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«Wir befinden uns in einer Lesekrise»

Andre Masüger ist seit zweieinhalb Jahren Präsident des Verlegerverbands SCHWEIZER MEDIEN. Der Bündner Publizist und ehemalige Chefredaktor der «Südostschweiz» hat in seiner beruflichen Karriere den Medienwandel hautnah miterlebt und schätzt im Jubiläumsjahr die Situation als «angespannt» ein.

Interview: Matthias Ackeret Bilder: Mayk Wendt

Herr Masüger, Sie haben in einem Interview über die Zukunft des Journalismus einen Vergleich mit der Landwirtschaft gezogen. War dies ironisch gemeint?

Nein, keineswegs. Das Beispiel Landwirtschaft benutze ich gerne, um zu zeigen, dass es in der Wirtschaft Bereiche gibt, deren reibungsloses Funktionieren im öffentlichen Interesse ist. Die Bauern sind wichtig für die physische Ernährung des Landes, die Verleger und die Journalisten gewissermassen für die geistige Ernährung. Beide erbringen gemeinwirtschaftliche Leistungen, die vom Staat teilweise abgegolten werden, weil sie für das Funktionieren unserer Gesellschaft essenziell sind. Verstehen Sie mich nicht falsch: Wir Verleger sind liberale Unternehmer, die überzeugt sind, dass der Journalismus zum grossen Teil über den Markt finanziert werden muss. Allerdings ist nun eine gezielte Medienförderung notwendig, um die Informationsversorgung in allen Regionen unseres Landes sicherzustellen.

Zweifeln Sie daran, dass Journalismus in Zukunft ohne staatliche Unterstützung noch möglich sein wird?

Wir befinden uns in einer Lesekrise, genauer in einer Krise des «tiefen Lesens», wie es die Wissenschaft nennt. Ein befreundeter Anwalt sagte mir kürzlich, die jungen Juristen in seiner Kanzlei würden keine Nachrichten mehr lesen, nicht einmal mehr Onlinenews. Früher war es undenkbar, dass ein Anwalt nicht die «NZZ» las. Der Trend geht dahin, dass die Menschen ihren Informationsbedarf mit kurzen Videos auf TikTok oder anderen Social­Media­Kanälen decken und nur noch Informationsschnipsel auf dem Handy konsumieren. Komplexere journalistische Arbeiten werden nicht mehr gelesen. Ja viele Schüler verstehen längere Texte gar nicht mehr, wie Untersuchungen und Erfahrungsberichte von Lehrern zeigen. Dies führt zu einer unterinformierten Gesellschaft, was für eine direkte Demokratie verheerend ist.

Und wie soll der Staat hier helfen?

Die Medien, die in unserem politischen System eine wichtige Informationsfunktion wahrnehmen, müssen erhalten bleiben. Dazu braucht es jetzt einen befristeten Ausbau der staatlichen Medienförderung, eine Vorlage dazu liegt im Parlament. Eine Stärkung des Journalismus ist ein Investment in unsere Demokratie. Und das macht sich bezahlt, das garantiere ich Ihnen. So belegen Studien, dass in Regionen, wo Medien und Journalismus fehlen, die politische Partizipation abnimmt, vermehrt öffentliche Gelder verschwendet werden und Falschnachrichten und Desinformation zunehmen. Das dürfen wir nicht zulassen.

Aber ist eine solche Staatsabhängigkeit für die Medien kein Problem?

Die diskutierte Medienförderung bringt keine Staatsabhängigkeit, weil sie indirekt ist. Unterstützungsgelder fliessen weder an Verlage noch an Redaktionen, sondern gehen an die Post und an Zustellorganisationen, die dadurch günstigere Taxen für die Zeitungszustellung berechnen können. Diese Form der Medienförderung gibt es seit Beginn des Bundesstaates, und niemand behauptet heute, die Medien seien vom Staat gesteuert.

Welche Medien sollten denn überhaupt Geld erhalten?

Bei den gegenwärtig diskutierten Vorlagen geht es um Zeitungen, Radio und Fernsehen privater Verlage. Die SRG bekommt ja über die Gebühren schon Geld. Es geht um eine Übergangslösung für einige Jahre. Die Diskussion, wie eine spätere, gattungsneutrale Förderung aussehen könnte, läuft jetzt langsam an.

Sie sind seit zwei Jahren Präsident des VSM. Wie schätzen Sie die derzeitige mediale Situation in der Schweiz ein?

Ich würde hier das Adjektiv «angespannt» benutzen. Zum einen attestiert die Wissenschaft, dass die Qualität im Journalismus so gut ist wie noch nie. Und die Medienhäuser bedienen heute so viele unterschiedliche Kanäle wie nur möglich, um ihr Publikum zu erreichen. Beides zeigt das grosse Engagement der Verleger. Andererseits ist da die schwierige wirtschaftliche Situation der privaten Schweizer Medienunternehmen: Die Erträge sinken, und die Kosten steigen. Die Folge sind teilweise grosse Sparprogramme, die vor allem beim Personal ansetzen, da in anderen Bereichen die Zitrone ausgepresst ist. Zurzeit werden schweizweit etwa 300 Stellen in den Redaktionen und Verlagen abgebaut. Wenn die Medienförderung hier keine Entlastung bringt, kann dieser Trend nicht gebrochen werden. Probleme haben übrigens nicht nur grosse, sondern auch mittlere und kleine Medienhäuser.

