Schauspielhaus Zürich - Journal #4

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Seite 4 Der Psychoanalytiker und Kolumnist Peter Schneider im Gespräch zum Thema „Störenfriede“

Seite 15 Der Regisseur Alvis Hermanis im Portrait

Seite 18 Redakteurin und Capote-Kennerin Anuschka Roshani und Regisseur Christopher Rüping „on the town“

Journal Februar / März / April 2015

Schauspielhaus Zürich


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Schauspielhaus Zürich und Swiss Re – eine inspirierende Partnerschaft. Ideen, Innovation, Inspiration – bewegen uns bei Swiss Re. Die Zusammenarbeit mit Menschen auf der ganzen Welt begeistert uns. Denn gemeinsam entdecken wir immer wieder neue Perspektiven und spannende Horizonte. Darum fördern wir auch kreatives Engagement und kompetente Leidenschaft – und die lebendige Kulturszene in Zürich. Sie regt an, sie berührt, sie lässt uns staunen und nachdenken. Und Gedanken austauschen, denn: Together we’re smarter. swissre.com/sponsoring


Magic Moment Auf dem Bühnenboden liegt ein schreiendes Kind. Es liegt auf dem Bauch, die Hände auf dem Rücken zusammenhaltend. Das Kind wird gespielt von einem erwachsenen, bärtigen Schauspieler. Ein anderer Schauspieler, jünger als der erste, ist bewaffnet mit einer Pistole aus der Requisitenabteilung. Er beruhigt und streichelt das schreiende Kind, also den bärtigen Schauspieler. Dann hält er ihm die Pistole an den Kopf. Das Geräusch des Schusses kommt, deutlich erkennbar, aus der Tonanlage. Das „Opfer“ bewegt sich noch. Der junge Schauspieler „schiesst“ noch einmal, diesmal in den Rücken des am Boden Liegenden. Wieder kommt das Geräusch aus den Boxen. Der „Erschossene“ bewegt sich nicht mehr. Der „Mörder“ lässt nicht erkennen, ob ihm die Tat Freude bereitet hat, ob sie ihn erlöst hat oder in Not bringt. Man kann rein gar nichts an ihm ablesen. Er geht einfach weiter durch die Handlung. Fritz Fenne spielt das Kind, Jirka Zett den Mörder Roberto Zucco in Karin Henkels gleichnamiger Inszenierung auf der Pfauenbühne. Es ist eine eindringliche Theaterszene, obwohl – oder gerade weil – in ihr nichts „stimmt“. Es gibt kein Kind, keine Waffe, keinen Mörder, keinen Tod, kein Delikt. Es gibt nur die Mittel des Theaters, die Behauptung, die Konzentration, den Moment, die Szene. Alles andere spielt sich im Zuschauer ab. In seinem Kopf, in seinem Gemüt ermordet ein Mann ein wehrloses Kind. Karin Henkels Inszenierung entfacht eine Art inneren Flächenbrand und vertraut in kluger Weise darauf, dass die „Wahrheit“ des Bühnengeschehens vom Zuschauer stets im jeweiligen Moment mitkreiert werden muss. Koltès’ ursprüngliche Mär eines heroischen Mörders, der sich einer auf welche Weise auch immer erstarrten Gesellschaft entgegenstellt, ist in Henkels illusionsloser Welt einem schroffen Stationendrama gewichen, das keinerlei Antworten oder Erklärungen zulässt, mehr noch: es stellt auch keine präzisen Fragen, es zeigt keine besonderen Menschen, keinen Helden. Das ist einerseits bedrückend, andererseits schafft es eine Art produktives Misstrauen.

Ba rb vo ar n a Fr ey

Editorial

31 Der Rest vom Schützenfest  – Kasimir und Karoline 34 Ins Theater mit Philip Ursprung 36 Die unerträgliche Rätselhaftigkeit des Begehrens – Yvonne, die Burgunderprinzessin 38 Eva Rottmann zu „Brauchst du mich noch?“ 40 Schicht mit Bühnenbildassistent Dominik Freynschlag 42 Rebellion in Wohlstadt

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44 Junges Schauspielhaus – Schneeweiss – ein Stück Schneewittchen 48 Iñigo Giner Miranda im Portrait / Club diskret 49 Kulturtipps / Theater Campus 50 Häusermanns Einbildungen

Inhalt

4 Peter Schneider zum Thema Störenfriede 10 Hausbesuch – ein forensisches Gutachten für Roberto Zucco 15 Regisseur Alvis Hermanis im Portrait 18 Capote on the Town 24 In Szene – Gottfried Breitfuss 26 Szenen aus dem Repertoire 29 Zweifels Selbstgespräche – Tabu, Trash & Terror

Ein Misstrauen gegenüber unserer Kultur der wohlfeilen Entrüstungen, der monokausalen Erklärungsmodelle, der sekundenschnellen Reaktions- und Theoriezwänge, die das immer hungrige Internet fordert, wenn auf der Welt Fürchterliches passiert. Das Theater mag langsam sein, behäbig, künstlich – aber die tiefe Verunsicherung, die es genau dadurch erzeugen kann, ist ermutigend, weil sich in ihr die Wahrnehmung verändert.


Peter Schneider im Gespräch

„Die Störung müsste selbst antiideologisch, dekonstruktiv, situativ sein.“

Peter Schneider ist nicht nur bekannt als Satiriker und Kolumnist – beispielsweise auf SRF3 oder mit seiner Kolumne im Tages-Anzeiger „Leser fragen, Peter Schneider antwortet“ –, sondern auch als Autor zahlreicher Bücher zu psychoanalytischen und gesellschaftlichen Themen. Er hat eine psychoanalytische Praxis in Zürich und lehrt klinische Psychologie und Psychoanalyse an der Universität Zürich sowie Entwicklungspsychologie an der Universität Bremen. Zusammen mit Bruno Deckert ist er Verleger der „Sphèressays“. 4


Peter Schneider im Gespr채ch

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Iri na vo M n 체l le r


Peter Schneider im Gespräch

Es ist uns gelungen, Peter Schneider zwischen seinen Sprechen als strukturelle Gewalt: Was für eine schöne vielen Verpflichtungen in einem Gespräch zum Thema steile These! Und nicht einmal ganz falsch, nur in diesem Störenfriede, das sich durch die Stücke „Schweizer Zusammenhang leider nicht sehr erhellend. Steile Thesen Schönheit“, „Yvonne die Burgunderprinzessin“ und haben ja immer den Nachteil, dass sie nach der ersten „Roberto Zucco“ zieht, zu befragen. Faszination von zehn Minuten in sich zusammenfallen wie In diesen drei Stücken gibt es Hauptfiguren, die auf je ein missratenes Soufflé. Es sei denn, man ist so pubertär unterschiedliche Weise stören, oder für störend erklärt drauf, dass man im Serienkiller den Helden sieht, der die Gewalt der Sprache zum Verstummen bringen möchte. werden: Dani Levy schreibt für das Schauspielhaus Zur Uraufführung des Stückes unter der Regie von „Schweizer Schönheit“, ein Stück, in dem er in loser Peter Stein schrieb der Kritiker des „Neuen Deutschland“, Anbindung an den Film „American Beauty“ einen Koltés „sichte“ die Morde „als Protest eines Individuums angepassten Durchschnittsbürger und Familienvater gegen eine soziale Lebensform entwirft. Dieser beschliesst am Ende dieses Jahrhunderts, eines Tages aus seinem alten in der der Einzelne offenbar Leben auszusteigen und sich nur eine Chance hat: sich still in seinem Gartenhäuschen zu „Ihr könnt brüllen, so viel ihr wollt. und ergeben zu integrieren. verbarrikadieren. Er geht nicht Versuch, anders zu sein, zur Arbeit und kümmert sich Ich bin hier geboren – ich bleibe.“ Der auszubrechen, führt – so nicht mehr um seine Familie. Aus „Schweizer Schönheit“ Koltès – ins Irrenhaus oder Durch sein Sich-Verweigern gar zum Mord, der dann wird er von seiner Umwelt unergründlich scheint. Denn als störend empfunden. Da die existierende Gesellschaft man ihn nicht in Ruhe lässt, in ihrem allgemeinen Wahnsinn fängt er an, sich aktiv zu will den Sonderfall, die wehren. Er baut zum Beispiel individuelle Ausgeburt, nicht ein Minarett in seinem Garten ‚wahrhaben‘“. Was für ein und gründet ein neues Tiefsinns-Schmarrn! Gesellschaftssystem, das Königreich Vielleben. Weshalb Karin Henkel in ihrer In „Yvonne, die Inszenierung einen ganz anderen Ansatz wählt, als die in Burgunderprinzessin“ von W. Gombrowicz wird die Koltès’ Fassung angelegte Überhöhung des Mörders Prinzessin aus ganz anderen Gründen zur Querulantin. Zucco. Sie erzählt das Stück aus der Sicht des Inspektors, Sie macht nichts, sie ist passiv, aber mit ihrer der auch nach mehrmaligem Durchgehen aller Abläufe Erscheinung und durch ihr Schweigen provoziert sie das, was Zucco anrichtet, nicht mehr begreifen kann als und wird so zu einem Ärgernis und Störfaktor. Sie vorher. Er bleibt ein Rätsel. Wie sehen Sie das? scheint alle negativen Eigenschaften der anderen zu Hirnforscher sagen ja, solchen Menschen fehle die spiegeln, was dazu führt, dass man sie schliesslich Empathie … loswerden will. „Roberto Zucco“ basiert auf einem realen Hirnforscher wie auch Psychoanalytiker erzählen viel, Fall: Der Serienmörder Roberto Succo ermordete in wenn der Tag lang ist. Man braucht aber weder die den 80er-Jahren in Italien seine Eltern und kam ins Psychoanalyse noch die Hirnforschung, um festzustellen, Gefängnis, wo ihm Schizophrenie diagnostiziert wurde. dass es solchen Menschen an Empathie fehlt. Das Er konnte während eines Freigangs entkommen und ist doch offensichtlich. Und das andere, das ist auch brachte anschliessend in Frankreich mehrere Menschen so ein arg in die Jahre gekommener Topos: die um, bis er, Jahre später erst, gefasst wurde. Vorstellung, dass diese Leute einfach das exekutieren, wovon andere nur träumen. Er wird durch dauernde Irina Müller – Was für einen Frieden stört ein Störenfried? Wiederholung nicht besser. Dahinter steht das Konzept Und wozu braucht es ihn dennoch? einer ahistorischen Eigentlichkeit des Menschen: Peter Schneider – In Anlehnung an Marx’ und Engels’ Wenn man die dünne Zivilisationskruste abkratzt, dann Satz von der herrschenden Meinung könnte man sagen: kommt der eigentliche, der wirkliche Mensch zum Der herrschende Friede ist der Friede der Herrschenden. Vorschein und der ist eine gewissenlose Bestie. Wenn man das freilich so formuliert, merkt man, wie Das ist ahistorischer Blödsinn, für den als Beleg immer antiquiert der Begriff des Störenfriedes ist. Er setzt eine gern das Milgram-Experiment herangezogen wird: homogene gesellschaftliche Ordnung voraus, gegen die Ein Versuchsleiter bringt seine Probanden dazu, er sich wendet. Diese Vorstellung vom gesellschaftlichen vermeintliche Versuchspersonen mit Elektroschocks zu Frieden, der vom intellektuellen Störenfried aufgebrochen bestrafen – bis hin zu einer tödlichen Dosierung. wird, ist eine sehr angestaubte Sache. Und darum, glaube ich, ist die Frage „Wozu braucht’s den Störenfried?“ Was dieses Experiment aber tatsächlich zeigt – das eher eine Frage, die man denjenigen stellen muss, hat der Philosoph Hans Bernhard Schmid in einer die den Topos vom Störenfried immer noch bedienen, akribischen Studie argumentiert – ist nicht die Natur des als habe es nie Foucaults Analyse der Macht gegeben. Menschen, sondern die Reaktion von Versuchspersonen Das scheint mir ein nostalgisches Bedürfnis zu in einem irren und wirren sozialpsychologischen befriedigen nach einem klaren Frontverlauf: Hier die Experiment. Macht, da der Störenfried. Welche Machtkritik verübt denn der Serienkiller Zucco? An welcher Ordnung Schmid hat gezeigt … kratzt er? Am herrschenden Tötungstabu? … dass Milgram es unterlassen hat, die Situation des Experiments selbst als soziale Situation aufzufassen Einer Geste der Auslöschung wird eine Gewalttätigkeit in und als solche zu reflektieren. Sein Untersuchungsbefund der Sprache gegenübergestellt: Der Autor Koltès entwirft wird ja auch immer als Entdeckung anthropologischer absoluter Gegebenheit angeschaut. Wir lernen aber nichts eine wahnsinnig gewalttätige Sprache für das ganze über die unabänderliche Natur des Menschen, sondern Umfeld, in dem Zucco sich bewegt. Man hat das Gefühl, über die Faktenproduktion in Experimenten. Wenn wir es dass er alle nur zum Schweigen bringen will. Er sagt zum hier schon mit den Störenfrieden haben, so fungiert Beispiel: „Man müsste aufhören, die Wörter zu lehren.“

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Schmid als Störenfried innerhalb des naiv positivistischen Wissenschaftsglaubens.

Falsch-Positiven im Datennetz hängen bleiben. Und niemand kann wissen, wieviel Falsch-Negative durchs Netz schlüpfen. Es gibt hier den Störenfried nur noch als Funktion von Algorithmen, die sich jederzeit wieder ändern können.

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Peter Schneider im Gespräch

Welche Rolle könnten Störenfriede denn in einer Gesellschaft noch spielen? Wie gesagt: Man stellt sich unter einem Störenfried gerne einen dissidenten Intellektuellen vor, welcher den Es gibt ja Bewegungen wie „Occupy“, die den Versuch bequemen Konsens der Gesellschaft stört. Man unternehmen, wieder die Form des physischen bewundert die grossen Querdenker von einst, die der Protests zu nutzen, oder „Anonymous“, ein Netzwerk, bequemen Gesellschaft den Spiegel vorhalten und das sagt, man könne nur noch mit Methoden der das Denken aufmischen. Sartre bei Andreas Baader – Verschleierung wirklich etwas bewirken, weil alles quer war das, aber was hat ER andere schon vom System sich bloss dabei gedacht? vereinnahmt ist. Dass dieser Typus des Das finde ich erstmal eine sehr intervenierenden Intellektuellen einleuchtende Position. Das ausgestorben ist, der aufgrund „Ha, sie macht mich so nervös, entspricht ja auch der einer dubiosen Autorität den Machtkritik nach Foucault – dass ich sie heiraten werde!“ anderen sagen darf, was dass man die Macht eben Aus „Yvonne, die Burgunderprinzessin“ sie zu denken hätten, finde nicht als ein Zentrum denken ich eher erfrischend. Als darf. Es stellt sich aber auch eingefleischter Antiautoritärer gegenüber „Anonymous“ brauche ich keine Autoritäten, die Frage, wie ihre Macht sondern Argumente. Wenn legitimiert ist. Nur durch sich man sich also schon die Rolle selbst? Durch gesellschaftliche des Störers zu eigen machen Akklamation? möchte, dann dürfte es nicht darauf hinauslaufen, dass man Die Gefahr ist, dass diese die eine Ideologie durch das Anonymisierungen Bekenntnis zu einer anderen auch von Kriminellen als stört. Die Störung müsste selbst antiideologisch sein, Projektionsfläche oder Vehikel benutzt werden dekonstruktiv, situativ. Und auch informativ. können. Das bringt mich zur Thematik in „Yvonne, die Burgunderprinzessin“: Alle projizieren ihre Mit den unzähligen Plattformen im Netz haben wir eigenen Unzulänglichkeiten auf Yvonne. Ihre Umgebung zu mehr Informationen Zugang denn je. Wenn es empfindet ihre Passivität als unglaublich störend. darum geht, starke Argumente zu finden, wie Sie sagen, Welcher Mechanismus steckt aus psychologischer frage ich mich: Wer wird in diesem ganzen „Gemurmel“, Perspektive dahinter? Wir erkennen im Anderen das da entsteht, gehört? Wie bilden sich heute starke Spiegelungen von uns, die wir eigentlich versuchen Argumente, die auch gehört werden? auszublenden? Im Moment sind die Störenfriede eher die, die behaupten, Ich glaube es ist viel simpler: Das hat man in der dass es keine Tatsachen und auch keine vernünftigen Ecopop-Debatte gesehen mit diesem „Dichtestress“. Argumente gibt. Es sind die, die behaupten, es seien Das war eben keine Überfremdungsdebatte mehr, sowieso alles bloss Ausgeburten einer „Lügenpresse“ … wie bei der Schwarzenbach-Initiative, sondern das war eine Debatte, die rein ökologisch und quantitativ Wie in Russland … geführt wurde. Die Kritik aber verfing sich wieder in Nein, ich dachte an Dresden und die Pegida. Aber den alten Mustern: Ihr seid gegen die Fremden, ihr seid die liebt ihrerseits ja sehr den Autokraten Putin, wünscht gegen die Anderen. Wogegen Ecopop protestierte, sich eine starke Führung und rennt dem vorbestraften war die schlichte Tatsache, dass knappe Güter von zu Rotlicht-Gauner Felix Buchmann hinterher. Allein dieses vielen Menschen nachgefragt werden und vor allem Beispiel sollte uns davon abhalten, im Störenfried eine zu wenig Platz von zu Vielen beansprucht wird. Für Lichtgestalt zu erblicken. Die Störenfriede der Pegida wie stichhaltig man diese Volk-ohne-Raum-undbilden einen autoritätssüchtigen, ressentimentsgeladenen Ressourcen-Argumentation hält, das ist eine andere Mob. Frage. Aber da war „der Andere“ nicht aufgrund seiner seltsamen Gebräuche problematisch, sondern er war Wir leben in einer Gesellschaft, in der wir einerseits problematisch, weil er exakt dieselben Gebräuche hat, das Gefühl haben, vieles sei möglich, andererseits wie alle anderen auch – nämlich morgens in der S-Bahn werden wir ständig überwacht und kontrolliert. Ab wann sitzen zu wollen. Oder Wohnraum zu beanspruchen. wird denn jemand als Unruhestifter wahrgenommen? Oder die Autobahn zu benutzen. Das trifft sich mit der Wo sind die Grenzen? Gesellschaftsanalyse, die Hobbes zu der Aussage Ich glaube, das besonders Gefährliche an der veranlasst hat, dass sich im Naturzustand alle im Krieg umfassenden Überwachung ist die Tatsache, dass mit allen befinden. Also nicht in einem Krieg gegen man noch gar nicht wissen kann, durch was man „den Anderen“ in diesem emphatischen Sinne, sondern gegen die Unzahl der Gleichen mit gleichen Ansprüchen. irgendwann von irgendeinem geheimen Algorithmus als gefährlich oder als störend identifiziert wird. Das, was Bei „Yvonne, die Burgunderprinzssin“ von Gombrowicz durch Snowden als die neuen Möglichkeiten – und die Realisierung  – der Bespitzelung an die Öffentlichkeit spielt auch die Anziehung des Schmutzigen eine Rolle. gekommen ist, das ist eine Art von automatisierter Yvonne wird als ekelhaft, als schmutzig wahrgenommen. Überwachung, deren Suchkriterien durch keine Der Hof fühlt sich abgestossen und fasziniert zugleich. demokratische Instanz legitimiert sei. Es ist vor allem Können Sie etwas dazu sagen, wie diese Wechselwirkung eine Trial-and-Error-Überwachung. Man probiert in unserer Kultur eine Rolle spielt? irgendwelche Suchroutinen aus und schaut, was Das Ekelhafte ist das verdrängte Lustvolle, sagt Freud. man dabei so findet. Aber niemand sagt uns, welche Oder wie die Ethnologin Mary Douglas zeigt: Der


Peter Schneider im Gespräch

Unterschied zwischen Reinem und Unreinem ist kein objektiver, sondern ein symbolischer. Eine Eliminierung des zum Schmutzigen erklärten (hier Yvonne) ist also nicht die Lösung. Das Schmutzige im Verhältnis zum Reinen lässt sich so wenig eliminieren, wie die Rückseite im Verhältnis zur Vorderseite. Das eine gibt es jeweils nur durch die Oppositionsbeziehung zum anderen.

