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Neue Rollen für alte und Platz für neue Medien: vom Verteilungskampf zum Tsunami
Schweizer Mediengeschichte Teil 2/4:
Die Schweizer Medienlandschaft hat sich nach dem Ersten Weltkrieg tiefgreifend gewandelt, beginnend mit der Herausforderung der lokalen Presse durch das aufkommende Radio. Die Werbung entwickelte sich zeitgleich zu einem zentralen Wirtschaftsfaktor, der die Medienexpansion nach dem Zweiten Weltkrieg vorantrieb. Die Einführung des Fernsehens und die Gründung der Zeitung «Blick» brachten eine radikale Veränderung, indem sie traditionelle Medienkonzepte infrage stellten und neue Formate und Zielgruppen erschlossen.
Text: Karl Lüönd Bilder: Keystone-SDA
Medien = Presse = Zeitung oder Zeitschrift. Diese Gleichung stimmt spätestens nach dem Ersten Weltkrieg für die föderalistisch gebauten und von der direkten Demokratie benötigten lokalen Schweizer Kleinzeitungen nicht mehr. Das erste Erdbeben war der Auftritt eines unvertrauten Konkurrenten: des Radios Anfang der 1920er-Jahre. Es wurde ein schneller Erfolg. Die Zeitungsverleger bekämpften es mit Hinweis auf ihre staatspolitische Funktion. Das Radio brachte eine Änderung der täglichen Informationsgewohnheiten, was als revolutionär und tendenziell bedrohlich empfunden wurde. Dabei gab es den drahtlosen Rundfunk schon seit 1901. Aber anders als bei der gedruckten Presse, der sie die grösstmögliche Freiheit zugestand, kontrollierte die Politik, gestützt auf die damalige Gesetzgebung, das strenge Postregal, jede Bewegung auf dem neuen Geschäftsfeld.
Angst vor Spionage und Nazis
Das Militär argwöhnte den Rundfunk zunächst als ein neues Mittel der Spionage. Ausserdem beobachteten in den frühen 1920erJahren aufmerksame Schweizer Politiker dessen erste reale Wirkungen bei der Ausbreitung des Nationalsozialismus im nördlichen Nachbarland, wo ein skrupelloses Regime die Faszination des neuen, hochemotionalen Mediums für seine verbrecherischen Ziele zu nutzen verstand.
Der als offiziöse Stimme der Schweiz auftretende Landessender antwortete mit viel beachteten Meinungsbeiträgen und Analysen, vor allem – von 1940 bis 1947 und im Auftrag des Bundesrates – mit der legendären, wöchentlich ausgestrahlten «Weltchronik» des unabhängigen Historikers JeanRodolphe von Salis. Sie wurde in ganz Europa – in NaziLändern unter strengsten Strafandrohungen schwarz – gehört.
Die enge politische Kontrolle der elektronischen Medien blieb in der Schweiz bis zu dem von Roger Schawinski erfolgreich geführten Angriff auf das Radiomonopol Konsens, die Ideologie des «Service public» selbstverständlich auch. Dieser Begriff, eingeführt von einem Experten der BBC, tauchte zum ersten Mal drei Jahre vor der Gründung der SRG (1931) auf. Dass die SRG im Laufe ihrer Geschichte immer wieder, das Banner des Service public schwenkend, aggressiv privatwirtschaftliches Terrain besetzt und im Schutze ihres Gebührenprivilegs lukrative Marktpositionen aufgebaut hat, hängt wahrscheinlich nicht nur mit dem Machtwillen der SRGOberen zusammen, sondern auch mit der Eigendynamik, die alle grossen Systeme zu entwickeln scheinen.
Zu diesen Systemen gehörte innert weniger Jahre die Schweizerische Radio und Fernsehgesellschaft (SRG). Sie war zwar nur ein Verein, begann aber im helvetischföderalistischen Getriebe der Sprachregionen, StadtLandGegensätze und Mikrokulturen eine verbindende Rolle zu spielen und zugleich eine enorme Machtposition aufzubauen.
Besitzstandwahrung als Verleger-Strategie
Die Zeitungsverleger setzten zunächst den Kleinkrieg mit der PTT fort. Sie verhinderten zum Beispiel Inserate in den Telefonbüchern und reklamierten immer wieder, um die als Konkurrenz empfundenen Radionachrichten zeitlich einzuschränken.
