für das Stück. Zusammen mit Kaspar durchforste ich die im Stadt-
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archiv aufbewahrten Unmengen an Briefen und Vertragsverhandlungen zur damaligen Aufführung. Alles, was heute per Mail kommuniziert wird, wurde damals mit Schreibmaschine auf Seidenpapier getippt und mit der Post oder als Telegramme in der ganzen Welt herumgeschickt. Brecht hielt sich in Ostdeutschland auf und der Komponist Kurt Weill in den USA; es war nicht klar, wo die Aufführungsrechte lagen, der Musikverlag konnte nur bedingt weiterhelfen. Brecht war nicht zu erreichen. Ausserdem war völlig unklar, wer wie viele Tantiemen erhalten sollte. Die Aufführung fand 1950 statt, aber die Verhandlungen und Briefwechsel dazu dauerten von 1949 bis 1954. Als grösste Schwierigkeit erwies sich am Ende nicht das Einigen auf die Tantiemen, sondern das Auszahlen derer an Brecht im abgeriegelten Ostdeutschland.
16:18
Auf dem Rückweg in den Pfauen erzählt mir Kaspar, was für ihn den Reiz des Theaters ausmacht: „Dass etwas live auf der Bühne passiert. Ich habe als Historiker und Archivar so viel mit Aufzeichnungen aller Art zu tun, dass es für mich faszinierend zu sehen ist, wie sich da etwas bewegt, etwas lebt, dass da reale Menschen auf der Bühne sind und ich die Aktion live miterlebe. Das Theater ist flüchtig und einmalig. Einen Film kann ich streamen, kopieren, zurückspulen. Im Theater geht das nicht. Was ich verpasst habe, habe ich verpasst.“
Die Dreigroschenoper von Bertolt Brecht, Musik Kurt Weill / Regie Tina Lanik Mit Miguel Abrantes Ostrowski, Christian Baumbach, Klaus Brömmelmeier, Fritz Fenne, Johannes Hegemann, Svenja Koch, Julia Kreusch, Katrija Lehmann, Julian Lehr, Miriam Maertens, Isabelle Menke, Elisa Plüss, Lucas Riedle, Jirka Zett Orchester: Zoro Babel, Florian Egli, Sachiko Hara, Raphael Kalt, Polina Lapkovskaja, Matthias Lincke, Lukas Reinert, Wanja Slavin, Matthias Spillmann u. a. Premiere 14. September, Pfauen 7./14./19./22./25. Oktober / 4./6./12./22./26. November Unterstützt von der Zürcher Kantonalbank
Theater im Gespräch zu „Die Dreigroschenoper“ & „Welches Jahr haben wir gerade?“ 29. September, 19:00–20:30, Treffpunkt Schiffbau/Foyer Theaterlabor Spezial 6. November, 18:30–22:30, Treffpunkt Schiffbau/Foyer Early Birds „KünstlerInnen im Zürcher Exil I“ 17. November, 9:00–11:00, Treffpunkt Pfauen/Foyer
Close Up
Schmetterling im Karussell In der Reihe Close Up, wo SchauspielerInnen des Schauspielhauses eigene Arbeiten präsentieren, zeigt Isabelle Menke den Dada-Abend „Vergessenes Gelächter“. Die Dramaturgin Gwendolyne Melchinger sprach mit ihr über die Entstehung dieses Theaterprojekts. Céline Arnauld gehörte zum innersten Kreis der Pariser Dadaisten.
Wie kam es zu diesem Theaterprojekt und zu der Konzeption? Zum Herbst 2014 plante das Forum Schlossplatz in Aarau eine Ausstellung über Künstlerinnen in der DadaBewegung: Die Dada La Dada She Dada. Um die Dichterin Céline Arnauld besser vorstellen zu können, wollten die Kuratorinnen Nadine Schneider und Ina Boesch mit Peter-Jakob Kelting vom Theater Tuchlaube Aarau eine Aufführung ermöglichen. Sie kamen auf mich zu, vielleicht auch weil ich bilingue bin und die Texte bis dahin nur auf Französisch existierten. Ich begann mich ein wenig einzulesen und entdeckte eine extrem faszinierende Dichterin, Herausgeberin einer eigenen DadaZeitung in Paris, Verfasserin eines sehr avantgardistischen Theaterstückes, eines Romans und eines Manifests, Schöpferin einer fantastisch surrealen Bilderflut. Ich war geradezu erschrocken, als ich realisierte, dass ich praktisch alle Namen ihrer männlichen Kollegen kannte, aber von ihr noch nie gehört hatte. Mir wurde sehr schnell klar, dass ich dieses Projekt nur zusammen mit Bo Wiget realisieren konnte. Beim Lesen hatte ich immer ihn und seine Fantasie und seine Musik im Kopf. Er ist ein wunderbarer Cellist und Performer. Für mich war es sehr wichtig, damit zu spielen, einen Raum von einem Mann mit einer männlichen Stimme einnehmen zu lassen, um welche die Dichterin wie ein verführerischer Schmetterling schwirrt und eine imaginäre Welt kreiert.