„Alle warten nur auf das Signal in ihrem Kopf.“ Aus „Roberto Zucco“

… und von links mit solchen Bewegungen wie „Occupy“ oder auch Gruppen wie „Yes Men“, die versuchen, unter anderem durch die Benutzung künstlerischer Strategien, bestimmte Proteste in Gang zu setzen. Ja, aber wenn Sie den Erfolg vergleichen …

Würden Sie sagen, dass die Provokation von rechts erfolgreicher ist? Ja. Es sind keine Argumentationen, die hinter der Provokation stecken, sondern Ressentiments. Das Ressentiment zum Beispiel gegen eine politische Elite, die einem verbietet zu sagen, was man wirklich denkt, die einem den Maulkorb der politischen Korrektheit verpasst hat.

Der ganze Hof merkt irgendwann, dass es absurd ist, mit dieser Person nicht umzugehen zu wissen. Daraufhin verbreitet sich Gelächter. Der Autor Gombrowicz sagt dazu: „In dieser Groteske, oder im Lachen liegt die einzige Möglichkeit eines Angriffs.“ Lachen ist die Reaktion auf den kurzzeitigen Zusammenbruch von Ordnung. Lachen hat aber auch noch andere Funktionen, die dem idealisierten Bild widersprechen, dass man sich getrost da niederlassen kann, wo gelacht wird. Es ist keineswegs so, dass Gelächter immer das subversive Gelächter ist. Es gibt ja auch dieses orchestrierte Gelächter. Gelächter kann der Ausgrenzung dienen. Für ein Kind, das von anderen Kindern ausgelacht wird, hat das Lachen nichts Befreiendes. Und was den Humor angeht: Auch dessen Loblied kann man nicht uneingeschränkt singen. Er kann auch eine entsetzlich gemütliche, selbstzufriedene, versöhnliche Attitüde mit sich bringen.

Und gleichzeitig liefern sie an die Realität gebundene, Vorschläge für Änderungen – oder sagen: „Wir haben das Rezept“? Nein, überhaupt nicht an die Realität gebunden. Sondern sich eine eigene Realität schaffend. Eine Realität, in der Vergewaltiger nicht mehr bestraft werden und Kriminelle zwölf Flachbildfernseher in der Zelle haben, während deutsche Rentner am Hungertuch nagen, in der jedes zweite muslimische Mädchen schon mindestens dreimal zwangsverheiratet wurde … Und weil man es für sinnlos hält, das zu diskutieren, verweigert man das Gespräch, und deshalb wächst die Wut im Volk etc. Die Analyse der Gesellschaft besteht nur noch aus puren, abstrusen Behauptungen: Dass das Abendland islamisiert wird, dass die Lügenpresse gleichgeschaltet ist … Das ist so falsch, dass nicht mal das Gegenteil richtig ist. Die Franzosen schätzen, dass 31 Prozent der Wohnbevölkerung Muslime sind. Es sind tatsächlich acht Prozent. In Deutschland entspricht das Verhältnis zwischen Schätzung – oder soll man sagen Angst – und Realität ebenfalls etwa vier zu eins. Und sie verlangen, mit ihren Ängsten ernst genommen zu werden!

Sind wir Schweizer auch eher kompromissbereit und versöhnlich? Also keine geborenen Provokateure? Kommen Sie mir jetzt mit Völkerpsychologie? Schaut man beispielsweise nach Berlin, hat man das Gefühl, dass vieles, was in aktuellen politischen Debatten ausgetragen wird, auch direkt im Stadtraum platziert wird: beispielsweise mittels Übermalungen von Plakaten, Stencils und ähnlichem. Man hat das Gefühl, dass der öffentliche Raum – wo es ihn denn als solchen noch gibt – viel mehr genutzt wird, um auf verschiedenste Weise Provokationen hervorzurufen. Aber die Schweiz hat doch die SVP und die gilt als extrem provokativ.

Dani Levy beschreibt in seinem Stück, wie der Familienvater Balz Häfeli festgenommen wird, weil er in seinem Gartenhäuschen Muezzingesänge einstudiert, und sich die Anwohner empören und ihn loswerden wollen, da er angibt, in seinem Garten ein Minarett zu errichten … In der Schweiz hat der Sieg der gefühlten Realität über die Wirklichkeit mit der Minarett-Initiative einen grossen Aufschwung bekommen. Das irrationale Gefühl ist politikfähig geworden. Stellen Sie sich vor, Sie rufen nachts zehn Mal die Polizei mit der Begründung, es sei eine Maus unter Ihrem Bett. Die schicken Ihnen die Ambulanz und den Notfallpsychiater. Jedenfalls wird

Ja, und sie führt sehr provokative Plakatkampagnen. Die Leute von der SVP verstehen sich explizit als Provokateure. Daran merkt man einmal mehr, dass die alte Denkfigur vom per se linken, antiautoritären, subversiven Störenfried in Rente geschickt wurde. Die Provokation kommt heute vor allem von rechts.

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keiner sagen: „Wir kommen natürlich sofort, Sie haben zwar wahrscheinlich keine Maus unterm Bett, aber Ihre Ängste müssen wir jetzt sehr ernst nehmen!“ Wenn ein Psychotiker seinen Psychiater anruft, weil er Angst hat, dass Käfer unter seiner Haut krabbeln, dann muss man das ernst nehmen. Man muss zum Beispiel schauen, dass er seine Antipsychotika wieder regelmässig einnimmt. Aber man muss kein Anti-Käfer-Gesetz verabschieden. Diese argumentfreie Angst-Hysterie hat es auch von linker Seite in der Friedensbewegung gegeben: „Ich hab Angst!!“ oder „Der NatoNachrüstungsbeschluss macht mir Angst!!“ Das hat eben auch eine linke Tradition, die jetzt die Rechten mit grossem Erfolg einsetzen (lacht).

ab, und zweitens scheitert er schliesslich kläglich an seiner erratischen Verweigerung von allem.

„Störenfried“ wird oft mit „Staatsfeind“ gleichgesetzt. Muss ein Störenfried zwangsläufig auch zum Staatsfeind werden? Nein (lacht). Eher zum chronifizierten Querulanten.

Wären Sie gerne ein Unruhestifter? Ich verstehe mich nicht als Ruhestifter und habe auch keine Sehnsucht, ein Unruhestifter zu sein. Aber öffentlich allein und mit anderen räsonnieren, das tue ich furchtbar gerne.

In Dany Levys Stück ist es der Familienvater, Balz Häfeli, der aus dem Haus auszieht, sich in das Gartenhäuschen zurückzieht und sich scheinbar nicht mehr um seine Familie kümmert. Unsere Gesellschaft baut soziologisch und politisch stark auf der Kleinfamilie auf. Also, dass unsere Gesellschaft auf der Familie aufbaut, das kann man, glaube ich, nicht mehr so sagen. Jedenfalls nicht mehr wie vor fünfzig oder siebzig Jahren. Die Kleinfamilie ist überholt? Sie ist jedenfalls nicht das universelle Modell. Und ökonomisch wird sie mehr und mehr dysfunktional. Die gut ausgebildete Frau, die sich daheim um die Kinder und das Schöner-Wohnen kümmert, ist eine ökonomische Verschwendung. Das haben wir ja erst noch vor Kurzem gehört. Und dieser Typ, der sich da in sein Haus einschliesst, der würde auch für eine lesbische Dreierkiste zum Problem. Die würde dann vielleicht kein Minarett, sondern einen Riesen-GipsPhallus bauen …

Schweizer Schönheit Eine fundamentalistische Komödie von Dani Levy Regie Dani Levy, Bühne Henrike Engel, Kostüme Sabine Thoss, Musik Jojo Büld Mit Marc Baumann, Margot Gödrös, Dagna Litzenberger Vinet, Thomas Loibl, Joshua Maertens, Miriam Maertens, Michael Neuenschwander, Nicolas Rosat, Carol Schuler, Pierre Siegenthaler, Johannes Sima, Susanne-Marie Wrage Premiere am 20. Februar im Pfauen Unterstützt von der Dr. Georg und Josi Guggenheim Stiftung

Ich sehe schon Dani Levys nächstes Stück … In „Schweizer Schönheit“ wird der private Ausstieg und Protest Balz’ zum politischen Problem- und Störfaktor. Wieso empfindet die Umwelt ihn eigentlich als so provokativ? Der Aussteiger ist doch eher positiv konnotiert. Warum er vor allem nervt, das ist der Duft des Missionarischen, den er vielleicht verbreitet.

Yvonne, die Burgunderprinzessin von Witold Gombrowicz Regie Barbara Frey, Bühne Bettina Meyer, Kostüme Esther Geremus, Musikalische Leitung Iñigo Giner Miranda Mit Rainer Bock, Julian Boine, Gottfried Breitfuss, Claudius Körber, Hans Kremer, Steffen Link, Michael Maertens, Iñigo Giner Miranda, Markus Scheumann, Siggi Schwientek, André Willmund Bis 9. März im Schiffbau/Halle Unterstützt von Credit Suisse

Werden in unserer Zeit, die auf Leistung und Selbstoptimierung baut, nicht diejenigen zu Störenden, die nicht mehr mitmachen, aber trotzdem in der Gemeinschaft sichtbar bleiben? Kann man durch Passivität noch in irgendeiner Form Widerstand leisten? Melvilles „Schreiber Bartleby“ ist zwar eine grosse Heldenfigur, aber erstens nutzt sich auch der passive Widerstand des „I prefer not to“ irgendwann einmal

Roberto Zucco von Bernard-Marie Koltès Regie Karin Henkel, Bühne Stéphane Laimé, Kostüme Klaus Bruns, Musik Tomek Kolczynski Mit Jean Chaize, Fritz Fenne, Lisa-Katrina Mayer, Alexander Maria Schmidt, Lena Schwarz, Friederike Wagner, Jirka Zett Seit 15. Januar im Pfauen

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Peter Schneider im Gespräch

Gibt es nicht das Bedürfnis, in einer Leistungsgesellschaft irgendwie wieder Räume zu finden –, ohne ein Querulant sein zu wollen – wo man sich einen gewissen Ausgleich schaffen kann? Eine Gesellschaft mit „Working poor“, mit Leuten, die zwei Jobs brauchen, um über die Runden zu kommen und anderen, die von ihren Kapitalerträgen leben können, eine „Leistungsgesellschaft“ zu nennen, braucht einiges an Chuzpe. Wunderbar wäre es auch mal, „I prefer not to“ nicht nur auf der Bühne zu zitieren, sondern gleich mal durchzuführen. Die Premiere von „Bartleby, der Schreiber“ also einfach ausfallen zu lassen. Performanz statt Deklaration.


Hausbesuch

Ein forensisches Gutachten für Roberto Zucco

Das Stück „Roberto Zucco“ in der Regie von Karin Henkel läuft seit Mitte Januar im Pfauen. Das Stück basiert auf dem Fall eines realen Mörders, Roberto Succo, der Ende der 80er-Jahre in Italien, Frankreich und der Schweiz für seine brutalen Taten gesucht und schliesslich gefasst wurde. Geleitet von Fragen, was jemanden zu solchen Taten bringen kann, warum Koltès von Succo so fasziniert war und wie unsere Gesellschaft versucht, mit Tätern umzugehen, besucht das Produktionsteam von „Roberto Zucco“ den Direktor der Klinik für forensische Psychiatrie der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich, Prof. Dr. Elmar Habermeyer. 10


Der riesige Gebäudekomplex der Psychiatrischen Universitätsklinik ist ins letzte Abendlicht getaucht als wir uns auf dem Weg zum Haupteingang befinden. Der Eingang ist einladend beleuchtet, im Innern stille, leere Flure, eine alte Telefonkabine und daneben der Empfang, wo wir uns anmelden. Aus der Produktion sind mit dabei: Jirka Zett, der Zucco spielt, Friederike Wagner, die die Schwester des Mädchens verkörpert, durch dessen Hinweis Roberto Zucco gefasst wird, und Hans-Christian Hasselmann, Regieassistent. Nach kurzer Zeit in einem Wartezimmer, das zu jeder beliebigen Arztpraxis gehören könnte – mit Kinderbüchern und Zeitschriften –, holt uns Herr Dr. Habermeyer ab und führt uns nach herzlicher Begrüssung über lange Flure und durch etliche Glastüren in sein Büro. Die Flure sind mit modernen Kunstwerken bestückt und die alte Substanz des Gebäudes mit viel Glas renoviert. Kein Mensch ist zu sehen. In seinem Büro, einem Eckzimmer mit Blick auf einen grosszügigen Innenhof, nehmen wir rund um den grossen Schreibtisch Platz. Normalerweise sei er ja bei uns zu Gast, eröffnet Herr Habermeyer. Jetzt ist es also einmal umgekehrt.

Heute in Zürich Herr Habermeyer schildert, was geschehen würde, wenn jemand mit Zuccos Täterprofil heute hier in Zürich verhaftet werden würde: Erst würde er der zuständigen Staatsanwaltschaft zugeordnet werden und falls diese den Verdacht auf eine psychische Störung hätte oder die Verteidigung dies beantragte, würde ein psychiatrisches Gutachten in Auftrag gegeben. Bei einer gewissen Deliktschwere würden in der Regel Gutachten eingeholt; bei irrationalem Handeln, Motivlosigkeit und anderen Faktoren, die auf eine psychische Störung hindeuten, ist die Staatsanwaltschaft dazu verpflichtet. Bei Zucco wäre dies sicher gegeben: Er sagte den Polizisten bei der Verhaftung, sein Beruf sei Mörder.

Iri na vo M n ül le r

Hier käme Herr Habermeyer ins Spiel: Er würde ein Gutachten erstellen. Käme er zu einer ähnlichen Diagnose wie damals der Gutachter in Venedig – Dr. Habermeyer würde die bei Zucco gestellte Diagnose anzweifeln, aber mehr dazu später – käme Zucco nach einer Verurteilung in die forensische Psychiatrie in Rheinau. Diese gehört seit 2011 zur Psychiatrischen Universitätsklinik und ist mit 79 stationären Behandlungsplätzen die grösste derartige Klinikeinrichtung in der Schweiz. Dort sind grösstenteils die Straftäter untergebracht, bei denen im Gutachtenprozess festgestellt wurde, dass sie schwer psychisch krank und dementsprechend begrenzt schuldfähig sind. Ungefähr

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Hausbesuch

Die Spuren des realen „Roberto Zucco“ Ein ganz anderer Anblick bot sich den Menschen 1988: In Dokumentationen über Roberto Succo sieht man das psychiatrische Gefängnis in Vincenza, in das er nach seiner Festnahme gebracht wurde. Ein italienisches Fernsehteam filmte dort seinen letzten grossen Ausbruchsversuch. Im Gegensatz zur Uniklinik ist es ein kleines Gebäude aus roten Ziegelsteinen, das durch eine Mauer mit Stacheldrahtrollen und Wachtürmen von den angrenzenden Wohnhäusern getrennt ist. Succo klettert aufs Dach, zieht sich dort oben aus, schmeisst mit Ziegeln und schreit die ihn beobachtenden Polizisten und Schaulustigen an, verhöhnt alle und alles. Er fällt daraufhin beim Versuch, über ein Stromkabel über die Mauern zu gelangen, in den Gefängnishof. Roberto Succo wurde nach seiner Festnahme eine paranoide Schizophrenie diagnostiziert und er kam deshalb in die forensische Psychiatrie.


