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Der Umsturz als Dauerzustand: die turbulenten Jahre seit dem Aufkommen des Internets

Schweizer Mediengeschichte Teil 3/4:

Seit der Jahrtausendwende sind die Medien mittendrin in der grundlegenden Erneuerung, genauer im Umsturz des Geschäfts. Die Digitalisierung hat alles verändert: die Gewohnheiten der Kunden, die Produkte und Dienstleistungen, ebenso die Berufsbilder. Der Verlegerverband geht mit der Zeit und passt seine Aktivitäten laufend an.

Text: Karl Lüönd Bilder: Keystone-SDA

Journalismus auf allen Kanälen: Mit dem Aufkommen von Internet, Smartphones und Social Media veränderte sich die Produktion und Verbreitung von journalistischen Inhalten radikal. (Newsroom von CH Media, 2019)

Der gewaltige technische Sprung von der Gutenberg­Galaxis ins digitale Zeitalter ist eine Überlebensübung für die meisten Verlage, nicht nur für die mittleren und kleinen. Alle und alles wurde in beispielloser Radikalität auf den Kopf gestellt, mental, finanziell und betriebswirtschaftlich.

Nehmen wir als Beispiel das Jahr 2008, als die weltweite Finanzkrise ausbrach. Schon damals, etwa acht Jahre nach dem ersten digitalen Blitzschlag, haben bereits 42 Prozent der befragten Lesenden die Nachrichten am Bildschirm bzw. am Mobiltelefon gelesen. Nicht alle Redaktionen haben dies sofort ge­merkt und das Styling der Texte angepasst. Dennoch sind die Lesermärkte bemerkenswert treu geblieben. Insgesamt wurden im Jahr 2008 11,2 Milliarden Franken für PrintAbonnements, Einzelverkäufe, Downloads und andere digitale Darreichungsformen ausgegeben, das waren im Durchschnitt 3328 Franken pro Haushalt. Dies ermittelte die im Jahr 2005 eingeführte jährliche Studie «Medienbudget.ch» des Verbandes Schweizer Medien.

2008 war sowieso ein historisches Jahr. Die Ausgaben der Endverbraucher für digitale Inhalte (IT, Telecom, Internet) machten einen riesigen Sprung von 28 Prozent zum Vorjahr und waren damit zum ersten Mal höher als die Ausgaben für die gedruckte Presse. IT/Telecom übertrifft im Schweizer Medienbudget die Inhaltslieferanten um 2,8 Prozent. Möglicherweise waren es noch mehr. Denn die Statistiken sind mit Vorsicht zu geniessen, da nicht alle neuen Mitspieler bereit sind, ihre Geschäftszahlen offenzulegen, vor allem manche ausländischen Online­Dienste nicht.

New kids in the block …

Der Verlegerverband schildert die Grosswetterlage in diesem wichtigen Jahr 2008 im Jahresbericht wie folgt: «Der Medienkonsum erhöht sich alle zehn Jahre um zehn Stunden pro Woche. Die Technik ermöglicht den schnellen Zugriff auf Inhalte über immer mehr Kanäle. Branchenfremde Global Players werden zu Konkurrenten der bisherigen Medienanbieter. Sicher geglaubte Marktstandards geraten durcheinander, und Wildwuchs macht sich breit.» Der Umgang mit sozialen Medien und Social Communities beansprucht kostbare Aufmerksamkeit, was sich sowohl bei den Mediennutzern wie auch den Werbeauftraggebern bemerkbar macht.

Sicher ist, dass die gedruckte Presse im Anzeigengeschäft in den zurückliegenden zwanzig Jahren massiv an Marktanteilen verloren hat. Aber noch immer können sich die Print­Verleger auf einen stabilen Lesermarkt verlassen. Der Ausgleich wurde mit einer steten Erhöhung der Abonnementspreise gesucht, zugleich aber in den meisten Betrieben mit einem harten Sparkurs, der zwangsläufig auf die Vielfalt des redaktionellen Angebotes zurückschlug.

Schon das hier näher betrachtete, lange zurückliegende Krisenjahr 2008 hat gezeigt, dass noch 58 Prozent der Einnahmen der gedruckten Presse aus der Werbung stammten. In den lang zurückliegenden «goldenen Zeiten» vor 1999 waren es an den meisten Orten 70 und mehr Prozent gewesen. Seither ist der Verlust an Anteilen am Anzeigenmarkt wei­tergegangen; die Medien wurden noch stärker auf ihre wichtigste und stabilste Ertragsquelle zurückverwiesen: die zahlenden Endnutzer, auch Abonnenten genannt. Oder auf neue Geschäftsideen. Plötzlich begannen die Verlage Reisen zu organisieren oder Originalgrafik zu verkaufen oder wenigstens BioKonfitüre vom Hofladen.

Das Volk hilft nicht, so hilf dir selbst!

Die massiven Umwälzungen in der Medienbranchen haben auch Auswirkungen auf den Verlegerverband. Wie sehr sich dieser in diesen Krisenjahren verschlankt und auf das Wesentliche konzentriert hat, spiegelt sich allein schon im Umfang seiner Jahresberichte.

«Print-Verleger können sich immer noch auf einen stabilen Lesermarkt verlassen.»

