Seite 4 Leitgespräch – Jean Ziegler ist immer noch eifersüchtig auf Sartre
Seite 12 Auf Hausbesuch – die Produktion „Die Zofen“ bei der Zürcher Domina „Herrin Ariadne“
Seite 20 Mike Müller trifft Oskar Kuhn – über die A1 und das beste Cordon bleu der Stadt
Journal
Mai / Juni 2015
Schauspielhaus Zürich
Ihre
Visionen
Unsere Ideen
Zukunft für alle
Seit über 150 Jahren fördert Swiss Re Visionen und Fortschritt, indem wir Risiken absichern. Denn Fortschritt macht das Leben vieler Menschen besser, sicherer und langfristig stabiler. Dafür setzen wir uns ein – gemeinsam mit unseren Kunden und Geschäftspartnern. Wir arbeiten Hand in Hand, entwickeln zusammen Ideen, denken voraus über die Risiken und Herausforderungen kommender Generationen. So finden wir Antworten und kreative Lösungen für eine bessere Zukunft. Für jeden einzelnen von uns. Für alle. Wir sind überzeugt: Together, we’re smarter. swissre.com
Die Sache mit der Stange
Titelbild: „Die Zofen“ von Jean Genet Regie Bastian Kraft
Ba rb vo ar n a Fr ey
24 Zweifels Selbstgespräche – 120 Shades of Genet 25 Forschungsstationen der Uni Zürich im Schiffbaufoyer 26 In Szene – Marie Rosa Tietjen
12 Ein Hausbesuch bei der Domina „Herrin Ariadne“
28 Festspiele Zürich – das Programm am Schauspielhaus Zürich
17 Probenbeginn bei René Polleschs neuer Arbeit „Love/No Love“
30 Regisseurin Sophia Bodamer im Gespräch
20 On the town – Mike Müller und Oskar Kuhn unterwegs im Kreis 4
34 Schicht mit dem Leiter der Statisterie Rudi Rath
3
36 Szenen aus dem Repertoire 39 Stefan Zweifel über seine nächsten Zwiegespräche 40 Ins Theater mit Esther Eppstein 42 Junges Schauspielhaus – Porträt des Regisseurs Enrico Beeler 45 Kulturtipps / Theater Campus 46 Ruedi Häusermanns Einbildungen
Inhalt
4 Jean Ziegler im Gespräch über Jean-Paul Sartre und „Die schmutzigen Hände“
Editorial
Die Mischung aus Selbstvergessenheit und Begeisterung, die die Stabträger ausstrahlen, könnte jedoch ein Hinweis darauf sein, dass das Individuum jetzt also erneut aufbricht, um zu einer endgültigen Selbstvergewisserung zu gelangen: durch eine ausziehbare Stange mit einer Smartphone-Klemme. Dort oben, am winzigen festgeklammerten Bildschirm müsste es sich uns zeigen, das Ich. Schade nur, dass das infantil-putzige Wort „Selfie“ so gar nichts erahnen lässt von der unendlichen Grösse, der Tiefe, der Unergründlichkeit und schieren Unerreichbarkeit des eigenen Ich.
Mit dem Selfie-Stick, also mit einer in der Hand gehaltenen Stange, an deren Ende das Smartphone festgeklemmt wird – zum Zwecke der Selbstporträtierung des Halters – scheint eine neue Dimension der Selbstfindung, Selbsterfahrung und Selbstdarstellung erreicht. Roman Bucheli diagnostizierte neulich in der NZZ eine „Rückeroberung des Ich ... über die kleine Aussenstation, die gleichsam zum archimedischen Punkt der Selbstwahrnehmung wird“. Ein einleuchtender Gedanke, dessen philosophischer Gehalt merkwürdig kontrastiert mit dem oft etwas albernen Erscheinungsbild der Selfie-Stabträger, die man immer häufiger allerorten erblickt. Mit aufgesetzter Heiterkeit und noch leicht ungläubigem Staunen über das neue Gerät gehen, stehen oder sitzen sie in Cafés, um Sehenswürdigkeiten herum oder einfach auf der Strasse. Bei ihrem Anblick vermag man nicht so richtig über Archimedes nachzudenken; eher denkt man an den Absatzmarkt für die jetzt flächendeckend zum Verkauf angebotenen Armverlängerungen. An eine „Rückeroberung des Ich“ mag man aber auch nicht wirklich glauben, denn dies setzte ja voraus, dass es ein solches einmal gegeben haben müsste und es einem gestohlen worden oder sonst wie abhandengekommen sei. Man könnte stattdessen mutmassen, dass der Selfie-Stick eine Art (nach oben gerichtete) Ich-Wünschelrute sei und man damit also überhaupt erst die Suche nach einem allfälligen Ich antrete und dieses aufzuspüren trachte. Denn: man hat es ja bislang nirgends finden können, das Ich, seit Jahrtausenden nicht; nicht im Spiegelbild, nicht in den Bildern, die andere von einem gemacht haben, nicht in der Auseinandersetzung mit den Künsten, nicht im Beruf, nicht in all den Therapien, die man machen kann – und, vielleicht die grösste Zumutung – nicht einmal in der Liebe.
Jean Ziegler im Gespräch
Es gibt keine Ohnmacht in der Demokratie!
Am 13. Mai feiert Stefan Puchers Inszenierung von „Die schmutzigen Hände“ von Jean-Paul Sartre am Schauspielhaus Premiere. Das Stück, das 1948 in Zürich seine deutschsprachige Erstaufführung hatte, erzählt die Geschichte des jungen Emporkömmlings Hugo bei sozialistischen Revolutionären im fiktiven Staat Illyrien. Jean Ziegler, Sartre-Zeitgenosse und Autor zahlreicher Sachbücher, ist Mitglied des Beratenden Ausschusses des Menschenrechtsrats der UN. Zuletzt veröffentlichte er das Buch „Ändere die Welt! – Warum wir die kannibalische Weltordnung stürzen müssen“. Die Dramaturgen Andreas Karlaganis und Karolin Trachte haben ihn in seinem Haus bei Genf zum Gespräch getroffen. 4
Jean Ziegler – Ich freue mich sehr, dass Sie „Die schmutzigen Hände“ im Spielplan haben. Claus Peymann erzählte mir einmal, Jean-Paul Sartre werde kaum gespielt? Gibt es eine Sartre-Renaissance?
Andreas Karlaganis – Wir halten „Die schmutzigen Hände“ trotz seiner historischen Verortung für ein Stück, dessen Kernproblematik noch heute aktuell ist. JZ Wie jedes Stück von Sartre!
Karolin Trachte – Sie haben Sartre bald darauf auch persönlich kennengelernt. Wie haben Sie ihn erlebt? JZ Sartre wohnte ja in der Rue Bonaparte, bei seiner Mutter, Anne-Marie Schweitzer. Und ich lebte in einer Mansarde in der Rue Jacob, nur etwa 50 Meter entfernt. Also haben wir uns häufig in der Épicerie gekreuzt. Schliesslich bin ich eingeladen worden zu jenen Donnerstagen. Donnerstags war die grosse Politsitzung der Zeitschrift „Les Temps Modernes“ in der Wohnung von Sartre. Da sass ich auf einem Plastikstuhl ganz hinten, wenn die grossen Denker die Themen besprochen haben. Das war keine Redaktionssitzung, die fand beim Verlag, Gallimard, statt. Es waren reine Politdiskussionen … Sartre war ein unglaublich warmherziger Mensch, generös … Zum Beispiel gab es in seiner Wohnung ein Kaminsims mit einer Vase darauf. Da waren Geldscheine drin und jeder, der es brauchte, nahm sich Geld. Einmal habe ich auch genommen, weil ich die Miete nicht zahlen konnte. „Prenez, prenez … !“ sagte er dann. Er hat ja niemanden geduzt. Auch Simone de Beauvoir nicht. Durch das Réseau Jeanson waren wir viel beisammen. Als die Polizei uns immer näher kam, sagte er mir, ich sollte besser fortgehen aus Paris. 1961 wurde der kongolesische Ministerpräsident Patrice Lumumba in Katanga ermordet. Und der UN-Generalsekretär Dag Hammarskjöld kam im gleichen Jahr durch den ungeklärten Flugzeugabsturz ums Leben. Zum ersten Mal übernahm nun die UNO ein ganzes Land, den Subkontinent Kongo. Sie baute die Zivilverwaltung auf etc. und suchten also frankophone Mitarbeiter, die wegen der kolonialen Vergangenheit weder Belgier noch Franzosen sein durften. Da blieben noch die Haitianer, die Quebecer und die Schweizer … Ich habe sofort eine Stelle erhalten. Und Sartre hatte eh gesagt „C’est mieux de partir!“. Ich wurde der Assistent vom Sondergesandten von Hammarskjöld in Kinshasa.
JZ War Sartre auch in Zürich? AK Immer wieder … Sartre wurde in der Öffentlichkeit und in der Zürcher Presse heftig angegriffen. Wie sind Sie in das Umfeld von Jean-Paul Sartre gekommen? Sie haben ja in Paris studiert … JZ Ich war dort Mitte der Fünfzigerjahre in einer kommunistischen Jugendorganisation – „Clarté“, das war die Zeitschrift der Vereinigung kommunistischer Studenten. Die kommunistische Partei Frankreichs, PCF, hatte damals etwa 25 Prozent Wähleranteil – sie war also eine Grossmacht. Während des Algerienkriegs gab es 1956 Wahlen, die Sozialisten gewannen sie mit der Parole „Friede in Algerien!“, und auch Sartre unterstützte zunächst diese Regierung. Der neue Ministerpräsident Guy Mollet hat jedoch eine Kehrtwende gemacht und dann doch um Militärkredite gebeten, neue Jahrgänge der Armee aufgeboten etc. Und die kommunistische Partei Frankreichs hat die Militärkredite gesprochen! Wir von „Clarté“ aber haben uns dagegen ausgesprochen und Solidarität mit der Widerstandsbewegung bekannt. Wir wurden daraufhin aufgelöst und man hat uns aus der Partei ausgeschlossen – was damals ein Drama war! Zu dieser Zeit hat der Sekretär von Sartre, Francis Jeanson, der uns nahestand, eine militante Untergrundorganisation gegründet. Das „Réseau Jeanson“, welches für die algerische Widerstandsbewegung FLN verschiedene Transporte übernahm, falsche Papiere besorgte und so weiter. Da waren alle grossen Intellektuellen dabei. Ich war auch Mitglied. Ich, mittendrin, war ja nur ein kleiner Schweizer Student, konnte kaum Französisch. Ich hatte aber den Vorteil, einen Schweizer Pass zu besitzen. Und den habe ich alle drei Monate „verloren“, ging auf die Botschaft – dort habe ich
AK Sie kamen aber häufig zurück nach Paris und hielten auch Kontakt zu Sartre?
5
Jean Ziegler im Gespräch
AK Zürich hat ja mit Sartre eine besondere Geschichte. „Die schmutzigen Hände“ wurde noch im gleichen Jahr der Uraufführung in Paris, 1948, am Schauspielhaus zur deutschsprachigen Erstaufführung gebracht. „Die Fliegen“ vier Jahre zuvor ebenfalls.
gemäss Gesetz immer einen neuen bekommen. Einmal „gestohlen“, einmal „verloren“. Der alte ging immer an das Réseau Jeanson. Der Schutzpatron des Réseau Jeanson war Sartre. Er war natürlich ein totaler Gegner des Algerienkriegs. Sie kennen diese Geschichte. Er hat zur Desertion aufgerufen mit dem „Manifest der 121“. Den Appell von Sartre haben 121 Intellektuelle unterschrieben. (Übrigens nicht Camus, aber dazu vielleicht später.) Im Krieg zur Desertion aufrufen – das ist ein Strafdelikt! Allerdings hat de Gaulle gesagt: „Voltaire verhaftet man nicht!“. Aber alle anderen von Réseau Jeanson, die gefasst wurden – und viele wurden gefasst – haben hohe Gefängnisstrafen bekommen …
Jean Ziegler im Gespräch
„Hoederer? Das führt direkt zu Gerhard Schröder ... Zum Verrat! Zu Hartz IV!“
JZ An Weihnachten kam ich zum ersten Mal zurück nach Paris. Dort fand ich zu Hause einen Zettel aufgeklebt, wie es früher beim Réseau Jeanson auch üblich war: „Nehmen Sie Kontakt auf.“ Ich wusste mit wem. Ich bin zu Sartre rübergegangen. Und dann hat er mich ausgefragt. Als eurozentrischer Intellektueller war er ja nie in Afrika gewesen. Er hat mich ausgefragt wie ein Schuljunge. Verschiedene Nachmittage sass ich bei ihm an seinem grossen Schreibtisch. Viel später erst habe ich gemerkt, dass er damals am Vorwort schrieb für „Die Verdammten dieser Erde“ von Frantz Fanon – sein grösster Text über den Imperialismus. Ich kleiner Trottel konnte dem grossen Sartre den Imperialismus erklären! Wie immer hat er irgendwann im Gespräch plötzlich gesagt: „Je dois vous laisser.“ Er stand auf, öffnete einem die Tür – das war eine metallene Schutztür, weil es Attentate der Kolonialisten gegeben hatte, gegen Simone de Beauvoir und andere. Dann hat er sich umgedreht und das letzte, was man immer gesehen hat, war Sartre an seinem Tisch mit seinem grünen Stift.
AK Welche Beziehung hatten Sie zu Sartre, was bedeutet er Ihnen heute – im Rückblick? JZ Sartre verdanke ich wirklich sehr, sehr viel. Erstens hat er mir das intellektuelle Rüstzeug gegeben durch
etliche Diskussionen. Natürlich habe ich jede Zeile von ihm gelesen. Aber die Donnerstags-Diskussionen und die Unterhaltungen mit ihm – als ich als kleiner UNO-Mitarbeiter immer wieder zurückkehrte nach Paris – die waren prägend. Ich verdanke ihm auch den Eintritt in die Verlagswelt. Eines Nachmittags haben wir über die weissen Söldner in Katanga gesprochen, da sagte er plötzlich „Il faut écrire cela!“ – das müssen Sie schreiben. Und er meinte für „Les Temps Modernes“! Simone de Beauvoir hat meinen Text redigiert – alle Texte mussten ja „an ihr vorbei“. Im „Café de Flore“, dort sass sie zum Arbeiten immer am selben Tisch (zeigt ein Bild). Schön war sie. Nicht wahr? Und auch kalt wie ein Eiskübel. Also, ich hatte den Text geschrieben, darunter stand mein Name, Hans Ziegler. „Das ist doch kein Name!“, fand Simone de Beauvoir und hat Hans durchgestrichen und Jean geschrieben. Seitdem nenne ich mich Jean. Da wurde also ein 26-jähriger kleiner Schweizer aus Thun, Berner Oberland, in den „Temps Modernes“ publiziert – das war mein persönliches Wunder von Paris. Sartre hat dann eines Tages mit Gallimard telefoniert, mich empfohlen. So erschien 1964 „Sociologie de la nouvelle Afrique“.
KT Was haben Sie von ihm gelernt?
6
Jean Ziegler im Gespräch
JZ Natürlich hat er mich als Vorbild gelehrt, was ein Intellektueller sein muss. Im Sinne von Antonio Gramscis „organischem Intellektuellen“. Sartre lehrte mich, dass ein Intellektueller nur eine historische Existenz hat, wenn er in der Allianz lebt und seine Schriften auf deren soziale Effizienz hin prüft. Ein Buch ist nicht gut nach seinem Stil, seiner inneren Logik, sondern nur, wenn es nützt! Und es kann nur nützen, wenn das Buch Waffe wird im Kampf der Emanzipation. Das Mysterium der Inkarnation von Ideen hat Sartre umgetrieben bis zu seinem Lebensende: Unter welchen sozialen Bedingungen wird eine Idee zur materiellen Kraft? Das Problem der Inkarnation der Ideen haben Sie beim Theater auch. Wir können ja nichts als symbolische Güter produzieren. Wir können ja nichts Materielles machen. Was braucht es, damit diese symbolischen Güter materielle Kraft werden? Wie und wo passiert das? Sartre hat mir gezeigt, dass es einen materiellen und einen theoretischen Klassenkampf gibt. Also einerseits einen Kampf um die Bewusstseinsinhalte der Menschen. Der ist jetzt verloren, die neoliberale Wahnidee sagt ja, wirtschaftliches Geschehen sei naturgesetzlich begründet. Der Mensch ist heute so entfremdet, dass er nicht mehr Subjekt seiner eigenen Geschichte ist. Der materielle Klassenkampf ist aber nicht verloren,
der Kampf um die Produktionsmittel. Der theoretische Kampf war für die Marxisten immer sekundär, für Sartre war er prioritär. Darin liegt der Grund für seinen Bruch mit der kommunistischen Partei. Für Sartre haben ein Buch und ein Arbeitsstreik dieselbe Realität, dieselbe Bedeutung. Ausserdem habe ich von ihm gelernt, was ihm die radikale Unabhängigkeit bedeutete. Sartre ass häufig in „La Coupole“, Montparnasse. Am Tag als er den Nobelpreis erhielt und ablehnte, war er dort und das Restaurant voll mit Journalisten. Sie erlebten mit, wie Sartre – sonst ein sanfter Mensch, ironisch zwar, aber nie wütend – richtig zornig wurde: „Was kommt denen in den Sinn, da in Skandinavien, mein Werk zu beurteilen?“ Es waren die Massen, die sein Werk beurteilen sollten, aber nicht einige elitäre Literaturwissenschaftler. Aus seinem engsten Kreise protestierten einige: Er solle das üppige Preisgeld annehmen und es beispielsweise dem ANC (African National Congress) oder der ELF (Eritreische Befreiungsfront) übergeben. Sartre wollte nichts davon hören. Die absolute Unabhängigkeit, nur symbolische Güter zu produzieren, die die Autonomie des Subjekts sichern – das habe ich von Sartre gelernt.