Hausbesuch

80 bis 85 Prozent der in Rheinau behandelten Fälle sind Menschen mit einer diagnostizierten Schizophrenie. Die Patienten werden dort so lange behandelt, bis ihre Kriminalprognose günstig ist. Das heisst, bis ihre Gefährlichkeit soweit reduziert ist, dass sie entlassen oder beurlaubt werden können. Anschliessend werden sie hier in der PUK Zürich, im Ambulatorium bei Bedarf noch jahrelang nachbetreut, erklärt uns Herr Habermeyer.

sein Befinden, seine Biografie, sein Weltbild, über Beziehungen im nächsten Umfeld und seinen Substanzenkonsum zu sprechen. So lässt sich erkennen, ob jemand beispielsweise aus einem Umfeld kommt, in dem er nicht gelernt hat, mit Konflikten anders umzugehen als mit Gewalt, oder ob jemand Stimmen hört, irritiert ist oder dominant. Das erste Gespräch gleicht einer herkömmlichen Anamnese eines Psychiaters, mit dem grossen Unterschied, dass initial betont wird, dass das Gutachten zum Strafprozess gehört und auch abgelehnt werden kann, dass die ärztliche Schweigepflicht nur eingeschränkt gilt und dass alle Informationen den Fall betreffend in die Akten aufgenommen werden müssen. In den allermeisten Fällen stimmen die Personen der Durchführung des Gutachtens zu, sagt Herr Dr. Habermeyer. Viele hätten die Hoffnung, sie würden aus dem Gefängnis kommen, wenn ein Gutachter zugezogen werde, und beteuern ihre Unschuld. Er müsse dann betonen, dass das Gutachten allein der Abklärung des psychischen Gesundheitszustandes und der Schuldfähigkeit diene und nicht der Feststellung von Schuld oder Unschuld. Auf unsere Frage, ob die Leute versuchten, möglichst gesund zu wirken, antwortet Herr Habermeyer, dass im Unterschied zu dem, was in der Bevölkerung gedacht wird, der Klinikaufenthalt oftmals für das Gegenüber die problematischere Option sei. Er ende, wenn die Gefährlichkeit reduziert sei und könne deswegen auch deutlich länger dauern als die Strafhaft. Während früher die Leute vielleicht eher in die Klinik wollten und „auf krank“ gemacht haben, versuchen sie vielleicht heute eher „auf gesund“ zu machen, meint er. Er stelle immer wieder fest, dass schuldfähig zu sein, für die meisten bedeute, von der Gesellschaft ernst genommen zu werden. Viele reagieren auf ein Gutachten, das besage, sie seien schuldunfähig, mit: „Das hat aber mit mir nichts zu tun!“

Er selbst hat hier im Stammhaus, wo die Aufträge zur Gutachtenerstellung eintreffen, eine primär leitende Funktion inne. Er supervidiert die Arbeit im Ambulatorium, wird klinisch für Zweitmeinungen hinzugezogen oder wenn es Probleme gibt und erstellt Gutachten in Strafprozessen. Herr Habermeyer hat die Erstellung von Gutachten in Aachen bei Henning Sass gelernt, einem der bekanntesten forensischen Psychiater Deutschlands, der beispielsweise im NSU-Prozess das Gutachten über Frau Zschäpe erstellt. Entscheidungen darlegen Herr Habermeyer erklärt uns, wie eine Gutachtenerstellung abläuft: Erst einmal geht es darum, zu klären, ob eine psychische Erkrankung vorliegt. Im zweiten Schritt gilt es, festzustellen, ob der Täter zum Zeitpunkt seiner Tat einsichts- oder steuerungsfähig war. Die Einsichtsfähigkeit bezieht sich auf das Wissen um Normen und die Steuerungsfähigkeit darauf, ob jemand seine Handlungen nach den Normen ausrichten kann. Am Ende steht die juristische Frage: Wie viel Schuld kann und soll jemandem zugesprochen werden? Diese Frage wird vom Gutachter nicht beantwortet, der von seiner Rolle her eine Hilfsperson des Gerichtes ist. Er helfe dem Gericht lediglich eine gerechte Entscheidung treffen zu können, indem er durch die Gutachten die Entscheidungsgrundlagen liefere, so Herr Habermeyer. Die Gutachtenerstellung läuft in folgenden Schritten ab: Am Anfang steht die eindringliche Prüfung der Akten. Herr Habermeyer deutet auf die hinter ihm im Regal liegenden Aktenordner. Vor der ersten Begegnung mit dem Verdächtigen versucht er möglichst genau Bescheid zu wissen über den Tathergang und wie Zeugen, der Täter und eventuell auch das Opfer den Fall schildern. Danach stehen in der Regel drei Treffen à je zwei Stunden mit dem Verdächtigen an, die in 95 Prozent der Fälle ausreichen, um festzustellen, ob eine ernsthafte psychische Erkrankung vorliegt. Im ersten Gespräch versucht Herr Habermeyer mit dem Verdächtigen über

Beim zweiten Termin geht es um die Deliktsituation: Herr Habermeyer konfrontiert den Verdächtigen mit allfälligen Zeugen- oder Opferaussagen, um ein Bild davon zu bekommen, wie er die Situation erlebt hat, und wie er die Tat für sich im Nachhinein bewertet. So bekomme man einen Einblick in die Motive und Handlungsauslöser. Beim dritten Termin schliesslich geht es um die Klärung offener Fragen, was auch schon mal konfrontativ werden kann. In diesem dritten Termin werden auch Zukunftsperspektiven und die Haftsituation besprochen. Die Frage, ob er auch einmal an einem Gutachten

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„Serientäter wie Roberto Zucco oder einer im Hannibal-Lecter-Stil sind höchst selten.“ Prof. Dr. Habermeyer

Hausbesuch

Prof. Dr. Elmar Habermeyer in seinem Büro

zweifle, beantwortet Herr Habermeyer so, dass er aufgrund der verschiedenen Berichte über die Tat meist zu einem schlüssigen Befund komme, oder aber allfällige Zweifel im Gutachten formulieren könne.

mit Messern hantieren. Um Interaktionen also, die genauso gut hätten anders laufen können. In den Medien wird uns oft ein Gefühl vermittelt, die Serienkiller, die sogenannten Psychopathen, seien überall. In der Realität sind sie die absoluten Ausnahmen, so Herr Habermeyer.

Ob es denn einfach sei, die privaten Gefühle gegenüber Tätern vom Beruflichen zu trennen, wollen wir wissen. Er beschäftige sich, bevor er ein Gutachten rausschicke, nochmals eingehend mit den objektiven Fakten in den Akten, um möglichst unbeeinflusst von der unmittelbaren Wirkung der Treffen zu handeln. Man müsse das, was Menschen in einer Situation gemacht hätten, von dem, was sie verursachen wollten, trennen. In vielen Belangen seien Täter arme Teufel. Dass es einem kalt den Rücken herunterlaufe, wenn man so jemanden treffe, das gebe es eigentlich fast nie. Ein Serientäter wie ein Zucco oder einer im Hannibal-Lecter-Stil sei höchst selten, so Herr Habermeyer. In seinem Alltag – auch bei Tötungsdelikten – geht es um Partnerschaftskrisen, Nebenbuhler, um Leute, die sich im Niederdorf betrunken prügeln oder

Ein hypothetisches Gutachten für Zucco Welches Gutachten er aufgrund der spärlichen Informationen, die uns hier und jetzt zur Verfügung stünden, Zucco geben würde, fragen wir ihn. Zucco ermordete erst auf brutalste Weise seinen Vater und seine Mutter, floh nach seiner Verhaftung aus dem Gefängnis und verschwand … Er ermordete daraufhin einen Inspektor und tötete mindestens drei weitere Menschen. Im Fall des realen Succo dauerte es mehrere Jahre, bis überhaupt ein Zusammenhang zwischen diesen Morden hergestellt wurde. Er wurde schliesslich nur gefasst, weil ihn ein Mädchen, mit dem er eine Beziehung hatte, auf einem Fahndungsfoto erkannte. Die Schizophreniediagnose habe ihn sehr verwundert,

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Hausbesuch

„Solche Menschen sind ständig auf der Suche nach starken Reizen.“ Prof. Dr. Elmar Habermeyer

denn Menschen mit einer Schizophrenie würden meist schnell gefasst, erklärt Herr Habermeyer. Ihr Auftreten ist verletzlich, nervös, irritierbar; sie hören Stimmen oder haben Wahnideen. Diese Menschen begehen Delikte eher im Bekanntenkreis und in der Öffentlichkeit. Charakterisierungen, wie sie eher auf Woyzeck – den Herr Habermeyer in Zürich gesehen hat  – zutreffen, als auf Zucco. Bei Zucco würde er auf eine antisoziale Persönlichkeitsstörung, eine „Psychopathy“, tippen, erklärt Herr Habermeyer. Denn Zucco scheint aus einem Dominanzstreben heraus getötet zu haben. Töten als Erreichen ultimativer Macht über jemanden, treibe solche Täter an. Die Taten erscheinen motivlos, denn der einzige Grund ist die Lust, Macht auszuüben. Das Dominanzstreben solcher Menschen kriege man auch bei der Begutachtung relativ schnell mit: Können sie nicht den Takt angeben, sei das für sie sehr stressig. Bei Menschen mit diesem Störungsbild ist häufig Frustration der Auslöser für Gewaltakte. Auch dies passt zu Zucco: Er tötet seine Mutter, als sie ihm seinen Tarnanzug nicht geben will. In ihrer Extremform handeln Leute mit einer antisozialen Persönlichkeitsstörung sehr gewalttätig, denn nebst dem hohen Dominanzstreben sind sie ständig auf der Suche nach starken Reizen. In solchen Fällen wird deshalb manchmal berichtet, dass sie schon als Kinder Tiere oder andere Kinder gequält haben, oder schon mit sieben bis neun Jahren angefangen haben, Alkohol zu trinken oder zu rauchen. Denn bei diesen Menschen kommt es durch ein Defizit in bestimmten Hirnregionen zu einer permanenten Untererregung. Sie versuchen diese zu kompensieren, indem sie Substanzen konsumieren oder sich in Situationen hineinbegeben, die uns normalerweise Angst machen. Diese pathologische Angstfreiheit bewirke, dass die Täter durch Strafe sehr schwer zu erreichen seien. Wären sie in Haft, fänden sie das zwar nicht gut, aber sie würden vorher nie darüber nachdenken. Ausserdem wären sie so sehr von sich überzeugt, dass sie denken, man kriege sie nie. Auch das – ganz Zucco, den Koltès sagen lässt: „Mehr als ein paar Stunden kriegen sie mich nie.“

Sie spielen mit den Menschen wie mit Schachfiguren: Zum Beispiel suchen sie aus dem Gefängnis heraus eine Brieffreundin, die sie bei ihrer Haftentlassung aufnehmen würde. Deshalb sei es auch so wichtig, sich eingehend mit den Akten vorzubereiten, denn solchen Menschen würde man sonst im Gespräch schon mal auf den Leim gehen. Herr Habermeyer erzählt von Fotos von Andreas Baader, auf denen jener sich in Pariser Cafés als Rockstar inszenierte. Er erfüllte genauso die Kriterien dominanten Verhaltens, war sehr abenteuerlustig und hat sich mit vielen Frauen umgeben. Die Politik war für ihn wahrscheinlich eher ein Vehikel, um Gefährliches zu erleben. Gerade Künstler seien oft fasziniert von solchen Menschen, die mit einer derartigen Energie einfach ihre Sache durchziehen. Filmemacher, Romanautoren, Dramatiker – in diesem Falle Koltès – nutzen diese Faszination und verpacken sie künstlerisch: Das Böse wird auf eine einzelne Person projiziert und sogar noch glorifiziert. Derartige Stücke, Bücher, Filme gehen sehr offensiv mit dem Teil in uns um, der angezogen werden kann von solchen Persönlichkeitszügen. Wir verabschieden uns mit dem Gefühl, trotz der bleibenden Verständnislosigkeit für solche Taten, Zucco etwas nähergekommen zu sein. Sein Satz „Alle warten nur auf das Signal in ihrem Kopf“ lässt sich vor den Schilderungen Herrn Habermeyers auch anders lesen: nicht als ein plötzliches motivloses Auslösen einer versteckten Bestialität, sondern angesichts der Tatsache, dass die allermeisten Tötungsdelikte von gesunden Menschen begangen werden, eher so, dass bestimmte Umstände und Handlungszusammenhänge uns alle in solche Situationen bringen könnte. Und so ist Roberto Zucco in Karin Henkels Inszenierung auch nicht ein Rockstar, sondern eher der nette, schüchterne Junge von nebenan.

Faszination und Abstossung Ob solche Täter Reue formulieren, fragen wir. Herr Habermeyer antwortet, sie hätten zwar keine, würden sie aber formulieren. Diese sei dann erlernt, reproduziert, geradezu schauspielerisch – allerdings schlecht schauspielerisch, denn die Täter simulieren nur oberflächliche, inszenierte Gefühle und lassen sich durch banalste Fragen aus dem Konzept bringen: Jemand erzählt beispielsweise, er müsse sich unbedingt um seine Kinder kümmern, aber wenn man nach einer Allergie des Kindes fragt, erhält man keine Informationen. Interessanterweise hätten es solche Menschen leicht, Beziehungen zu knüpfen. Sie benutzen ihr Umfeld als Staffage und Beziehungen werden instrumentalisiert.

Roberto Zucco von Bernard-Marie Koltès Regie Karin Henkel, Bühne Stéphane Laimé, Kostüme Klaus Bruns, Musik Tomek Kolczynski Mit Jean Chaize, Fritz Fenne, Lisa-Katrina Mayer, Alexander Maria Schmidt, Lena Schwarz, Friederike Wagner, Jirka Zett Seit 15. Januar im Pfauen

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Iri na vo M n ül le r

Jede Aufführung ist ein „blind date“

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Alvis Hermanis im Portrait

Alvis Hermanis ist einer der gefragtesten Regisseure Europas. Er leitet seit 1997 das „Neue Theater Riga“, ein zeitgenössisches Repertoiretheater in seiner Heimatstadt. Am Schauspielhaus Zürich inszeniert er seit einigen Jahren regelmässig und seine letzte Inszenierung „Die Geschichte von Kaspar Hauser“ wurde 2014 zum Theatertreffen in Berlin eingeladen. In der aktuellen Spielzeit entwickelt er mit Spielern des Ensembles ein Stück mit dem Titel „Die schönsten Sterbeszenen in der Geschichte der Oper“, das am 20. März Premiere hat. Ausserdem präsentiert das Schauspielhaus im April zwei weitere seiner Arbeiten „Black Milk“ und „Späte Nachbarn“. Anfang Januar probte Alvis Hermanis an der Mailänder Scala eine Wiederaufnahme der „Soldaten“ von Bernd Alois Zimmermann, die er für die „Salzburger Festspiele“ inszeniert hatte. Ein passender Anlass, ihn dort zu einem Gespräch über „Die schönsten Sterbeszenen in der Geschichte der Oper“ zu treffen.


Alvis Hermanis im Portrait

Das Licht im prunkvollen, mit rotem Samt ausgekleideten und vergoldeten Saal der Mailänder Scala wird gedimmt. Die Probe des zweiten Akts der „Soldaten“ kann beginnen. Auf der Bühne ist ein Teil der Felsenreitschule Salzburg als Kulisse aufgebaut. Es handle sich hier beinahe um eine neue Inszenierung, da die Reitschule in Salzburg mit vierzig Metern doppelt so breit sei wie die Scala, erklärt Alvis Hermanis, kurz bevor die Probe beginnt. Auf der Bühne sind bereits ungefähr dreissig Sänger und Darsteller versammelt und in der Kulisse der Reitschule trippeln Pferde, die an die Situation und die Musik gewöhnt werden. Aus verglasten Logen, die zum Scala Museum gehören, fotografieren Touristen die Situation vor der Probe. Vier Wochen hat das Team um Alvis Hermanis und Dirigent Ingo Metzmacher, um die Adaption fertigzustellen. Das sei durchaus genügend Zeit, sagt Alvis Hermanis mit derselben Ruhe, mit der er in der Probe zwischen Regiepult, Dirigent und Bühne hin- und hergeht und mit der er sich auch dem anschliessenden Gespräch widmet.

wurden, eine gängige Praxis im Amerika des vergangenen Jahrhunderts – kulturübergreifend zeigt sich, dass Rituale rund um den Tod ästhetisch höchst genussvoll gestaltet werden. Alvis Hermanis betont aber, er möchte das Zürcher Publikum keinesfalls einschüchtern. Der Tod sei zwar Thema, aber dadurch sei das eigentliche Thema das Leben, und das Stück werde sehr humorvoll werden. „Die schönsten Sterbeszenen in der Geschichte der Oper“ ist, wie die meisten Theaterarbeiten von Alvis Hermanis, eine Neukreation. Für Alvis Hermanis ist diese Art, Theater zu machen, geradezu ein anderes Berufsbild als das des Regisseurs, der existierende Stücke inszeniert. Er erfahre die Entwicklungsarbeit zusammen mit den Schauspielern als unglaublich bereichernd. Auch wenn er von Barbara Nüsse und André Jung als beste Schauspieler ihrer Generation schwärmt, die beide in „Black Milk“ in Zürich zu sehen sein werden, merkt man: Als Regisseur, der selbst zum Schauspieler ausgebildet wurde, denkt er seine Stücke von Anfang an stark in Zusammenarbeit mit den Spielern. Früher hat er sein Theater in Riga als eine Art Labor gesehen, in dem er bestimmte Recherchen machen konnte, die er dann anderswo auch anwandte. Heute ist dies nicht mehr der Fall – oder manchmal geradezu umgekehrt. Aber immer noch verbringt er die eine Hälfte des Jahres in Riga, wo er ebenfalls inszeniert, die andere Hälfte im Ausland. Bis vor drei Jahren habe er sich kaum für Opern interessiert, so Alvis Hermanis. Doch das änderte sich schlagartig: Mittlerweile hat er bereits sechs Opern an den renommiertesten Häusern mit Stars wie Anna Netrebko inszeniert. Zuletzt entstand Tosca an der Staatsoper Berlin mit dem Dirigenten Daniel Barenboim. Eine geplante Operninszenierung wird dieses Jahr allerdings wegfallen – Alvis Hermanis sagte im März, als Russland offiziell die Krim besetzte, seine geplante Operninszenierung am Bolschoi Theater in Moskau ab. Mit seinem „Neuen Theater Riga“ lancierte er ein Pressestatement, das besagt, dass aufgrund der militärischen Aggression Russlands kein lettischer Bürger mehr neutral bleiben könne. Russland erklärte ihn daraufhin kurzerhand zur Persona non grata.

Im Vorraum der Bühne sitzend, auf der wahrscheinlich fast alle der schönsten Sterbeszenen der Oper schon mindestens ein Mal stattgefunden haben, erzählt Alvis Hermanis, wie fasziniert er von der Einzigartigkeit sei, mit der in der Oper mit dem Mysterium des Todes umgegangen werde. Nur in der Oper sei es möglich, dass die Zuschauer, wenn jemand stirbt, applaudieren und „Bravo! Bravo!“ rufen. Er habe im Sprechtheater immer vermieden, Stücke mit Todesszenen zu inszenieren. Sie verlangten einen gewissen Naturalismus, mit dem er nicht umzugehen wisse. Dagegen seien die Tode, die die Opernhelden sterben, gleichzeitig abstrakter und ästhetischer; das sage ihm zu. Weil jede Oper eine universale Kondensation davon sei, was Menschsein ausmache, stehe der Tod auch als natürliche Konsequenz an fast jedem Opernende. Diesem einzigartigen Phänomen des Todes in der Oper möchte Alvis Hermanis in seiner Zürcher Produktion zusammen mit den Schauspielern auf den Grund gehen. Seine Erzählungen von unterschiedlichen Ritualen und Praktiken rund um den Tod verdeutlichen, was ihn an dem Thema ebenfalls interessiert: wie eng in unterschiedlichen Kulturen Tod und Ästhetik immer schon miteinander einhergehen. Er erzählt von der Schönheit des Zentralfriedhofs in Salzburg, vom japanischen No-Theater, dem Fest am Tag der Toten in Mexiko und inszenierten Familienportraits mit Toten, die gekleidet und aufgerichtet mit der Familie am Tisch fotografiert

Als Alvis Hermanis nach etlichen Operninszenierungen vor kurzem in Riga wieder eine Theaterinszenierung machte, merkte er, dass ihm die plötzliche Stille im Theater beinahe Angst machte. Etwas habe ganz klar gefehlt: die Musik. Und als Alvis Hermanis über das Ordnungsprinzip Musik in der Oper spricht, merkt man,

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dass die Bedachtsamkeit, mit der er jedes Wort wählt, widerspiegelt, wie bewusst er mit seiner Zeit umgeht und mit welcher Sorgfalt er jeden Kontext, jedes Element, das ein Stück beeinflusst, berücksichtigt – sei es innerhalb oder ausserhalb der Inszenierung. Das Spezifische an der Oper sei, dass dank der Musik jede einzelne Sekunde Bedeutung habe, jeder Moment eingefügt sei in ein grösseres Ganzes. Die Musik lasse die verstreichende Zeit bedeutungsvoll werden. Und nichts anderes versuchten wir Menschen doch: unserer Lebenszeit Bedeutung zu geben. Wir verschwenden eine Menge Zeit, so Alvis Hermanis. Das gibt es in der Oper nicht. Ob Oper oder Theater, Alvis Hermanis bezeichnet das Aufeinandertreffen von Werk, Künstlern und Zuschauern als „blind date“. Jede Aufführung ist eine kollektive Kreation aller Menschen, die zusammenkommen, und abschliessende Bedeutung sei daher unkontrollierbar und unvorhersehbar. Das eigentliche Theater spiele sich erst im Kopf des Zuschauers ab. Selbst Musik, die universell und jenseits von Sprache kommuniziere, sei ja am Ende kontextabhängig. Ein Verdi in Mailand sei natürlich nicht dasselbe wie ein Zimmermann. Als international tätiger Regisseur wisse er, jeder Künstler sei in gewisser Weise exotisch ausserhalb seines Kontextes. Vielleicht gäbe es bald eine Generation von Theatermachern, für die kulturelle Grenzen nicht mehr existierten, aber für ihn sei sehr wichtig, Theater für und in einem lokalen Kontext zu schaffen. Die Präzision der Kommunikation sei einfach eine andere, wenn man die gleiche innere, nicht nur gesprochene Sprache spreche. Für Alvis Hermanis ist Präzision ein Schlüsselwort. Und das sei etwas ganz Konkretes und nicht abstrakt Interessantes. Das Publikum ist hypnotisiert von Präzision, es ist das, was Bedeutung gibt, was Sinn stiftet, und zwar auf unterschiedlichen Ebenen – genauso im Gefühl, wie in der Sprache.