Sie engagieren sich stark gegen das Aufkommen von KI. Ist das für Sie derzeit die grösste Herausforderung?

Ich bin überhaupt nicht gegen KI in den Medien! Sie kann auch hier, wie fast überall, einen grossen Nutzen bringen – insbesondere in den Bereichen, die gut automatisiert werden können –, Abläufe vereinfachen und die journalistische Arbeit erleichtern. Ich warne aber vor zwei grossen Gefahren, die mit der technischen Entwicklung einhergehen: Erstens werden mit KI­Anwendungen in den Medien Fake News und Deepfakes zunehmen, von manipulativen Phantomtexten bis zu gefälschten Videos und Audios. Selbstverständlich nicht in seriösen Medien, aber das Vertrauen in das Gesamtsystem wird trotzdem leiden. Zweitens müssen wir höllisch aufpassen, dass unsere teuer hergestellten Inhalte nicht von KI­Firmen als kostenloses Grundlagenmaterial für eigene Informationsportale und andere kommerzielle Anwendungen genutzt werden. Es geht um dringliche Fragen des Urheberrechts. Die KI­Firmen sind heute die Freibeuter des Internets, so wie die Piraten einst die Meere unsicher machten.

Ihre Vorgänger Hans Heinrich Coninx, Hanspeter Lebrument und Pietro Supino waren alles aktive Verleger, Sie selber kamen aus dem Verlagswesen und waren vor allem aktiver Journalist. Inwiefern beeinflusst dies die Ausrichtung des VSM?

Ich war acht Jahre CEO und einige Jahre Stellvertreter des Verlegers, ich kenne also die Herausforderungen, vor denen die Branche steht. Als früherer Chefredaktor und Journalist habe ich aber auch einen besonderen Bezug zum Journalismus und zu Redaktionen. Das hilft, im Verlegerverband auch Anliegen aufzunehmen, die nicht direkt verlegerisch sind. Ich versuche, diese Brücke zu schlagen.

Vor bald zwei Jahren, das heisst kurz vor Ihrem Amtsantritt, ging die Abstimmung über das Medienpaket verloren. Wie fest hat dies die Branche und besonders den Verband geprägt?

Es war ein Einschnitt. Nicht nur, weil das Paket scheiterte – inhaltlich kann man ja immer streiten –, sondern auch, weil die Gegner einen gehässigen Abstimmungskampf führten und bei einzelnen Verlegern voll auf den Mann spielten. Das hat mir, und auch anderen, zu denken gegeben.

Der Konflikt zwischen den grossen und den kleineren und mittleren Verlagen war immer wieder ein Thema. Derzeit hat man den Eindruck, die Situation habe sich beruhigt. Teilen Sie diese Einschätzung?

Ja, klar. Bei der Ausarbeitung des Medienpakets gab es Differenzen im Präsidium, weil die grossen Verlage eher keine Onlineförderung wollten, die kleineren schon. Man hat sich dann aber recht schnell gefunden und am Schluss am gleichen Strick gezogen. Da ich aus einem mittelgrossen Medienhaus komme, sehe ich auch hier in meinem Amt eine Brückenfunktion zwischen kleinen und grossen Verlegern.

Wo sehen Sie konkret Ihre Aufgabe innerhalb des Verbands?

Ich möchte unterschiedliche Positionen und Interessen zusammenführen, um gemeinsam den Journalismus in der Schweiz zu stärken. Ich stehe im Austausch mit vielen Verlagen, aber auch mit Journalisten­ und Branchenorganisationen. Zu meinen Aufgaben gehören das Erkennen von Entwicklungen, das Einbringen von Ideen und der Kontakt mit der Politik, dem Bundesrat, der Medienwissenschaft und wichtigen Organisationen. Auch der Austausch mit unseren Kollegen im Ausland ist zentral, vor allem in Deutschland, Österreich und Luxemburg. Ich kann mich hier auf eine von Stefan Wabel hervorragend geführte Geschäftsstelle verlassen. Rückmeldungen und Reaktionen unserer Mitglieder zeigen mir, dass wir das Richtige tun.

Und diejenige des Verbands?

Neben den üblichen Aufgaben eines Branchenverbands müssen wir derzeit einer gefährlichen Zangenbewegung entgegenhalten: Auf der einen Seite haben wir die Gefahren von Fake News und ungezügelter KI.

Auf der anderen Seite graben uns genau diejenigen Techgiganten ökonomisch das Wasser ab, die diese Probleme verursachen. Wir müssen mit einem ganzen Strauss gezielter Bildungsangebote, zum Beispiel an Schulen, den Menschen vermitteln, wie wertvoll kritischer Journalismus ist. Hier leistet unser Medieninstitut Pionierarbeit. Und weiter geht es darum, für den Schutz unserer Inhalte im Urheberrecht zu kämpfen.