KT Als Mensch lebte er aber auch eine grosse Lebensfreude vor; er umgab sich ja mit den
7
„Wir waren alle immer ein wenig eifersüchtig.“
Jean Ziegler im Gespräch
interessantesten und begehrtesten Menschen …
JZ
Was heisst möglich? Er ist nötig! Nötiger denn je! Wir befinden uns in der Diktatur des Raubtierkapitalismus und alle fünf Sekunden verhungert ein Kind. Also wenn diese Welt nicht radikal geändert werden muss …
JZ Sartre und die Frauen! Sartre sprach von „l’amour necessaire“ und „l’amour contingent“. Seine Liebe zu Simone de Beauvoir war die notwendige Liebe, mit anderen hatte er AK In „Die schmutzigen „kontingente Lieben“. Die Hände“ stehen zwei hatte er mit Olga, mit Figuren im Zentrum: Ein Wanda, mit Ursula Kübler junger Idealist, Hugo, und so weiter. Und ich habe seine Anziehungskraft erhält den Auftrag, den nie verstanden, er war Parteisekretär Hoederer zu Jean Ziegler mit Simone de Beauvoir doch eigentlich eher … ermorden. Das Stück im „Café de Flore“ in Paris hässlich. Wir waren alle spielt 1943. Den Auftrag immer ein wenig erteilt Olga, die im linken Flügel der kommunistischen eifersüchtig. Denn das Widerstandspartei waren ja unglaublich kämpft.Hoederer ist ein schöne Frauen, denen wir routinierter Politprofi und nur nachlaufen konnten – Gegner von Ideologien, meist ohne jeden Erfolg. der aufgrund der Sartre hingegen fuhr mit politischen Realität im Begriff ist, die Linie der eigenen ihnen in die Ferien und so weiter. Man kann schon Partei zu verraten. sagen, dass er ein Machogehabe pflegte, aber er hat sich auch immer um die Frauen gekümmert, JZ Und Hoederer stirbt … er hätte niemanden verstossen. Sie gehörten dann dazu, denn er hat sich immer sehr für die Menschen interessiert und das waren ja alles hochintelligente, AK … Hugo wiederum zögert, die Tat zu begehen, gerät kluge Frauen. Und er hat sich gedacht: Warum sollte zunehmend in eine existenzialistische Krise. Welcher ich nicht? So ist das Leben … der beiden Figuren stehen Sie näher, welcher Seite …? AK … gewesen. JZ (unterbricht ihn) Hugo! Eindeutig. Also Olga ist auch JZ Ich bin immer noch ein wenig eifersüchtig. nicht schlecht (lacht). Aber Hoederer? Das führt direkt zu Gerhard Schröder, zum Verrat! Zu Hartz IV! AK Wir sind auch eifersüchtig auf Ihre Erlebnisse mit (Pause) diesen Persönlichkeiten. Wenn wir uns das Denn die Idee des Engagements ist das zentrale anhören … ! Uns kommt das vor wie der Rückblick Thema dieses Stücks. Lassen Sie mich so beginnen: auf eine abenteuerliche Zeit. Während des Kriegs war Sartre ja nicht in der Résistance, er war auch nie in der kommunistischen JZ Zurück zu dieser Frage, sie ist von absoluter Partei. Zu der Zeit als „Les mains sales“ aufgeführt Aktualität: Was nützt ein Intellektueller? Das ist auch wurde, also 1948, hatte er die einzige politische der Titel des ersten Kapitels meines neuen Buchs Bewegung gegründet, in der er überhaupt je Mitglied „Ändere die Welt!“. war (das RDR, Rassemblement démocratique révolutionnaire). Die Frage des Engagements hat ihn AK Dennoch scheint dieser Aufbruch, die starke Linke, sein Leben lang umgetrieben und war letztlich diese besondere Atmosphäre auch mit Sartre als der Grund für den Bruch mit Camus, den Simone de Persönlichkeit zu tun zu haben. Warum, glauben Beauvoir als Chronistin der Bewegung ja in ihrem Sie, kann es eine solche Bewegung, eine solche autobiografischen Buch „La force des choses“ Atmosphäre heute nicht mehr geben? beschrieben hat. Camus schrieb in „Der Mensch in der Revolte“: „Der autoritäre Sozialismus hat die JZ Das ist doch komplett falsch. lebendige Freiheit beschlagnahmt zugunsten einer idealen, erst noch kommenden Freiheit.“ Dieses Buch KT Glauben Sie, ein ähnlicher Aufbruch und eine starke wurde in „Les Temps Modernes“ in Stücke gerissen. Linke sind heute wieder möglich? Sartre fand, einer, der Ideen hat und sie nicht
8
umsetzt, also sich nicht die Hände schmutzig macht, der hat keine Hände. Und das wird dargestellt in den „Schmutzigen Händen“. Ob nun Hugo gute Ideen hat, kann man diskutieren. Jedenfalls kann man „Die schmutzigen Hände“ nur verstehen, wenn man Sartres Konflikt mit Camus kennt. KT Können Sie das näher ausführen? JZ Als der Aufstand in Algerien begann, da war es für Sartre, de Beauvoir und die Anderen eine heilige Pflicht, ihn zu unterstützen. Sie haben in dem Aufstand die Inkarnation ihrer Ideen gesehen. Die Gelegenheit dem FLN zu helfen, war der Moment der Freiheit. Camus war in Algerien geboren. Seine Mutter, Analphabetin, arbeitete als Putzfrau in Oran. Er fürchtete um ihr Leben. Camus sagte: „Ich ziehe meine Mutter der Gerechtigkeit vor.“ Obwohl er im Prinzip für die Befreiung Algeriens sei: wenn es zum Entschluss komme, ziehe er seine Nächsten vor. Und das war für Sartre natürlich inakzeptabel. Zum wirklichen Bruch zwischen den beiden kam es wegen „Melusa“. Neben dem antikolonialen Befreiungskrieg gegen Frankreich gab es in Algerien ja gleichzeitig den Bürgerkrieg zwischen den beiden Befreiungsfronten, der FLN (die laizistische Befreiungsorganisation) und dem MNA (Mouvement national algérien). Das FLN hat die Bewohner des Dorfs Melusa massakriert, weil sie zum MNA gehörten. Camus fand, jetzt müsse man mit dem FLN brechen, denn sie begehen Verbrechen und da müsse sich der Intellektuelle zurückziehen. Sartres Antwort war: Wenn du für die Befreiung bist, dann kritisierst du nicht den Befreier, bevor nicht die Befreiung gelungen ist – auch wenn er Verbrechen begeht. Du musst effizient sein als Intellektueller. Die ganze Kolonialpresse hat sich nach „Melusa“ bestätigt gesehen, dass es sich bei der FLN um Verbrecher handle. Sartre hingegen hat in „Les Temps Modernes“ erklärt, warum die Verbrechen in Melusa ein blosser Unfall auf dem Weg zur Befreiung seien. Was folgte, war der Bruch mit Camus. Und dieser Bruch beginnt mit „Die schmutzigen Hände“; Sartre nimmt ihn hier im Grunde vorweg.
AK Was würden Sie dem jungen Hugo heute raten? JK Che Guevara hat gesagt: „Auch die stärksten Mauern fallen durch Risse!“ Und Karl Marx im berühmten Brief an Joseph Weydemeyer: „Der Revolutionär muss imstande sein, das Gras wachsen zu hören.“ Es entsteht ein neues historisches Subjekt, gemacht aus all den verschiedenen Widerstandsfronten. In meinem Buch gebe ich Beispiele der neuen planetarischen Zivilgesellschaft, die sich jetzt gerade formiert. Die ATTAC-Bewegung arbeitet gegen das spekulative Finanzkapital, die Greenpeace-Bewegung ist aktiv, die Frauenbewegung beispielsweise sehr stark in Lateinamerika und jetzt entstehen ähnliche Bewegungen auch in Afrika. Die Via Campesina vereinigt 142 Millionen Kleinbauern, Pächter, Tagelöhner, die in der südlichen Hemisphäre gegen den Landraub durch die Konzerne und die Hedgefonds kämpfen. Das sind alles soziale Bewegungen, die eines gemeinsam haben: sie funktionieren nicht nach einem Parteiprogramm oder nach einem Zentralkomitee. Ihr Motor ist der moralische Imperativ. Einem Hund, der einen Hund sieht, der geschlagen wird, passiert nichts. Wenn ich ein verhungerndes Kind sehe, erkenne ich mich sofort in ihm. Dieses Identitätsbewusstsein, das zu solidarischem Verhalten führt, ist verschüttet – bei den allermeisten unter uns, denn wir sind entfremdet. Bei jedem Vortrag, den ich halte, hebt am Ende jemand die Hand und sagt: „Es stimmt ja schon, was sie sagen. Aber ich kann doch nichts tun!“ Daran sieht man, dass die Entfremdung in Europa und speziell in Zürich enorm ist. Es gibt aber keine Ohnmacht in der Demokratie! Wir können jeden menschenvernichtenden Mechanismus jetzt sofort abschaffen!
KT Wenn wir Sartres Position auf heute übertragen wollen: Halten wir uns alle die Hände zu sauber? JZ Schmutzige Hände haben, ist dringender denn je! Intellektuelle, die Bücher schreiben, gibt es genug. AK Ihr aktuelles Buch „Ändere die Welt!“ steht nun auf der Spiegel-Bestsellerliste. JZ Das ist gut so. Es soll ein Handbuch des Kampfs sein, kein Buch der Utopie. Vergangenes Jahr haben die 500 grössten Konzerne der Welt 52,8 Prozent des Welt-Bruttosozialprodukts kontrolliert, also aller
9
Jean Ziegler im Gespräch
in einem Jahr produzierten Reichtümer. Die haben eine Macht, wie es kein Kaiser, König oder Papst je gehabt hat auf diesem Planeten. Sie entfliehen jeglicher sozialer Kontrolle, sind sehr, sehr viel stärker als die grössten Nationalstaaten, als die UNO, als die Gewerkschaften. Sie funktionieren nach dem Prinzip der Profitmaximierung und haben eine Legitimationstheorie, nämlich die neoliberale Wahnidee, wirtschaftliches Geschehen sei nicht mehr menschliches Tun, sondern gehorche Naturgesetzen. Dieser Weltdiktatur des Finanzkapitals stehen die Leichenberge in der Dritten Welt gegenüber; alle fünf Sekunden verhungert ein Kind unter zehn Jahren. Eine Milliarde Menschen sind permanent schwerstens unternährt invalid, verkrüppelt auf Lebenszeit. Der World-Food-Report sagt, dass die Landwirtschaft, so wie sie heute ist, problemlos 12 Milliarden Menschen ernähren könne. Also fast das Doppelte der heutigen Weltbevölkerung. Das heisst: das Kind, das an Hunger stirbt, wird ermordet. Das ist die kannibalische Weltordnung. Gegen die muss man aufstehen.
Jean Ziegler im Gespräch Videostill aus „Die schmutzigen Hände“: Milian Zerzawy als Louis, Isabelle Menke als Olga und Jirka Zett als Hugo (v. l.)
Die Zeit des Nationalstaats, die mag vorbei sein. Er verliert seine Souveränitätsrechte wie ein Schneemann im Frühling. Auch Parteien sind völlig unbedeutend und die repräsentative Demokratie – ich nenne sie ja „die simulative Demokratie“ – alle vier Jahre wird abgestimmt … Dass diese neue planetarische Zivilgesellschaft, der Aufstand des Gewissens, wirklich sehr nahe ist, das sieht man auch daran, dass mein Buch auf der Bestsellerliste steht. Das ist nicht, weil es ein so geniales Buch ist, sondern weil eine Unruhe da ist. Die Menschen merken: etwas stimmt nicht. Zum ersten Mal in der Geschichte ist der Mangel an Lebensmitteln de facto überwunden. Stellen Sie sich vor: Marx stirbt am 17. Februar 1883 in seinem einzigen Lehnstuhl und bis zum letzten Atemzug an diesem Tag hat er geglaubt, dass das „verdammte Paar“ des Herren und des Sklaven, die um die Güter kämpfen, die Menschheit noch Hunderte von Jahren begleiten wird. Dass der objektive Mangel eine feste
Begebenheit der Menschheit sein wird. Aber er ist überwunden. Und deshalb ist diese kannibalische Weltordnung so absurd. „Böse sein ist schwer“, sagt Brecht. Das können bloss einige Leute von der SVP. Oder die Geldsäcke von der Zürcher Bahnhofstrasse, die Banken-Banditen. Der normale Mensch kann sich nicht einbetonieren. Deshalb wird Ihr Stück ein grosser Erfolg. AK Dann ist Hoederer ein Politiker von gestern? JZ Ja. KT Das Stück beginnt mit einer Szene, in der sich Hugo sehnlichst wünscht, einen Auftrag von der Partei zu erhalten. Er möchte als Held, gar als Märtyrer enden. Da schimmert ja auch ein Narzissmus durch. Ist Hugo trotzdem dieses „neue historische Subjekt“? Meinen Sie, dass wir solche Hugos wieder brauchen?
10
„Ein Buch ist nicht gut nach seinem Stil, seiner inneren Logik … sondern nur, wenn es nützt!“
AK Warum steht die Jugend nicht auf, wie damals, und bezieht Stellung? JZ Ich nehme es anders wahr. Im Juni findet das nächste G7-Treffen statt, in den Bayrischen Alpen in einem Berghotel. Man kann dort nicht, wie in Heiligendamm 2007, wo Zehntausende Menschen in Zeltlagern demonstrierten, anreisen. Deswegen findet die Gegendemonstration in München statt, vom 5. bis 7. Juni. Ich werde auch dort sprechen. Und wenn ich höre, was dort mobilisiert wird, würde ich nicht sagen, dass nichts passiert: das Bistum München, die Jesuiten, die Grünen, die Frauenbewegung, die ATTAC-Bewegung, alle Altersklassen, alle philosophischen Denkfamilien, alle sozialen Klassen … Es ist eine transklassizistische, existenziell getriebene kollektive Praxis, die zutage treten wird in München.
Trotzki. Getarnt als ornithologischer Kongress, um der Bundespolizei zu entkommen. Und dort unternehmen die sozialistischen Parteien den letzten Versuch, den Krieg zu stoppen. Und zwei Lager bekämpfen sich. Rosa Luxemburg sagt: „Wir müssen die Arbeiter dazu aufrufen, sofort nach Hause zu gehen, die Gewehre niederzulegen. Kein Arbeiter aus Berlin darf auf einen Arbeiter aus Grenoble oder Lyon schiessen. Denn sie gehören zur gleichen Klasse.“ Lenin hingegen sagt: „Wie durch ein Wunder ist das Proletariat nun bewaffnet und man muss die Gewehre umdrehen! Gegen die Herrschaftsklassen in Berlin, Rom, Paris und Wien!“ Und der Kongress war gelähmt, steckte fest zwischen diesen beiden Positionen. Der Krieg ging weiter … Daher nehme ich also diesen Satz. Die Waffen sind natürlich heute die demokratischen Waffen. Morgen können wir die Börsenspekulation auf Grundnahrungsmittel, die Millionen Opfer kostet, stoppen. Die totale Entschuldung der ärmsten Länder – wir könnten sie durchführen. Die Waffe haben wir, es ist das Grundgesetz. Voltaire hat gesagt: „Die Freiheit ist das einzige Gut, das sich nur abnützt, wenn man es nicht benutzt.“ Es gibt keine Ohnmacht in der Demokratie. Jean Ziegler: „Ändere die Welt! Warum wir die kannibalische Weltordnung stürzen müssen“ Verlag: C. Bertelsmann, 2015
AK Ich möchte Sie noch nach dem Titel ihres Buches auf Französisch fragen. Er lautet „Retournez les fusils! Choisir son camp“. Im Deutschen lautet der Titel „Ändere die Welt!“ und ist ein Zitat aus dem Stück „Die Massnahme“ von Bertolt Brecht. JZ „Retournez les fusils!“ – „Dreht die Gewehre um!“ Das ist ein Ausdruck von Lenin. Erster Weltkrieg, 1915: die fürchterliche Schlächterei zwischen deutschen, französischen, italienischen und österreichischen Arbeitern, die alle derselben Internationalen Arbeiterassoziation angehört hatten, die 1864 von Karl Marx gegründet worden war. Ein Jahr nach Kriegsausbruch kommen 38 kommunistischsozialistische Revolutionäre in der sogenannten Zimmerwalder Konferenz in der Nähe von Bern zusammen. Darunter Männer und Frauen wie Clara Zetkin, Rosa Luxemburg, Fritz Platten, Robert Grimm,
Die schmutzigen Hände von Jean-Paul Sartre Regie Stefan Pucher Mit Robert Hunger-Bühler, Henrike Johanna Jörissen, Isabelle Menke, Johannes Sima, Milian Zerzawy, Jirka Zett Premiere am 13. Mai im Pfauen Unterstützt vom Zürcher Theaterverein
11
Jean Ziegler im Gespräch
JZ Hugo will sich engagieren, das wollen die Menschen. Das ist der Wille zur Inkarnation, das ist universell. Der Mensch weiss, was er nicht will. Wir kennen auch den „Horizont“ nach Ernst Bloch. Er lebt in uns als Utopie: die gerechte, befreite Welt. Aber wie wir da hingelangen, das muss jeder selbst entscheiden. Und der tiefste Motor ist die existenzielle Entscheidung, nicht das Parteiprogramm. Und deswegen ist dieser Hugo so illustrativ für die Zivilgesellschaft heute. Und darum ist der Hugo auch so glaubwürdig. Der Mensch funktioniert ja aus existenziellen Motiven heraus. Was uns bewegt, sind die Gefühle, die Obsessionen, die Träume, die Ängste … All die „infrakonzeptuellen“ Motive, die in uns sind, sind ja sehr viel stärker als jede analytische Vernunft. Darum ist Hugo eine absolut exemplarische, eine demonstrative Figur für die neue planetarische Zivilgesellschaft. Ich finde es grossartig, dass Sie das Stück aufführen.
