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Die Presse, die Bürger, der Staat: die Balance von Nähe und Distanz
Schweizer Mediengeschichte Teil 1/4:
Die Geschichte des Verlegerverbands ist eng mit der Schweizer Mediengeschichte verknüpft. Der Anfang des VSM geht auf 1899 zurück. Heute nennt man die Epoche verklärend «Belle Epoque». Doch in der Zeit von etwa 1895 bis 1914, als das kleine Binnenland im Herzen Europas in die Moderne eintrat, entstanden in schnellem Tempo neue Branchen: Elektrotechnik, Chemie, Pharma, die industrielle Uhrenfertigung, Telekommunikation, dazu der ganze tertiäre Sektor: Banken, Versicherung, Medizin, Beratung – und mit alledem die Medien!
Text: Karl Lüönd* Bilder: Keystone-SDA
Gedruckte Zeitungen entstanden im späten 16. Jahrhundert. Die erste in der Schweiz und wahrscheinlich im ganzen deutschen Sprachgebiet war die Rorschacher Monatsschrift «Annus Christi» (ab 1597), trotz des frommen Namens ein Blatt mit überwiegend kommerzieller Motivation. Die Auflage betrug ungefähr 150 Exemplare und wurde von Hand zu Hand weitergereicht. Der Inhalt bestand aus kurzen Berichten über Kriege, Verbrechen, Seeräuberei, Plünderungen, Hinrichtungen, dazu Nachrichten über Steuern, Zölle und Teuerungen. Es folgten die den grossen Handelsstrassen entlang verbreiteten Avis oder Intelligenzblätter, fliegenden Blätter, Messekataloge usw. Sie brachten Handelsnachrichten, Informationen über Preise, Steuern usw. Grosse Handelshäuser wie die Fugger unterhielten eigene Titel, die an den einzelnen Stationen von Hand mit lokalen Aktualitäten ergänzt und von reitenden Boten weitergereicht wurden. In Grossstädten wie London wurden Zeitungen als Treiber des kulturellen und gesellschaftlichen Lebens benötigt, vor allem als Anzeiger für neue Theaterstücke, Bücher und Pferdewetten.
Überall in Europa entwickelte sich das, was man ab dem 19. Jahrhundert «Presse» nannte. Es waren die jeweiligen technischen Möglichkeiten, nach denen die PionierUnternehmer ihr Geschäftsmodell weiterentwickelten. Zunächst war die Drucktechnologie – von der umständlichen Papierherstellung aus Haderlumpen über den Handsatz bis zur Handpresse – teuer. In feudalistisch regierten Gemeinwesen wachte eine strenge Zensur. Ausserdem setzte die eingeschränkte Alphabetisierung der Massen der Verbreitung von Ideen mit dem Mittel der Druckerpresse Grenzen. Trotz der häufig als demokratisierend gepriesenen Erfindung des Johannes Gutenberg blieb die Drucksache –auch weil sie teuer war – auf den relativ kleinen Kreis der Intellektuellen, der Regierenden, des Klerus, der schriftkundigen Reisenden und Kaufleute beschränkt.
Wie überall folgte auch in der Schweiz – wenn auch mit bemerkenswerter Verspätung – die Entwicklung der Presse den politischen Ereignissen. Nach einem kurzen Aufblühen in der Helvetik gewannen die Zeitungen mit dem 1848 gegründeten Bundesstaat an Bedeutung. Die direkte Demokratie sorgte für eine ständige Nachfrage nach Information für die Bürger. Zugleich wurden die Zeitungen zu Fechtböden des Parteienkampfs. Dies führte in den kleinräumigen Verhältnissen des Landes zu einer unerhörten Zersplitterung und fast überall zu wirtschaftlichen Problemen.
Industrialisierung als Treiber
Neue Nachrichtenmedien wurden auch aus sozialen Gründen benötigt, weil so viele Menschen ihre Bergtäler verliessen, in die grossen Agglomerationen zogen, wo die Industrie die Wasserkraft nutzte und für ihre Webereien, Spinnereien, Ziegeleien und bald einmal die ersten Kraftwerke Arbeitskräfte benötigte. Die Neuzuzüger wollten sich in ihren Gemeinden zurechtfinden. Die Familien mussten wissen, wann die Schule begann, an welchem Tag die Gemeindekanzlei geöffnet war und sicher auch, was Panoptikum und Kinematograph fürs Wochenende anboten. Wer anders als ein Anzeiger, eine Lokalzeitung konnte den Menschen helfen, den Alltag zu organisieren und nach und nach im Unvertrauten heimisch zu werden?