Jordan für die „Opéra Garnier“ in Paris und recherchiere dafür zum Projekt „Mars One“. Dies könnte die grösste „Reality Show“ der Geschichte werden: Eine private Stiftung will bis zum Jahr 2025 Menschen zum Mars bringen, um dort eine dauerhaft bewohnbare Gemeinschaft aufzubauen. Er könne sich nichts Melancholischeres oder eben keine grössere kosmische Traurigkeit vorstellen, als ein Ticket zum Mars zu kaufen – einfach.

Schwerpunkt Alvis Hermanis: In diesem Frühjahr sind gleich drei Inszenierungen des lettischen Regisseurs am Schauspielhaus zu erleben. Die schönsten Sterbeszenen in der Geschichte der Oper von Alvis Hermanis Regie, Bühne und Kostüme Alvis Hermanis Mit Hilke Altefrohne, Gottfried Breitfuss, Rita von Horváth, Isabelle Menke, Friederike Wagner, Milian Zerzawy, Jirka Zett Premiere am 20. März im Schiffbau/Box Unterstützt von der International Music & Art Foundation und vom Förderer-Circle des Schauspielhauses

Bei einer früheren Aufführung in Bern von „Black Milk“ habe er gemerkt, dass die Schweizer und Letten eine starke Verbindung mit der Natur teilten. Das Stück erzählt Geschichten, welche die Schauspielerinnen auf Reisen durch ländliche Regionen Lettlands gesammelt haben. Das Stück wird aus der Sicht von Kühen erzählt, die als eine Art „Seele des Ländlichen“ zu Wort kommen. Portraitiert wird ein vom Verschwinden bedrohtes Dorfleben. In „Späte Nachbarn“, das auf drei Geschichten von Isaac Bashevis Singer basiert, wird eine Liebesgeschichte zwischen zwei älteren Menschen erzählt. Das Motiv des Vergehens und damit der Melancholie vereint nicht nur diese beiden Stücke von Hermanis, sie ist eine Gemeinsamkeit all seiner Theaterstücke. Müsste er sich einem literarischen Genre zuordnen, würde er sagen, dass er besonders gut sei im Schreiben von Nekrologen, sagt er lachend. Noch lieber als Melancholie möge er das Wort „kosmische Traurigkeit“. Er arbeite gerade an einem Opernprojekt „La Damnation de Faust“ mit Philippe

Späte Nachbarn Zwei Séancen von Alvis Hermanis nach Geschichten von Isaac B. Singer Regie Alvis Hermanis, Bühne und Kostüme Monika Pormale Mit André Jung, Barbara Nüsse Gastspiel Münchner Kammerspiele 9. und 10. April im Schiffbau/Halle Black Milk von Alvis Hermanis Text, Regie, Bühne und Kostüme Alvis Hermanis, Musik Tomaso Albinoni Mit Elita Kļaviņa, Iveta Pole, Jana Čivžele, Liena Šmukste, Sandra Kļaviņa, Vilis Daudziņš Gastspiel Jaunais Rīgas teātris (Neues Theater Riga) 12. und 13. April im Schiffbau/Halle

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Alvis Hermanis im Portrait

Obwohl der Mensch schon heute kosmische Höhenflüge realisierbar machen kann, ist Alvis Hermanis der Meinung, dass die europäische Zivilisation ihren Höchststand während der „Belle Epoque“ erlebt hat. Wie viele grosse Künstler, Denker, Schriftsteller damals gelebt hätten! Vergleiche man 1915 mit 2015, sei das ein Desaster. Man könne feststellen, dass unsere Vorfahren in Bezug auf Kultur und künstlerische Kreativität viel mehr Weisheit und Wissen besessen hätten. Seiner Meinung nach waren Tempo und Lebensrhythmus damals viel adäquater an die biologische, körperliche Limitierung der Menschen angepasst. Er sei überzeugt, er sei genau hundert Jahre zu spät geboren worden. Aber zum Glück habe man Bücher und Literatur. Was als Künstler definitiv ein Vorteil sei heute: Man könne frei mit verschiedenen ästhetischen Formen spielen. Niemand muss sich mehr einer bestimmten Strömung zuordnen. Dass der Wettbewerb zwischen vorherrschenden ästhetischen Richtungen beendet sei, sei ein echter Fortschritt. Worte eines Künstlers, der stark darauf bedacht ist, die Geschichtlichkeit eines Werks zu berücksichtigen. Ob lokaler Kontext, Regiehandwerk oder geschichtliche Zuordnungen: Präzision ist für Alvis Hermanis magisches Element und höchste Kunst.


On the Town

Capote on the Town

Anuschka Roshani ist Redaktorin beim „Magazin“ des „Tages-Anzeiger“. Vergangenen Sommer landete sie einen Coup, als sie gemeinsam mit ihrem Mann Peter Haag, Verleger von „Kein & Aber“, unbekannte Manuskripte aus Truman Capotes Jugend entdeckte. Einen Coup auch deswegen, weil die Kurzgeschichten, die das Literaturwunderkind während seiner Highschool-Zeit schrieb, bereits den eigenen klaren Stil des späteren Truman Capotes deutlich erkennen lassen. Als Herausgeberin der deutschen TrumanCapote-Werkausgabe, darunter die Neuübersetzung von „Frühstück bei Tiffany“, kennt Anuschka nicht nur den Roman, sondern auch seinen Autor gut und ist neugierig, wie der junge Regisseur Christopher Rüping, der mit dem Stoff erstmals eine Arbeit in Zürich inszeniert, die Erzählung interpretiert. Wir holen ihn ab und schlendern noch kurz über seine Probebühne, wo gerade die musikalische Probe zu Ende geht. „Hipp? Anuschka? Ach Mensch …“ begrüsst man sich. Christof „Hipp“ Mathis, einer der Musiker der Produktion, und Anuschka kennen sich. Dann führt uns Christopher über das bereits erkennbare Bühnenbild von Ramona Rauchbach …

Mit Christopher Rüping und Anuschka Roshani treffen diesmal zwei Liebhaber von Truman Capote aufeinander. 18


Ka ro v lin on Tr ac ht e

Christopher Rüping Das Bühnenbild besteht aus Teilen eines vergessenen Vergnügungsparks, im Stile von Coney Island. Alles ist von Beginn an da, kommt aber erst im Verlauf des Abends in Betrieb. Hier drüben, das ist ein Teil eines Riesenrades, hier vorne die Bar, an der der Barkeeper aus dem Roman, Joe Bell, seine Drinks serviert. Hinten läuft man durch einen riesigen Schlund, der mich an den Eingang einer Geisterbahn erinnert, und hier vorne, das ist noch das Kettenkarussell. Noch ist nicht alles voll einsatzbereit, aber spätestens zur Premiere blinkt und leuchtet und dreht sich’s. Die Originalbühnenteile für die Produktion „Frühstück bei Tiffany“ entstehen derzeit in der Werkstatt und werden etwa zwei Wochen vor der Premiere fertig, damit die Produktion während der Endprobe im Originalbühnenbild proben kann. Dank der Probebühne hat Anuschka zumindest einen Eindruck davon, in welcher Welt Christophers Version von „Frühstück bei Tiffany“ angesiedelt ist. CR Alles andere erzählen wir besser in Ruhe beim Essen … Wir laufen vom Probenzentrum Escher-Wyss Richtung Viaduktbögen zum Restaurant Markthalle. Ob wir versuchen wollen, uns den zehnminütigen Fussweg als eine kleine Strecke durch Manhattan vorzustellen, um uns auf Capote einzustimmen?

Das Romanfragment „Erhörte Gebete“ hatte Capote als sein Opus Magnum angekündigt: Es sollte ein Sittengemälde des 20. Jahrhunderts werden, vom gleichen Kaliber wie Prousts „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“. In den ersten zwei Kapiteln, die im US-Magazin „Esquire“ vorab veröffentlicht wurden, stellte er zahlreiche Mitglieder der New Yorker High Society durch Intimitäten so bloss, dass sie ihm für immer den Rücken kehrten.

Anuschka Roshani Ich wohne schon 13 Jahre hier, und auf Anhieb drängen sich mir nicht gerade Parallelen zwischen Zürich und New York auf … CR Ja, ich fürchte auch. Wie sollen wir das machen? Als wir im Restaurant Markthalle angekommen sind, stellt Anuschka noch einmal eindrücklich unter Beweis, dass sie schon ein Weilchen „on the town“ ist: Sie wird hier per Du und mit Küsschen vom Kellner begrüsst. „Ist eben eine kleine Stadt!“, scherzt sie und wir nehmen Platz. Montag ist Demeter-Tag hier und die Karte strotzt vor leckerer Optionen.

AR Seine engen Freunde und sein Nachlassverwalter setzten in den Jahren nach seinem Tod schon einiges daran, die restlichen Kapitel von „Erhörte Gebete“ zu finden, aber irgendwann kamen sie zu dem Schluss, dass er diese Kapitel entweder nie geschrieben hat oder sie irgendwann vernichtet haben muss. Erstaunlich bleibt aber trotzdem, dass sich seither kein Doktorand der Amerikanistik oder jemand anderes das Ganze noch einmal intensiv angeschaut zu haben scheint. CR Ich glaube, Capote hatte trotz allem, also auch wenn er in „Erhörte Gebete“ viele seiner Bekanntschaften heftig beleidigte, letztlich eine grosse Liebesbedürftigkeit. AR Bestimmt, er war ja ein ungeliebtes Kind und fühlte sich von seiner Mutter im Stich gelassen. Sie lieferte ihn als kleinen Jungen bei verschrobenen Verwandten im Süden ab und tauchte in den nächsten Jahren nur noch sporadisch in seinem Leben auf.

AR Weihnachten wird ja sicher fleischlastig, vielleicht jetzt lieber etwas Vegetarisches? Erstmal Bier und Wasser. Anuschka beginnt gleich offensiv … AR Ich glaube, es wird sehr schwer für euch, den Zuschauern die „Film-Brille“ abzunehmen. Jeder hat den Film mit Audrey Hepburn im Kopf … CR Ja, das glaube ich auch. Genau deswegen machen wir das zum Thema. Unser Konzept ist es ja, dass zunächst gar keine Frau auf der Bühne ist und dann drei. Es gibt also nicht „die eine“ Holly Golightly.

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On the Town

Wäre hingegen eine Schauspielerin besetzt und womöglich noch im schwarzen Cocktail-Kleidchen unterwegs: Das Problem wäre viel gravierender. Aber erstmal muss ich nachfragen: Du hast neue Texte von Capote in New York entdeckt? AR Vor ein paar Jahren waren mein Mann und ich in New York. Wir sind erst mal als Capote-Fans und -Verleger zur New York City Library gegangen und haben aus Neugierde um Einsicht ins Rare Book Department gebeten. Es gibt dort 34 Kartonboxen voll mit handschriftlichen und maschinengeschriebenen Notizen und Manuskripten von Capote. Sie sind eher grob katalogisiert. Sein heutiger Nachlassverwalter und damaliger Anwalt Schwartz, sein damaliger Lektor Fox von Random House und sein Biograf Gerald Clarke räumten nach seinem Tod 1984 seine Wohnung. Und suchten vor allem nach den verschollenen Kapiteln von „Erhörte Gebete“, seinem letzten Roman, der posthum veröffentlicht wurde – und zwar unvollendet, weil sie diese in der Wohnung leider in keiner Schublade fanden. CR Erstaunlich, dass sich bisher niemand intensiver mit Capotes Nachlass befasst hat, wo er doch kurz vor seinem Tod durch die Behauptung, bisher unveröffentlichte Manuskripte in einem Schliessfach an einem Busbahnhof oder im Safe einer Bank deponiert zu haben, quasi die Suche nach dem heiligen Gral ausrief …


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Das scheint aber dafür gesorgt zu haben, dass er eine äusserst autonome Persönlichkeit wurde – und das ist auch vielen seiner Figuren eigen. Obwohl sie sich mitunter verhuren, bleiben sie sich doch treu, sie alle haben eine Art Binnenstärke. Sein Biograf erzählte uns das auch: Capote schmiss sich an niemanden heran, er war kein Parvenü – die Herzen flogen ihm vielmehr zu. Er muss einfach wahnsinnig unterhaltend gewesen sein. Früh, schon mit 16, umgab er sich mit einer Gruppe schöner junger Frauen, die er seine „Schwäne“ nannte. Sie waren entweder Töchter aus reichem Hause oder heirateten später reich. Dazu gehörten Phoebe Pierce, Slim Keith, Gloria Vanderbilt, Gloria Guinness, Babe Paley, Oona Chaplin und Lee Radziwill, die Schwester von Jackie Kennedy. Die meisten von ihnen behaupteten übrigens später, das Vorbild für Holly Golightly gewesen zu sein. Und wahrscheinlich ist sie tatsächlich eine Synthese aus all diesen Frauen … Ein „Schwan“ zu sein, so beschrieb es Capote, bedeutet nicht einfach nur schön zu sein, sondern mehr als das: Klasse. Ein Schwan hat die Fähigkeit, die Atmosphäre in einem Raum, den er betritt, so zu verändern, dass alle nach Luft schnappen. Ich glaube ganz fest, dass Holly ein solcher „Schwan“ ist. Sie verändert die Atmosphäre, sie ist der absolute Mittelpunkt. Capote selbst muss zwar die Gabe gehabt haben, sich in Szene zu setzen – schon als Laufbursche für den „New Yorker“ soll er im theatralischen schwarzen Cape über die Flure gelaufen sein –, aber er soll auch ein ungeheuer zugewandter Mensch und ein ausgezeichneter Zuhörer gewesen sein. Ich finde, dass man so eine erstaunliche Empathie auch für alle seine Figuren herauslesen kann. Naja. Eigentlich immer nur für ein, zwei Figuren. Alle anderen denunziert er. In „Erhörte Gebete“ zum Beispiel. Überhaupt nicht. Nimm etwa seinen Freund, den anderen Stricher, über den er sich moralisch nicht erhebt. Doch, total. Ich kenne kaum andere Literatur, in der sich eine Figur – und eben noch der Erzähler – so sehr über andere stellt. Dann lass uns bei „Frühstück bei Tiffany“ bleiben, bei der Figur von Joe Bell, dem Barkeeper … Den skizziert er sehr „niedlich“. Nein, nicht als niedlich, schon eher als rührend – als jemanden mit einer gewissen Verdruckstheit vielleicht, zumindest was seine Sehnsüchte angeht. Aber er stellt Holly deutlich über ihn und alle anderen Figuren, die im Roman auftauchen. Es gibt immer die eine Figur, die in den Himmel gelobt wird  – alle anderen schmeisst er in den Dreck. Zum Beispiel hätte ich Schwierigkeiten, einem Schauspieler beizubringen, dass er als Mr. Yunioshi besetzt ist …

AR Der ist ja auch keine ausgetuschte Figur, sondern mehr Statist, der Holly Form gibt: den benutzt sie als Türöffner, nachts, wenn sie nach Hause kommt – und Capote als Autor dann sozusagen auch, im Hinblick auf die Geschichte. CR Stimmt. Genauso ein Statist wie O. J. Berman, José Ybarra-Jaeger, Rusty Trawler. Ich finde, dass die alle mit einem einzigen Kreidestrich gezeichnet sind … AR Findest du sie denn nicht sehr plastisch? Ich sehe jeden einzelnen von ihnen genau vor mir. CR Doch, sehr plastisch. Aber es sind keine komplexen, ausgewogenen Figuren. Denn es geht nur um Holly. AR Ja, insofern welche Bilder man von ihr entwirft: Sie wird als Figur sichtbar über die Ansichten der anderen von ihr. Vielleicht könnte man Capote in der Tat vorwerfen, dass Fred, der Erzähler, etwas konturlos bleibt. Aber er ist eben genau das: der Erzähler, das Vehikel der Geschichte über Holly – und trotzdem erzählt er damit ja auch einiges über sich. CR Ja, wie man mit ihm umgeht, ist wohl eine der wichtigen Fragen. Es werden gerade erst die Getränke serviert, aber die beiden Capote-Liebhaber Anuschka Roshani und Christopher Rüping sind schon in voller Fahrt. Wir bestellen rasch, schnell zurück zu … CR Also, Fred. Die Broadway-Fassung interpretiert Fred durch eine hinzuerfundene Szene als explizit schwul  – findest du das auch eine sehr merkwürdige, irgendwie plakative Perspektive? AR Das lässt sich aus dem Roman überhaupt nicht herauslesen, finde ich. Darin heisst es, er sei in Holly Golightly verliebt, wie er als Kind in die Haushälterin verliebt war. Und ob er schwul ist oder nicht, ist gar nicht relevant. CR Genau, das finde ich auch! Deswegen ist Fred bei uns ganz anders angelegt. Bei uns gibt es den Moment, in dem sich Fred, der Erzähler, eigentlich in seine Figur Holly Golightly verwandelt, zu ihr werden will. Ohne, dass es dabei um Transsexualität oder Travestie geht! Sondern ich glaube, dass Capote mit seiner Erzählung schon über die konkreten Zuordnungen von Hetero-, Homo- oder Transsexualität hinaus ist. Es gibt in der Geschichte verschiedene Arten von Begehren, von Liebe … zum Beispiel die Liebe von Joe Bell zu Holly: die funktioniert eher wie die Liebe zu einem Kunstwerk. Es gibt die Liebe von Fred, der wie ein Parasit, wie die Schabe im Hollywoodfilm „Men in Black“, in sie reinschlüpfen und sie ausfüllen will. Aber er will sie nicht im sexuellen Sinne besitzen. Mir ist also egal, ob dieser Fred schwul ist oder nicht. Sein Lieben kümmert sich nicht um das Geschlecht. AR Und das entspricht Capote bestimmt sehr. Denn er hat einerseits kein Geheimnis aus seiner Homosexualität gemacht – jeder konnte es wissen,