Hausbesuch
„Gnade, Herrin!“
In einem rituellen Akt erproben zwei Zofen die Vergiftung ihrer Herrin. Sie durchleben ein Spiel von Dominanz und Unterwerfung. Jean Genet nahm in seinem Kammerspiel „Die Zofen“ von 1946 grundlegende Themen vorweg, die das moderne Theater bis heute prägen: Die Verhältnisse von Spiel und Realität, Identität und Macht. Nicht zuletzt deshalb wurden „Die Zofen“ zum meistgespielten Stück des skandalösen Dichters. Bastian Krafts Inszenierung mit Oliva Grigolli, Lena Schwarz und Susanne-Marie Wrage läuft seit Mitte April im Pfauen. Das Produktionsteam besuchte Herrin Ariadne, die seit 25 Jahren als Domina im Geschäft ist, um herauszufinden, wie eine Person, deren Beruf auf einer Vereinbarung zwischen Herrschaft und Unterwerfung basiert, darüber berichtet. 12
Iri na vo M n ül le r
Der Empfang In einer Ecke steht ein Thron mit schwarzem Samt überzogen, daneben ein Holzstuhl mittelalterlichen Flairs mit eisernen Handbefestigungen an beiden Armlehnen. Klar, welchen Platz die Herrin – die für all ihre Sklaven unberührbar ist – einnimmt, wenn sie empfängt. Die Rollenverteilung zwischen dem Sklaven und der Herrin ist schon von der ersten Kontaktaufnahme an festgelegt, betont Ariadne, als wir wie verabredet im Keller ihres alleinstehenden Hauses am Rande von Winterthur eintreffen. Dass ein Sklave sie jemals duzen würde: Tabu!
Die Offenheit und die praktische Art, mit der Herrin Ariadne uns staunenden TheatermachernInnen ihre Foltergeräte erläutert, machen deutlich, wie selbstverständlich sie mit den Abgründen erotischen Verlangens umzugehen weiss. Ihre Schilderungen sind frei von Wertungen und zeugen von Lust am Spiel und Interesse an den Fantasien ihrer Kunden. Oft ist es so, dass die Geschichte, die sie zusammen mit ihren Sklaven durchspielt, im „wahren Leben“ beginnt. Dafür hat sie verschiedene Szenarien erfunden, wie etwa die Geschichte mit dem Einbrecher: Ihr Kunde bekommt eine E-Mail von einem ominösen „Joe“, der ihm verrät, dass er als Elektriker in einem Keller war, wo eine Domina viele Latexsachen im Schrank aufbewahrt. Wagt dann der Kunde in den Keller „einzubrechen“, wird er bereits an der Tür von Herrin Ariadne überwältigt. Oder es gibt das Szenario, dass der Kunde sie im Baumarkt „zufällig“ trifft. In der Eisenwarenabteilung soll er sich etwas Kreatives einfallen lassen, wie er sie ansprechen will – sie höre Sätze wie: „Kennen wir uns nicht von irgendwoher?“ Daraufhin lädt sie den Kunden auf einen Kaffee ein. Sie gehen zusammen zu ihrem Auto; selbstverständlich muss er dabei ihre Taschen tragen.
13
Hausbesuch
Sie ist eine eindrückliche Erscheinung: gross, blondes, streng zurückgekämmtes Haar, adrettes, elegantes Kostüm, Lederhandschuhe. Ihre tiefe Stimme helfe ihr dabei, glaubwürdig zu erscheinen und die Kunden unmittelbar ins Spiel hereinzuziehen. Fast könnte man sich im Filmset zu Genets einzigem eigenen Kurzfilm „Un chant d’amour“ von 1950 wähnen. Darin lässt Genet, der zeitlebens immer wieder im Gefängnis sass und sich im Untergrund umtrieb, in einer sinnlichen Bildsprache ein homoerotisches Verhältnis zweier Zellnachbarn entstehen. Der Keller von Herrin Ariadne hat ebenfalls zwei durch Gittertüren vom restlichen Raum abgetrennte Zellen. Aber anstelle einfacher Pritschen finden sich darin nebst einem Gitterwagen mit Seilen und Lederfesseln ein Vakuumbett, ein sogenannter Bodenpranger und ein gynäkologischer Stuhl. Aus Lautsprechern ertönt hochpeitschende Abenteuermusik, Fackeln brennen, Gerätschaften aus Leder und Metall stehen zur Anwendung bereit: Wir sind in einer anderen, einer erfundenen Welt. Nur der Schmerz ist hier echt und sorgt für höchste Lust.
Hausbesuch
Im Auto mit verdunkelten Scheiben werden ihm ein Sack über den Kopf gestülpt und Fesseln angelegt. „Das kommt davon, wenn man im Baumarkt fremde Frauen anspricht“, schilt dann die Herrin.
Die Session Was genau in einer Session geschieht, hängt ganz von Herrin Ariadnes Stimmung und der des Sklaven ab. Als Herrin brauche sie die Reaktion des devoten Kunden, um Authentizität zu bewahren. Und das interessiere sie am Praktizieren von SM (Sadomasochismus): das „real life adventure“, die Authentizität, die sich aus dem Spiel heraus formen und erleben lässt. Dieses Verschwimmen zwischen Realität und Spiel wird in der 24 Stunden dauernden „Albtraum-Torture“ quasi vollendet. Hier wird der Sklave auf eine Wanderung gelockt und in den Bergen in eine Hütte entführt. Was im Keller manchmal zu kurz kommt, kann dort ganz zum Zuge kommen: das Dienen. Der Reiz an SM ist für Herrin Ariadne nicht sexueller Art. Ihr geht es um eine psychische Bestätigung: Sie sieht sich klar als dominante Frau und sagt, sie brauche den Respekt, den sie von ihren Sklaven bekomme. Viele Kunden suchen weniger sexuelle Befriedigung, sondern berauschen sich vorwiegend am Akt des Dienens. Ein Akt, der bis ins Kleinste kultiviert wird. Es sind ausschliesslich Männer, die aber aus ganz unterschiedlichen Milieus und Berufen stammen. Heute hat sie ausgewählte Stammgäste, die sie regelmässig besuchen und deren Leben sie teilweise komplett bestimmt. Dies reicht von Gewichtskontrollen bis hin zur vollkommenen Lebensgestaltung für einen Sklaven, der nur für die Sessions mit seiner Herrin lebt.
Herrin Ariadnes herzliches, raues Lachen hören wir während des Gesprächs oft. Dass Herrin und Sklave bei ihrem Spiel auch mal in schallendes Gelächter ausbrechen, gibt es nicht. Aber ein amüsiertes, freundliches Lächeln, das gehört für Herrin Ariadne immer dazu. Es sei Teil der Erniedrigung des Sklaven und erhöhe die Subtilität des Machtspiels, erklärt sie. Trotz ihrer langjährigen Erfahrung überraschen sie ihre Kunden immer wieder mit neuen und unerwarteten Fantasien. Was die Männer verbindet, sind ihre Neigungen. Die lassen sich ausdifferenzieren in Devotismus, Masochismus, Flagellation, Latexfetisch, Schuh- und Strumpffetisch, Atemreduktion in Verbindung mit Masken. Und schliesslich gibt es die „Pet-Player“. Das sind diejenigen, die Hunde oder Pferde sein wollen und Sulkis, kleine Wägelchen, ziehen. Auch das berichtet Herrin Ariadne ohne es zu bewerten: „Die Erniedrigung als solche ist eine Befriedigung und ich finde, es gehört viel Mut dazu, diese auszuleben und sich den Demütigungen einer Frau auszusetzen. Das respektiere ich.“ Herrin Ariadne mag es, wenn die Gäste mit präzise ausformulierten Fantasien zu ihr kommen. Das sei kein Bruch des Herrin-Sklave-Verhältnisses und sie freue sich über die Erweiterung ihres Repertoires. Es geht hier weniger um Rituale und zeremoniell durchspielte Prozeduren, wie man meinen könnte, wenn man den Genet-Kosmos mit den Spielen in Ariadnes Keller vergleicht. Das Eingespielte und Immergleiche langweile sie und dann sei sie schlecht in ihrer Rolle. Wenn ein Sklave besonders schüchtern sei, dann könne dies schon mal vorkommen. Eine Session gleiche dann einer Theateraufführung vor Publikum, das keine Reaktion zeigt.
Dutzende, mit viel Liebe zum Detail hergestellte Fetischinstrumente bewahrt Ariadne wie Reliquien auf. Sie zeigt uns ein Objekt, das sie am Tag zuvor benutzt hat. Was im ersten Augenblick aussieht wie Jesuslatschen, sind in Wahrheit kunstvoll mit Dornen versehene Lederschuhe. Man möchte sie im Museum ausstellen. Schon in der Vorstellung wandelt sich der Schmerz, den sie dem Sklaven zufügen, zu transzendenter Lust. Lust und Schmerz haben eine komplexe Wechselwirkung und finden im Spiel zueinander. Genet spielt dies in seinem Stück auf vielen psychologischen Ebenen im abgeschirmten Schlafzimmer einer gnädigen
14
„Eine Handbewegung von mir würde genügen und du würdest aufhören zu existieren.“ Aus „Die Zofen“ von Jean Genet
Hausbesuch
Frau durch. Dabei variieren die Abhängigkeitsverhältnisse zwischen Herrin und Dienerinnen und die Möglichkeiten von oben und unten ständig, bis das Spiel zum Schluss in tödlichen Ernst kippt. Für Herrin Ariadne wiederum bedeutet Arbeit am Schmerz Präzision: Vor dem ersten Treffen beschreibt der Sklave auf einer Skala von 1 bis 10, wie viel Schmerz er bereit zu ertragen ist. Die Sado-Maso-Praxis ist auch für sie ein komplexes Spiel, bei dem Körper und Geist gekoppelt sind: Ein Sklave muss spüren, dass die Herrin nach Lust und Laune mit ihm umgeht, ihn als Spielzeug benutzt. Aber dieses Spiel kann für den Sklaven nur dann lustvoll sein, wenn eine fragile Balance zwischen Überraschung und Vertrauen eingehalten wird. Erst wenn der Sklave spürt, dass die Herrin nicht einfach willkürlich zuschlägt, kann er Schmerzen aushalten, vor denen er sich fürchtet – dies bringt ihm den Kick. Laut Herrin Ariadne ist das höhere psychologische Ziel hinter dem Aushalten des Schmerzes, der Herrin zu gefallen und sie mit tapferem Durchhalten zu beeindrucken. Auch Genets Zofen, die Schwestern Claire und Solange, beten ihre gnädige Frau an: Heimlich tragen sie ihre Roben, imitieren ihren Gang und ihre Posen. Und sie suchen im Mord die „Schönheit
des Verbrechens“. Herrin Ariadne ist sich bewusst, dass sich immer auch etwas Mütterliches in ihrer Rolle verbirgt. Sie verkörpert eine Mischung zwischen der Frau, die man anbetet, und der eigenen Mutter – oft seien die Fantasien der Sklaven von vorpubertären Schlüsselerlebnissen geprägt. „Frau Doktor“ spielt denn auch eine grosse Rolle in den Fantasien der Kunden. Eine der Zellen ist folgerichtig als „white room“ gestaltet, die Arztspielen vorbehalten bleibt. Neben dem gynäkologischen Stuhl hängen Kittel und Mundschutz, überall sind Spiegel angebracht. In dieser Zelle werden Klistiere gesetzt, Nadelspiele gemacht und auch mal eine Spritze an empfindlichen Körperteilen verabreicht. Das muss man können. Herrin Ariadne hatte nie eine Lehrmeisterin. Abgesehen von diesen medizinischen Praktiken, die sie professionell erlernt hat, habe sie sich das meiste über die Jahre selbst beigebracht – „learning by doing“, wie sie sagt. Egal ob bei Fesselspielen oder beim Einsperren in ein sarggrosses Verliess, bei dem der Kunde unter der Erde liegt und mit ferngesteuerten Stromstössen gequält wird – letztlich geht es um den absoluten Kotrollverlust.
15
Hausbesuch
„Die Erniedrigung als solche ist eine Befriedigung. Es gehört viel Mut dazu, diese auszuleben. Das respektiere ich.“ Herrin Ariadne
Um einen Mann ins Vakuumbett zu schnallen, benutzt Herrin Ariadne einen Staubsauger: Der Sklave steigt in eine neoprenartige Matratze, aus der die Luft gesaugt wird, so dass er sich darin kein bisschen mehr bewegen kann und nur ein kleines Ventil zum Atmen bleibt. Dieses kann Herrin Ariadne als Höhepunkt auch noch zuhalten. Ein Augenblick höchster Intimität. Der Kunde lässt sich fallen, gibt sich der Macht der Herrin hin. Während Ariadne die Verantwortung für ihn trägt, empfindet der Sklave Geborgenheit. Er taucht ganz in seine innere Welt, in seine eigenen Fantasien ein, erlebt Wahrnehmungsveränderungen und eine tiefe Sensibilisierung. Gefesselt, geknebelt oder verhüllt mit einer Maske – die Herrin muss teilweise allein anhand der Atmung wissen können, wie es ihrem Sklaven geht. Ein sogenanntes „Mayday Wort“, ein Stoppsignal, wird nur dann vereinbart, wenn jemand damit spielen und über seine Grenzen hinausgehen möchte. Die vereinbarten Hilferufe können dann von der Herrin im Spiel gezielt übergangen werden. „Gnade, Herrin“ ist das herkömmliche Signal dafür, dass ein Spiel zu weit geht. Damit kann man Herrin Ariadne milde stimmen, dann lässt sie grosszügig Gnade walten; das Spiel muss deswegen aber nicht unterbrochen werden. Bei aller Brutalität brauche sie vor allem eins: Feingefühl. Auch die Stimmung in einer Session sei fragil. Um diese Konzentration regelmässig aufs Neue herzustellen, müsse sie die Menschen lieben. Wirklich gefährlich werde es nie, aber es könne schon mal vorkommen, dass jemand ohnmächtig wird oder eine Panikattacke bekommt. Dann reagiert sie aber sofort mit ganz klarem Kopf. Das Spiel wird abgebrochen, der Kunde beruhigt und langsam wieder in die Realität begleitet.
Realität verschwimmen, merken wir, als sie erzählt, dass sie auch mal mit einem Sklaven essen gehe, sogar in Restaurants, wo man sie und ihren Beruf kennt. Auch wenn das Spiel als Herrin Ariadne für sie manchmal etwas Gespaltenes hat, grundsätzlich sieht sie sich als Schauspielerin mit einer sehr verinnerlichten Rolle. Im Unterschied zu den Schauspielerinnen in „Die Zofen“ lebt sie seit 25 Jahren mit derselben Rolle. Die Figur der Herrin Ariadne sei eben vor 25 Jahren geboren worden und so haben sie sich zusammen entwickelt, sind zusammen älter geworden. Ihre Rolle hat sie jedoch nicht so vollständig verinnerlicht wie die Zofen, die am Ende die Schwelle überschreiten und zwischen Spiel und Ernst nicht mehr unterscheiden. Was sie sich wünscht: dass ihre Figur irgendwann ein Mythos wird. Eine Legende, an die man sich erinnert. „Aber die wahre Herrin Ariadne, die bin nicht ich.“
Danach Während ihrer 25-jährigen Erfahrung als Herrin hat Ariadne beobachten können, wie sich der Stellenwert und die SM-Industrie verändert haben. Vom nicht computermanipulierten Foto in einem abgepackten Magazin mit limitierter Auflage hin zu einem überbordenden Angebot im Internet. Angst um die Zukunft ihres Metiers hat sie nicht – dieses gab es schon zu Zeiten Marquis de Sades und wird es immer geben, meint sie. Was sie eher skeptisch betrachtet, ist, dass es so viele junge Damen gibt, die gerne auf DatingPlattformen mit vielversprechenden Fotos werben und dann aber nicht einhalten können, was sie versprechen. Die Hemmschwelle für einen Enttäuschten, es andernorts noch einmal zu versuchen, sei dann einfach grösser. Um die Erlebnisse im Keller hinter sich zu lassen, braucht auch Herrin Ariadne Zeit. Diese findet sie während des Putzens, das schon mal ein bis zwei Stunden dauern kann. Deshalb weist sie auch die auf der Hand liegende Lösung, Putzsklaven anzustellen, ab. Sie braucht diese Zeit, um wieder in ihren Alltag zurückzukommen. Dass nicht nur im Keller die Grenzen zwischen Spiel und
Die Zofen von Jean Genet Regie Bastian Kraft Mit Olivia Grigolli, Lena Schwarz, Susanne-Marie Wrage Bis 24. Juni im Pfauen
16
Diskutieren, lachen, rauchen – oder nicht rauchen … Love/No Love
17
Ev a
Ende März begannen die Proben zu René Polleschs neuer Produktion „Love/No Love“, bei der neben Inga Busch, Nils Kahnwald und Marie Rosa Tietjen schon zum zweiten Mal ein Zürcher Sprech- und Bewegungschor mitspielt. Hinter den Kulissen ist die Studentin und Dramaturgiehospitantin Eva Luzia Preindl dabei, die die besondere Arbeitsweise von René Pollesch zum ersten Mal erlebt und hier aus ihrer ganz persönlichen Sicht vom Probenstart berichtet.