Auch dem epochal neuen Medium Fernsehen näherten sich die Schweizer Verleger zunächst mit Misstrauen und Abwehrreflexen. 1951/52 debattierten National und Ständerat leidenschaftlich über die Finanzierung eines dreijährigen Versuchsbetriebs, an dem sich der Bund mit 2,4 Millionen Franken beteiligen wollte. Hauptargument der Landesregierung: Die Schweiz soll eine Drehscheibe der internationalen Kommunikation bleiben. Das kluge Argument der Botschaft von 1951: «Schliesslich ist die verkehrspolitische Stellung unseres Landes in Europa immer dieselbe, ganz gleich, ob es sich um Alpenpässe, Alpentunnel, Transitkabel oder um Fernsehen handelt.»
Es obsiegte wiederum der politische Wille, das neue Medium unter öffentlicher Kontrolle zu halten und die ServicepublicIdeologie fortzusetzen. Anschliessend kam es zu dem in der Schweiz wohl unvermeidlichen Streit zwischen den Regionen um die StudioStandorte. Zwar hatte noch 1957 eine klare Mehrheit von 57 Prozent an der Urne den Radio und Fernsehartikel abgelehnt, der die neuen Medien auf eine eigene Gesetzesgrundlage gestellt hätte, doch in einer Zeit, da sich die wirtschaftlich gestärkten Schweizerinnen und Schweizer für die Welt zu interessieren und ins Ausland zu reisen begannen, kam das Fernsehen den Bürgern im Alltag gerade recht. Wie stark die Neugier des Publikums war, zeigte sich in einer der groteskesten Episoden der Schweizer Mediengeschichte. Der Zeitungsverlegerverband, der neue Konkurrenz auf dem Werbemarkt fürchtete, bot der SRG ein «Lösegeld» für den Verzicht auf die Fernsehwerbung an: 2 Millionen Franken pro Jahr, bis dass 180 000 Konzessionen erreicht wären. Mit dem Segen des Bundesrates kam dieser Kuhhandel zustande.
Bald zeigte sich, dass die Verleger und fast alle anderen Fachleute die Dynamik des Fernsehens in grotesker Weise unterschätzt hatten. Entgegen allen Erwartungen wurde die Marke der 180 000 gebührenpflichtigen Empfangsbewilligungen schon 1961 erreicht. Das Werbefernsehen kam 1965 trotzdem.
Öffentliche Empörung über erste Boulevardzeitung
Neue Konkurrenz drohte den Verlegern nicht nur durch die elektronischen Medien, sondern auch durch die neue Tageszeitung «Blick», die am 14. Oktober 1959 das erste Mal erschien. Die Gründung des «Blicks» wurde von den anderen Zeitungsverlegern, die sich mehrheitlich (partei)politisch definierten und sich auf regionale Märkte konzentrierten, als Kampfansage und als Bruch eines jahrzehntelangen Burgfriedens verstanden. Sie empörten sich öffentlich über die populistischlinksliberalen Positionen der ersten Boulevardzeitung der Schweiz. Doch der «Blick» war gekommen, um zu bleiben. Die visionären «Blick»Gründer –Paul und Hans Ringier – hatten bereits 1959 das aufkommende Fernsehen im Auge und schufen mit der völlig neuen Zeitungsformel des «Blicks» das Begleitblatt für ein neues Medienzeitalter.
Angriffiger Pirat gegen erwachtes Monopol
Das Nebeneinander von gedruckten und gesendeten Medien im milden Klima der Hochkonjunktur nahm 1981 ein Ende, als der in der Bundesratswahl zugunsten von Willi Ritschard verschmähte Solothurner Ständerat Leo Schürmann, eine unternehmerisch wie intellektuell herausragende Persönlichkeit, mit der Wahl zum Generaldirektor der SRG getröstet wurde. Er formte diese Organisation zu einem gut geführten und dynamischen Medienunternehmen, das – mit gesicherten Konzessionseinnahmen in Höhe von 70 Prozent – getrost eine rücksichtslose Politik der Terrainbesetzung in allen innovativen Bereichen realisieren konnte. Überall wurden Terrains besetzt: mit den dritten Programmen, dem Nachrichtensender DRS 4, dem Jugendsender Virus und der traditionsverbundenen Musikwelle. Damit führte die SRG mit der Mehrheit der Parlamentarier im Rücken den Abwehrkampf gegen die ab 1980 aufkommenden Privatradios. Das Fernsehen begann eigene Quiz und Spielshows zu produzieren und lernte Begriffe wie RealityTV oder DokuSoap buchstabieren.