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Ich kann mir vorstellen, dass die Kunstfigur Lady Gaga Truman Capote gefallen hätte. AR Das glaube ich auch! CR Der Kern von Capotes Figuren besteht nicht aus dem, was hinter der Maske zu finden ist, sondern darin, dass sie die Masken konstant wechseln und auf welche Art sie das tun. Das ist für mich Theater! Ein Schauspieler wird auf der Bühne nie vergessen, dass er „nur“ spielt, dass er „nur“ eine Maske trägt. AR An dem Abend, an dem sie eine Party gibt, sagt Holly etwas Interessantes über Schauspieler: Sie könne keine gute Schauspielerin werden, denn ihre Komplexe seien nicht minderwertig genug. Anuschka hat das Büchlein griffbereit: „Frühstück bei Tiffany“ im Schmuckeinband, herausgegeben von Anuschka Roshani. Auf dem Titel prangt die Silhouette von Audrey Hepburn. Wie ist dieser Stoff nur jenseits seiner Verfilmung zu denken? Vermutlich gar nicht. Anuschka findet die betreffende Passage, liest vor … AR „Filmstar sein und ein dickes fettes Ego zu haben gehen angeblich Hand in Hand; dabei ist es in Wirklichkeit unbedingt notwendig, überhaupt kein Ich zu haben …“ Heisst das nicht, viele Schauspieler haben ein geringes Selbstwertgefühl und zugleich ein riesiges Ego? CR Bei einigen mag das stimmen. Wahrscheinlich sogar bei einigen mehr, als man hoffen würde. Aber denen geht man aus dem Weg. Das Essen wird serviert. Zur Vorspeise Gartensalat, pochierte Eier mit weissem Trüffel, dann Steak, Fisch, Ofengemüse. Eine genussvolle Pause entsteht … AR Und wie geht es euch in der Probenarbeit mit Capotes Sprache? CR Ein Geschenk! Damit hatte ich nicht gerechnet. Die ist ja so wenig manieriert und direkt, das funktioniert toll für das Theater. AR Und es macht keinen Unterschied, dass es sich um Prosa handelt? CR Wir erhalten das Prosaische – die Spieler erzählen den Zuschauern eine Geschichte. Die wichtigste Frage, um trotzdem ins Spiel zu kommen, ist dann: Warum erzählt jemand diese Geschichte? Was will er damit? Die meisten Geschichten mit Ich-Erzählern handeln davon, dass da jemand geliebt werden will. Ich glaube, viele von Capotes Hauptfiguren haben diesen Wesenszug gemein: die Sehnsucht, aus dem

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On the Town

noch bevor er in einem späten Interview mal explizit gesagt hat: „Ich bin schwul, ich bin süchtig, ich bin ein Genie.“ Er hat seine Homosexualität aber auch nicht vor sich hergetragen. Übrigens: Seine Liebhaber waren häufig heterosexuelle Männer, die er quasi „umgedreht“ hat. Ziemlich unattraktive Familienväter … Ich glaube auch, die Genderfrage war für ihn nicht relevant. CR Es geht um Figuren, die sich und ihrem Begehren treu bleiben, jenseits aller sexuellen Programmatik. „Hör mal, wenn du ankämst und sagtest, du willst dich mit einem Rennpferd zusammentun, würde ich deine Gefühle achten“, heisst es an einer Stelle in der Erzählung. AR Ist es das, was dich daran interessiert? CR Das finde ich spannend, aber das ist nicht das Kernthema unseres Abends. Holly Golightly ist, wie sie auch die Synthese aus den vielen Schwänen ist, eine gewaltige Projektion – jeder hat ein Bild von ihr im Kopf. Das, was du eingangs über den Film gesagt hast, treibt dieses Phänomen auf die Spitze: Die Frau im Cocktailkleid mit der Zigarettenspitze – Holly Golightly – ist zur Ikone geworden. AR Das ist das Paradoxon des Romans: Dem Leser werden Bilder von Holly vor Augen geführt – doch kann er aus diesen am Ende sein eigenes konstruieren. Und das ist wiederum stark von den Leerstellen geprägt, den Lücken, die diese vielen Bilder freilassen. Da hinein springt Holly mit ihren ganz eigenen, eigenwilligen Ansichten von sich und der Welt. CR Ja, Holly ist im Grunde ein Störenfried in Hinblick auf die Bilder, die man sich von ihr macht. Sie will dem nicht entsprechen. AR Sie entzieht sich den Bildern. CR Ja, immer wieder. Um sie im nächsten Moment wieder zu nähren. Und dann wieder zu brechen … AR Da muss ich nochmal an die Schwäne denken. Capote sagte, dass sie alle einen unzerstörbaren Wesenskern haben, jedoch gespiegelt in dem „Bewusstsein ihrer eigenen Vergänglichkeit“. Das hat auch mit Verletzlichkeit zu tun. Da denkt man doch heute an jemanden wie Lady Gaga. Sie nährt die Bilder von sich, den Fantasiegestalten, die sie entwirft – und auch diese haben was Ikonografisches. Aber sie bleibt sich dabei treu. Den Eindruck hat man jedenfalls. CR Ja, Lady Gaga wird gerade dadurch „authentisch“, dass sie immer verkleidet ist, also immer „fake“ …


Dunkel zu treten und das Licht auf sich zu spüren, den Staub abzuschütteln, aus dem sie gekommen sind. AR Wenn man „Staub“ nicht im Sinne von Armut versteht, stimmt das auch für Capote. Er war ein ungesehenes, vernachlässigtes Kind. Capote hatte daher sicherlich ein besonderes Bedürfnis danach, gesehen zu werden, etwas von sich zu zeigen. Gleichzeitig wollte er auch von anderen etwas gezeigt bekommen. Er hat andere durchaus gelten lassen, und ich bezweifle, dass er sich aus taktischen Gründen anderen Menschen zuwandte – etwa um ihnen mit seinem Interesse zu schmeicheln. CR Ich glaube auch nicht, dass er taktisch war, aber eben bedürftig.

CR Ja. Jedenfalls gegen die Illusion, die sich für Realität hält. AR Aber es ist doch etwas sehr Schönes, einer künstlerischen Illusion zu erliegen. Das heisst ja unter anderem, sich verführen und unterhalten zu lassen. Leugnest du damit nicht, dass man sich von „Frühstück bei Tiffany“ auch gut unterhalten fühlt? CR Ich finde Unterhaltung total wichtig. Aber dazu muss ich nicht glauben, dass im Film oder auf der Bühne zum Beispiel gerade jemand wirklich stirbt. Sondern ich muss mich nur davon berühren lassen können … AR Zu dieser Emotion trägt aber die Illusion bei. CR Für mich nicht unbedingt. AR Ich gehe als Zuschauer doch mit einem Schauspieler mit, weil er bei mir ein Gefühl durch sein Spiel erzeugt. Er erlebt als Stellvertreter Dinge, die ich nicht durchleben kann oder will. CR Aber mir ist eher wichtig, dass die Zuschauer im Theater selbst etwas erleben. AR Ich freue mich sehr auf deine Inszenierung – ich bin sehr gespannt, wie du uns Zuschauer den Stoff erleben lässt. Trotzdem fürchte ich, dass ihr auch einige im Publikum enttäuschen werdet – nämlich die, die auf der Bühne eine Nacherzählung des Films erwarten. CR Ich sag’s zur Sicherheit lieber noch mal für alle: Audrey Hepburn wird bei uns garantiert nicht mitspielen …

On the Town

Erst als die Teller abgeräumt werden, wachen wir das erste Mal aus diesem vertieften Gespräch auf und blicken uns um. „Gehst du gerne ins Theater?“, fragt Christopher. Man spürt gleich: keine einfache Frage. Früher ja, antwortet Anuschka, und viel. Heute habe sie eine gewisse Skepsis gegenüber den theatralischen Mitteln und es gehe ihr auf die Nerven, wenn sich viele Schauspieler auch privat ständig selbst inszenieren. Von einem Interview mit Anthony Hopkins, das sie vor Jahren für den „SPIEGEL“ führte, blieb ihr genau das in Erinnerung … AR … natürlich habe ich mir damals nicht erhofft, Anthony Hopkins eine Stunde lang privat zu erleben. Aber da wurden beim Sprechen theatralisch die Augen geschlossen, der Kopf gesenkt … Diese grosse, grosse Geste ist mir suspekt! Mir wird auch im Theater oft zu dick aufgetragen, alles ist mir eine Spur zu laut. Letztlich ist mir der Film mit seinen Mitteln näher. CR Aber Anthony Hopkins ist doch ein Filmschauspieler  – begegnet dir diese Art von inszenierter Persona nicht viel eher im Film als im Theater? AR Ich habe gar nichts gegen Schauspielen, bloss möchte ich gern unterscheiden, wann das Spiel anfängt und wann die Rolle endet. Wie fandest du eigentlich Philip Seymour Hoffman als Truman Capote? CR Mochte ich gerne, weil ich interessanterweise die Fistelstimme bald vergessen hatte. Aber meistens kann ich bei solchen Figurendarstellungen in Biopics nur wegschalten. Genau wie bei gewissen Versuchen, historische Authentizität zu erlangen … AR Denkst du an Bruno Ganz in „Der Untergang“? CR Oh ja. Das ist die amerikanische Schule, dass du einen Oscar bekommst für die scheinbar authentische Darstellung von Behinderten oder von historischen Figuren. Mir ist diese Art von Imitation unangenehm. AR Dann wäre bestimmt „Die Bettwurst“ von Rosa von Praunheim die Art Film, die du ehrlich nennen würdest? CR Ich finde auch „Wolves of Wallstreet“ ehrlich. Der Film vergisst nie, dass er ein Film ist, dass er Wirklichkeit inszeniert und nicht abbildet. Was mich gar nicht interessiert, sind „Tatort“-Folgen mit sozialem Brennpunkt, in denen deutsche Schauspielerinnen Prostituierte mit russischem Akzent spielen. Und dann macht Günther Jauch danach noch einen Themenschwerpunkt dazu.

Frühstück bei Tiffany von Truman Capote nach der Bühnenfassung von Richard Greenberg Regie Christopher Rüping, Bühne Ramona Rauchbach, Kostüme Lene Schwind, Musik Christoph Hart Mit Hanna Binder, Ludwig Boettger, Nils Kahnwald, Isabelle Menke, Magdalena Neuhaus sowie Brandy Butler (Gesang), Roger Greipl (Musiker) und Hipp Mathis (Musiker) Bis 28. Februar im Schiffbau/Box

Bevor der „Tatort“ zur Gesinnungsfrage wird, lassen wir uns zum Grappa verführen und bestellen noch eine Runde Getränke. Ringsum werden langsam klappernd die Tische leergeräumt. AR Dann bist du generell gegen die Illusion, die ein Film schafft?

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VICTORIA SCHULZ JENNY SCHILY LARS EIDINGER

Official Selection

EIN FILM VON STINA WERENFELS («NACHBEBEN»)

NACH DEM ERFOLGREICHEN THEATERSTÜCK VON LUKAS BÄRFUSS

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In Szene


Ich weiss nicht, wie Gottfried Breitfuss es schafft, seine Physis über Bord zu werfen, zu einem schwer hängenden Augenbrauenpaar zu werden mit zwei tapsend-tänzelnden Füssen unten dran, um dann, mit diesen sparsamen Mitteln die rätselhafte und zutiefst beunruhigende Welt von Yvonne, der Burgunderprinzessin, zu erzählen. Er schafft es auch, dass es mir als Zuschauerin in Momenten so geht wie der Königin Margarete – schrecklich! – ich erkenne mich selbst in dieser Gestalt! Und dann erkenne ich auch meinen Hund, ein Kind, einen Menschen, den ich ganz sicher schon mal gesehen habe (aber ich weiss nicht mehr wo), einen nächtlichen Flug durchs All – einen Albtraum. Auch als Gottfried als Arsinoe im Menschenfeind die Bühne betrat, dachte ich: Ach, die kennst du, die Frau da oben! Ich bin ihr schon unzählige Male begegnet, habe einen grossen Bogen

um sie gemacht, um ihr dann doch auf den Leim zu gehen. Sie begegnete mir schon im Kleid einer Nachbarin, Unterwäscheverkäuferin, Babysitterin, Apothekerin usw. Gottfrieds Arsinoe kam in guter Absicht, war ehrlich, zart und verletzlich und trotzdem war es ganz unmöglich, was sie sagte. Ein trunkenes, unglücklich verliebtes, rülpsendes, einsames Monstrum – am liebsten hätte ich sie getröstet, vergessend, dass ich ihr dann wieder auf den Leim gehen würde. Ich bin fasziniert davon, mit welcher Präzision Gottfried diese vielschichtigen Figuren auf der Bühne ausbreitet: wie ein guter Kartenspieler, der bedächtig und wohl überlegt seine Trümpfe aus der Tasche zieht, in der Gewissheit, dass er das Spiel gewinnen wird. Gottfrieds Lust an der Verwandlung hat mich tief beeindruckt und meinem eigenen Spieltrieb eine gute Kanne Öl ins Feuerlein gegossen.

Gottfried Breitfuss

In Szene

25 Gottfried Breitfuss, 1958 im österreichischen Maishofen geboren, ist seit Juli 2005 festes Ensemblemitglied am Schauspielhaus Zürich. Er ist zurzeit zu sehen in „Yvonne, die Burgunderprinzessin“ und bald in „Die schönsten Sterbeszenen in der Geschichte der Oper“.

Fr ie de v rik on e W ag ne r

Wie schön ist es, wenn man sich in einem Ensemble gegenseitig begeistern bzw. entzünden kann! Jenseits der Bühne kennen wir uns kaum. Aber ich wiege mich in der Sicherheit, dass Gottfried immer da wäre, wenn ich mich an ihn wenden würde. Ich weiss nicht, ob es so wäre – aber Gottfried lässt es mich freundlich lächelnd in ihm sehen. Das schafft ein offenes, unverzagtes Vertrauen und ist schön.


Repertoire

Im Repertoire

„Dürfte ich den Herrschaften einen sympathischen Traum erzählen?“ – Das Ensemble in „Der diskrete Charme der Bourgeoisie“ nach dem gleichnamigen Film von Luis Buñuel, Regie Sebastian Nübling. Noch bis zum 9. März im Pfauen!

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Repertoire

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Repertoire

Nils Kahnwald und Hanna Binder in „Frühstück bei Tiffany“ Regie Christopher Rüping Bis 28. Februar im Schiffbau/Box

Steffen Link und Julian Boine in „Brüder Löwenherz“ Regie Ingo Berk Bis 22. März im Pfauen

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vo n

K St olu ef m an n e Zw ei fe l

Tabu, Trash & Terror Lange noch schwebte der Gestank der verbrannten Eingeweide von Giordano Bruno im fernen Jahr 1600 über dem Campo dei Fiori in Rom. Und die Ketzerei gegen den Katholizismus zwang noch im 18. Jahrhundert manch radikalen Materialisten ins Exil an den Hof von Friedrich II. Oder, wie den Marquis de Sade, für die letzten dreizehn Jahre seines Lebens ins Irrenhaus, weil er den amtierenden Papst in einer schwarzen Messe auftreten liess, bei der die Hostien als anale Kondome entweiht wurden. Das Tabu schrieb sich ins Herz unserer Kultur und wurde zum Schrittmacher der Avantgarde. Gott ist tot – diese Nachricht sei, so Nietzsche, offenbar noch nicht an die Ohren der Menschen gedrungen. Doch Nietzsches Zusatz – „wir haben ihn getötet“ – dieser Zusatz scheint die Schwelle zum 21. Jahrhundert noch nicht überschritten zu haben. „Wir“ haben ihn getötet. Diese Tat, diese Todes-Tat durchtrümmert bei Nietzsche jeden Satz, zertrümmert jede grosse Erzählung zu einem Fragment. Jedes Fragment ein Glied des zerfetzten Gottes, der sich nun, bei Nietzsche, in Tod und Verwesung vom christlichen zum dionysischen Gott verwandelt.

Künstlern, die uns in die „innere Erfahrung“ derer eintauchen lassen, die von sich sagen können: Wir haben ihn, Gott, wir haben es, das Tabu, getötet.

Das Tabu ist tot – Wir haben es getötet Gott ist tot, damit ist auch das Tabu tot. Und doch posieren allüberall Künstler mit ihren angeblich so gewagten Kunststücken, in denen dies oder jenes Tabu gebrochen wird. Posieren wie Houellebecq als Schreckelbeck des Spektakels. Dabei müssten sie uns doch vielmehr den vergessenen Zusatz vor Augen führen: Wir haben es getötet, das Tabu. Und sie müssten uns zeigen: Wir sind durch diese Übertretung in einen Zustand höchster Panik geraten, der sich dann ins Werk übersetzt. Und unsere Glieder, sie zittern noch, Fragen und Fragmente klappern in unseren Kiefern, denn diese Kiefer, sie mahlen nun im Leeren, im Malstrom des Nichts. Der Tod Gottes und der Tod des Tabus führen nämlich in die Selbstvernichtung und Selbstauflösung. Die Wucht der Tat zertrümmert den Täter so, wie jene Wedelträger zur Rechten der ägyptischen Pharaonen zertrümmert wurden, wenn sie die Haut des pharaonischen Hauptes berührten. Und diese Erfahrung des Tabubruchs, sie zerstückelt eben auch die Satzglieder derer, die davon berichten wollen. Dieses Stammeln müsste man uns nacherleben lassen. Doch: Hinter dem rechten Wedelträger des Pharaos stehen reihenweise weitere Wedelträger und einer nach dem andern treten sie seit hundert Jahren vor, stets mit ihrem Mut wedelnd, dass sie Tabus brechen, stets sich die Straussenfedern alter Wedel an den eigenen Schädel heftend. Sie schmücken sich mit dem Glanz eines Kosmos, in den sie gar nicht eingetaucht sind, denn sie sind der inneren Erfahrung beim Tabubruch ausgewichen. Sie selber sind nicht gelähmt vom Schock des Blitzschlags, aber wir sind gelähmt – vor Langeweile. Und wir sehnen uns nach Künstlern, die uns nicht vorspielen, dass Gott tot ist, sondern nach solchen

Fluchtpunkt Trash In den 50er-Jahren träumten die Situationisten nochmals vom Neubeginn: „Etwas mehr Terror, meine Herren“, forderten sie – bis Guy Debord einsah: Der Tabubruch ist nur noch Teil des Konsums, der Gesellschaft des Spektakels. Und so verkam auch der Trash, der einst die Bildungsbürger zur Weissglut brachte, in den Werken von deren Kindern zum spiessigen Ritual, wie John Waters, Urvater des Trash, schon vor Jahren erkannte. Heute kann man vielleicht nur noch in die innere Erfahrung eintauchen, wenn man die Kontrolle über die eigene Vernunft nicht im Orgienmysterientheater verliert, sondern durch Überhitzung des Gehirns, durch Überforderung des Denkapparats. Heute wäre ein mögliches Tabu vielleicht: Karge Strenge, brutale Konzentration, masslose Regelwerke, Überforderung des Zuschauers, bis ihm der Kopf platzt wie eine Eiterbeule  … Und da plötzlich erleben wir als Zuschauer des TVSpektakels Aktionen, in denen Tabubrecher gemetzelt werden. Erschreckt ahnen wir, wie tief diese Freiheit in unserem Herz schlägt. Und doch: Der Bruch privater Tabus scheint mir der einzige Ort, wo die Kunst noch in jene Erregungssphäre eintaucht, die so ansteckend wirkt wie die Pest. Private Pest, das wäre das, wonach ich suche. Private Panik. Selbstauflösung, Selbstauslöschung.