Lu vo zi n a Pr ei nd l
Der Herrensprechchor in „Herein! Herein! Ich atme euch ein!“, René Polleschs letztjährige Arbeit am Schauspielhaus
Love/No Love
Im Laufe meines Theaterwissenschafts- und Germanistikstudiums habe ich viel über René Polleschs Theater und seine Arbeitsmethode gelesen. Als einer der wichtigsten zeitgenössischen Regisseure sind seine Arbeiten Seminarthema und seine Inszenierungen Gegenstand theatertheoretischer Analysen. Nun habe ich als Dramaturgiehospitantin die Möglichkeit, den Probenprozess von „Love/No Love“ selbst mitzuerleben. Dienstag, 24. März, 18 Uhr. Erster Probentag: Es ist ein grosses Team, das sich auf der Probebühne versammelt. Der Bühnenbildner und die Kostümbildnerin samt AssistentInnen und HospitantInnen, die Dramaturgin, die Schauspieler Nils Kahnwald, Marie Rosa Tietjen und Inga Busch – in Begleitung ihres Hundes „Freitag“ –, die Souffleuse, die Chorleiterin, der etwa zwanzigköpfige Männerchor – und natürlich René. Man begrüsst einander oder stellt sich vor, dann geht es schon in medias res. Die Kostüme werden präsentiert und gemeinsam sehen wir uns den animierten Kurzfilm „el empleo“ an, in dem Menschen Gegenstände, beispielsweise Tische, Kleiderständer oder Ampeln darstellen. René hat die Idee, dass sich der Chor im Stück unter anderem zu Möbeln oder zu Wänden formieren könnte. Über die Rolle des Chors ist aber noch nicht entschieden, sie wird sich im Verlauf der Proben weiterentwickeln. Für den Männerchor gibt es schon eine erste Textpassage. Die Chorleiterin Christine Gross und der Chor ziehen sich zurück, um diese „anzulegen“ und einzustudieren. Auch für die Spielerinnen und Spieler gibt es schon ein paar erste Seiten, die ich rasch kopiere. An diesem ersten Probentag erzählt René viel über das, was ihn gerade beschäftigt. Es sind aktuelle Ereignisse und Entwicklungen, die er mit theoretischen Unterlagen zu beschreiben versucht. Darunter fällt auch der Begriff
„Netzwerkopportunist“, über den wir in den darauffolgenden Tagen noch viel rechechieren werden. Ich habe die Aufgabe, Eckpunkte der Gespräche zu notieren; also schreibe ich auf, dass die Sozialwissenschaftler Boltanski/Chiapello darunter eine Person verstehen, die zeitweise in einem Unternehmen arbeitet und Profit daraus schlägt, dass sie an die Kontakte und Informationen des Unternehmens kommt, die eigenen aber nicht preisgibt und damit letztlich als Gewinner hervorgeht. Es ist sehr anregend, dass René mit Aktuellem arbeitet. Wir suchen im Gespräch die unsichtbaren Mechanismen, die uns in unserem Alltag beeinflussen, politische Ereignisse und persönliche Erlebnisse können gleichermassen Beispiel sein. Er betont auch immer wieder, dass die Sachverhalte, die er auf die Bühne bringen möchte, unmittelbar mit uns zu tun haben sollen. Es geht ihm nicht darum, dass die SchauspielerInnen sich des Problems eines anderen annehmen, um stellvertretend für ihn zu sprechen, wie es das Repräsentationstheater für sich beansprucht. Dann erzählt er, wie es zu dem Titel „Love/No Love“ gekommen ist. Der Film „Smoking/No Smoking“ von Alain Resnais hat ihn dazu inspiriert. Eine Figur trifft die banale Entscheidung, eine Zigarette zu rauchen oder nicht, was völlig unterschiedliche Fortgänge der Geschichte mit sich bringt. Der Film zeigt acht verschiedene Enden. René möchte sich diesen Film gemeinsam mit den SchauspielerInnen ansehen, also bestelle ich ihn gleich via Internet. Nachdem die ersten Textseiten gemeinsam gelesen und diskutiert wurden, verabredet man sich in „Les Halles“ zu einem gemütlichen Ausklang des ersten Treffens. Auch am nächsten Morgen kommen wir wieder auf der Probenbühne zusammen, wir lesen, besprechen, lachen und „rauchen/rauchen nicht“. Die Atmosphäre ist angenehm und produktiv. Die SchauspielerInnen haben
18
„Ich will keine Geschichte bewohnen, sondern meine vier Wände, also bleib jetzt endlich steh’n, Wand!“
Aus „Love/No Love“
zu den Diskursen, die René in den Raum geworfen hat, rechechiert und berichten von AlgorithmusDokumentationen, Auswahlverfahren von „Parship“ und Strategien für Suchmaschinenoptimierung. René bringt auch immer wieder neue theoretische Texte mit zur Probe. Ausserdem überrascht er uns Tag für Tag mit mehr Stücktext, den er meist am Vormittag verfasst. Darin finden sich die Ideen und Diskussionen der Vortage, eingebettet in Dialoge zwischen den Spielerinnen und Spielern und dem Chor. In den szenischen Proben am Nachmittag überprüft er als Regisseur, wie die Texte wirken und es wird gemeinsam mit dem Team diskutiert, welche Passagen und Themen noch konkretisiert oder wieder gestrichen werden könnten. So läuft der Entstehungsprozess des Stücktexts ab, in den alle Beteiligten involviert sind. Jetzt erst kann ich richtig nachvollziehen, was René in zahlreichen Interviews unterstreicht, nämlich warum er seine Texte nicht zum Nachspielen für andere Regisseure und Ensembles freigibt – sie sind unzertrennbar mit den SchauspielerInnen und der Probenarbeit, in deren Kontext sie entstanden sind, verbunden. Nach fünf Probetagen treffen die SchauspielerInnen wieder auf den Chor, der in den vergangenen Tagen separat mit der Chorleiterin weitere Texte einstudiert hat. Man prüft schon einmal, wie sich die ersten Dialoge zwischen den SchauspielerInnen und der Männertruppe anhören. René gefallen vor allem jene Momente, in denen der Chor frech wirkt oder etwas ganz Unerwartetes sagt. Er schlägt ausserdem vor, dass der Chor und die SchauspielerInnen mehrere Passagen „auf Anschluss“ sprechen, also keine Pause zwischen den Repliken lassen. Durch diese Sprechweise bekommt der Text eine grosse Dynamik und den besonderen Humor. René beschreibt nun auch den Chormitgliedern seine Gedanken und Arbeitsmethode näher und fordert sie auf, Vorschläge zu machen und zu sagen, wenn sie Textstellen nicht mögen oder so nicht sagen möchten. Schliesslich wechseln wir in der zweiten Woche auf eine andere Probebühne im Schiffbau, wo nun das Bühnenbild von Bert Neumann für die szenische Arbeit „markiert“ ist. Es handelt sich um einen schlichten, neon-orangen Grundraum, auf dessen Boden zwei Wohnungsgrundrisse gemalt sind. Die Farbe ist noch nicht so grell wie die Originalbühne sein wird, dennoch muss sich das Auge erst daran gewöhnen. Auch das nimmt René in den Text auf: „Ich meine, sieh dir mal diese Farbe an, das ist doch nicht auszuhalten. Da denkt man doch glatt, dass die einen ansieht“, sagt Marie. Hier bezieht sich René zugleich auf einen Text des slowenischen Philosophen Slavoj Žižek. Er heisst: „Ich höre dich mit meinen Augen“. Žižek beschreibt darin eine Sequenz aus einem Hitchcock-Film, in dem sich die Protagonistin einem geheimnisvollen Haus nähert und es betrachtet. Das verstörende für die Zuschauer sei das Gefühl, dass das Objekt, das sie betrachtet, ihren Blick
erwidert. „Vielleicht, weil diese Scheissfarbe einfach so grell ist“, lautet die Antwort des Chors im Stücktext. Die Vermischung von Theorie und Unterhaltung ist eines der Markenzeichen von Polleschs Theater: Zwischen Filmelementen und -zitaten, Musik und Slapstick werden theoretische Diskurse manifest und somit plötzlich praktisch, lebensnah und erfahrbar. Es macht sehr viel Spass, zuzusehen und zu beobachten, wie in kollektiver Arbeit ein Theaterabend entsteht. Bevor sich alle in die Osterferien verabschieden, spricht der Regieassistent noch einmal die Probenzeiten an – bis zur Premiere am 9. Mai stehen noch fünf Wochen Arbeit …
Love/No Love
Love/No Love von René Pollesch Uraufführung Regie René Pollesch Mit Inga Busch, Nils Kahnwald, Marie Rosa Tietjen und Sprechchor Premiere am 9. Mai im Schiffbau/Box
19
On the Town
„Oski“ on the Town
Der Idaplatz liegt ruhig, einige sitzen im kühlen Frühlingswetter schon auf den Parkbänken beieinander, vor dem Kiosk diskutieren zwei, die Sportsbar hat noch zu ... Mike Müller ist hier mit Oskar „Oski“ Kuhn verabredet – im Kreis 4 in den ruhigsten Stunden, nämlich zum Mittagessen. Mike Müller bereitet derzeit mit dem Journalisten Tobi Müller und dem Regisseur Rafael Sanchez die Produktion „A1 – Ein Stück Schweizer Strasse“ vor, die im Mai im Pfauen des Schauspielhauses Premiere hat. Er hat sich gewünscht, für die Rubik „On the Town“ einen alten Bekannten zu treffen: Oskar Kuhn, ehemaliger Quartiersbäcker und Rennfahrer. Während Mike Müller immer „on the road“ ist, für seine Theaterarbeit viel gereist und getourt ist, ist Oskar Kuhns Familie in dieser Stadt bereits über Generationen hinweg verwurzelt. Trotzdem ist Oskar Kuhn auch Spezialist für die motorisierte Fortbewegung, denn er fährt seit Jahren bei zahlreichen Bergrennen in der Schweiz mit. Während wir noch auf Mike Müller warten, erzählt Oskar Kuhn vom Quartier und wie sein Vater im Jahr 1933 die Bäckerei Kuhn in der Elsastrasse eröffnete – Oskar Kuhn führte sie bis vor wenigen Jahren selbst ...
20
Ka ro v lin on Tr ac ht e
Oskar Kuhn – … da helfe ich immer noch manchmal aus. Karolin Trachte – Aber nicht mehr morgens? OK Nein, nein, am Nachmittag! Ich bin 50 Jahre morgens um 2 Uhr in der Backstube gestanden. KT Wie und wann schläft man da? OK Das muss man aufteilen. Am Nachmittag zwei bis drei Stunden und am Abend drei bis vier Stunden. So kommt man auch auf sieben Stunden. Ich habe immer genug geschlafen ... KT Und warum musstet ihr schon um 2 Uhr anfangen? OK Tja, je nach Arbeit. Wir hatten eben so viel Arbeit. Obwohl ich ja nie Werbung gemacht habe.
bin ich natürlich auch beim Oskar einkaufen gegangen. Beim dritten Mal fragte er mich: Wer bisch du? Was schaffsch du? Die beiden lachen herzlich miteinander, als wir an der Fritschiwiese vorbeikommen. MM Hast du früher auch hier Fussball gespielt? OK Na klar, mit dem Köbi – bevor er Nationaltrainer wurde! Der hat direkt hier gegenüber gewohnt. Er ist gut gewesen und ich nicht. MM Dafür ist er kein Profibäcker geworden.
Oskars Brot war beliebt und die Leute standen häufig bis auf die Strasse Schlange vor seiner Bäckerei. Daher kennt Oskar Kuhn nicht nur das Quartier wie seine Hosentasche, sondern ist auch mit den meisten hier per Du.
An der nächsten Strassenecke liegt schon die Bäckerei Kuhn. Nach kurzem Anstehen ist Mike dran, bestellt sein Brot und ein paar Knusperstangen.
OK ... und es hat sich eigentlich nicht viel verändert! Nur eines: Vor 50 oder 60 Jahren gab es hier 20 Bäckereien im Umkreis von 200 bis 300 Meter. Migros und Coop haben ja noch kein Brot gemacht. Aber das waren ganz andere Betriebe: der Bäckermeister, seine Frau und ein Lehrling. Das heisst, man hat keine Löhne bezahlen müssen. Der Lehrling hat einfach ein Zimmer bekommen und was zu essen. Oder er hat vielleicht mal 100 Franken erhalten. Jetzt gibt es im Quartier nur noch zwei Bäckereien ...
Wir schlendern weiter und da es jetzt kurz nach 13 Uhr ist, machen wir uns langsam auf dem Weg in den Gertrudhof, wo unser Mittagessen auf uns wartet. Unterwegs ruft jemand: „Sali Oskar!“ … OK Sali Werni! MM Du kennst natürlich alle, gell? OK Ja, viele! Ich sags dir, manchmal, „gopferteli“, musst du halt auch immer anhalten und quatschen. MM Aber langweilig ist es dir nicht? OK Nein, nein! Gar nicht! Jetzt beginnt ja die Saison, Ende April. MM Oskar Kuhn ist der schnellste Bäcker der Schweiz. OK Ja, das ist relativ einfach, ich bin der einzige Bäcker, der Autorennen fährt. MM Was hast du jetzt, einen Mitsubishi? OK Nein, einen Honda. Honda Integra. MM Was machst du denn mit diesen Karren am Schluss, sind die ausgefahren? OK Nein, nein, die verkaufe ich immer. MM Und kannst du mit denen auch auf die Strasse, oder verhängst du sie nur? OK Nein, die sind eingelöst. Früher habe ich einen Hänger gehabt, aber mit dem kannst du dann nur 80 km/h fahren, das hat mir immer zu lange gedauert. Und jetzt fahr’ ich immer im Mitsubishi zu den Rennen. Ich bin einer der wenigen: wir sind ja etwa 200 Piloten, die regelmässig fahren, und es hat etwa fünf, die so kommen wie ich – so „altertümlich“. (Lachen) MM Und dann hast du aber einen zweiten Satz Pneus bei dir? OK Ich habe acht Pneus hinten drin! Acht Pneus, vier
Da kommt Mike Müller mit dem Fahrrad an, Oskar Kuhn entdeckt ihn auf der anderen Strassenseite und winkt ihm zu. Mike Müller schliesst sein Fahrrad ab und kommt herüber ... OK Hallo Mike! Wie schön! Mike Müller – Hallo Oski! Ça va? OK So, was machen wir jetzt? MM Also eines wissen wir: Um 15 Uhr muss der Oskar wieder im Laden sein – „Stuuurm der Liebe“. OK (lacht) Der weiss alles. Oskar Kuhn ist nicht selbst Fan der Serie, sondern hilft aus, damit seine Partnerin in dieser Stunde für ihre Lieblingssendung Pause machen kann. Wir beschliessen, an der Bäckerei in der Elsastrasse vorbeizuschlendern. Mike Müller will noch Brot kaufen! MM Gell, Oskar, du vermisst das Backen gar nicht? OK Gar nicht. MM Schläfst du jetzt aus? OK Naja, so bis halb acht. Und um 23 Uhr geh’ ich ins Bett. Ausser am Sonntag, da schau’ ich dich! Die letzte Ausgabe von Giaccobo / Müller hat mir gefallen … MM Da drüben habe ich früher gewohnt. Da in der Mitte der Martastrasse. Neunziger, Anfang 2000. Und da
21
On the Town
MM Man sagt immer, dass die Quartiere sich so verändern. Aber bei euch ist ja alles beim Alten ... OK Ich finde auch, so sehr hat es sich nicht verändert. MM Der Pizzakurier ist auch immer noch hier. Der ist gar nicht schlecht! Eben, wenn du jetzt schaust, ist es recht erstaunlich, wie viele Läden da schon vor zehn Jahren waren. Oder länger.
Slicks, profillos, und vier Regenpneus. Dann das Werkzeug und den Wagenheber und zwei Koffer und daneben „d’Mueter“. Und so „haue“ ichs. Dort wechsle ich dann die Räder. MM Wie lange brauchst du, um die Räder zu wechseln? OK Acht Minuten. Also der Rekord ist acht Minuten. MM Du, wenn ich nächstes Mal die Winterpneus wechsle, komme ich zu dir! OK (lacht) Ja, ich habe natürlich alles bereit und jeder Handgriff sitzt! Ich habe auch mal ausgerechnet, wie viele Male ich schon Räder gewechselt habe: 8 000 Mal!