dann wieder als Verhöhnung eines männlichen Fortschrittglaubens. In welcher Beziehung stehen Sprache und Musik und wie treten sie miteinander in einen Dialog? Die Sprache von Céline Arnauld hat bereits ihre ganz eigene Musikalität und da das Cello eine eigene Welt behaupten soll, geht von der Musik eine starke Energie aus, oft sehr rauschhaft und selbstvergessen, dann wieder verspielt und zart. Die Stimme, also die Dichterin, nimmt die Energie der Musik auf, um sie zu verwandeln.
Vergessenes Gelächter Ein Ständchen durchs Megafon mit Texten von Céline Arnauld Mit Isabelle Menke und Bo Wiget 20. Oktober, 19:30, Pfauen/Kammer
Weitere Close Ups in dieser Spielzeit Ein Gespenst geht um ... Eine Re-Lektüre von Marx und Engels Mit Susanne-Marie Wrage Was Karl Marx und Friedrich Engels 1848 mit ihrem „Kommunistischen Manifest“ prognostizierten, ist geradezu visionär: Sie
Was hat dich an der Ausnahmekünstlerin Céline Arnauld besonders beindruckt? Sie hat einen sehr speziellen Humor und kann auf eine fast unverschämte Weise provokant sein. Ihre Gedichte sind eine wilde Achterbahnfahrt. Züge und Karussells rasen durch überraschende Sprachbilder. Wenn ich ein Gedicht dreimal lese, entstehen dreimal neue Storys und Bilder und ich frage mich, für welche Geschichte ich mich jetzt entscheiden will! Ein Gedicht liest sich mal als wüste Beschimpfung der philosophierenden Kleingeister, mal als Klagelied einer verschwundenen Welt, 44
beschreiben präzise die heutigen Auswirkungen der Globalisierung auf die Arbeiterlöhne, die wachsende Ungleichheit.
Missionen der Schönheit von Sibylle Berg Schweizer Erstaufführung Mit Lisa-Katrina Mayer, Choreografie Salome Schneebeli, Video Heta Multanen Acht schlaglichtartige Monologe über Schönheit und Gewalt, über Weiblichkeit, Verletzungen und Narben. Was ist Schönheit und wem gehört sie? Im Rahmen der Festspiele Zürich
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Zürcher Gespräche – Dialoge über Gesellschaft, Philosophie und Politik 3. Oktober, 20:00, Pfauen Philipp Hildebrand und Lukas Bärfuss
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1. November, 20:00, Pfauen Robert Menasse und Stefan Zweifel
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In der Reihe „Zürcher Gespräche“ werden die Gäste nicht als Experten oder schnelle Informationsquellen geladen, sondern als Persönlichkeiten. Mit ihren Biografien und mit ihrem jeweiligen literarischen, künstlerischen oder politischen Werk begeben sie sich in den Dialog mit ihren Gastgebern Lukas Bärfuss, Stefan Zweifel und – ab dieser Spielzeit neu – Miriam Meckel. Sie nehmen sich Raum und Zeit, lassen sich verleiten zu Gedankenspielen, dazu, neue Perspektiven zu beschreiben. Lukas Bärfuss trifft einen, der es wissen muss: Philipp Hildebrand war Präsident der Schweizer Nationalbank (SNB), als diese die Frankenbindung an den Euro einführte, und er leitete die SNB während der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise. Heute ist er Manager beim weltweit grössten Vermögensverwalter BlackRock – und diskutiert mit Bärfuss die moralische Krise seiner Branche. Stefan Zweifel hat mit dem österreichischen Schriftsteller Robert Menasse einen nicht minder politischen Gast. Statt den globalen Finanzströmen ist der Europa-Anhänger den Irrungen und Wirrungen europäischer Verwaltungsapparate auf der Spur – in Brüssel spielt auch Menasses neuer Roman „Die Hauptstadt“, über den die beiden sprechen werden.