Stefan Zweifel lädt regelmässig an verschiedenen Orten am Schauspielhaus Zürich Künstler, Autoren oder Philosophen zu „Zweifels Zwiegesprächen“

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Zweifels Selbstgespräche

Topologie des Tabus und Terrors Man kann die Tabus anderer Gesellschaften brechen, die religiösen Verbote anderer Gemeinschaften brechen, um sie zur Diskussion zu stellen, man kann die Verschleierung zum Thema machen, wenn man nicht jener Gemeinschaft angehört, in der die Verschleierung Gesetz ist – aber daraus wird meist nur programmatische Kunst. Man setzt sich und seine eigenen Gesetze nicht aufs Spiel. Man kann wieder und wieder die heilige Jungfrau ans Kreuz nageln – doch wenn man an die Jungfrau ebensowenig glaubt wie ans Kreuz und den Papst, dann mag die mediale Erregung noch so gross sein, die innere Spannung des Werks bleibt gering. Das einzige, was mich als Zuschauer oder Leser erregt und verunsichert, sind Werke, die mich in die private innere Erfahrung von jemandem eintauchen lassen, der ein Tabu bricht, das für ihn selber Gültigkeit hat – deshalb wurde der, der ein Tabu brach, ja oft selbst Tabu. Man durfte ihn nicht mehr berühren, denn sonst hätte man sich mit seiner Tat angesteckt.


Nach «Songs from the 2nd Floor» und «You, the Living»

der neue Film von ROY ANDERSSON

«Dieses derart grotesk und absurd inszenierte Kinotheater, das Andersson macht, diese Tableaus, die dann plötzlich zu leben beginnen, sind, so seltsam starr sie sind, auch unglaublich mehrschichtig. In jeder Szene geht es um menschliche Dramen, um Liebe, Freundschaft, aber auch um Selbstzweifel, um Pessimismus, ums Altwerden.» SRF

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Der Rest vom Schützenfest

Kasimir und Karoline

Vom Bauen jener Bretter, die eine Welt bedeuten – Der Bühnenbildner Patrick Bannwart im Gespräch

G w en do ly vo ne n M el ch in ge r

Gwendolyne Melchinger – Du bist im Theater, in irgendeinem. Wie sieht dein Schauen aus? Worauf achtest du? Patrick Bannwart – Während meiner Theaterlehre im Opernhaus Zürich und während des Bühnenstudiums in Wien habe ich mir sehr viele Stücke angesehen. Ich würde schon fast behaupten jedes. Aber das stimmt natürlich nicht. Auf jeden Fall waren es sehr viele. Jetzt ist es genau umgekehrt. Ich entwerfe und begleite viele Bühnenbilder, gehe aber aus verschiedenen Gründen selten ins Theater. Obwohl ich immer ganz froh bin, wenn mich jemand am Arm packt und mitnimmt und es dann tatsächlich im Zuschauerraum losgeht und ich ganz unvoreingenommen dieses Gefühl von „es geht gleich los“ erleben darf. Weshalb ich aus eigenem Anlass fast nie ins Theater gehe, ist, dass ich vielleicht Angst davor habe, vom eigenen Weg, von der eigenen Herangehensweise an Stücke abzukommen und mich vielleicht zu sehr von modischen Strömen beeinflussen zu lassen.

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Kasimir und Karoline

Ich möchte stets pur und direkt sein und keinen theaterreferenziellen Umweg gehen und genau das schätze ich auch, wenn ich es im Theater erlebe. Auch wenn es ganz anders ist als man es selbst machen würde.

zu machen. So würde ich sagen, dass für mich ein Raum da beginnt, wo er eine „Welt“ ist. Schauplatz in „Kasimir und Karoline“ ist das Oktoberfest. Die Vergnügungswelt von Rummel und Kirmes, Achterbahn, Softeis und Biergelage. Die meisten Menschen haben viele Erinnerungen an so einen Ort. Wie ist das bei Dir? Das fängt natürlich auch in meiner Kindheit an. Da lebt man auf dem Dorf und plötzlich steht da für ein paar Tage ein Autoscooter und ein Karussell und man kann sich mit dem Taschengeld diese tollen Plastikjettons kaufen. Das alles hat natürlich eine besondere Anziehung. Vielleicht ist es ja kein Zufall, dass ich nun in Wien seit einigen Jahren genau vis à vis vom Prater wohne. Für mich ist der Prater fast der anziehendste Ort in dieser Stadt. Ein kleines Stückchen Anarchie in Wien. Vor allem aber liebe ich es im Herbst oder Winter durch die Buden zu spazieren, wenn sie geschlossen sind und ganz von allein ab und zu ein Automat aus einer nebligen Ecke dudelt und sagen will: Komm spiel mit mir.

Wenn Musiker sich für die Stille interessieren, was hältst du vom leeren Raum? Gibt es so etwas? Unbedingt! Zum MusikerVergleich fällt mir ein, dass die Stille tatsächlich etwas ist, was ich in der Oper oft vermisse. Die Unstille ist natürlich etwas, was einem beim Arbeiten auch hilft, da man keine Angst vor „Löchern“ haben muss. Gleichzeitig ist es wichtig, auch im Entwurf Leerräume zu behalten oder zu schaffen. Das ist nicht immer ganz leicht, da ja der Entwurf in der Regel zwischen einem und einem halben Jahr vor Probenbeginn entsteht und man natürlich vor der Modellkiste sitzend denkt, dass man für alles eine räumliche „Lösung“ haben muss, und verleitet ist, das ganze Stück über den Raum zu erzählen. Man braucht da vielleicht etwas Erfahrung, sich auch für Leerräume zu entscheiden. Ich würde es aber nicht als „Leeraum“, sondern als Luft beschreiben. Wichtig ist jedoch bei dem Thema, dass das Bühnenbild ohnehin kein abgeschlossenes Werk (wie zum Beispiel ein Bild) ist. Dadurch ist der Leerraum von Anfang an Bestandteil des Bildes. Denn sonst würde das Bühnenbild selbst das Stück erzählen und es wären keine Schauspieler mehr nötig.

Du zeigst in deinem Bühnenbild nicht die schillernde und glitzernde, bunte Vorderansicht eines Oktoberfestes, sondern die dreckige Hinterseite, einen zwielichtiger Ort. Wie kam es dazu? In erster Linie ist der Ort quasi der Rand der Kirmes. Der Abstellplatz wenn man so will. Kasimir und Karoline starten ihren Versuch, an diesem Abend glücklich zu werden, ja auch vom Rande der Gesellschaft aus und landen am Ende leider auch wieder da. Doch kann der Raum durch seine Bewegungen und Lichtveränderungen auch plötzlich zum Zentrum des Rummels werden. Dann versuchen die Figuren, ihren Alltag zu vergessen und alles um sie herum beginnt zu leuchten, zu lärmen und sich zu drehen, bis sie mit dem Kopf gegen die Wand geschleudert werden und wieder zu Sinnen kommen.

Wann ist ein Raum ein Raum? Wo beginnt er, einer zu sein? Es ist schwer, nicht in einen Theater-Fachjargon zu rutschen. Doch ist es mir stets ein Anliegen, eine „Welt“ zu schaffen. Raum klingt fast ein bisschen nach „3 Wände und 1 Tür“, wobei der Weltraum ja auch ein Raum ist … aber eben auch Welt. Bei meinen ersten Entwürfen habe ich immer den Weg gesucht, das Stück in einer Landschaft spielen zu lassen. Selbst wenn es Stücke waren wie „Vor Sonnenaufgang“ von Hauptmann, die eindeutig in „Räumen“ spielen müssten. Langsam denke ich mir, dass das Landschaftliche gar nicht der Landschaft wegen ist, sondern der Versuch, ein Stück „welthafter“

Du arbeitest bei deinen Entwürfen oft mit vielen und unterschiedlichen Lichtquellen, die deine Bühnenräume sehr stark verändern können. Wie entsteht die Arbeit mit der Bühnenbeleuchtung?

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„Eigentlich hab ich ja nur ein Eis essen wollen – aber dann ist der Zeppelin vorbeigeflogen und ich bin mit der Achterbahn gefahren ...“

Dies fängt schon mal im Modell an. An diesem Kasimir- und-Karoline-Modell hingen zwei Trafos und ca. zwölf Stecker, um die Lichtquellen zu simulieren. Oft denke ich mir, dass nebst den Schauspielern das Licht das wichtigste auf der Bühne ist. Es hat eine spielende Wandelbarkeit und Leichtigkeit, Atmosphären zu erzeugen, die mit Bühnenelementen schwer hinzubekommen ist. So kann also eine schnöde Neonröhren-Parkplatzlampe plötzlich die Farbe verändern und für einen kurzen Moment zu einem rosaroten Fahrgeschäft werden – und dann wieder nur Neon … Ein kurzer Moment der Hoffnung, dass die Welt doch eine bessere ist und Karoline ein Plätzchen darin finden wird. So wirkt Kasimir und Karoline fast archetypisch für diese Sichtweise. Zwei Figuren in der Gosse der Kirmes, verloren zwischen Los-Nieten, Glasscherben und zerbrochenen Lebkuchenherzen, versuchen ihr Glück im Oktoberfest zu finden. Je düsterer die Grundatmosphäre der Bühne, die eher an den Rand der Welt als an das Zentrum der Kirmes erinnert, umso hoffnungsvoller scheint jedes Lämpchen und jeder Silberstreifen am Glitzervorhang. Wir versuchen eine Welt zu schaffen, in der man die Figuren am Arm nehmen möchte und ihnen helfen will, das Glück zu finden oder wenigstens die Haare aus der Kotze zu ziehen. Es gibt keine schönere Plattform für Humor.

Sagt man dir, dass deine Bühne eine „Handschrift“ hat? Ja, das würde ich sagen. Und ich würde auch sagen, dass sich das von selbst ergeben hat und immer wieder ergibt. Manchmal erschrickt man in dem Moment darüber, wenn man das selbst erkennt, und denkt, dass man schnell was ändern muss. Aber es kommen auch immer wieder bei jeder Produktion neue Sachen dazu, so dass die Änderung eine kontinuierliche und keine abrupte ist.

Was für eine Beziehung hast du zu Horváths „Kasimir und Karoline“? Eine unbekannte tiefe bei Horváth im Allgemeinen, die mich anspricht. Und da ich nun „Kasimir und Karoline“ kenne, bestätigt sich diese Annahme. Es „menschelt“ und das kann kaum einer so gut herstellen wie er. Was machen seine Texte mit dir, welche Bilder hast du, wenn du Horváth liest? Menschen, Hoffnung, Ohnmacht, Stärke, Überleben. Wenn ich ein Theaterstück, wie zum Beispiel ein griechisches Drama, sehe, dann kann ich die Beweggründe der Figuren zwar verstehen und nachvollziehen, es bleibt jedoch oft die Distanz des „Verstehens“. Bei Kroetz oder Horváth zum Beispiel ist dies anders. Die Kameraperspektive ist ganz nah bei den Figuren. Die Aussenwahrnehmung der Figuren ist beschränkter. Sie müssen so handeln, wie sie handeln, um das „Licht“ zu sehen, und man kann das in allen Schritten mitfühlen. Es gibt kein Verurteilen. Die Figuren haben durch diese Nähe eine Reinheit und Ehrlichkeit.

Kasimir und Karoline von Ödön von Horváth Regie Barbara Weber, Bühne Patrick Bannwart, Kostüme Sara Giancane, Musik Karsten Riedel Mit Christian Baumbach, Marie Rosa Tietjen, Henrike Johanna Jörissen, Michael von Burg, André Willmund, Lukas Holzhausen, Claudius Körber, Siggi Schwientek Premiere am 21. März im Pfauen

Jeder Theaterraum ist anders, schränkt anders ein, setzt andere Möglichkeiten frei. Wie beurteilst du den Raum im Pfauen, wo kommt er dir entgegen, wo stellt er dich vor Schwierigkeiten?

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Kasimir und Karoline

Im Bühnenbildstudium haben wir unsere Entwürfe stets ohne finanzielle Einschränkungen und fast ohne räumliche Beschränkungen gestaltet. Das war als grösstmögliche Plattform für gedankliche und künstlerische Freiheit gedacht. Ich verglich das stets mit dem Bauen eines Hauses auf freiem Feld. Die ersten Arbeiten waren dann jedoch an kleineren Spielstätten mit klaren Realitätsschranken. Dies hat mir unglaublich geholfen, da man von Anfang an eine Reibung mit dem Raum hat, die ich als hilfreich empfinde, wie ich auch die Reibung mit dem Stück und dem Regisseur als konstruktiv und anspornend wahrnehme. Nachdem ich jetzt jedoch zwei Entwürfe im Modell an grösseren Opernhäusern gemacht hatte, bin ich ob der kleinen Kiste vor mir erst mal fast erschrocken. Doch bei der Bauprobe fand ich, dass der Pfauen die perfekte Mischung ist von einem Theater, in welchem man auch Bilder machen kann und wo doch die unbezahlbare Nähe zum Geschehen möglich ist.


Ins Theater mit …

Ins Theater mit Philip Ursprung

Philip Ursprung ist Professor für Kunst- und Architekturgeschichte an der ETH Zürich. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehört die Geschichte des Happenings und der Performance. Zuletzt erschienen von ihm die Bücher „Die Kunst der Gegenwart: 1960 bis heute“ (München, Beck Verlag, 3. Auflage 2013) und „Allan Kaprow, Robert Smithson, and the Limits to Art“ (Berkeley, University of California Press, 2013). Am 29. Dezember besuchte er auf unsere Einladung hin die Vorstellung von „Der diskrete Charme der Bourgeoisie“ im Pfauen. 34


Von woher kamen Sie zu der Vorstellung ins Schauspielhaus? Wie war die Anfahrt und wie der erste Eindruck, den das Haus auf Sie gemacht hat? Es war der kälteste Tag des Winters  – minus zehn, zwölf Grad – und es lag ungewöhnlich viel Schnee. Zusammen mit meiner Frau kam ich von zu Hause zu Fuss durch den Schnee gestapft. Wir wohnen im Fluntern-Quartier, also nur einen Steinwurf vom Pfauen. Es war angenehm, aus der Kälte in das festlich erleuchtete Haus zu kommen, wie in eine Skihütte. Ich wäre allerdings beinahe auf dem schneenassen Entrée ausgerutscht. Was hatten Sie an? Sind Sie aufgefallen? Ich trug eine sehr bunte Zipfelmütze, die eine Schulfreundin unserer Tochter in der Primarschulzeit extra für mich genäht hatte. Ich werde oft darauf angesprochen, auch an diesem Abend.

In welcher Stimmung waren Sie, als im Zuschauerraum das Licht ausging? Es war wie immer ein magischer Moment: Der Beginn einer Geschichte, der Übergang von der Wirklichkeit zur Welt der Fantasie. Ich war gespannt, was kommen würde. Meine Frau hat früher als Schauspielerin gearbeitet, und ich bin seither stets ein bisschen nervös beim Beginn einer Vorstellung, bin vom Lampenfieber angesteckt, weil ich gar nicht anders kann, als an die Arbeit der Schauspieler, Techniker, Bühnenbildner, der Regie und aller anderen Beteiligten zu denken, die der Aufführung vorausgegangen ist. Haben Sie während der Vorstellung gelacht? Am meisten, als François Thévenot sein Sirenengeheul anstimmte. Auch über die umständliche Sexszene mit Alice und Henri Sénéchal, die durch den Saal torkelten, musste ich lachen. Aber für eine Komödie musste ich doch recht selten lachen. Hat Sie etwas an der Vorstellung berührt? Die Monologe des Dienstmädchens am Bühnenrand, welche die Stimmung von Trance durchbrachen und wie ein Stachel hängenblieben. Und die dreifache Wiederholung eines kurzen Dialogs zwischen Henri

In welchem Moment haben Sie zum ersten Mal auf die Uhr geschaut? Wie spät war es da? Beim Applaus. Es war 21.20 Uhr – wegen des Schnees hatte die Aufführung später angefangen. Entsprach die Aufführung Ihren Erwartungen? Wie sahen diese Erwartungen aus? Ich hatte die Erwartung, dass die Aufführung sich mit dem Verhältnis von Kino und Theater, beziehungsweise Film und Theater befassen würde. Filme sind ja heute so etwas wie ein kollektives Gedächtnis. Dieses Gedächtnis scheint dem Theater zu fehlen, so als ob es sich scheuen würde, der eigenen Geschichte ins Auge zu blicken. Der Bezug auf den Film hätte ermöglicht, diese merkwürdige Amnesie des Theaters kritisch zu beleuchten. Aber dies hat die Aufführung nicht reflektiert. Stattdessen hat sie quasi den Plot des Films für die Bühne adaptiert. Gelungen fand ich, dass die Akteure immer in Bewegung sind und mit ihrem Tanz eine Art von ornamentaler Oberfläche schufen, die mich an die Natur des Films, aber auch an die Natur des Bürgertums erinnerte. Die Choreographie fand ich ausgezeichnet, Kostüme und Bühnenbild hingegen nicht gelungen. Hatten Sie während des Zusehens den Gedanken, dass es besser gewesen wäre, wenn Sie sich vor Ihrem Besuch nochmal genauer über den Film und über den Regisseur informiert hätten? Nein, aber die Aufführung hat mich animiert, den Film wieder anzuschauen. Finden Sie, dass die Aufführung etwas mit Ihnen zu tun hat? Der Film entstand 1972, also am Beginn der Rezession. Dies hängt natürlich sehr eng mit unserer und meiner eigenen Gegenwart zusammen. Der Abstieg der Mittelklasse und der Wohlfahrtstaaten begann in jener Zeit. Die derzeitige Wirtschaftskrise, die wir in der Schweiz nicht so deutlich wahrnehmen wie anderswo, wurzelt in dieser Zeit. Allerdings fand ich die Bourgeoisie in der Aufführung unscharf dargestellt, enthistorisiert. Damit wurde das ganze Stück verharmlost und wirkte zahnlos.

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Hätten Sie Lust, das Bühnenbild zu betreten? Welchen Platz würden Sie sich darin suchen? Ich würde mich gerne auf den Bühnenrand setzen. Wie zufrieden waren Sie mit dem Publikum? Haben Sie sich geärgert oder gefreut? Hinter mir kommentierten zwei Damen ziemlich lautstark das Geschehen. Ich fand es etwas deplatziert, als ob die beiden sich allein vor einem Fernseher wähnten. Haben Sie sich nach der Vorstellung über das Stück unterhalten? Oder haben Sie auf dem Heimweg noch über etwas nachgedacht, das mit der Aufführung zu tun hatte? Im Foyer trafen wir zufällig Barbara Weber, die frühere Leiterin des Theaters am Neumarkt, und Daniel Binswanger vom Magazin. Über das Stück haben wir kurz diskutiert, aber dann kamen wir bald auf den Druck auf die Zürcher Theater zu sprechen und darauf, dass es kein wirklich treues, eben bürgerliches Publikum mehr zu geben scheint. Paradoxerweise sind es gerade die Parteien, die sich selbst als „bürgerlich“ bezeichnen, welche die subventionierte Kultur für obsolet erklären. Wir gingen in die Kronenhalle Bar, eine passende Umgebung, in welcher der diskrete Charme der Bourgeoisie nachhallt. Welche Fragen würden Sie dem Regieteam dieser Aufführung gerne stellen? Was würde der Geist von Luis Buñuel sagen, wenn er im Zuschauerraum sässe? Was würde der Geist von Christoph Schlingensief, der sich so viel Gedanken über den Zusammenhang von Film und Theater gemacht hatte, sagen, wenn er im Zuschauerraum sässe? Wie würden Sie Ihre Aufführung verfilmen? Welches Stück würden Sie gerne als nächstes sehen? Die schmutzigen Hände von Jean-Paul Sartre im Frühling.