OK Da habe ich noch viel Rückmeldung bekommen im Laden, von Kunden, die im Theater Neumarkt waren und mich dort gesehen haben. Da fällt mir noch eine Geschichte ein: Einmal war Viktor Giaccobo bei mir im Laden. Sagt er: „Ich habe schon von dir gehört.“ Und ich: „Ja, Mike hat von dir auch schon erzählt. Weisst du, was mich interessieren würde: Den Moonwalk, kannst du den wirklich?“ Dann hat er ihn da gezeigt, im Laden ... tschumm, tschumm! (lacht, unterbricht sich) Also, wegen der Autobahn ...? MM Ja, du bist natürlich eher passionierter Passstrassenspezialist und auch Quartierstrassenfahrer. Du hast ja auch ausgeliefert ... OK Jaja! Also worum geht es jetzt genau? MM Es geht um die A1. OK Ja. Züri – Bern. MM Tja, das haben wir auch gedacht – Züri – Bern. Man spricht immer von Züri – Bern. Aber genaugenommen ist es natürlich St. Margrethen – Genf. Wir sind sie dann auch abgefahren ... Und du bist ja auch viel auf der Autobahn unterwegs? OK Ja, viel im Wallis. Und da ist alles ganz anders. Da kennen sie mich schon, ich war bei einem Rennen jetzt schon 37 Mal dabei. Wenn ich da einen Polizisten sehe, heisst es erstmal „Salut, ça va?“ oder „Salut Oski!“. Weisst du im Wallis … Stell dir vor, wenn es da Lebensmittelkontrollen gibt, machen sie 14 Tage vorher einen Anschlag im Gemeindehaus! MM Schon ein bisschen „Wallis“! Und sag, hast du die Zunahme im Verkehr auch bemerkt? Uns haben viele Leute in der Recherche gesagt, der Stau hätte massiv zugenommen. OK In den Stosszeiten schon. Aber wenn ich fahre, fahre ich ja samstags am Morgen, ganz früh. Und wenn ich zurückkomme, komme ich immer erst am Montag – jetzt wo ich das Geschäft nicht mehr habe. MM Als du angefangen hast, gab es ja noch gar nicht überall Autobahnen, oder? OK Ganz genau. Ich bin sogar mal einen AutobahnSlalom gefahren, bei Horgen. Bevor sie die Autobahn eröffnet haben, haben sie einen Slalom gemacht. 70 Tore. Unvorstellbar heute. Im Inntal gab es das auch mal.
On the Town
Wir kommen an der Gertrudstrasse an, kehren ein und nehmen an einem gemütlichen Tisch hinten im Eck Platz. Wir bestellen Getränke. MM Für mich ein Mineral. (Zu Oskar) Leider! Bestell dir ruhig einen Wein. Ich muss halt noch arbeiten nachher. OK Ich gerne einen Rotwein ... Merci! MM Die Spezialität hier ist eigentlich Cordon bleu. OK Genau. Und deswegen sind wir ja da, oder? MM Ich habe gesagt, du müssest auswählen, du kennst dich am besten aus im Gewerbe. OK Wir waren früher oft hier. Aber man sieht, die Leute essen heute nicht mehr so Zmittag. Die gehen zu uns in die Bäckereien, in die Pizzeria, zum Kebab … Das Wichtigste ist, dass man auf die Kunden eingeht. Nur so gewinnt man neue, weisst du? Das Herz gewinnen! MM Du hast früher, wenn jemand zu lange ins Schaufenster geschaut hat, ihn einfach reingerufen, stimmts? OK Ja, dann habe ich auf die Scheibe geklopft und ihn reingewunken. Oder manchmal habe ich mit der Gabel einen Apfelring genommen und vor die Scheibe gehalten (lacht). Ja, ich habe schon grausam eine Show abgezogen! Wenn ich an früher denke! Das war schon lustig. MM Aber da ist man auch gerne gekommen, weisst du! OK Ich habe meine Kunden alle kennengelernt. So kannte ich zum Beispiel bestimmt fünf oder sechs Ärzte. Die kommen heute noch ... Die Bedienung kommt und nimmt die Bestellung auf: zweimal Menu 5: Mini Cordon bleu mit Salat vorweg, bitte. MM Jetzt wollte ich dir erzählen: Wir machen ja ein Stück über die Autobahn, mit Tobi, meinem Bruder. Erinnerst du dich noch an den? Wegen ihm bin ich ja zu dir gekommen. Mit ihm habe ich das im Neumarkt gemacht ... , wo du auch drin vorkamst.
Der Gedanke bringt Oskar Kuhn ins Schwärmen. Leidenschaftlich erzählt er von den Bergrennen, an denen er immer noch regelmässig teilnimmt. MM Wie bist du zum Rennsport gekommen? OK Fan war ich schon immer und seit 1953 bin ich mit meinem Vater bei den Rennen zuschauen gegangen. Und dann habe ich 1968 einmal bei einer Tombola bei der Autoausstellung mitgespielt, da war der grosse Rennfahrer Jo Siffert bei der Verlosung mit
Im Theaterprojekt „Elternabend“, das Mike Müller ebenfalls mit Tobi Müller und dem Regisseur Rafael Sanchez am Neumarkt erarbeitete, war Oskar Kuhn in einem Video in seiner Backstube zu sehen.
22
MM Und der läuft noch? OK Klar und wie. Der fährt 37 km/h. Aber nur bei optimalen Bedingungen, wenn es nicht regnet. Der hat ja einen Rollenantrieb. MM Das ist eine ganz eigene Art von Nachhaltigkeit, wenn man einen Solex 40 Jahre fährt! OK Und du? MM Naja, ich fahre schon auch Auto. Aber ich empfinde den vielen Verkehr als Problem – ohne, dass ich eine Lösung hätte. Jedenfalls mit dem Fahrrad fahr’ ich häufig schon deswegen, weil es schlicht am schnellsten ist. Irgendwann bin ich zum Fahrradladen und habe gesagt: Ich will jetzt mal ein Rad, das alles kann: Standlicht, gute Bremsen, neuester Stand. Das Ergebnis war dann ein sehr gutes Rad – aber kein schönes. Das ist der Kompromiss. Einmal bin ich auf dem Trottoir gefahren ... OK Oh, das ist aber schon gefährlich ... MM Ja, ich wurde auch prompt angehalten und habe eine Busse bekommen. Aber das war ein sehr netter Polizist. Der fand sogar mein Fahrrad schön. Obwohl das nun wirklich nicht stimmt. Die beiden lachen wieder miteinander und wir bestellen noch einen Kaffee. Es ist spät geworden – als wir den Gertrudhof verlassen, sind wir die letzten Mittagsgäste. Wir schlendern zurück zum Idaplatz, wo Mike Müllers Fahrrad steht. Eigentlich doch ein schönes Rad. Und funktional. „Tschüüss“, fährt er davon und Oskar Kuhn verabschiedet sich in Richtung Bäckerei ...
Die Cordon bleus werden serviert. Es sind „Minis“, perfekt fürs Mittagessen, wenn man noch arbeiten muss. Mike Müller muss heute noch die Sketches für die Sendung am Sonntag vorbereiten ...
A1 – Ein Stück Schweizer Strasse Ein Theaterprojekt von Mike Müller, Tobi Müller und Rafael Sanchez Regie Rafael Sanchez Mit Mike Müller, Michael Neuenschwander, Markus Scheumann Premiere am 28. Mai im Pfauen Unterstützt vom Automobil Club der Schweiz und der Stiftung für Bevölkerung, Migration und Umwelt
MM Fährst du auch manchmal ÖV? Oder ist das „des Teufels“? OK Nein, nein, durchaus. Und sonst fahr’ ich in der Stadt mal mit dem Solex. Den hab’ ich ja auch noch. 1973 habe ich ihn neu gekauft.
23
On the Town
auf der Bühne! Der erste Preis wäre eine vierzehntägige Reise nach Indianapolis gewesen. Das hätte ich gar nicht haben wollen, ich konnte ja nicht zwei Wochen aus der Bäckerei weg! Als mein Los gezogen wurde, da habe ich tatsächlich „Zwei Tage Rennfahrerkurs“ gewonnen! Genau das, was ich mir gewünscht hatte! Und den Preis hat mir dann sogar Jo Siffert überreicht und mir die Hand geschüttelt. Mir ist es kalt den Rücken runtergelaufen vor Glück. Ich habe sicher eine Woche meine Hand nicht mehr gewaschen! MM Dann bist du seit 47 Jahren dabei? OK Genau, ich bin in meinem Alter jetzt der Einzige ... Mit 72 Jahren werde ich nicht mehr Weltmeister. Ist ja klar. Aber ich bin gut dabei. Meine Zeiten vom Vorjahr kann ich immer mal verbessern. Und wenn nicht, macht es mir nichts aus ... MM Es gibt strenge Regeln, was man am Auto machen darf, richtig? OK Genau! Suspension, Aufhängung, Stossdämpfer und Feder darf man ändern. Und natürlich die Sicherheitsausrüstung: Schalensitz, 6-Punkt-Gurte, das ist Vorschrift. Zusätzliche Bremsbeläge sind erlaubt, eine Rennbatterie etc. Ich hab’ jetzt eine ganz leichte Batterie, 1180 Gramm statt 14 Kilo. Ich meine, es gibt auch Fahrer, die nehmen vor der Saison extra nochmal ab ... MM Ha, das würde ich auch (lachen). Du musst noch dazu sagen, dass du gar nicht unter deinem Namen fährst. OK Nein, nein. Pat Frusie. Das war eine Figur aus einer Fernsehsendung. Mein Vater war einer der ersten im Quartier mit einem eigenen Fernseher. Und da kamen manchmal amerikanische Sendungen. In einer Kriminalgeschichte gab es eben einen, der hat immer die Fälle gelöst – und der hiess Pat Frusie.
Zweifels Selbstgespräche
Langsam gleiten wir aus einer Welt des Widerstandes, in der der unheilige Jean Genet und der nicht minder unheilige Marquis de Sade gegen die Gewalt des Gesetzes die Gewalt der Sexualität ins Feld führten, in eine Welt des Masochismus ab, die so bieder ist wie Sacher-Masochs „Venus im Pelz“. In ihr wirkt SM (Sadomasochismus) als Gleitmittel der Anpassung. Der Masoch’sche Masochist nämlich unterwirft sich dem Gesetz; er setzt einen Vertrag auf, den er nie übertreten wird und der ihn genauso an die Domina fesselt wie seine Faszination für ihren marmorweiss geäderten Fuss. An dem lutschten die wahren Rebellen des Eros aber den grossen Zeh! Georges Bataille illustrierte seine Zeitschrift „Documents“ mit den Fotos der grossen Zehen seiner Freunde, auf denen einzelne Haare zu sehen waren, so unzähmbar wie der Ekel, den diese Fotos bis heute auslösen, zum Ekel reizend, zum Erbrechen, als würden sie wie ein Halszäpfchen in unserer eigenen Kehle hängen. Die „grossen Zehen“ waren für Bataille ein Inbild und Sinnbild des „Heterogenen“: Das, was sich aus den rationalen Maschinen des Denkens, die alles den homogenen Werten der Vernunft unterwerfen wollen, entzieht, weil sich deren Ohne-Sinn aller Beherrschung entzieht, so wie der Ursumpf, in dem sie selbst noch in Manolo-Blahnik-Schuhen stecken, während wir den Kopf scheinbar durch den reinen Himmel der Ideen tragen. Doch heute darf nichts unbeherrschbar sein. Lieber will man sich unterwerfen. Und die Domina wie ihr „Sub“ respektieren im Folterkeller die gegenseitigen Tabus ... Und wenn sie jemand bricht, wie Michel Houellebecq in seinem Skandalroman „Soumission“, überliest man das lieber: In einer Schlüsselszene, die kein Feuilletonist in Deutschland bemerkte, tritt der neue Rektor der Eliteuni Sorbonne in Paris auf; gerade ist er vom Rechtsnationalismus zum Islam übergetreten und predigt die Freuden der Vielweiberei, während eine 17-jährige Aisha im Hello-Kitty-Leibchen durch die Villa hüpft und das ältere Weibchen, eine „schwabblige“ Malika, brav am Kochherd steht. In jener Villa lebte einst der
K St olu ef m an n e Zw ei fe l vo n
120 Shades of Genet
Grosskritiker Jean Paulhan (bekennender Fan von Sade und Genet), dem Dominique Aury ihren Roman „Histoire d’O“ über den weiblichen Masochismus widmete, in dem sich das Ich ganz auflöst, weil sich eben niemand an Tabus und Verträge hält. Houellebecq also lässt seine Romanfigur sagen: So wie sich die O den Männern in einem Schloss unterwirft, sich fesseln lässt, bis sie nur noch ein geknebeltes O oben und ein leeres, stets weit klaffendes und allzeit bereites O unten ist, so sei die Unterwerfung der Frau unter den Mann die höchste Lust – und die Unterwerfung des Muslims unter Gott. Das verhallte ungehört. Nun, bei uns unterwirft man sich. // Und so unterwerfen wir uns alle brav // dem Kapital. Schon schwebt der Helikopter heran, in ihm er, der Herr, Mister Grey, millionenschwer und den Steuerknüppel in der Hand. An seiner Seite entschwebt die Frau in den siebten Himmel des modernen Märchens. Gerade noch stolperte sie in sein Office, schon vor dem ersten Blowjob vor ihm kniend. Und mit ihr knieten endlose Strände jubelnder Frauen und beteten den amerikanisch-puritanischen Schwur nach: Als Jungfrau lernt sie ihren Macho kennen, lässt sich von ihm knebeln, bekehrt ihn von der Perversion zum Blümchensex und zur Heirat, ehe sie ihn in eine Zukunft mit Kindern entführt. Dazwischen entdeckt sie im roten „pain room“ ihre „innere Göttin“, die ihr stets zuhaucht, wie toll es ist, wenn man sich, durch einen Vertrag geschützt, vom Mann auspeitschen lässt, schliesslich gibt es ja ein „safe word“, das garantiert, dass nichts Schmutziges geschieht, kein Kot, kein Blut. Als Gegenleistung winken ihr Millionen von Dollars und der Mehrwert, den man im Safer-Sex-SM dank Plüschfessel und Edelholzdildo aus dem sexualisierten und kapitalisierten Körper schlägt. Bei Sade aber gab es nie ein „safe word“. Sein Werk war ein Taumel ins absolut Schwarze des Nichts. Er träumte davon, die Welt in die Luft zu jagen. Gegen die Kerker dieser Welt hat auch Genet angeschrieben und angeschrien. Und Genet hat den wohl schönsten Kuss der Filmgeschichte gedreht, um die Kerkerwände unserer Köpfe einzureissen: In einer Kerkerzelle, vor der der Wärter als Wächter der Ordnung mit schwer schaukelndem Schlüssel und Schwanz paradiert, bohrt
24
Liebe und (Zusammen-)Arbeit Forschungsstationen zu „Love/No Love“ im Schiffbaufoyer
René Pollesch beschäftigt sich auf der Bühne weniger mit dramatischen Geschichten, dafür aber immer wieder mit Theorie und setzt diese spielerisch und äusserst unterhaltsam auf der Bühne um. Carolin Schurr beschäftigt sich mit dem Thema Leihmutterschaft und der globalen Entwicklung dieses wachsenden Marktes und ähnlich wie für René Pollesch ist Theorie dabei einer von vielen Bausteinen; sie wirkt im Hintergrund und nimmt sehr unterschiedliche Funktionen ein. Schurr beschreibt es so: „Theorie ist für mich auch ein Spiel ... Ich mag keinen theoretischen Dogmatismus, sondern „spiele“ gerne mit verschiedenen theoretischen Ansätzen.“
Stefan Zweifel hat gerade mit Michael Pfister eine Einführung zum Marquis de Sade mit 15 Schlüsselstellen aus dessen Werk unter dem Titel „Shades of Sade“ bei Matthes & Seitz (Berlin) veröffentlicht und empfängt im Juni mit Karl Heinz Bohrer den tiefsten Denker über Schönheit und Schrecken von Shakespeare bis heute.
Die kurzen Hörstücke können ab dem 9. Mai im Schiffbaufoyer an den sogenannten Forschungsboxen vor und nach den Vorstellungen angehört werden. Konzept und Produktion Hörstücke: Katharina Weikl, Graduate Campus der Universität Zürich
Zweifels Zwiegespräche mit Karl Heinz Bohrer Am 21. Juni im Pfauen
25
Kooperationen Uni Zürich
Zweifels Selbstgespräche
ein Mann ein Loch in die Wand, um dem Nachbarn durch einen Halm den Rauch einer Zigarette zuzuhauchen, die Lippen an die kalte Wand gepresst, Kuss und Blowjob durch das glory hole zugleich. Perversion und Poesie. Masochs Masochismus wurde Mainstream, SM von Manor in Weihnachtspäckchen abgepackt – doch das Heterogene entzieht sich wie der grosse Zeh dem Blickwinkel der Film- und TV-Kameras. Sade und Genet haben sich aus dem „underground“ in die Welt der Hochkultur geflüchtet. Sades „120 Tage von Sodom“ wird gerade an der Volksbühne in Berlin aufgeführt, Genets „Zofen“ hier in Zürich. Vielleicht ist ja, in einer seltsamen sadomasochistischen Dialektik, die Bühne des Bildungsbürgertums der letzte Ort des Widerstands gegen die allgemeine Unterwerfung unter die Regeln des Kapitals und des sexuellen Mehrwerts geworden.