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Peter von Matt
Foto: Yvonne Böhler
Am Sonntag, den 5. November, 11:00, wird Peter von Matt im Pfauen der Zürcher Festspielpreis überreicht. Der Germanist wird für seine herausragenden Leistungen für das Zürcher Kulturleben geehrt. Die Laudatio hält Intendantin Barbara Frey. Laut Barbara Frey ist Peter von Matt „ein unermüdlicher und feinsinniger Forscher, der jenseits akademischer Trampelpfade in der Literatur unablässig neue Wahrheiten entdeckt und ungeahnte Verbindungen herstellt zwischen dem geschriebenen Wort und dem öffentlichen Diskurs.“ Beide, von Matt und Frey, beschäftigten sich wiederholt mit dem Dichter Heinrich von Kleist. In seinem aktuellen Buch „Sieben Küsse – Glück und Unglück in der Literatur“ beschreibt von Matt Kleist als Literaten, dem die „Einrichtung der Welt eine immense Unerklärlichkeit war“. Kleists erzählerisches und dramatisches Werk erzählt vom Scheitern der Aufklärung. Darauf bezieht sich Barbara Frey in ihrer Inszenierung von „Der zerbrochne Krug“, die ab dem 21. Oktober im Pfauen läuft.
Erstklassige Autoren auf der Pfauenbühne Zadie Smith liest aus ihrem Roman „Swing Time“ am 5. Oktober, 20:00 Zwei Mädchen lernen sich beim Tanzen kennen und werden Freundinnen. Dann trennen sich ihre Wege, als Tracey Musicalsängerin und ihre Freundin Assistentin einer berühmten Sängerin wird und um die Welt reist. Die gefeierte britische Schriftstellerin und Essayistin Zadie Smith erzählt in ihrem neuen Roman „Swing Time“ von schwarzer Haut und Musik, Milieu und Bildung, Siegen und Scheitern, Beginnen und Enden. Mit Zadie Smith, Moderation Mikael Krogerus (DAS MAGAZIN) BesucherInnen mit Carte Blanche, Orell Füssli Premium Card und Zürcher Kantonalbank Karte erhalten reduzierte Karten an der Theaterkasse. In Zusammenarbeit mit Orell Füssli Thalia AG, Apollo8, Tages-Anzeiger und dem Kaufleuten Literatur
Charles Lewinsky liest aus seinem Roman „Der Wille des Volkes“ am 29. Oktober, 11:00 Was wäre, wenn die Schweiz von Rechtspopulisten regiert würde? Charles Lewinsky zeigt es in seinem neuen Roman und spannenden Krimi „Der Wille des Volkes“. Der pensionierte Journalist Kurt Weilemann erhält eine rätselhafte Botschaft von einem Kollegen, der kurz darauf stirbt. Weilemann will den Mord aufklären, bekommt es aber zuerst mit der Politik und dann bald mit der Angst zu tun, denn die Leute, die hier offensichtlich einen Mord durch einen weiteren vertuschen möchten, scheinen an entscheidenden Machtpositionen im neuen Staatsapparat zu sitzen. Mächtig genug, dass sie auch ihn verschwinden lassen könnten – und die Wahrheit gleich dazu. Die Buchvernissage wird moderiert von alt Regierungsrat Markus Notter. Mit Charles Lewinsky, Moderation Markus Notter In Zusammenarbeit mit „Zürich liest“
Good Home – T. C. Boyle liest aus seinen Texten am 19. November, 19:00 Seine Bücher sind hochkomisch und stellen gleichzeitig die grossen Sinnfragen, die uns alle umtreiben. Im November erhält der Punk unter den amerikanischen Literaturgrössen Thomas Coraghessan Boyle den nach Jonathan Swift benannten „Internationalen Literaturpreises für Satire und Humor“. Am Abend nach der Preisverleihung liest T. C. Boyle live. Wahrscheinlich aus seinem neuen Kurzgeschichtenbuch „Good Home“. Ganz genau weiss das aber nur der Autor selbst; wir haben ihm eine Carte blanche gegeben. Mit T. C. Boyle, Moderation Denis Scheck Lesung und Gespräch finden auf Englisch statt. In Zusammenarbeit mit dem Literaturhaus Zürich, Kaufleuten Literatur und dem Jonathan-Swift-Preis
46
Szenen aus dem
Repertoire A
B
A
D
Grimmige Märchen
Jakob von Gunten
von Herbert Fritsch Regie Herbert Fritsch
nach dem Roman von Robert Walser Regie Barbara Frey
B
E
Andorra
Rechnitz (Der Würgeengel)
von Max Frisch Regie Bastian Kraft
von Elfriede Jelinek Regie Leonhard Koppelmann
C
F
Die Verwandlung
Fratelli