Der diskrete Charme der Bourgeoisie nach dem Film von Luis Buñuel Regie Sebastian Nübling, Bühne Muriel Gerstner, Kostüme Amit Epstein, Musik Lars Wittershagen, Choreographie Tabea Martin Mit Hilke Altefrohne, Christian Baumbach, Jan Bluthardt, Lukas Holzhausen, Dagna Litzenberger Vinet, Anne Ratte-Polle, Jörg Schröder, Johannes Sima, Susanne-Marie Wrage Bis 9. März im Pfauen Unterstützt von der G+B Schwyzer Stiftung

Ins Theater mit …

Kannten Sie den Film? Ich habe ihn vor vielen Jahren gesehen und kann mich nur vage daran erinnern, an den Eindruck von grosser Klarheit.

Sénéchal, François Thévenot und Don Rafael. Sie erweckte den Eindruck, dass die Aufführung in einen Loop, eine Endlosschleife gerutscht wäre, halbwegs zwischen Film und Theater.


Die unerträgliche Rätselhaftigkeit des Begehrens Yvonne, die Burgunderprinzessin

„Hier ist ein tolles Stück toll gespielt neu zu entdecken.“ (SRF 2) „Hohoho – und Bravo! Elf spielstarke Männer und eine tolle Regisseurin und Intendantin: Sie haben Witold Gombrowiczs Komödie ‚Yvonne, die Burgunderprinzessin‘ in den Schiffbau hineingelacht – und uns dabei zahlreiche Spiegel vorgehalten.“ (Tages-Anzeiger) „‚Eine tote Frau ist keine Frau.‘ Barbara Freys Inszenierung nimmt diese Einladung zu einer feministischen Lesart des Stücks auf und unterläuft sie zugleich spielerisch: mit einem Abend der schlanken Männerfessel.“ (FAZ) „Das Publikum war begeistert von der virtuosen Schauspieler-Leistung dieser Männerriege und der äusserst präzisen Regiearbeit von Barbara Frey und ihrem (weiblichen) Team.“ (Südkurier) „Grosser Applaus für ein grossartiges Ensemble und vor allem auch für Barbara Freys Inszenierung. Diese ist bei aller Boshaftigkeit, die im Stück steckt, unglaublich liebevoll und immer wieder wunderbar musikalisch.“ (SRF 1)

Yvonne, die Burgunderprinzessin von Witold Gombrowicz Regie Barbara Frey, Bühne Bettina Meyer, Kostüme Esther Geremus Mit Rainer Bock, Julian Boine, Gottfried Breitfuss, Claudius Körber, Hans Kremer, Steffen Link, Michael Maertens, Iñigo Giner Miranda, Markus Scheumann, Siggi Schwientek, André Willmund Bis 9. März im Schiffbau/Halle Unterstützt von Credit Suisse

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Ihre Formlosigkeit stürzt eine formelle Gesellschaft in den Abgrund: „Yvonne, die Burgunderprinzessin“. Barbara Freys bejubelte Inszenierung ist noch bis zum 9. März im Schiffbau zu erleben.

Yvonne, die Burgunderprinzessin

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Braucht ihr mich noch?

Ev a

Braucht ihr mich noch?

v Ro on ttm an n

In Europa herrscht hohe Jugendarbeitslosigkeit, gleichzeitig steigt das Rentenalter. Verdrängen die Jungen die Alten? Oder machen die Alten keinen Platz? Was zählt Lebenserfahrung gegen den Jugendbonus? Das Team um Klaus Brömmelmeier, Ensemblemitglied seit 2009, und Sibylle Burkart unternimmt eine generationenübergreifende Recherche auf der Schattenseite der Leistungsgesellschaft.

links: Bruno Straub-Wilhelm und Yann Bartal rechts: Vreni Urech und Selina Girschweiler

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„Säg doch eifach alt.“ „Was isch scho so schlimm dra z’säge: Ich bi alt?“

Ein Besuch mit Eva Rottmann bei den Vorproben in der Kammer. „Das Herz verändert sich nicht wesentlich, aber es arbeitet schlechter, es verliert nach und nach seine Anpassungsfähigkeit, der Mensch muss seine Tätigkeit einschränken, um es zu schonen.“ Auszug aus „Das Alter“ von Simone de Beauvoir Mittwoch, 17. Dezember 2014. Über Zürich hängen Regenwolken. Die Leute schlagen die Mantelkrägen nach oben und scheinen es noch eiliger zu haben als sonst. Vor dem Kunsthaus schiebt eine alte Frau in kleinen Schritten ihren Rollator über den Zebrastreifen. Was für ein passendes Bild, denke ich, als ich den Bühneneingang des Pfauens betrete und hinunter in die Kammer steige. Seit drei Tagen wird dort das Stück „Brauchst du mich noch?“ geprobt. DarstellerInnen sind zwei jüngere und zwei ältere „Laien“ („Ah was, säg doch eifach ALT!“ würden Vreni Urech und Bruno Straub-Wilhelm an dieser Stelle korrigieren „Was isch so schlimm dra, z’säge: ich bi alt?“). Selina Girschweiler und Yann Bartal wurden in einem Casting ausgewählt, Vreni Urech und Bruno Straub-Wilhelm haben bereits in „D’Zäller Wiehnacht“ mitgewirkt. Etwa fünfzig Jahre liegen zwischen den jungen und den alten DarstellerInnen; sie sind unter völlig anderen Umständen aufgewachsen. Alte: „Ja, was mir no alles erlebt händ. Das chönnd ihr eu gar nüm vorstelle. Mir händ zum Bispiil kei Duschi gha und eimal im Monet (oder eimal ide Wuche, das weiss ich jetzt nüm so genau) isch mer i de nächsti Ort gloffe, da hets ä Turnhalle gha und det het mer denn duschet. Ide Badchleider.“ Alter: „Ich verstah die Junge hützutags nüm. Ständig mit dem Ding i de Hand. Die chönnd gar nüm Zug fahre und eifach usem Fänschter luege. Immer mues öppis laufe.“ Junger: „Mich regt das huere uf, dass vili Alti immer tüend umenörgle. Sie wehred sich gäg alles, wo neu isch. Als wärs gföhrlich. Sie chönntets ja au mal easy nä. Nur will me alt isch heisst das ja nöd, dass mer nüm neugierig dörf si.“ Das Spannungsfeld zwischen den verschiedenen Erfahrungshorizonten und Realitäten auszuleuchten, ist ein Fokus während dieser ersten Probetage. Das Interesse liegt hierbei jedoch nicht darin, die persönlichen Lebensgeschichten der DarstellerInnen auf der Bühne auszubreiten. Natürlich fliesst der Blickwinkel, aus dem heraus sie die Welt wahrnehmen und der (nicht nur, aber auch) durch ihr Alter geprägt ist, in die Stückentwicklung mit ein. Aber sie stehen vor allem als VertreterInnen zweier Generationen auf der Bühne, die sich jeweils auf eine mehr oder weniger existenzielle Art mit der Frage „Brauchst du mich noch?“ konfrontiert sehen. Hier die „Generation Y“, die sich in einem immer rasanter werdenden Leistungsmarathon

Brauchst du mich noch? Ein Projekt von Klaus Brömmelmeier und Sibylle Burkart Regie Klaus Brömmelmeier, Sibylle Burkart, Raum Regula Zuber, Bühne und Kostüme Susan Wäckerlin, Musik Thomas Rabenschlag Mit Yann Bartal, Selina Girschweiler, Bruno Straub-Wilhelm, Vreni Urech Ab 19. Februar im Pfauen/Kammer

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Braucht ihr mich noch?

beweisen muss, wenn sie nicht irgendwann auf dem beruflichen Abstellgleis landen will. Dort die „68erGeneration“, die langsam und überaus zahlreich in die Jahre kommt und sich vor körperlichem und geistigem Verfall fürchtet, weil immer öfter die Schreckgespenster von überfüllten Altersheimen, Pflegeskandalen, überforderten Angehörigen, Armut, Einsamkeit und Alterssuizid durch die Medien und die Köpfe geistern. „Gebraucht“ wird eigentlich nur, wer jung und gut ausgebildet, respektive junggeblieben und selbstständig ist. Prinzipiell war das ja noch nie anders. Die Inuit baten ihre Alten, sich in den Schnee zu legen oder liessen sie auf dem Packeis zurück, die Ojibwa veranstalteten ein Fest, rauchten die Friedenspfeife, sangen das Totenlied und dann tötete der Sohn seinen Vater mit dem Tomahawk. Und auch in unseren Breitenkreisen war der (mehr oder weniger versteckte) Mord an alt gewordenen Eltern noch im 19. Jahrhundert keine Seltenheit. Aber wir leben – glücklicherweise – nicht mehr in einer Gesellschaft, die sich ihrer überflüssig gewordenen Mitglieder einfach entledigt. Wir müssen Formen finden und erfinden, die auch Platz bieten für junge Menschen, die nicht über 15 Masterabschlüsse und Kenntnisse in 28 Fremdsprachen verfügen und Alte, die sich nicht nach einem erfolgreichen Flanieren über die Teppichetagen in ihrem privaten Chalet zur Ruhe setzen, wo sie dann Yoga machen und sich durch die Ratgeberliteratur mit Titeln wie „Wir pfeifen auf das Alter“ oder „Da geht noch was“ lesen. So weit mal zur Theorie. Und wie macht man daraus jetzt einen Theaterabend? In der Kammer des Schauspielhauses setzt sich Thomas Rabenschlag gerade ans Klavier und stimmt ein Volkslied an. „Schnitter Tod“ heisst es. Vierstimmig wird gesungen. Himmeltraurig und herzergreifend. Trotzdem legt eine Darstellerin nach dem letzten Ton das Notenblatt aus der Hand und sagt: „Äh weisch was. Moll liit mir eifach nöd. Das mit dem Moll, das han ich i mim ganze Läbe nöd verstande.“ „Schöner Satz!“, ruft Klaus Brömmelmeier, „schreib den auf, Eva.“ Wer die bisherigen Arbeiten von Sibylle Burkart und Klaus Brömmelmeier gesehen hat, weiss, dass sie sich den Fragen der Produktion „Brauchst du mich noch?“ mit viel Fingerspitzengefühl und einem feinen Humor widmen werden. Was dabei herauskommt, weiss nach diesen ersten Probentagen noch niemand. Aber ganz sicher wird auch in Dur gesungen.


Schicht mit Dominik Freynschlag

Nachdem er in Wien an der Universität für Angewandte Kunst Bühnen- und Filmgestaltung studiert und zunächst in Zusammenarbeit mit Absolventen der Wiener Filmakademie hauptsächlich Filme ausgestattet hat, hatte Dominik Freynschlag den Wunsch, seine Ausbildung durch eine Assistenz am Theater zu erweitern. Durch Zufall erfuhr er von einer freien Stelle am Schauspielhaus Zürich und bewarb sich – mit Erfolg. In seinem zweiten Jahr als Bühnenbildassistent ist er nun gerade intensiv mit Vorbereitungen für die Produktion „Die schönsten Sterbeszenen in der Geschichte der Oper“ in der Regie des lettischen Regisseurs Alvis Hermanis beschäftigt. Eva-Maria Krainz hat ihn einen Tag lang bei seiner Arbeit begleitet.

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Ev aM vo ar n ia Kr ai nz

Blut geleckt am Theater


14.15 Uhr Nach der Vormittagsprobe von „Frühstück bei Tiffany“ bespricht sich Dominik noch kurz mit der Bühnenbildnerin Ramona Rauchbach und dem Regieassistenten, ehe wir uns auf den Weg in die Kantine machen, um seine kurze Pause für ein schnelles Mittagessen zu nützen. Wir unterhalten uns über die Erfahrungen, die Dominik hier am Haus bereits mit verschiedenen Bühnenbildnern gemacht hat – und das Problem, dass man als Assistent oft ein wenig zwischen den Stühlen sitzt: Er vertritt einerseits die Interessen des Theaters, andererseits aber natürlich auch die des Bühnenbildners. Wenn es dann gilt, sich für bestimmte Ideen und Wünsche einzusetzen, die künstlerisch absolut nachvollziehbar, aber technisch und/oder organisatorisch schwierig umzusetzen sind, ist das nicht immer einfach – zumal man als Bühnenbildassistent ja auch selbst noch viel lernen muss und (besonders am Anfang) die Abläufe im Betrieb noch nicht so gut kennt. „Seine“ Stücke sieht sich Dominik etwa zwei Wochen nach der Premiere immer noch einmal an – mit etwas Abstand von der Probenzeit fällt es leichter, sie mit einem objektiven Blick zu sehen. In den Endproben dagegen nimmt man eher technische Abläufe und Details stärker wahr, meint Dominik. 14.40 Uhr Nach dem Essen machen wir uns auf den Weg in den 2. Stock des

Schiffbaus, wo Dominik mit dem Konstrukteur Albi Brägger verabredet ist. Auf dem Weg dahin unterhalten wir uns noch ein wenig über seine Pläne nach der Assistentenzeit: Nachdem er während seines Studiums fast ausschliesslich in Filmprojekten gearbeitet hat und nur selten im Theater war, hat er nun „Blut geleckt“ und herausgefunden, dass sein Herz vor allem für das Theater schlägt. Dabei möchte er sich nicht auf bestimmte Regiestile festlegen, sondern ist den verschiedenen Arbeitsweisen gegenüber ganz offen. Er möchte Verschiedenes ausprobieren und entwickeln. Der grösste Luxus ist für ihn dabei, wenn Entscheidungen wirklich im Team getroffen werden und diese dann bis zum Schluss geändert werden können. Nicht selbstverständlich, da dies insbesondere von den Werkstätten sehr viel Flexibilität und oft Mehrarbeit abverlangt – was hier am Haus aber durch die extreme Professionalität und Kreativität aller kein Problem darstelle, meint Dominik. 14.45 Uhr Dominik und der Konstrukteur besprechen den aktuellen Arbeitsstand bei den „Sterbeszenen“ und die Auswahl der Materialien für den Raum von Alvis Hermanis. Der Bühnenbildentwurf, den sie zusammen mit einer Auswahl an Fotos von Hermanis bekommen haben, ist sehr reduziert, aber eine sehr gute Arbeitsgrundlage. Der Regisseur und Bühnenbildner hat sehr klare Vorstellungen davon, welche Atmosphäre er den Zuschauern vermitteln will: Der Abend spielt in einem Altersheim, in einem sehr hellen, an Jugendstil erinnernden Raum, in dem das Gefühl einer Art „Twilight Zone“ zwischen Leben und Tod entstehen soll. Wegen der Helligkeit und in Anbetracht der räumlichen Nähe zwischen Zuschauern und Bühne in der Box im Schiffbau ist die Auswahl der geeigneten Materialien gut zu überlegen. Sie passiert in enger Zusammenarbeit mit der Konstruktion und der Beleuchtung.

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16.10 Uhr Mit den neuen Erkenntnissen aus der Besprechung geht Dominik in die Bibliothek, um sich mit neuem Recherchematerial für die „Sterbeszenen“ zu versorgen. Er will möglichst viel über den Hintergrund des Raumkonzepts erfahren – denn je besser er verstehen kann, woher die Ideen des Bühnenbildners kommen, desto leichter fällt ihm die Arbeit für die Produktion. 16.55 Uhr Für die Arbeit an einer detaillierteren Version des Bühnenbildmodells von Alvis Hermanis, das Dominik hauptsächlich für sich selbst, zum besseren Verständnis des Raumes und seiner Proportionen baut, bleibt heute leider keine Zeit mehr. Er muss noch in die Beleuchtung und ins Möbellager, um geeignete Lampen und Stühle für die Abendprobe von „Tiffany“ auszusuchen, und in der Requisite die heute Vormittag angeforderten Gegenstände abholen. 17.55 Uhr Wir verabschieden uns vor der Probebühne, wo Dominik bis etwa 22 Uhr (oder länger) wieder mit „Frühstück bei Tiffany“ beschäftigt sein wird – ein langer Tag. Trotzdem geht Dominik mittlerweile auch in seiner Freizeit sehr oft und gerne ins Theater – spätestens, seit er hier am Schauspielhaus Zürich Blut geleckt hat …

Die schönsten Sterbeszenen in der Geschichte der Oper von Alvis Hermanis Regie, Bühne und Kostüme Alvis Hermanis Mit Hilke Altefrohne, Gottfried Breitfuss, Rita von Horváth, Isabelle Menke, Friederike Wagner, Milian Zerzawy, Jirka Zett Premiere am 20. März im Schiffbau/Box Unterstützt von der International Music & Art Foundation und vom Förderer-Circle des Schauspielhauses

Schicht mit Dominik Freynschlag

9.30 Uhr Nach einer Besprechung mit dem Bühnenmeister der Inszenierung „Frühstück bei Tiffany“ von Truman Capote (Regie Christopher Rüping), die Dominik gerade parallel zu den Vorbereitungen für das Projekt mit Alvis Hermanis betreut, trifft er sich nun mit Kollegen von der Requisite. Mit ihnen bespricht er Wünsche und Anregungen von der gestrigen Abendprobe und sucht Requisiten für die Produktion aus. Danach geht es auf die Probebühne, die er zusammen mit der Requisite und einer Hospitantin für die Probe vorbereitet.


G w en do ly vo ne n M el ch in ge r

Schweizer Schönheit

Rebellion in Wohlstadt

Im Zentrum von Dani Levys Komödie, die er für das Schauspielhaus Zürich geschrieben hat und bei der er auch selbst Regie führt, steht Balz Häfeli. Sein 50. Geburtstag bringt die Wende im Leben des angepassten Durchschnittsbürgers und Familienvaters, in dem er schon lange keine Rolle mehr spielt und längst andere das Ruder übernommen haben. Als er 50 wird, scheint sich auf einmal alles gegen ihn verschworen zu haben: Sein jüngster Sohn, Fredi, verabscheut ihn, weil er ihn bei einer allzu intimen Situation erwischt hat, der Bürgermeister aus Wohlstadt, Vater von Balz, hält eine schamlose Rede auf ihn, von seinem neuen Nachbarn erfährt er, dass dieser und nicht er den langersehnten Abteilungsleiterposten bekommen hat und obendrein legt sich ihm der Verdacht nahe, dass seine notorisch untreue Ehefrau nicht einmal vor seinem eigenen Vater Halt gemacht hat. Und plötzlich ist Balz nicht mehr derselbe. Er steigt aus, macht nicht mehr mit. Er zieht vom Haus in den Gartenschuppen und macht nur noch das, wozu er gerade Lust hat. Und das sind so gar keine Dinge, die einem Bürger aus Wohlstadt entsprechen. Die Gemeinde ist entsetzt. Während Vanessa, Balz’ Tochter, die wunderliche Wandlung ihres Vaters scheinbar teilnahmslos mit der Kamera festhält, will Urs, der Älteste, den Vater zur Vernunft zwingen. Eine Leiterin der Psychiatrischen Klinik wird hinzugezogen, um dieser aufkommenden Bedrohung – die Nachbarn befürchten

Krieg – Herr zu werden. Nur Balz’ Frau, Rosa, nimmt es gelassen und findet wieder Gefallen an ihrem Mann. Als Balz mit Hilfe von Jenni, Urs’ Freundin, per Live-Blog ein neues Königreich ins Leben ruft, bei dessen Aufnahme die Schweizer Nationalität abgegeben werden muss, haben die Wohlstädter endgültig genug. Dani Levy, der durch Filme wie „Meschugge“ oder „Alles auf Zucker“ zu einem der renommiertesten und erfolgreichsten Schweizer Filmemachern wurde, hat eine rabenschwarze, aberwitzige und fundamentalistische Theaterkomödie geschrieben, die davon erzählt, wie jemand, der aus dem Hamsterrad des Lebens aussteigen will, vom angepassten, unscheinbaren Jasager zum erklärten Unruhestifter und Störfall wird und die eigene Fassade sowie die seiner Umwelt zum Einstürzen bringt.