Liebe, Arbeit, Kapitalismus – was bringt diese Themen zusammen? Die Produktion „Love/No Love“ von René Pollesch tut es. Und die Forschungsarbeiten, die im Rahmen der Kooperation mit der Universität Zürich ausgewählt wurden, ebenfalls. Fünf Forschungsarbeiten sind im Mai und im Juni im Schiffbaufoyer in Form von Kurzhörstücken zu erleben. Sie beschäftigen sich mit neuen Märkten und zeigen in Projekten wie „Liebe ist Verhandlungssache“ von Karin Schwiter, „Flirten in der Feldforschung – Reflexionen einer sexualisierten Beziehung“ von Heidi Kaspar und Sara Landolt oder „Liebe in Zeiten des Spätimperialismus“ von Judith Grosse wie der Liebesdiskurs unseren Alltag und das Berufsleben durchzieht. Karin Schwiters zweites Projekt, das sie gemeinsam mit Katharina Pelzelmayer durchführt, erforscht beispielsweise den neuen 24h-Pflegemarkt. So genannte Live-in-Betreuerinnen sind Frauen, häufig aus Ungarn oder Polen, die bei der Person, die sie betreuen, einziehen und rund um die Uhr für sie da sind – aber nur für einen Teil der Zeit bezahlt werden. Sie übernehmen die Funktion eines freundschaftlichen Mitbewohners und eines Altenpflegers zugleich. Sie „verkaufen“ ihre Arbeitszeit, sind aber gezwungen, ihre Freizeit dafür zu „verschenken“. Die Forschungsarbeit ist nicht blosse Empirie. Karin Schwiter sagt: „Für mich sind Theorien wie Zauberhüte, die ich aufsetzen kann, um die Welt aus einer anderen Perspektive zu sehen. Ich liebe es, dann unter der Hutkrempe hervorzulinsen und die Welt mit neuen Augen zu sehen.“ Auch das verbindet die Forschungsarbeiten mit dem Theaterprojekt „Love/No Love“, das im Mai in der Schiffbau-Box Premiere feiert.
26
In Szene
Mit Marie zu reisen ist ganz wunderbar, denn sie ist abenteuerlustig und neugierig, nicht selten verträumt und trotzdem bodenständig. Und sie ist selbständig, hat einen Humor, der nie versiegt, und wenn man nicht mehr weiss, wos langgeht, scheint sie angekommen zu sein und wird ganz heiter. Und man kann sicher sein, mit ihr etwas Ungewöhnliches zu erleben. Ich stolpere mit ihr durch eine der grossen Städte Europas – das heisst, ich stolpere, während Marie mühelos die anspruchsvolle Topografie der Bürgersteige von Matongé, St. Gilles und Les Marolles meistert und gleichzeitig nichts von der bunten Lebendigkeit um uns verpasst. Wir lassen uns treiben, durchstöbern die zahlreichen Flohmärkte und Secondhandläden nach einem Mantel, Hut, Sonnenbrille, einfach nach etwas, das auf uns gewartet hat. Als wir, ich stolpernd, sie schlendernd, auf die Place du Jeu de Balle gelangen, macht mich Marie in ihrer ihr eigenen, bezwingend feinen Art auf ein Schauspiel aufmerksam: Sie bleibt einfach stehen, tippt mich leicht an und für einen Augenblick scheint der maghrebinische Basar auf der Place in Zeitlupe zu verfallen. Es ist, als ob sich für einen Augenblick die Geräusche um uns verändern und ganz kurz sehe und
höre ich alles klarer und deutlicher. Ich bleibe stehen. In der Mitte des Platzes, wo schon alle Flohmarktstände zusammengeräumt werden, tanzt ein alter Mann – oder ist es ein junger? – einen eigenartigen Tanz. Er geht ein paar Schritte, bleibt stehen, legt einen Finger an die Nase und geht in eine andere Richtung ein paar Schritte, um wieder stehen zu bleiben, dann tippt er sich wieder an die Nase und geht in eine neue Richtung davon, bis er kurz darauf wieder stehen bleibt. Dazu singt er oder vielleicht führt er Selbstgespräche, macht Text ... In dem ganzen Trubel sind wir die Einzigen, die ihn beachten und wir scheinen die Einzigen zu sein, die er bemerkt. Unvermittelt dreht er den Kopf in unsere Richtung und fixiert Marie. Wir beide erschrecken, obwohl der Mann mindestens 30 Schritte von uns entfernt ist. Marie lacht kurz auf – das tut sie ab und an, wenn sie erschrickt. Der Mann winkt uns zu sich und indem wir uns ihm nähern, wird er zu einer Frau. Sie mustert Marie eine Weile: „Téki?“ – Marie versteht Spanisch – also sie meint, die Alte spricht Spanisch. „Tékituà?“. Marie ist zwar weit gereist, spricht aber ausser Arabisch und Englisch keine Fremdsprache, es sei denn für eine Rolle, also übersetze ich: Sie will wissen, wer du bist. „Marie“. Die Alte wieder: „Ah, Marie ...
Marie Rosa Tietjen
In Szene
27
Marie Rosa Tietjen ist seit 2013/14 Ensemblemitglied am Schauspielhaus Zürich. Mit ihrem Kollegen Michael Neuenschwander, der hier über sie schreibt, war sie in Karin Henkels Inszenierung „Amphitryon und sein Doppelgänger“ zu sehen. Zuletzt spielte sie Karoline in Barbara Webers Inszenierung von „Kasimir und Karoline“ von Ödön von Horváth. Ab dem 9. Mai ist Marie Rosa Tietjen in „Love/No Love“, der neuen Arbeit von René Pollesch, in der Schiffbau-Box zu sehen.
N eu M vo en ic n sc ha hw el an de r
oui Marie, ssé le nom ki ta donné ta mère, mé tékituà!?“ – Ich: „Öh ... ich weiss auch nicht, sie will wissen, w e r du bist.“ Marie ganz selbstverständlich: „Ich bin ein Mensch ...“ Ich zur Alten, „je suis un humain ... c’est à dire elle est un humain ... une humaine ...“ Die Alte schaut mich an was-willst-denndu-hab-ich-dich-gefragt, dann wieder zu Marie: „Tu viens doùtuà?“. Woher Du kommst. Marie: „Öh ...“, dann zu mir: „Ich hab Lust auf ein Bier ...“. Ich: „Sag einfach, je viens de là.“ Marie: „Schö viäng dö la und dort geh’ ich hin ...“, und geht ins Bistro an der Ecke. Ich mache noch den Versuch zu übersetzen, doch die Alte hat mir schon den Rücken gekehrt und dackelt davon. Es ist jedes Mal aussergewöhnlich und wunderbar heiter, wenn man mit Marie unterwegs ist.
Festspiele Zürich 12. Juni – 12. Juli
Festspiele Zürich
Sh „G ak e es ldM p a G ear ch ew e tL al un ieb te d e n“ an – de re
Programm im Rahmen der
Die Tragödie von Romeo und Julia von William Shakespeare Zwei Liebende, die aus verfeindeten Familien stammen und durch die Umstände in den Selbstmord getrieben werden. Die Wirkung des Stücks ist bis heute grenzenlos. Es wurde zu einer der Keimzellen romantischer Liebesgeschichten überhaupt. Jette Steckel nähert sich der „grössten Liebesgeschichte aller Zeiten“ von drei Seiten: theatral, musikalisch und physisch mit einer „Massenbewegung“ von 30 Statistinnen und Statisten.
Eröffnungsmatinee – Adolf Muschg „Aus schwarzer Schrift strahlt meine Liebe klar“ – Shakespeare, Wahrsager wider die Zeit Den Festvortrag zur Eröffnung der Festspiele hält der Humanist Adolf Muschg. Er spricht über Shakespeare, den überwältigenden „englischen Barden“, der Muschg sein ganzes Schriftstellerleben lang fasziniert hat. Dass ein in der ruhelosen Renaissance entstandenes Werk bis heute berührt, lässt Vertrauen auf die Kraft der Kultur für unsere Gesellschaft schöpfen.
Regie Jette Steckel Ein Gastspiel des Thalia Theater Hamburg 13. Juni im Pfauen, 19.00 Uhr 14. Juni im Pfauen, 18.00 Uhr
13. Juni im Pfauen, 11.00 Uhr
28
The Tiger Lillies perform Hamlet nach William Shakespeare Das dänische Theater Republique und die britische Kultband „The Tiger Lillies“ verbinden Shakespeares Hamlet, die Geschichte eines jungen Mannes, der den Mord am Vater rächen möchte, mit der einprägsamen und unheimlichen Musik der Tiger Lillies. Makabre, kabarettartige Lieder über die dunkelsten Winkel der Seele und brillante, extravagante poetische Bilder vermitteln den Kern des Hamlet-Stoffs. Regie Martin Tulinius 25./26./27. Juni im Schiffbau/Halle, 20.00 Uhr 28. Juni im Schiffbau/Halle, 15.00 Uhr
von William Shakespeare
Nirgendwo sonst sind wir so verletzlich wie in der Liebe. In Shakespeares Sommernachtstraum finden die Liebenden erst über Umwege zueinander. Der Wald ist dabei zentraler Schauplatz des Geschehens – die Bühne auf der Bühne, Theaterspiel – und Zwischenreich der Träume und der Fantasie, aber auch der Gefahr, wo nichts festgelegt, nichts eindeutig scheint. 22. Juni im Pfauen, 20.00 Uhr Regie Daniela Löffner
Verleihung des Zürcher Festspielpreises an Anna Viebrock
Zweifels Zwiegespräche mit Karl Heinz Bohrer
Der Zürcher Festspielpreis würdigt herausragende künstlerische Leistungen für das Kunst- und Kulturleben in Stadt und Kanton Zürich. Zum neunten Mal wird er im Rahmen der Festspiele Zürich vergeben. 2015 geht der Festspielpreis in die Welt des Theaters. Nach den beiden Regisseuren Luc Bondy und Peter Stein erhält ihn in diesem Jahr die Bühnenbildnerin Anna Viebrock.
Aus London zu Gast ist der grosse deutsche Denker Karl Heinz Bohrer. Schönheit und Schrecken bei Shakespeare bettet er in einen Gedankengang von der Antike bis in die Nähe von Fantasie und Terror nach 1968. Seine Autobiografie „Granatsplitter“ wurde im Literaturclub unter Stefan Zweifel gepriesen und in Kürze erscheint sein jüngstes Buch über den Urvater des Theaters: Dionysos.
14. Juni im Schiffbau/Montagehalle, 20.00 Uhr
21. Juni im Pfauen, 20.00 Uhr
29
Festspiele Zürich 12. Juni – 12. Juli
Ein Sommernachtstraum
30
ÜBERGEWICHT, unwichtig: UNFORM
„Wir sind in die Welt gevögelt und können nicht fliegen.“ ÜBERGEWICHT, unwichtig: UNFORM Die junge Zürcher Regisseurin Sophia Bodamer hat gerade mit den Proben begonnen. Sie inszeniert Werner Schwabs „ÜBERGEWICHT, unwichtig: UNFORM“ in der Kammer im Pfauen. Die Dramaturgin Gwendolyne Melchinger hat sie zum Gespräch getroffen. 31
hier gemacht hat. Seine Inszenierungen sind wie Gesamtkompositionen zu erleben; die Art und Weise wie bei ihm Text, Musik und Bild zu einer eigenen Theatersprache führen und wie er mir Figuren nahebringt, fasziniert mich sehr. In Berlin ist mir zum ersten Mal Nicolas Stemann begegnet. Obwohl er Texte, seien es klassische oder moderne, dekonstruiert und in Rhythmen zerlegt, schafft auch er es, das Ganze zu einer Gesamtkomposition zu vereinen. Sehr wichtig waren für mich auch seine Jelinek-Arbeiten. Was er mit solchen Texten macht, wie er damit umgeht, welche szenischen Vorgänge er für ihre Textflächen findet – das war für mich noch mal eine ganz andere Form von und Herangehensweise an Theater, die ich so noch nicht kannte.
ÜBERGEWICHT, unwichtig: UNFORM
Gwendolyne Melchinger – Was ist deine erste Erinnerung ans Theater? Sophia Bodamer – Ich weiss es gar nicht so genau, weil ich mit dem Theater aufgewachsen bin. Mein Vater ist hier in Zürich in der freien Szene Regisseur und Schauspieler und hat auch mal das Theater an der Winkelwiese geleitet. Und dort waren wir als Kinder ganz oft und manchmal auch auf Proben mit ihm … Gibt es ein Stück, das du gesehen hast, an das du dich erinnerst? Als Kind sah ich mal ein Weihnachtsstück am Schauspielhaus, das hiess „Wiss wie Schnee“ oder so ähnlich. Das war eine Geschichte, die in der Weihnachtszeit spielte und da schneite es plötzlich auf der ganzen Pfauenbühne. Zusätzlich zum Kunstschnee wurde eine riesige Diskokugel verwendet, was das Schneien noch viel echter und lebendiger erscheinen liess und sozusagen auch bis in den Zuschauerraum brachte. Man leuchtete da diese Kugel mit Scheinwerfer an und sie drehte sich und ich dachte einfach: „du bist im Schnee“. Da war ich das erste Mal sehr fasziniert und verzaubert von den Möglichkeiten der grossen Theatermaschinerie …
Du warst drei Jahre am Schauspielhaus Zürich Regieassistentin und am 6. Mai kommt deine erste Inszenierung, Werner Schwabs „ÜBERGEWICHT, unwichtig: UNFORM“, hier heraus. Gerade hast du mit den Proben begonnen. Kürzlich hast du gemeint, dass du sehr froh über die Besetzung bist, dass du die Schauspielerinnen und Schauspieler, die du dir gewünscht hast, auch bekommen hast … Ja. Ich bin sehr dankbar, auch weil ich drei Jahre als Assistentin mit diesen Spielern gearbeitet habe und ich sie gut kennenlernen konnte, auch in kleineren Arbeiten, die ich selbst mit ihnen gemacht habe. Da bin ich sehr guter Dinge, weil das eine grossartige Truppe ist. Und nun nach der ersten Probewoche zeigt sich auch schon, wie gut sie als Gruppe funktionieren und wie toll sie mit Schwabs Texten umgehen.
Wo ist für dich dein Lieblingsort im Theater? Am Schauspielhaus ist es der ganz leere Zuschauerraum im Pfauen. Nach Vorstellungen oder in Endproben ist man oft bis spät nachts noch im Theater, diskutiert noch lange oder macht Kritik. Und danach verlässt man als Assistentin oft als eine der Letzten das Haus. Manchmal bin ich da noch in den Zuschauerraum gegangen, welcher dann komplett leer war und natürlich meistens auch ganz dunkel. Und wenn man dann allein dasitzt und einem so das ganze Theater gehört, ist das ein ganz besonderer Moment.
Du hast dir – weil wir vorhin auch über Jelinek gesprochen haben – einen Sprachautor ausgesucht, einen Autor, dessen Texte sehr stark über eine Kunstsprache funktionieren. Die Sprache ist sehr bestimmend. Laut Werner Schwab ist eigentlich die Sprache die Protagonistin und nicht die Figuren. Was fasziniert dich an diesem Dramatiker, dem österreichischen „Enfant terrible“, das leider viel zu früh gestorben ist? Primär ist es schon die Sprache. Ich kam über Umwege dahin, weil ich viel zeitgenössische Autorinnen und Autoren gelesen habe und immer wieder auf
Du hast Kunstgeschichte, Englische Literaturwissenschaft und Theaterwissenschaft in Zürich und Berlin studiert. Welche Theaterinszenierungen hast du in der Zeit gesehen, die einen nachhaltigen Eindruck bei dir hinterlassen haben? Bevor ich in Berlin lebte, waren Marthalers Inszenierungen sehr prägend und wichtig für mich. Ich bin sozusagen mit seinem Theater gross geworden, da ich während seiner Zürcher Intendanz praktisch alles gesehen habe, was er
32
Jelinek zurückkam. Bis ich bei ihr gemerkt habe, dass es vielleicht noch ein bisschen zu früh ist, sich diese Autorin, ihre komplexen Textflächen vorzunehmen. So bin ich auf Werner Schwab gestossen, der ja auch eine Kunstsprache, mehr noch einen Kunstdialekt erschaffen hat. Seine Texte sind aber keine Flächen, sondern haben Figuren aus Fleisch und Blut, die körperlich greifbar sind. Scheinbar normale Figuren, die aber einfach anders sprechen. Nach und nach kommt man natürlich hinter das Gesprochene und in die Abgründe der Figuren und in die Schwab-Welt hinein.
Ja. Wie traurig und wie wahr zugleich dieser Satz ist. Das zeigt auch, wie poetisch und tiefgründig Schwabs Sprache ist und was für einen besonderen Blick er auf die Welt hat.
„ÜBERGEWICHT, unwichtig: UNFORM“ ist Schwabs zweites Stück nach den „Präsidentinnen“. Es spielt in einem Wirtshaus. Auch wir sitzen hier in einem Restaurant, in dem du lange Zeit als Kellnerin gejobbt hast. Und hinter dir steht auch eine Jukebox … Ja, und deswegen sitzen wir gerade hier. Im Stück spielt die Jukebox auch eine wichtige Rolle. Fotzi, die Kellnerin, bittet mit exhibitionistischen Gesten um Geld für die Jukebox, die dann immer wieder Musik spielt.