Wo immer ein solches Blatt entstand – durch die Initiative von Bürgern oder Parteien oder durch die Unternehmungslust eines Druckers –, stellte die Politik ihre Forderungen. Im Wettbewerb der Parteien in Gemeinden und Kantonen waren die Zeitungen die wichtigsten Instrumente. Sie dienten als Plattformen und Resonanzkörper für parteipolitische Konzepte.
Der ausgesprochen kleinräumige Schweizer Staatsaufbau legte der damals noch komplizierten Typografie und der Druckerpresse das Fixkostenproblem in den Weg. Oft wurden die Blätter von nebenamtlichen Aktivisten – von Beamten, Lehrern, Regierungsleuten oder Richtern – redigiert. Der Medienwissenschafter Roger Blum hat für das Jahr 1893 allein für den Kanton Zürich 41 Kaufzeitungen mit einer Gesamtauflage von 161 000 Exemplaren nachgewiesen, fast alle einer Partei zugehörig. Anderswo waren die Verhältnisse ähnlich. «Nicht wer Partei nahm, sondern wer neutral blieb, erregte Misstrauen» (Roger Blum).
«Der Typ des Generalanzeigers war auf die Interessen der Frauen gerichtet, die über die täglichen Einkäufe entschieden.»
Eingemeindungen schaffen grössere Städte
1893 ist übrigens ein wichtiges Jahr, denn damals wurde in Zürich die erste grosse Eingemeindung vollzogen. Der starke Bevölkerungszuwachs stellte neue Verwaltungsaufgaben. Die Gemeinden Aussersihl (heutige Kreise 4 und 5), Enge inklusive Leimbach, Fluntern, Hirslanden, Hottingen, Oberstrass, Riesbach, Unterstrass, Wiedikon, Wipkingen und Wollishofen wurden zu GrossZürich zusammengefasst. Die meisten stimmten mit starken Mehrheiten zu, weil sie die Lasten der Infrastruktur nicht mehr stemmen konnten. In Aussersihl gab es damals Schulklassen mit bis zu 84 Schülern! Auch die Grossstadt mit ihren nach und nach in Sparten organisierten und professionalisierten Verwaltungsabteilungen hatte einen hohen aktiven Informationsbedarf, den sie zunächst mit amtlichen Publikationsorganen decken wollte. In Zürich erschienen schon ab 1730 die «Donnstags-Nachrichten», später «Tagblatt der Stadt Zürich». Sein Büro war gleichzeitig Meldestelle für Zugereiste, Auskunftsstelle und Fundbüro – eine Vor-Vorform des InternetCafés …
Aber wegen räumlicher Zersplitterung und kleinlicher politischer Aufsicht vermochten die lokalen Blätter an den meisten Orten das Bedürfnis des Publikums nicht zu befriedigen. Viele waren von politisch aktiven Gönnern abhängig.
Alternative Geschäftsidee von aussen
Eine kommerzielle Alternative präsentierte Zürich im gleichen Jahr 1893 der Verleger Wilhelm Girardet aus Essen, der schon in vier stark wachsenden Städten Deutschlands erfolgreich nach angelsächsischem Vorbild den gleichen neuen Zeitungstyp entwickelt hatte: die sogenannten «GeneralanzeigerZeitungen»: politisch neutral, den redaktionellen Teil strikt auf die Nähe – die Stadt, den Kanton – gerichtet, unterhaltsam, ideenreich und dienstleistungsorientiert.
Sie brachten Berichte vom Alltag in der Stadt, von neuen Läden. Ihre Themen waren die Programme der Varietés, der Odéons und der kinematografischen Theater, der Markt und die Tagespreise, die Schule, die Neuerungen beim Rösslitram oder bei der Kehrichtabfuhr. Unentbehrlich war der Fortsetzungsroman. Das spannende Ende erschien immer dann, wenn das Abonnement zur Erneuerung fällig war.
Politisch rechtlose Frauen entschieden über den Erfolg des neuen Zeitungstyps
In den Gemeinwesen, in denen nur die Männer politische Rechte ausübten, war der Typ des Generalanzeigers stark auf die Interessen der Frauen gerichtet, die schliesslich über die täglichen Einkäufe entschieden. Das war die Grundlage für das Inseratengeschäft, die unentbehrliche Querfinanzierung der Zeitungsbetriebe zu Stadt und Land.
Es funktionierte auch in Zürich. Einen Monat lang liess Girardet seinen «Tages-Anzeiger» gratis verteilen, dann hatte er annähernd 30 000 Abonnenten. In Luzern, Lausanne und Genf entstanden Nachahmertitel und hatten ebenfalls Erfolg.