Schweizer Schönheit Eine fundamentalistische Komödie von Dani Levy Regie Dani Levy, Bühne Henrike Engel, Kostüme Sabine Thoss, Musik Jojo Büld Mit Marc Baumann, Margot Gödrös, Dagna Litzenberger Vinet, Thomas Loibl, Joshua Maertens, Miriam Maertens, Michael Neuenschwander, Nicolas Rosat, Carol Schuler, Pierre Siegenthaler, Johannes Sima, Susanne-Marie Wrage Premiere am 20. Februar im Pfauen Unterstützt von der Dr. Georg und Josi Guggenheim Stiftung

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Fragebogen nach Marcel Proust Proust füllte ihn gleich zwei Mal aus, und heute heisst der Fragebogen wie er. Neue Antworten auf alte Fragen mit Dani Levy

Ihr grösster Fehler? Nie wirklich erwachsen geworden zu sein. Ihr Traum vom Glück? Muss nicht geträumt werden, nicht für mich zumindest. Eine Welt ohne Armut ist genau genommen kein Glück, sondern Notwendigkeit. Was möchten Sie sein? Was ich bin, aber mit Systemupdate. Ihre Lieblingsfarbe? Wofür? Für mein Gesicht? – Naturverwöhnt, leicht gebräunt. Ihre Lieblingsblume? Avocados und deren Bäume, Sonnenblumen, Lavendel. Ihr Lieblingsvogel? Pechvögel. Ihr Lieblingslyriker? Bert Brecht und Kafka (hat der überhaupt gedichtet?) Ihre Helden der Wirklichkeit? Menschen, die für Frieden und Freiheit kämpfen, im Kleinen wie im Grossen. Ihre Heldinnen in der Geschichte? Die vielen tapferen, intelligenten Frauen, die wir nicht kennen. Ihre Lieblingsnamen? Damit hab ich mich schon bei der Geburt unserer Kinder rumgequält. Was verabscheuen Sie am meisten? Intoleranz, Eitelkeit, Rücksichtslosigkeit und Ignoranz (der bestehenden Zustände) – und viele weitere Eigenschaften von Menschen, die nur sich selbst sehen. Ich verabscheue uns alle, aber vor allem die Leader, dass Millionen von Menschen weiterhin keinen Zugang zu Wasser oder Nahrung haben. Welche geschichtlichen Gestalten verabscheuen Sie am meisten? Eine lange Liste, die jeder kennt, und deren Namen man nicht immer wieder nennen möchte. Welche Reform bewundern Sie am meisten? Alles, was uns dahin gebracht hat, wo wir heute sind. Vor allem die letzte Rechtschreibreform und natürlich die anstehende Reform des Islams. Welche natürliche Gabe möchten Sie besitzen? Mut. Wie möchten Sie gern sterben? Natürlich und friedlich oder plötzlich, aber wenn möglich selbstbestimmt – oder gar nicht. Ihr Motto? Hab leider keins, ich mag aber Achternbuschs Satz „Du hast keine Chance, also nutze sie“. Und natürlich das mongolische Sprichwort: „Nobody’s perfect.“

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Schweizer Schönheit

Wo möchten Sie leben? Auf einer Welt, die niemanden zurücklässt. Was ist für Sie das vollkommene irdische Glück? In den Bergen, schwitzend, keuchend, und in der Sonne. Welche Fehler entschuldigen Sie am ehesten? Fehler gehören zum Leben, wie der Tod. Viele Fehler müssen gemacht werden. Verbrechen, die mutwillig verübt werden, gehören nicht dazu. Was ist für Sie das grösste Unglück? Wenn einem meiner Kinder etwas passiert. Oder den Kindern meiner Freunde. Und Verbrechen an Kindern überhaupt. Ihre liebsten Romanhelden? Ich habe nie mehr so leidenschaftlich Romanhelden geliebt wie als Kind oder Jugendlicher. Das waren – ohne Wertung der Reihenfolge – Rote Zora, Huckleberry Finn, Robinson Crusoe, Winnetou, Kara Ben Nemsi, Giorgio (aus den Schwarzen Brüdern) … u. v. m. Ihre Lieblingsgestalt in der Geschichte? Keine Ahnung, Balu der Bär? Ihre Lieblingsheldinnen/-helden in der Wirklichkeit? Alle Ärzte und Krankenpfleger, die für „Ärzte ohne Grenzen“ und ähnliche Organisationen arbeiten. Ihr Lieblingsmaler? (Oh Gott, ich hasse diese Fragen) Martin Kippenberger, oder nee, Gustav Klimt, ach Quatsch, Frida Kahlo, hm … Henri Rousseau … Ihr Lieblingsautor? Karl May, oder doch Paul Auster? Nee, Franz Kafka. Oder Isaac Bashevis Singer? Ihr Lieblingskomponist? Lennon/McCartney (obwohl, Chopin …?) Welche Eigenschaften schätzen Sie bei einer Frau am meisten? Stille Überlegenheit, Entspanntheit, sexueller Hunger. Welche Eigenschaften schätzen Sie bei einem Mann am meisten? Ehrlichkeit, Selbstironie, Entspanntheit in Zeiten der Pein und Unterlegenheit, Freundschaft. Ihre Lieblingstugend? Neugier. Ihre Lieblingsbeschäftigung? Spielen, mit dem Leben, mit der Realität. Wer oder was hätten Sie gern sein mögen? Relevant. Ihr Hauptcharakterzug? Treue, Loyalität, Fairness. Was schätzen bei Sie Ihren Freunden am meisten? Humor, Erreichbarkeit, Unkompliziertheit, Spontaneität und eine kräftige Portion Hippieness.


Junges Schauspielhaus

Schneeweiss – ein Schneewittchen

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Stück

Junges Schauspielhaus Schneeweiss – ein Stück Schneewittchen von Antonio Viganò Regie und Bühne Antonio Viganò, Kostüme Thomas Unthan Mit Rosario Bona, Sarah Magdalena Huisman Premiere am 10. April im Schiffbau/Matchbox In Kooperation mit dem Teatro la Ribalta Bozen

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Die musikalische Ordnung der Welt – Iñigo Giner Miranda im Portrait

Iñigo Giner Miranda kommt von der Probe von „Yvonne, die Burgunderprinzessin“ in der Regie von Barbara Frey, als ich ihn in der Kantine des Schiffbaus treffe. Während er erzählt, wie er zusammen mit Barbara Frey die Musik für das Stück konzipiert, sind seine schnellen Formulierungen von ebenso schnellen Handgesten untermalt: Die Musik unterstreiche einerseits die Formalität dieser höfischen Gesellschaft, andererseits bilde eine gewisse musikalische Harmlosigkeit einen Kontrast zur Welt der Figuren. So nutze er für sein Arrangement Kompositionen von Elgar, Britten und Poulenc – sakrale Musik aus dem England und Frankreich des 19. Jahrhunderts, die eine Formalität betone, andererseits Grieg und Janáček, die eine unschuldige Komponente zum Ausdruck bringen. Iñigo Giner Miranda ist an vielen Orten zu Hause – nicht nur geographisch, sondern auch künstlerisch: In „Yvonne, die Burgunderprinzessin“ nach Witold Gombrowicz ist er einerseits musikalischer Leiter, andererseits auch in der Figur des Dieners Valentin auf der Bühne zu sehen und zugleich als Pianist zu hören. Er schreibt gerade an einem Streichquartett und ist mit seinem Ensemble tätig. Was all seine Arbeiten verbindet ist das musikalische Denken – ganz gleich ob Spiel mit Figuren, Gesten, Objekten, Gesang oder Sprache. Und so ist der Name des Ensembles, das er zusammen mit drei weiteren Musiker-Schauspielern in Berlin gegründet hat, Programm: „Die Ordnung der Dinge“ beschreibt vor allem, wie Iñigo Giner Miranda Musik denkt: Die Arbeit des Komponisten ist für ihn eine des Ordnung-Schaffens zwischen den Dingen. Und mit Dingen meint er nicht nur die klassischen Elemente der Komposition wie Klänge, Rhythmen oder Töne, sondern auch Gesten, Mimik oder Objekte – also auch die Elemente, die andere Sinne als das Gehör betreffen und dementsprechend im klassischen Konzert vernachlässigt werden. Der Kompositionsbegriff bezeichnet, auf diese Weise erweitert, nicht notwendigerweise eine Kunst der Klänge, sondern eine Kunst der Harmonie. Er bewege sich eigentlich zwischen drei Welten, sagt Iñigo Giner Miranda: Auf der einen Seite die klassische Konzertwelt, auf der anderen das Theater und in der Mitte die Arbeit mit seinem Ensemble.

2010. Seitdem arbeitet er regelmässig am Theater und war am Schauspielhaus Zürich bereits in Ruedi Häusermanns „Vielzahl leiser Pfiffe“ und Barbara Freys „Menschenfeind“ zu sehen und zu hören – und seit dem 10. Januar in „Yvonne, die Burgunderprinzessin“. Die Figur der Yvonne dient den anderen am Hof als Spiegel ihrer Begehren und Unzulänglichkeiten. Auf die Frage, ob sie den Prinzen liebe, antwortet sie nicht – oder vielmehr mit Schweigen. „Ah, ein negatives Schweigen!“, ist die Erwiderung im Stück. Diese Entlarvung der Projektion auf das Gegenüber sei einer seiner Lieblingsmomente, meint Iñigo Giner Miranda schmunzelnd.

Club diskret Licht aus, Musik an! Im Club diskret geht es weiter im März mit „Stadtmagazin“, „Wildes Wissen“ , „Autorenabend“ und Konzert. Vergessen Sie – alles! Lassen Sie sich von Musik verführen und entdecken Sie Zürich mit den Augen der Regieassistenten.

Club diskret

Kurzportrait

von Irina Müller

Wildes Wissen – die Wissenschaftsshow etwas anderer Art, mit Wissenschaftsjournalist Roland Fischer, Regisseurin Sophia Bodamer, Dr. Abuse und Gastexperten. Vol. 4 zum Thema Blackout: 5. März im Pfauen/Kammer, 20.30 Uhr, Bar ab 19.30 Uhr Unterstützt von der Gebert Rüf Stiftung Stadtmagazin – Vier junge Regisseure entwickeln mittels des Flanierens und anderen situationistischen Strategien jeweils einen Theaterabend rund um ihren persönlichen Blick auf die Stadt Zürich. Vol. 3 von Sonja Streifinger: 12. März im Pfauen/Kammer, 20.30 Uhr, Bar ab 19.30 Uhr, anschliessend Party mit Karaoke Vol. 4 von Barbara Falter: 2. April im Pfauen/Kammer, 20.30 Uhr, Bar ab 19.30 Uhr, anschliessend Party mit Karaoke Autorenabend: Ein Textkonzert – eine musikalische Zerlesung – ein Oratorium für unsere (un)begrabenen Wünsche mit der jüngsten Preisträgerin des Mülheimer Dramatikerpreises 2013 Katja Brunner. 19. März im Pfauen/Kammer, 20.30 Uhr, Bar ab 19.30 Uhr

Iñigo Giner Miranda, geboren 1980 in Bilbao, studierte Piano unter Albert Nieto in Vitoria, dann klassische Komposition in Amsterdam. Seine Neugier für interdisziplinäre Kunst brachte ihn für sein Masterstudium an die Universität der Künste (UdK) in Berlin, wo er 2011 seinen Abschluss machte. Er gewann den zweiten Preis beim internationalen Kompositionswettbewerb „Hanns Eisler Preis“ und war Finalist beim „Injuve“ Kompositionspreis. Zum Theater kam er durch die Arbeit in Ruedi Häusermanns Projekt „Gang zum Patentamt“

Konzert mit „Zettel“ – Normalerweise auf der Theaterbühne im Schauspielhaus zu sehen, erbringt Milian Zerzawy alias „ZETTEL“ mit seinem Liedern den Beweis, dass deutsche Texte fliegen können und keine Rarität sein sollten. 26. März im Pfauen/Kammer, 20.30 Uhr, Bar ab 19.30 Uhr club diskret wird unterstützt von Ittinger Amber

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Besser Leben mit … Kulturtipps aus dem Schauspielhaus

Mon voisin, c’est qui?

von Daniela Stauffacher

Meyer’s Bar Die Premierenfeier ist früher zu Ende als gedacht, die letzten Unentwegten möchten aber noch nicht nach Hause. Gross ist die Auswahl an offenen Bars nicht mehr, also gehen wir ins „Meyer’s“ an der Badenerstrasse. Dort trifft man täglich bis 4 Uhr auf Menschen, denen es genauso ergangen ist. Innenarchitekten seien gewarnt – es gibt schickere Läden in Zürich. Aber wohl kaum einen charmanteren: Was ich dort zu später Stunde schon an lustigen, traurigen, klugen, dummen, tiefgründigen und oberflächlichen Gesprächen mit Wildfremden oder Freunden geführt habe, erinnert an Songtexte von Tom Waits. Und so basic wie die Kneipe ist auch die Webseite: www.meyers-bar.ch Sebastian Steinle, Medien/Webmaster

Kultur

Die Havana Galerie (www.havanagalerie.ch) an der Dienerstr. 30 in Zürich gibt es seit 1998 und gehört Frau Beatrice Liaskowski. Sie besitzt eine bedeutende Sammlung für kubanische Kunst der Gegenwart, insbesondere der Jahrhundertwende. Sie hat selbst in der Nationalen Kunstschule von Havanna unterrichtet und dadurch viele der Kunststudenten kennengelernt, die heute zu den bekanntesten kubanischen Künstlern der Gegenwart gehören. Sie sind vor allem in den USA und Lateinamerika sehr bekannt, aber leider (noch?) nicht in Europa. Die jungen kubanischen Künstler haben sich mit brisanten und tabuisierten Themen ihrer Gesellschaft auseinandergesetzt, wie Exil, Migration, Rassismus, Homosexualität und der Kritik am sozialistischen Staat und diese in ihren Werken dargestellt. Dabei orientierten sie sich an internationalen zeitgenössischen Kunstrichtungen. Freddy Andrés Rodríguez, Leiter Theaterkasse

Drei Monate Kunst Seit im Bordell „Irma la douce“ die Lichter ausgingen, hat die Kunst das Ruder übernommen. Als Penthouse Gallery wird es zwischengenutzt, wo Simon Heusser und Prisca Baumann in den oberen Stockwerken an der St. Jakobstrasse Ausstellungen junger Künstler präsentieren, während der Gastraum im Erdgeschoss mit einer Naturweinbar aufwartet, die Raum für Live-Art und Konzerte bietet: Am 12.2. Lesung „Plutonische Liebe“ von Bonn Park, danach spielen „Pollyester“. Performances gibt es von Sophia Bodamer (19./21.2.) und Sengebusch Bosshardt Flück (26./28.2.) zu sehen. Im März soll wieder Schluss sein. Also: Ranhalten! Tobias Herzberg, Regieassistent

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Theater Campus

Havana Galerie

Wahrscheinlich hatte Gott es so gewollt. Oder die Theaterkasse. Aber wer weiss denn, ob es die überhaupt gibt. Also war es wahrscheinlich schon Gott gewesen. Brav befolgten wir, was die Nummer auf dem Billett befahl. Ein dramatischer Augenaufschlag, ein dezidierter Fingerzeig, „xgüsi, mssi, tnabig, dankä“ – wie schnell man mit diskretem Charme ins Paradies (Reihe 3, Platz 58/59) gelangt! Der Plüsch schien hier nur für uns gewoben, der Kronleuchter nur für uns gedimmt, die Bühne nur für uns erbaut; die Welt war gerecht und gut. Erster Akt, zweiter Akt, dann Hustenanfall infolge Zigarettenrauchs. Eine Hand glitt aus dem Dunkel hervor (Platz 60), reichte eine Tüte Bonbons. Ich nahm davon und lutschte. Und gab auch meiner Begleitung davon, und er lutschte. Dann die Erkenntnis: Der Nachbar war ein Herr von der Kritik. Seine bonbonfreie Hand umschloss in professioneller Manier einen Bleistift, das säuberlich gefaltete Papier auf dem Knie liess keinen Zweifel: Dieser Mensch wusste, was gutes und was schlechtes Theater ist. Ich versuchte so zu tun, als wär nichts, und blickte zur Bühne. Aber das Bonbon klebte am Zahn, und ich wollte doch auch wissen, was gutes und was schlechtes Theater ist. Ich schielte. Charakterschrift, unleserlich, was für eine Schlange! Aber was brauchte ich ein Diktat des guten Geschmacks! Ich blickte. Ein kleiner Hinweis wär zwar schon nett. Ich schielte. Hatte ich an der falschen Stelle gelacht? Ich schielte. Was war schon falsch! Ich blickte. Aber warum dieses Bühnenbild? Ich schielte. War das modern? Ich schielte. Postmodern? Eurotrash? Genial? Kongenial? Applaus. Das Stück war verpasst. Es blieb mal wieder die Erkenntnis, dass Erkenntnis verderblich ist. Und: Ich will nie mehr ins Paradies und sitze nur noch unter der Balustrade. So wahr mir die Kasse helfe!


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Schauspielhaus Zürich Februar / März / April 2015 Abonnement Das Journal erscheint 3 × jährlich und kann gegen einen Unkostenbeitrag von 12 Franken pro Jahr unter www.schauspielhaus.ch abonniert werden.

Herausgegeben von der Schauspielhaus Zürich AG Zeltweg 5, 8032 Zürich Intendanz Barbara Frey Redaktion Andreas Karlaganis, Gwendolyne Melchinger, Irina Müller (Redaktionsleitung), Sandra Suter, Karolin Trachte

Fotos Matthias Horn S. 1/36/38/40/52, Raphael Hadad S. 4–13, 42, T+T Fotografie S. 15/24/26–28, Michael Hauri S. 43 Alun Meyerhans (Illustration S. 45) Gestaltung velvet.ch Druck Speck Print AG, Baar Auflage 15 000

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Redaktionsschluss 4. Februar 2015 Partner

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