ÜBERGEWICHT, unwichtig: UNFORM von Werner Schwab Regie Sophia Bodamer Mit Christian Baumbach, Lukas Holzhausen, Claudius Körber, Dagna Litzenberger Vinet, Miriam Maertens, Lisa-Katrina Mayer Seit 6. Mai im Pfauen/Kammer
Und Fotzi ist es dann, die den berühmten und denkwürdigen Schwab-Satz sagt: „Wir sind in die Welt gevögelt und können nicht fliegen.“
33
ÜBERGEWICHT, unwichtig: UNFORM
Auf der Probe: „Ich finde ein Würstel als menschliche Einrichtung einfach sympathisch, weil es die Menschen miteinander verbindet.“ (Schwab)
Rudi Rath weiss wie der Laden läuft: kaum eine Aufgabe, die er am Theater nicht kennt. Dabei hatte er in jungen Jahren als aufstrebender Bankier herzlich wenig mit dem Kunstbetrieb zu tun. Doch die Vorstellung, bis ans Lebensende eine Bankfiliale zu leiten, machte ihm Angst und trieb ihn in die Arme der „Musen“. Um sich als Schauspieler anzubieten, marschierte er in Zürich geradewegs ins Direktionsbüro, wo man sich daraufhin lachend unter die Schreibtische verzog. Angefangen hat er am Schauspielhaus Zürich vor 35 Jahren dennoch als Statist und Kleindarsteller. Schlussendlich entschied er sich gegen den Schauspielberuf, landete erst im Künstlerischen Betriebsbüro und später in der Administration, von wo aus er seit 20 Jahren die Statisterie leitet. 34
Sa nd vo ra n Su te r
Schicht mit Rudi Rath
Ein Theatermann mit Herz und Erfahrung
7.30 Uhr Rudi liest seine Mails und hofft, dass keiner der 22 für heute Abend bestellten männlichen Statisten kurzfristig ausfällt. Für die Inszenierung „Love/No Love“ von René Pollesch, die den Sprechchor neben der dreiköpfigen Besetzung als „vierten Schauspieler“ vorsieht, muss von den Statisten viel Text gelernt werden. Von Anfang an müssen sie bei den sechswöchigen Proben dabei sein, da Pollesch das Stück mit ihnen zusammen erarbeitet – es wird also ein hundertprozentiger Einsatz gefordert. Viele Studenten melden sich für den Statistenjob oder auch Leute, die zwischen zwei Stellen eine Beschäftigung suchen oder gerade arbeitslos sind. Entgegen verbreiteter Meinung kann der Statistenjob nicht nebenberuflich gemacht werden. Das ist der Grund, weshalb die Statistenkartei, die Rudi führt, ständig erneuert werden muss. Für die Statistensuche ist man auf Mund-zu-MundPropaganda angewiesen und darauf, dass die Leute Bekannte zu den Castings mitnehmen. Oft ist von Rudi Improvisationstalent gefordert. Als für die Produktion „Polaroids“ kurzfristig ein Striptease-Tänzer organisiert werden musste, pilgerte er nachts durch die einschlägigen Bars im Zürcher Niederdorf, bis er jemanden ausfindig machen konnte, der am nächsten Tag einsprang.
14.05 Uhr Der Chef der Requisite kommt für die Abrechnung bei Rudi vorbei. Nachdem diese erledigt ist, meldet sich die Regieassistentin von „Kasimir und Karoline“, weil sie morgen fünf Statisten braucht, die für die Beleuchtungsprobe die Schauspieler auf der Bühne markieren sollen. Rudi hat innert kürzester Zeit alle zusammen. 15.25 Uhr Probendisposition, Vorstellungspläne, Personalbogen und eine Liste mit allen Statisten werden für den heutigen Abend vorbereitet.
10.15 Uhr Zunächst muss Rudi Gäste- und Mitarbeiter-Badges produzieren. Anschliessend schaut er kurz bei der Bühneneinrichtung für „Die Zofen“ vorbei, woraufhin die Rechnungen für die Inserate und für den Kostümverleih geschrieben werden müssen. Schliesslich taucht ein Kollege auf, der ein neues Geschäftshandy braucht, weil das alte bei Bühnenumbauten beschädigt wurde; auch darum kümmert sich Rudi. In den vergangenen 35 Jahren hat Rudi neun Theaterleitungen erlebt. Seine vielfältigen Aufgaben, auch die Leitung der Statisterie, sind über die Jahre „gewachsen“ und lassen sich nur schwer zusammenfassen: Rudi streckt mir seinen ausführlichen Stellenbeschrieb entgegen: „so ists einfacher“, scherzt er.
18.20 Uhr Ich steige mit Rudi ins Tram und frage ihn, was er abends macht. Sein Arbeitstag ist offiziell um 16.30 Uhr beendet; dies entspricht aber selten der Realität. Oft leitet Rudi abends Führungen durch den Schiffbau. Ansonsten ist er froh, wenn er nach einem Tag mit „hysterischen Menschen“ – wie er die Theaterleute augenzwinkernd liebevoll nennt – abends seine Ruhe hat. Er schaut sich deshalb im Fernsehen höchstens Tierdokumentationen oder Reiseberichte an, meint er lachend. Doch es sei ja gerade das Schöne am Theater, dass es so lebendig ist, dass es sich laufend verjüngt, denn so bleibe man selber jung. Ich verabschiede mich am Limmatplatz. Um 19.50 Uhr klingelt Rudis Handy, wie ich am nächsten Tag erfahre. Die morgige Beleuchtungsprobe soll auf 11 Uhr vorverlegt werden. Die Telefoniererei geht wieder los und schon am nächsten Morgen um 7.30 Uhr wird Rudi wieder im Büro stehen. „Es geht nie zu Ende ...“, seufzt er lächelnd. Genau das scheint ihm zu gefallen.
11.20 Uhr Rudi kümmert sich um die Kalkulation für „Amphitryon und sein Doppelgänger“, das für ein Gastspiel nach Dresden fährt – dann noch schnell zur Bank, um die Einnahmen vom Parkhaus Schiffbau einzubezahlen sowie Fünfliber für die Theaterkasse zu besorgen ... 12.00 Uhr Wir treffen uns wieder in der Pfauenkantine. Kaum haben wir uns hingesetzt, tauchen zwei Schauspieler auf, die etwas aus der Maske brauchen. Kein Problem: Schon steht Rudi wieder auf und ist im Einsatz – „Ich komme gleich wieder“. Zurück in der Kantine, bestellt Rudi eine Suppe und erzählt, was neben dem Akquirieren der Leute als Statistenleiter sonst noch anfällt. In „Schweizer Schönheit“ mimten die Statisten einen fackeltragenden, aufgebrachten Mob. Da die Fackeln nicht ungefährlich sind, mussten die Leute genau instruiert werden. Heute wird sich im Gespräch mit Pollesch zeigen, was die Statisten diesmal zu tun haben. Auf der Bühne läuft dank intensiver Proben in der Regel alles rund. Selten kommt es vor, dass Statisten plötzlich selbstdarstellerische Einlagen bieten. Diese werden von Rudi nicht geduldet; da kann der freundliche Theatermann auch mal ziemlich böse werden. Ab und zu gibt es Probleme bei der Pünktlichkeit. Taucht jemand nicht zum Termin in der Maske auf, lässt Rudi im Büro oder auch abends zu Hause alles stehen und liegen und kümmert sich darum.
Love/No Love von René Pollesch Uraufführung Regie René Pollesch Mit Inga Busch, Nils Kahnwald, Marie Rosa Tietjen und Sprechchor Premiere am 9. Mai im Schiffbau/Box
35
Schicht mit Rudi Rath
16.30 Uhr Wir warten auf die Statisten im Schiffbaufoyer. Die jungen Männer, die Polleschs Sprechchor bilden werden, sind erst vereinzelt da. Wir gehen zur Probebühne. Als um 17.30 Uhr immer noch die Hälfte der Statisten fehlt, wird Rudi langsam nervös und beginnt, die Leute anzurufen: Einige haben es vergessen, andere sind nicht zu erreichen. Nun sind Regisseur, Regieassistent, Bühnen- und Kostümbildner, Dramaturgin und die drei Schauspieler eingetroffen. Rudi begrüsst alle Statisten und entschuldigt bei René Pollesch die fehlenden Leute. Er wird versuchen, diese für die nächste Probe aufzubieten. Ich frage Rudi, ob es mit seinen 62 Jahren etwas gibt, das er noch nicht gemacht, aber gerne gemacht hätte. „Jus studieren“, sagt er. Ich bin überrascht, doch Rudi liebt die Arbeit mit Details und Klauseln. So ist er auch für die Verträge, Gagen und Versicherungen der Statisten zuständig.
Repertoire
Szenen aus dem Repertoire
„Die schönsten Sterbeszenen in der Geschichte der Oper“ von Alvis Hermanis Regie Alvis Hermanis Bis 31. Mai im Schiffbau/Halle
36
Repertoire
37
Repertoire
„Die Zofen“ von Jean Genet Regie Bastian Kraft Bis 24. Juni im Pfauen
„Kasimir und Karoline“ von Ödön von Horváth Regie Barbara Weber Bis 23. Juni im Pfauen
38
St ef v an on Zw ei fe l
Von Harald Schmidt bis Karl Heinz Bohrer weissen Seiten ist manchmal noch viel verstörender als das laute Schreien auf dem Marktplatz der Gegenwartskunst, wo der Tabubruch zum biederen Ritual wurde. Bohrers Ohrmuschel rauscht von beidem – dem antiken Lärm, wenn Pentheus zerrissen wird, und jenem „totenstillen Lärm“, den Nietzsche hörte, bevor ihn die Umnachtung aus der Gegenwart ins ganz Unzeitgemässe holte, für das heute Karl Heinz Bohrer steht. Stefan Zweifel lädt im Rahmen von „Zweifels Zwiegespräche“ regelmässig Gesprächspartner aus Kunst, Literatur und Musik ins Schauspielhaus ein. Sein nächster Gast ist nach dem TV-Moderator Harald Schmidt im Mai nun im Juni der Philosoph Karl Heinz Bohrer, den er im Rahmen der Festspiele Zürich am Schauspielhaus begrüsst. Karl Heinz Bohrer, 21. Juni im Pfauen
Zweifels Zwiegespräche 2015/16 Oktober Navid Kermani – Der Romanautor und Islamwissenschaftler diskutiert mit Zweifel über sein neues Buch „Ungläubiges Staunen“ und christliche Märtyrer. November Dietmar Dath – Der Autor, Journalist und bekennende Marxist ist für seine sozialistisch geprägten Science-Fiction-Romane bekannt. Im Frühjahr 2016 Werner Düggelin und Günter Netzer – Zwei Legenden ihres Fachs sprechen mit Stefan Zweifel über ihre von Theater und Fussball durchdrungenen Biografien. Peter von Matt – Der Dürrenmatt-Spezialist im Gespräch mit Zweifel anlässlich des 25. Todestages von Friedrich Dürrenmatt. Konstantin Wecker – Der Pianist und Liedermacher im Gespräch.
39
Zweifels Repertoire Zwiegespräche
Damals, rund um Midnight 1990, gab es nur zwei Sendungen, die wir nicht verpassten, bevor wir in die illegalen Bars ausschwärmten: Ein paar Monate lang der Literaturclub, als Jürg Laederach wie ein Guerillero die Granaten seines Wissens gegen die Betulichkeiten der Wohlleser schleuderte, die Augen vor Entzücken geschlossen, in einer ekstatischen Askese der Avantgarde, und: Harald Schmidt, viele Monate, ja Jahre, in verschiedenen Konstellationen die Dekonstruktion im Massenmedium vorführend, „Verstehen Sie Spass?“ sprengend, indem er laut tickend ein Metronom hinstellte und danach fragte, was wohl so eine Minute für TV-Summen verschlang ... So gingen wir, die Augen zusammenkneifend und die vielen Gesten und Ticks von Harald Schmidt unbeholfen nachahmend ins Odeon, sobald die Sendungen fertig waren, da uns das Odeon als eine Art Handy diente, denn damals trafen sich die sozialen Netze am Anfang der Nacht noch an realen Orten. Am Tag dann lockte uns Karl Heinz Bohrer in die Nächte des Surrealismus, wo Schönheit und Schrecken eins sind. Erst viel später las ich in seinen Memoiren „Granatsplitter“ die autobiographische Urprägung dieser Suche. Die Granatsplitter kündeten ihm im zweiten Weltkrieg vom Himmel und vom Fremden, von den Bomben, den englischen Fliegern – und damit von seiner eigenen Zukunft, die er in England, in London verbringen wird, als einer der wichtigsten deutschen Intellektuellen, der die Zeitschrift „Merkur“ herausgibt – benannt nach dem antiken Gott, der mit Flügelschuhen über den Ärmelkanal fliegen könnte, unbehelligt von Granatsplittern. Bohrer wurde später zum Experten für die Schönheit des Absonderlichen, für den Surrealismus und den Taumel des Terrors. Jetzt legt er mit „Das Erscheinen des Dionysos“ (Suhrkamp) im Sommer ein Buch über die Kunst vor, die jenseits des historischen Kontexts den Betrachter in das jähe Jetzt des Augenblicks reisst und ihn dort verweilen lässt. Verweilen? Zerreissen! Doch das Dionysische, dem dieses Buch gewidmet ist, das mit dem Gespräch in Zürich seine Schweizer Premiere feiert, ist nicht immer nur laut: Im Sommer spriessen aus jedem Tritt des Dionysos Eintagsreben, die sofort reifen und Wein geben, an denen man sich berauscht, bevor die wilden Weiber wie Wölfe die eigenen Söhne zerreissen – im Winter aber raschelt das Efeu, dessen Wurzeln sich in das Reich von Persephone zurückziehen. Das leise Schweigen der
Ins Theater mit …
Ins Theater mit Esther Eppstein
Am 21. März hat die Künstlerin und Kuratorin Esther Eppstein die Premiere von „Kasimir und Karoline“ in der Regie von Barbara Weber im Pfauen besucht. Esther Eppstein betrieb seit 1996 den Kunstraum „message salon“ an wechselnden Standorten in Zürich, unter anderem bis vor Kurzem im „Perla Mode“ an der Langstrasse. Sie brachte Künstler und Künstlerinnen verschiedener Sparten zusammen, brachte das Performative mit der Bildenden Kunst zusammen. Der Übergang zu ihrem eigenen künstlerischen Schaffen war stets fliessend. Zuletzt erhielt sie den Förderpreis des Kantons Zürich sowie ein Stipendium für einen dreimonatigen Aufenthalt in Tel Aviv. 40
Von woher kamen Sie zu der Vorstellung ins Schauspielhaus? Ich kam mit dem Taxi und meinen Platten, für die Premierenparty danach. Es war ein emsiges Sehen und Gesehenwerden, auch ein Wiedersehen mit den üblichen Verdächtigen der vergangenen Neumarkt-Ära. Was hatten Sie an? Sind Sie aufgefallen? Ein uraltes langärmeliges schwarzes T-Shirt mit silberglitzrigen Paillettenpalmen, ein bisschen Chilbi-Style, denn ich wusste, dass das Stück auf dem Oktoberfest spielt. Und es hat schliesslich gut zum Bühnenbild gepasst. Kannten Sie das Stück vorher? Ich kannte das Stück und bin sehr angetan von Ödön von Horváths Sprache und seinen Figuren.
Haben Sie während der Vorstellung gelacht? Nicht so oft. Es ist ja eine Melancholie darin und wird immer trauriger. Ich hätte weinen müssen, doch so weit drang das nicht zu meinem Herz vor, obwohl ich im Theater immer sehr empfänglich bin für Gefühle. Allerdings muss ich fast immer beim Schlussapplaus Tränen zurückhalten. Egal, ob ein Stück gelungen oder nicht so gelungen ist. Der Moment, in dem die Schauspieler sich vor dem Publikum verbeugen, das ist so alt und doch immer eine so grundsätzliche Geste. In diesem Moment habe ich auch immer eine grosse Zuneigung zu den Künstlern, den Schauspielerinnen und Schauspielern und der Arbeit des Theaters. Das kommt vielleicht davon, dass ich Künstlerin bin und ausserdem als Kind auf der Bühne stand, im Zirkus. Hat Sie etwas an der Vorstellung berührt? Der Moment zu Beginn, wenn Karoline Achterbahn fährt. Das Licht, der Glimmer, die Musik, das hatte Kraft, das hatte diese unbändige existenzielle Sehnsucht, über sich hinauszuwachsen, das Leben zu feiern, trotz der Widrigkeiten und der sozialen Realität.
Hätten Sie Lust, das Bühnenbild zu betreten? Das Bühnenbild und Licht gefielen mir sehr gut, da hätte ich gern meine Platten für die Premierenparty gespielt.
Macht, Abhängigkeiten, um die Liebe in schweren Zeiten. Und das alles vor einer realen Drohkulisse politisch unruhiger Zeiten und dem aufsteigenden Faschismus in Europa. Da sehe ich Bezüge zu unserer Zeit, die ich in der Inszenierung allerdings kaum erkenne. Welche Frage würden Sie dem Regieteam dieser Aufführung gerne stellen? Ob das Team recherchiert und Gespräche geführt hat ausserhalb der Theaterwelt, ob es sich zum Beispiel mit der Arbeitslosigkeit und seiner Auswirkung auf das Wertgefühl eines Menschen wirklich auseinandergesetzt hat. Ich meine damit nicht, dass man Betroffenheitstheater machen muss, ich mag auch sehr klassische Inszenierungen – ich muss nicht echte Arbeitslose auf der Bühne sehen, das finde ich ja ebenfalls problematisch. Doch es scheint mir trotzdem ein Problem: Das Theater bleibt unter sich, betrachtet aus der Distanz und so könnte es dann eben sein, dass der Bezug zur Wirklichkeit oder besser gesagt zu den Realitäten ausserhalb des eigenen Wirkungskreises irgendwie abhandenkommt. Doch diese gesellschaftlichen Realitäten und die Erfahrungen dazu sind ja im Kulturbetrieb ebenfalls vorhanden, in der eigenen Umgebung, gerade in einem hierarchisch organisierten, institutionalisierten Kulturbetrieb wie dem Schauspielhaus. Die freischaffende Regisseurin Barbara Weber hätte dazu doch sicher etwas zu sagen.