Die Lesenden, die Politiker, die Wirtschaftskräfte merkten: Mit der Presse war eine vierte Gewalt im Staate entstanden, hoch im Anspruch auf Unabhängigkeit, zugleich abhängig von zwei Kundengruppen mit teilweise entgegengesetzten Zielen: den Lesenden mit ihrem Anspruch auf Information, Welterklärung, Haltung und Unterhaltung, und den Inserenten, die bald einmal mehr als die Hälfte der Kosten bezahlten und nicht müde wurden, auf die unabhängigen Redaktionen Einfluss zu nehmen. Die wichtige Rolle der vierten Gewalt wurde auch vom jungen Bundestaat Schweiz anerkannt: Bereits im ersten Bundesgesetz über die Posttaxen von 1849 wurde eine Taxermässigung für «Zeitungen und andere periodische Blätter der Schweiz» festgehalten. Das war der Beginn der bis heute andauernden und bewährten indirekten Presseförderung.
«Am Anfang stand der gegenseitige Schutz vor Übervorteilung im Vordergrund.»
Standes- vor Sozialpolitik – und der ewige Kampf mit der Post
Die Gründung des Zeitungsverlegerverbandes, die 1899 im Hotel Halbmond zu Olten vollzogen wurde, war eine Reaktion «auf die wachsenden Ansprüche der Postverwaltung betreffend Zeitungsexpedition» – ein Problem, das den Verband bis heute beschäftigt: die Posttaxen. Die Aktivität der Verleger war deshalb so dringlich, weil in den vorangegangenen zwanzig Jahren die Zahl der pro Jahr versandten taxpflichtigen Zeitungsexemplare auf über 100 Millionen gestiegen war. Die damalige Forderung ist noch heute nicht erfüllt, nämlich eine transparente Kostenrechnung für den Zeitungsversand. Trotz sinkender Auflagen in den «InternetJahren» seit 2000 sehen die Verleger den Zeitungsversand als Grundauslastung für die Post in einer Grössenordnung, die in allen Branchen der Marktwirtschaft eine Preissenkung zur Folge haben müsste. Über eine Offenlegung ihrer Kosten für den Zeitungs und Zeitschriftenversand durch die Post und eine grundsätzliche Diskussion mit ihren Kunden, den Verlegern, hat man bis heute nichts vernommen.
Das erste Programm des jungen Verbandes umfasste 18 Punkte. Im Vordergrund stand «der gegenseitige Schutz vor Übervorteilung», eine «gewerbeschonende Wettbewerbs und Marktordnung und die Abwehr behördlicher Eingriffe». Damit war deutlich genug der Griff des Monopolbetriebes PTT in die Kassen der Verleger gemeint. Nur am Rande war von sozialpartnerschaftlichen Anliegen die Rede. Der sechs Jahre früher gegründete erste nationale Journalistenverband hielt seine Interessen damals noch für gleichgerichtet mit denen der Verleger und der Drucker.
Die ersten Jahre des Verlegervereins waren auch die Zeit bedeutender technischer Neuerungen in den Zeitungsbetrieben. Ab 1888 lief die erste Rotationsmaschine, und Hermann Jent, Mitbegründer des Verbandes und Verleger des «Bundes», hatte als Erster in der Schweiz ThorneSetzapparate angeschafft. Das System bewährte sich nicht und wurde später durch die fortan branchenführende Linotype aus dem Hause Mergenthaler abgelöst. 1902 zeigte eine Umfrage unter Schweizer Journalisten, dass es erst wenige professionelle Persönlichkeiten im Geschäft waren. Die Sozialpolitik und die Arbeitsteilung zwischen Journalisten, Verlegern und Druckern wurden erst später aktuell.
Es gab viel zu tun. Der Verband hat es immer wieder angepackt. Fertig geworden ist er damit noch nicht. Aber es wird weitergearbeitet.
--- *Karl Lüönd (1945) ist einer der besten Kenner der Schweizer Mediengeschichte. So verfasste er unter anderem Bücher über Ringier oder Tamedia. Er war unter anderem Mitglied der Chefredaktion des «Blicks», Chefredaktor des «Züri Leu» und während vieler Jahre der «Züri-Woche», deren Verleger er zeitweise war. Von 1998 bis 2005 war er Leiter des Medieninstituts des Verlegerverbandes (heute VSM). Lüönd verfasste über 30 Sachbücher und Unternehmensbiografien. ---
--- Die «Schweizer Mediengeschichte» ist in 4 Teile aufgeteilt. Dies war Teil 1 von 4. Lesen Sie die nächste Folge « Neue Rollen für alte und Platz für neue Medien: vom Verteilungskampf zum Tsunami»---