Mit einem geschickten Mix aus sympathischer Piraten-Allüre und genauem Gespür für die Bedürfnisse der jungen Schweizerinnen und Schweizer gewann Roger Schawinski den Kampf für die Einführung der Privatsender. Unter der begütigenden Regie von Leon Schlumpf wurden 1984 die politischen und juristischen Voraussetzungen dafür geschaffen und der neue Radio und Fernsehartikel eingeführt: mit etlichen lästigen Bremsen, aber immerhin!
Der Kulturwandel im privaten Verlagswesen
Unter dem hohen Kosten und Konkurrenzdruck im kleinen Deutschschweizer Markt stellte sich vor allem bei den mittelgrossen Tageszeitungen ab Ende der Neunzigerjahre eine markante Konsolidierung ein. Bedeutende Unternehmer der Branche beteiligten sich an den in den Regionen spriessenden Lokalradioprojekten und an den ersten Versuchen für private lokale Fernsehsender. Die Verleger wurden MultimediaUnternehmer!
Zugleich formierte sich das Deutschschweizer Verlagswesen in fünf Gruppen (zuzüglich einiger stolzer Unabhängiger).
Bei Tamedia, CH Media und Somedia fanden zahlreiche vom Föderalismus und vom PublicitasKartell künstlich ernährte mittelgrosse Titel ein Obdach. «NZZ» und «Blick» samt ihren LineExtensions am Sonntag usw. waren stark genug für den Einzelgang. Damals sahen die wenigsten Akteure den Tsunami kommen, der in den folgenden zwanzig Jahren das Schweizer Verlagswesen umstürzen würde.
Mit dem 2005 revidierten Radio und Fernsehgesetz (RTVG) wurde als Ausgleich für die politisch gewollte Wettbewerbsverfälschung das Gebührensplitting eingeführt, und die Sponsoring und Werberegeln für die Privaten (und nur für sie) wurden gelockert. Gerade bei der Parlamentsberatung dieses Gesetzes wurde die ungeheure LobbyPower der SRG immer wieder spürbar. Die medienpolitische Koalition ist seither unschlagbar: Die SP dominiert spürbar die Programm und Personalpolitik, die CVP, heute Die Mitte, sichert die Radio und TVVersorgung der Randgebiete, und die vom SRGinternen Finanzausgleich profitierenden Sprachminderheiten zementieren die Allianz. Die SVP (mit bedeutenden Verlagsbesitzern wie Christoph Blocher, Walter Frey und Roger Köppel) führt oft die Fundamentalkritik an der SRG an und gibt Gegensteuer gegen deren Machtanspruch.
Dieweil zeigte die Statistik, dass der Schweizer Durchschnittshaushalt schon ab etwa 2005 einen immer grösseren Teil seines Medienbudgets für Kabelanschlüsse und TV/Internetgestützte Zusatzdienste einschliesslich Streaming (Netflix u. a.) ausgibt. Die Aufwendungen für Druckmedien sackten auf knapp ein Viertel ab.
Ein bisschen wie bei der Gotthardpost
Nach und nach verschwanden die meisten klassischen Familienzeitschriften, während die nach wie vor vierstellige Zahl der –mehrheitlich von professionellen Redaktions und Verlagsfachleuten geführten –Fach und Spezialzeitschriften relativ unbehelligt ein eigentliches System von auskömmlichen Nischen bildet. Sie haben ihr PrintAngebot längst mit Websites, Newsletters und den Errungenschaften der Social Media erweitert.
Auch die lokal orientierten B- und C-Zeitungen zeigen im Medien-Tsunami eine erstaunliche Widerstandsfähigkeit und liefern – sorgfältige Geschäftsführung, ausreichende Reichweite und eine den Fixkosten gewachsene Grösse vorausgesetzt – bis zum heutigen Tag solide Ergebnisse.
Doch den traditionellen Medien wird es auf längere Sicht ergehen wie der Gotthardpost nach Eröffnung des Bahntunnels. Die Kutschen können noch so blank, die Pferde noch so stark sein – die meisten Reisenden nehmen die Bahn. Aber es gibt ein starkes Hoffnungszeichen. Die Zahl der Reisenden und der verkauften Tickets für Nostalgiefahrten nimmt zu. Wenn die Postillons schnell genug umlernen, bleiben sie im Geschäft.
--- Die «Schweizer Mediengeschichte» ist in 4 Teile aufgeteilt. Dies war Teil 2 von 4. Lesen Sie die nächste Folge «Der Umsturz als Dauerzustand: die turbulenten Jahre seit des Aufkommens des Internets.»---