Wie zufrieden waren Sie mit dem Publikum? Zu Beginn gab es Lacher und Regungen, das finde ich immer sehr interessant, ich liebe das! Doch die blieben dann immer mehr aus. Ich weiss nicht, ob es aus Betroffenheit war oder weil der Zustand der Figuren ja irgendwie immer aussichtsloser und trauriger wurde – oder aus Langeweile und Anstand. Jedenfalls schien das Publikum eher zufrieden und ungestört in seinem Dasein. Weder speziell aufgewühlt noch verärgert. Haben Sie sich nach der Vorstellung über das Stück unterhalten? Der erste Eindruck war, dass es mir gefallen hat. Doch der zweite Gedanke war auch, ob das eigentlich der Sinn ist, dass es einfach gefällt? Dieses Stück erzählt doch von sozialen und politischen Umständen, ist voller Hinweise zum menschlichen Unglück, der Verstrickung des Menschen in seine soziale Umgebung. Es geht um
41
Kasimir und Karoline von Ödön von Horváth Regie Barbara Weber Mit Christian Baumbach, Sofia Elena Borsani, Lukas Holzhausen, Henrike Johanna Jörissen, Claudius Körber, Lisa-Katrina Mayer, Siggi Schwientek, Marie Rosa Tietjen, André Willmund, Michael von Burg Bis 23. Juni im Pfauen
Ins Theater mit …
In welcher Stimmung waren Sie in dem Moment, als im Zuschauerraum das Licht ausging? In freudiger Erwartung, aber auch etwas überrumpelt, als Karoline und Kasimir aus dem Zuschauerraum heraus auf die Bühne sprangen. Es gab da ja kein „Licht aus – Vorhang auf“. Die Bühne war bereits beim Einlass sichtbar.
Finden Sie, dass die Aufführung etwas mit Ihnen zu tun hat? Der Text behandelt doch sehr grundsätzliche, gesellschaftliche und sehr menschliche Zustände. Das hat eigentlich mit uns allen was zu tun. In der Inszenierung war das für mich aber nicht so präsent. Denn wir alle sind ja nicht arbeitslos, können über das schemenhaft gezeichnete und trottelige Establishment spotten, wir brauchen uns keine existenziellen Sorgen zu machen, oder ... vielleicht doch? Was muss ich eigentlich tun, um Erfolg zu haben, Anerkennung zu bekommen, wertgeschätzt zu werden? Wir haben alle mit gesellschaftlicher Realität zu tun, wir werden gekauft, mürbe gemacht, am Gängelband gehalten, verstricken uns in Abhängigkeiten, lassen uns zu Illoyalität verführen ... Auch, und besonders im Kulturbetrieb, wenn man sich durchkämpfen muss und sich aber dabei treu bleiben, ein Mensch sein will, und dabei nicht vergessen soll, was zählt, nämlich Freundschaft, Liebe, Verständnis, Glaubwürdigkeit und Haltung, auch in schwierigen Zeiten. Denn solange es allen gut geht, ist es ja einfach, hohe Prinzipien zu proklamieren. Daran muss ich denken, wenn ich darüber nachdenke, was das mit mir und meiner Situation als Künstlerin zu tun hat.
Enrico Beeler im Portrait Enrico Beeler (mitte) und sein Team von „Die grüne Katze“: (v.l.n.r.) Marc Totzke, Petra Fischer, Simon Ho, Buz und Cornelia Koch
Am 5. Juni hat „Die grüne Katze“ in Regie von Enrico Beeler am Jungen Schauspielhaus Premiere. Es ist bereits die sechste Spielzeit, in der er mit seinen Inszenierungen massgeblich zum Programm des Hauses beiträgt. Seine Produktionen wie „Stones“, „Remember me“ oder „Nichts. Was im Leben wichtig ist“ liefen im Repertoire und wurden zu internationalen Gastspielen eingeladen. Mit Petra Fischer, Leiterin des Jungen Schauspielhauses und Dramaturgin, und mit zahlreichen MitarbeiterInnen im Produktionsteam von „Die grüne Katze“ verbindet ihn eine langjährige Zusammenarbeit. 42
Iri na vo M n ül le r
„Die Chemie finden, die Flügel verleiht“
„Letztlich ist man auf der Suche nach Wahrheit – wenn es sie überhaupt gibt.“
auch ausgelöst durch die Altersunterschiede. So sucht im Stück „Weit ist der Weg“ eine ältere Frau ein Zuhause für einen verwilderten Jungen. Gemeinsam durchstehen sie Prüfungen und Abenteuer. Darin finden sowohl Erwachsene wie auch Jugendliche – auch in der jeweils nicht altersgleichen Figur – Anknüpfungspunkte. In „Die grüne Katze“ der jungen rumänischen Journalistin und Dramatikerin Elise Wilk stehen zwar sechs Teenager im Zentrum, aber um die abwesenden Erwachsenen geht es genauso. Überhaupt kommen in dem Stück diverse Motive aus Enrico Beelers früheren Arbeiten vor. Seine Inszenierung von 2013 „Nichts. Was im Leben wichtig ist“ thematisierte die Suche nach dem Sinn und der Bedeutung des Lebens und die Abwesenheit von Erwachsenen. „Die grüne Katze“ handelt ebenso vom Erwachsenwerden, von einer desillusionierten Generation und ihren Hoffnungen und Fantasien. Der Regisseur schildert die Grundatmosphäre des Stücks so: „kalt, glasig, aber auch sehnsuchtsschwanger und energiegeladen.“ Jede Figur hat ihre eigene Strategie, wie sie versucht, mit den Schwierigkeiten im Alltag klarzukommen – sei es mit Hilfe von spirituellen Welten, Alkohol oder Schutzengeln. Doch die Geschichten gehen immer über eine blosse Schilderung der Situationen hinaus. Surreale Bilder wie eine grüne Katze, Tote, die unter den Lebenden weilen, ein vom Himmel fallender Fisch in „Titus“ oder Krähen, die in „Remember me“ das Schicksal voraussagen, sind Elemente, die eine Erweiterung des Alltäglichen zulassen, die den Rahmen des Realen sprengen und dadurch verborgene Wahrheiten sichtbar werden lassen. Und genau darum geht es Enrico Beeler: um die Suche nach Wahrheit – oder zumindest um eine momentane Annäherung daran. Aber erst einmal wird geprobt. Und da geht es zuallererst darum, im Team die Chemie zu finden, die Flügel verleiht.
Die grüne Katze von Elise Wilk Regie Enrico Beeler Mit Joachim Aeschlimann, Matthias Britschgi, Lotti Happle, Aaron Hitz, Sibylle Mumenthaler, Anna Schinz Premiere am 5. Juni im Schiffbau/Matchbox
43
Enrico Beeler im Portrait
In „Die grüne Katze“ gibt es einen Club, in dem sich die Lebenswege der Figuren des Stücks kreuzen. Ebenfalls um sich kreuzende Lebenswege geht es, wenn Enrico Beeler erzählt, wie sich die Partnerschaften mit seinen Mitarbeitern über die Jahre entwickelt haben. Er lernte Petra Fischer im Jahr 1999 kennen und die beiden stellten beieinander während der Arbeit an „Die wilden Schwäne“ von Thomas Brasch 2003 eine ähnliche Denkrichtung im Bezug auf Theater fest. Die Bekanntschaft mündete in zahlreiche weitere Zusammenarbeiten. Auch mit Simon Ho, der die Musik für „Die grüne Katze“ komponiert, hat er bereits in seinen frühen Produktionen in der freien Szene zusammengearbeitet. Gleichzeitig kommen immer wieder neue Künstler mit ins Team wie beispielsweise der Choreograf Buz, der auf Empfehlung der Kostümbildnerin Cornelia Koch in „Stones“ 2010 hinzugezogen wurde, als ein Experte für Bewegung gefragt war. Für jede Produktion ergibt sich so eine Kombination aus einem Kern und neuen MitstreiterInnen, die eine Mischung aus Bekanntem und dem Aufbruch in ungeahnte Auseinandersetzungen ermöglicht. Auch mit Cornelia Koch, die die Kostüme in „Die grüne Katze“ entwirft, und Marc Totzke, der sich für die Bühne verantwortlich zeigt, verbinden mit Enrico Beeler schon gemeinsame Arbeiten wie „Remember me“ oder „Der Josa mit der Zauberfiedel“. Wenn er erzählt, wie er Stoffideen an Cornelia Koch und Marc Totzke weiterleitet, um gemeinsam zu entscheiden, ob ein Vorschlag für sie in Frage kommt oder nicht, wird klar, wie wichtig nebst dem Inhalt für Enrico Beelers Arbeit die Auseinandersetzung mit den Menschen ist, mit denen er arbeitet. Ebenso ausschlaggebend wie die Beschäftigung mit den Figuren und den Geschichten ist für ihn, ein Ensemble zu schaffen, das zusammen ins Spiel kommt, und dennoch den Einzelnen zu fördern und zu unterstützen. So spiegelt sich auch auf der Ebene der Zusammenarbeit, was Enrico Beeler auf der inhaltlichen Ebene seiner Produktionen beschäftigt. Theater hat immer mit einem Identifikationsmoment zu tun: Im Vordergrund steht die Vielschichtigkeit der Figuren, aber gleichzeitig geht es immer auch um die Verbindung zwischen diesen Figuren und den Menschen im Publikum. In all seinen Inszenierungen möchte Enrico Beeler die grossen Abgründe einer Figur in scheinbar unmöglichen Situationen zeigen. Sie sind mit Witz und Humor gestaltet, so dass immer auch berührende Momente entstehen, in denen sich das Publikum mit der Figur identifizieren kann. Petra Fischer bringt es folgendermassen zum Ausdruck: „Enricos Theater ist ein menschliches Theater. Und bei ihm gibt es eine grosse Einheit zwischen den Bedingungen, in denen eine Produktion entsteht, und dem, was inhaltlich vermittelt wird.“ Für Enrico Beeler, der betont, dass die Altersgrenzen in seinen Stücken nach oben offen sind, wird es dann besonders spannend, wenn sich die Sichtweisen der Zuschauer mit jenen der Figuren überkreuzen – gerade
n • André Wilms • o r é i Juli ill G aF e st au i t p re a B
PAUSE F il m
v o n M a t hie u
er f r U
graphisme latitude66.net / photo C. Leutenegger
E in
AB 21. MAI IM KINO *Pause_InsD_180x260_SchauspMagazin.indd 1
+ 01.04.15 11:27
Besser Leben mit … Kulturtipps aus dem Schauspielhaus
Le réalisateur, c’est qui?
von Daniela Stauffacher
Genuss im Niemandsland
Vorlesungen gehen so: Jemand steht vorn und denkt vor. Die anderen sitzen hinten und denken nach. Im Gleichtakt kratzen die Füller, im Gleichlauf kondensieren die Gedanken. Das Ganze ein tapferer Versuch des kognitiven Synchronschwimmens. Der Sauerstoffmangel ist latent, das Holz hart, die Welt bittet zum Diktat. Und wir tun, als verstünden wir ihre Sprache.
Jahrzehntelang als „Bar Sol“ legendär, ist sie heute wieder unter ihrem ursprünglichen Namen „Vereinigung“ bekannt − die charmante Oase im Niemandsland zwischen Manessestrasse und Bahnhof Giesshübel. Wer die gemütliche Stube mit Kachelofen betritt, spürt sogleich, dass es sich hier um ein wohltuend anderes Lokal handelt. Reserviert werden kann nicht; wer zu spät kommt, wartet in guter Gesellschaft und ebensolchem Wein an der Bar bis etwas frei wird. Stets neue Entdeckungen längst vergessener Gemüsesorten und besonderer Gerichte werden gekrönt vom besten Carajillo Zürichs, einem Relikt aus der Zeit, als das Bar Sol noch Tapas-Hochburg war. Christine Ginsberg, Leiterin Marketing & Kommunikation
Kultur
Als ich vor Kurzem sonntagnachmittags nach einer Vorstellung mit dem Velo nach Hause gefahren bin, habe ich auf der Quaibrücke nach links geschaut auf den Zürisee und die Berge bei bestem Sonnenschein und plötzlich ein schlechtes Gewissen bekommen: Du bist jetzt schon fast fünf Jahre in der Schweiz und hast es vielleicht fünf Mal geschafft, deine Wanderschuhe zu packen und dir die Berge aus der Nähe anzuschauen. Du bist nur noch wenige Monate in Zürich, dann ist die Chance weg! Seitdem versuche ich, mehr nach draussen zu kommen und es lohnt sich! Egal, ob es auf die Rigi, den See entlang oder einfach auf den Uetliberg geht. Und so logisch es auch ist, es überrascht immer wieder: Je näher man den Bergen kommt, desto grösser werden sie. Nur wenige Meter reichen und die Berge scheinen riesig und die Stadt unglaublich klein.
Das alles macht manchen Menschen Angst. Sie spüren, wie sie kollektiv alleine sind: mit ihrem Geschmack (der macht mir Angst), ihren Überzeugungen (sie auch), ihren ungeliebten Ehemännern (sie auch). Sie stehen dann in der Pause in der Damentoilette, rümpfen gepudert die Nasen, sagen: „Was der damit will, verstaan ich äifach nööd.“ Der – das ist der Regisseur. Was der damit will, weiss auch ich nicht. Was einer will, den man nie sieht, das weiss bloss die Kirche. Dort hockt man aber auch wieder auf Holz. Und ich weiss nicht, wies Ihnen geht, aber ich bevorzuge den roten Plüsch.
Steffen Link, im Schauspielstudio des Schauspielhauses Zürich
Highlight im Mai Inmitten des trendigen Freizeitzentrums „Sihlcity“, in den Räumlichkeiten der ehemaligen Sihlpapierfabrik, ist heute die Location Folium untergebracht. Im Mai werden dort das Siegerbild und die prämierten Pressebilder des weltweit grössten und angesehensten Wettbewerbs für Pressefotografie zu sehen sein. Die Ausstellung „World Press Photo 15“ zeigt sowohl schockierende Bilder von den Brennpunkten der Welt als auch beeindruckende Fotografien unter anderem aus dem Bereich Kultur. Für mich eines der kulturellen Highlights im Mai!
Daniela Stauffacher ist gemeinsam mit Jill Mühlemann für das Schauspielhaus als Botschafterin und Kontaktperson für „Theater Campus“ an den Zürcher Hochschulen unterwegs. www.facebook.com/theatercampus theatercampus@schauspielhaus.ch
Sandra Vollenwyder, Assistentin Fundraising & Development
45
Theater Campus
Der Zürisee und die Berge
Vorstellungen gehen nicht so. Theater ist taktlos. Keiner da, der die Lacher orchestriert, keiner da, der die Beklommenheit administriert (so was gibt es nur mehr beim Fernsehen, aber seit Thomas Gottschalks Abgang haperts auch in der wohltemperierten Unterhaltungsindustrie). Auch keiner da, der die Interpretation suggeriert. Und schon gar keiner, der absolute Wahrheit generiert. Auch Konsens wird hier prinzipiell ignoriert.
zur-lage-der-nation.ch
Schauspielhaus Zürich Mai / Juni 2015 Abonnement Das Journal erscheint 3 x jährlich und kann gegen einen Unkostenbeitrag von 12 Franken pro Jahr unter www.schauspielhaus.ch abonniert werden. Herausgegeben von der Schauspielhaus Zürich AG Zeltweg 5, 8032 Zürich Intendanz Barbara Frey
Impressum
Ruedi Häusermanns Einbildungen
Redaktion Andreas Karlaganis, Gwendolyne Melchinger, Irina Müller, Sandra Suter, Karolin Trachte (Redaktionsleitung) Bildredaktion Christine Ginsberg Korrektorat Isabella Cseri, Annika Herrmann-Seidel, Irina Müller, Sandra Suter Fotos Julia Bodamer: S. 33 Raphael Hadad: S. 12 –15 / 28 (unten) / 34 Peter-Andreas Hassiepen: S. 29 (unten rechts) Matthias Horn: S. 17 / 29 (Mitte) Alun Meyerhans: S. 42 Caroline Minjolle: S. 30 – 32 Robert Müller: S. 48 Rita Palanikumar: S. 26 – 27 Lisa Rastl: S. 29 (unten links) Schauspielhaus Zürich: S. 18 / 20 / 23 Armin Smailovic: S. 28 (oben) Miklos Szabo: S. 29 (oben) T+T Fotografie: S. 1/ 36 – 38 / 40 Private Sammlung (Jean Ziegler): S. 8 Meika Dresenkamp: S. 4 / 6 – 7/ 10 (Videostills) Gestaltung velvet.ch / Mirijam Ziegler Druck Speck Print AG, Baar Auflage 15 000 Redaktionsschluss 30. April 2015
Partner
Das Journal wird unterstützt von der Hulda und Gustav Zumsteg-Stiftung.
46
Endlich bekomme ich, was ich von einer Anlageberatung erwarte. Credit Suisse Invest – die neue Anlageberatung Bei unserer Anlageberatung können Sie sich einbringen, wann Sie wollen. Und Sie diskutieren direkt mit global vernetzten Experten. Dabei profitieren Sie von vielfältigen Anlagevorschlägen – immer sorgfältig ausgewählt. Dies alles mit tiefen Transaktionsgebühren.
Erfahren Sie mehr über unsere individuellen Anlagelösungen: credit-suisse.com/invest Diese Anzeige stellt weder ein Angebot noch eine Empfehlung zum Erwerb oder Verkauf von Finanzinstrumenten oder Bankdienstleistungen dar und entbindet den Empfänger nicht von seiner eigenen Beurteilung. Copyright © 2015 Credit Suisse Group AG und/oder mit ihr verbundene Unternehmen. Alle Rechte vorbehalten.
47
www.schauspielhaus.ch / Telefon +41 (0)44 258 77 77
XXX
48