Es gab in der Vergangenheit immer wieder Reibereien mit der SRG, Stichwort Admeira. Ist dies ausgestanden, oder gibt es noch Konfliktpotenzial?

Admeira ist kein Thema mehr. Aber Differenzen mit der SRG haben wir im Onlinebereich, weil die SRG ihre Gebührengelder auch für ein extrem ausgebautes Newsportal einsetzt, das die privaten Angebote konkurrenziert. Gegen diese Wettbewerbsverzerrung wehren wir uns. Aber wir sind mit der SRG, zu der wir ein kollegiales Verhältnis pflegen, im steten Austausch.

Wie stellen Sie sich zur sogenannten Halbierungsinitiative?

Der Verband hat sich hier noch keine Meinung gebildet, das hat noch Zeit. Ich persönlich finde, dass man die Gebührenhöhe an den Aufgabenkatalog der SRG koppeln sollte. Dies könnte im Zusammenhang mit der Erneuerung der Konzession geschehen.

Wie bewerten Sie die Zusammenarbeit mit der Post?

Die Post hat uns erschreckt, als Pläne durchsickerten, Briefe und Zeitungen in Zukunft nicht mehr täglich zuzustellen. Das wäre angesichts von nahezu einer Milliarde jährlich zugestellter Zeitungsexemplare eine Atombombe für die Branche. Inzwischen hat der Post­Präsident Christian Levrat diese Pläne aber relativiert. Manchmal sind wir im Clinch, wenn wieder einmal die Tarife erhöht werden sollen. Aber im Allgemeinen ist es eine gute und partnerschaftliche Zusammenarbeit.

Der Verband engagiert sich stark für das Leistungsschutzrecht. Hat dieses, realistisch gesehen, überhaupt eine Chance?

Sicher! Die Vernehmlassung zur bundesrätlichen Vorlage ist zu 75 Prozent positiv ausgefallen. Ich gehe davon aus, dass die Anpassung des Urheberrechts bald ins Parlament kommt und dort eine Mehrheit der Parteien positiv Stellung nehmen wird.

Niklaus Meienberg schrieb vor vierzig Jahren ein Essay mit dem Titel «Wer will unter die Journalisten?». Wie sieht es heute aus? Ist Journalismus überhaupt noch ein erstrebenswerter Beruf?

Es ist ja lustig: Meienberg schrieb das, als es den Zeitungen so gut ging wie noch nie. Das zeigt, dass in unserer Branche immer eine Art Kulturpessimismus herrscht. Diese mediale Melancholie hält sich hartnäckig. Journalismus ist aber ein Traumberuf und wird es bleiben. Unsere Demokratie ist auf motivierte Frauen und Männer angewiesen, die berichten, wie die Welt ausschaut. Das wird immer eine faszinierende Tätigkeit bleiben, egal, wie sich die Medientechnologie entwickelt.

Wie war es bei Ihnen? Sie waren zuerst Fotograf …

Ja, ich habe eine Fotografenlehre gemacht und bin, als ich das Fähigkeitszeugnis in der Hand hatte, gleich in den Journalismus eingestiegen. Zwei Jahre später war ich Bundeshausjournalist. Das war alles «learning by doing», ausser der Ringier­Journalistenschule gab es damals noch keine Ausbildungsmöglichkeiten. Heute können Interessierte aus einer riesigen Palette auswählen, vom MAZ bis zu Fachhochschulen. Die Voraussetzungen für den Journalistenberuf sind heute besser denn je.

Sie haben lange im Bundeshaus gearbeitet. Was hat sich mehr verändert, die Politik oder der Journalismus?

Ich denke, beides gleichermassen. Die Zeiten waren in den 1980­Jahren in Politik und Medien vergleichsweise beschaulich, aber man klagte schon damals über Hektik und Stress. Gewisse Wahrnehmungen bleiben unverändert, egal, wie die Rahmenbedingungen sind.

Welche Medien konsumieren Sie jeweils am Morgen?

Die «Südostschweiz», mehrere Tageszeitungen und Onlineportale, darunter natürlich auch persoenlich.com.

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Andrea Masüger ist seit dem Herbst 2021 Präsident des Verbandes SCHWEIZER MEDIEN (VSM). Der Publizist und heutige Verwaltungsrat von Somedia war zuvor während acht Jahren CEO von Somedia sowie insgesamt 17 Jahre Chefredaktor der «Südostschweiz». Er war langjähriges Mitglied der Eidgenössischen Medienkommission (EMEK), Präsident des Zürcher Journalistenpreises sowie Vizepräsident der Schweizer Journalistenschule MAZ. Der gebürtige Churer absolvierte ursprünglich eine Fotografenlehre und war zudem acht Jahre Bundeshauskorrespondent der «Bündner Zeitung».

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