nach der Erzählung von Franz Kafka Regie Gísli Örn Garðarsson
nach Carmelo Samonà Regie Antonio Viganò
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C
D
E Fotos: T+T Fotografie, Matthias Horn und Raphael Hadad
F
Kulturtipps aus dem Schauspielhaus Zürich
Foto: Jamie-James Medina
ZKO im Pfauen Anoushka Shankar & Manu Delago Während Anoushka Shankars Sitar in einer grossen Tradition verwurzelt ist, spielt Manu Delago quasi auf einer Neuerfindung. Das in Bern entwickelte Instrument Hang kam 2000 erstmals auf den Markt. Faszinierende Klänge erwarten das Publikum: Werke zwischen Pop, E-Musik und Klassik – vor allen Dingen aber Musik aus Shankars indischer Heimat. Mit Anoushka Shankar Sitar, Manu Delago Hang und Drums, Jules Buckley Arrangements, Willi Zimmermann Konzertmeister und Zürcher Kammerorchester 20. September, 19:30, Pfauen Die Konzertreihe des ZKO in Kooperation mit dem Schauspielhaus Zürich Nächste Konzerte 21. November / 16. Dezember / 28. April / 19./21. Mai sowie Kinderkonzerte 21. Januar / 8. April Infos unter zko.ch 50
Wenn eine etwas andere Kulturbar im 08-15-Café Bachwiesen entsteht. Wenn No-Name-PerformerInnen und -MusikerInnen von nah und fern im Glitzerschein der Discokugel vor das Publikum treten (bei schönem Wetter auch spontan im Freien!), dann ist die Rakete-Bar offen und das Feierabendbier mit alten und neuen Gesichtern gesichert. Ein garantiert rockiger, bluesiger, lustiger, unprätentiöser Abend, um die Seele baumeln zu lassen und die Hektik des Alltags zu vergessen, ermöglicht mit viel Charme und freiwilligem Einsatz einer Gruppe von Idealisten aus Albisrieden. Programmübersicht unter raketebar.ch Nächster Gig 26. Oktober „Schoedo“ (CH) Anita Lang, Herrengewandmeisterin
Es gibt in Zürich viele Möglichkeiten, die Stadt zu Fuss zu erkunden, darunter auch die klassisch-touristische Passage durch das Niederdorf, welche am Bellevue am Zürichsee endet. Möchte man aber den Menschenmassen entfliehen, empfehle ich einen Spaziergang auf der anderen Seite der Limmat. Beim Helmhaus überquert man zuerst die Münsterbrücke und kommt bald zum 2016 umgebauten, nun verkehrsfreien Münsterhof, einem neu geschaffenen Kulturplatz. Folgt man anschliessend von dort aus weiter dem Weg flussaufwärts, kann man sich schnell in kleinen Gassen wiederfinden, die von Boutiquen, Galerien und Läden gesäumt sind, welche zum Bummeln einladen. Der Spaziergang endet mit dem Erklimmen des Lindenhofs – einem Park mit toller Aussicht auf die andere Seite der Limmat und den Züriberg, der die Passanten gerne zum Verweilen einlädt und sie manchmal sogar zu einer Partie Schach anregt. Shirin Lupp, Publikumsdienst
Impressum journal September / Oktober / November 2017 Redaktionsschluss 14. September 2017 Abonnement Das Journal erscheint 3x jährlich und kann gegen einen Unkostenbeitrag von 12 Franken pro Jahr unter schauspielhaus.ch abonniert werden. Herausgegeben von der Schauspielhaus Zürich AG Zeltweg 5, 8032 Zürich Intendanz Barbara Frey Redaktion Christine Ginsberg (Bildredaktion), Benjamin Große und Andreas Karlaganis (Redaktionsleitung), Anne Britting, Petra Fischer, Amely Joana Haag, Gwendolyne Melchinger, Sandra Suter, Karolin Trachte Korrektorat Johanna Grilj, Daniela Guse, Annika Herrmann-Seidel, Sandra Suter Gestaltung Selina Lang, Studio Geissbühler Druck Multicolor Print AG Auflage 15’000
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Schauspielhaus Zürich und Swiss Re – eine inspirierende Partnerschaft. Spannende Perspektiven, neue Horizonte, innovative Ideen – bewegen uns bei Swiss Re. Die Zusammenarbeit mit Menschen auf der ganzen Welt begeistert uns. Auch in Kunst und Kultur. Unser Engagement öffnet Augen, bewegt Herzen, berührt Seelen. Und sucht den Dialog. So entsteht Neues, so gestalten wir Zukunft. Gemeinsam, denn: Together we’re smarter. swissre.com/sponsoring
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