Was früher ein opulentes vierfarbiges Heft von über hundert Seiten gewesen ist, hat abgenommen und umfasst jetzt noch zwölf Seiten. Doch weniger ist oft auch mehr, und so erbringt der Verlegerverband heute nach wie vor essenzielle Dienstleistungen für die privaten Schweizer Medienunternehmen und ist Träger wichtiger Institutionen der Medienbranche.

Nach der für die Verleger schmerzlichen Niederlage an der Urne bei der Volksabstimmung über das Medienförderungspaket (54,6 Prozent Nein­Stimmen) vor zwei Jahren betont der neue Präsident Andrea Masüger umso mehr «die Kraft unserer Branche». Er sieht sie darin, «dass sich der VSM als Kompetenzzentrum mit aller Kraft für gute Rahmenbedingungen für die Schweizer Medien einsetzt». Die Schwerpunkte sind auch unter grundlegend veränderten Voraussetzungen die gleichen geblieben. Eine genauere Betrachtung dieser mit der üblichen Aktivität einhergehenden Säulen des Verbandstempels lohnt sich.

Medienkompetenz und Gattungsmarketing: Leistung und Nutzen der Medien betonen

Immer wieder in seiner ganzen und manchmal turbulenten Geschichte hat der Verlegerverband die unersetzliche Bedeutung der Medien im direktdemokratisch fundierten und föderalistisch organisierten Staat betont. Die Medien stellen sich sozusagen als die Antriebsmotoren des direktdemokratischen Betriebs dar; wer anders sollte den Stimmberechtigten wie auch der nachwachsenden Generation erklären, worum es bei den einzelnen Vorlagen geht? Dass dies nach integren, professionellen Regeln geschieht, ist quasi die freiwillige Selbstverpflichtung der Verleger, ungeachtet ihrer politischen Richtung. Mit erfolgreichen Initiativen – die letzte war «Was-­lese-­ich.ch» und richtete sich vor allem an die Schulen – wird das Bewusstsein der Staatsbürger für die Bedeutung der Medien aller Gattungen geschärft. Die direkte Begegnung von Schüler/-­innen und Redaktor/-­innen hat an Dutzenden von Orten Eindruck gemacht.

Presserat: Selbstkontrolle aus Überzeugung

Der Presserat ist eine private, allein durch die Fachkenntnis und Erfahrung der aktiv Beteiligten legitimierte Beschwerdeinstanz. Je fundierter ihre Stellungnahmen sind, desto stärker werden sie beachtet. Der Presserat misst die Fälle, die ihm auf dem (kostenlosen) Beschwerdewege unterbreitet werden, am allgemein, auch international anerkannten Journalistenkodex, der – als Preis für die Rechte auf Information, Meinungsfreiheit und Kritik – auf dem Schutz der Privat­ und Intimsphäre ebenso besteht wie auf der zwingenden Verpflichtung der Journalistinnen und Journalisten, in strittigen Angelegenheiten allen Parteien mit ihren besten Argumenten das Wort zu geben. Die einzige Sanktion, die der Presserat verhängen kann, ist die öffentliche Stellungnahme zur Beschwerde. Der Presserat wurde 1972 vom damaligen Verein der Schweizer Presse (heute Impressum) gegründet und ist seit 2008 dank der Mitwirkung der Verleger und der SRG eine allgemein anerkannte moralische Instanz.

Medieninstitut: Aus- und Weiterbildung auf mehreren Gleisen

Gerade weil der Journalismus und das Verlagswesen zu den wenigen staatlich nicht regulierten Berufsgattungen gehören, haben sich die darin engagierten Verbände seit den 1980er­Jahren intensiv um die berufliche Aus­ und Weiterbildung gekümmert. Es war – in einer betont günstigen Konjunkturlage – die Zeit der Professionalisierung des publizistischen Gewerbes in allen seinen Schattierungen. Sie ging einher mit der schwindenden Bedeutung der parteigebundenen Presse und den wachsenden unternehmerischen Risiken für die Verleger. Mit der Gründung des Medieninstituts hat der damalige Verband Schweizer Presse einen wichtigen Schritt zur fachspezifischen Ausund Weiterbildung von Verlagsfachleuten getan, angefangen beim Einführungskurs für Neulinge bis zum Management­Kurs mit abschliessendem eidgenössisch anerkanntem Fachdiplom. Die Verleger, darunter nicht wenige freiwillige Gönner und auch die damalige Publicitas, sorgten für die Schulorganisation, die Entwicklung der Lehrgänge und vor allem für die als Dozenten und Prüfungsexperten benötigten Fachleute.

Das Medieninstitut führt auch regelmässig Fachtagungen durch, die stark beachtet werden, unter anderem für die Fach­ und Spezi­almedien, die Lokalmedien und unter dem Label «KI­Kompass» auch zur Wissensvermittlung zu brennenden Themen rund um die künstliche Intelligenz. Die 1999 erstmals durchgeführte Dreikönigstagung, der traditionelle Jahresauftakt der Schweizer Medienbranche, hat 2024 zum 25. Mal stattgefunden. Der Anlass bringt die Entscheider aus Medien, Kommunikation, Politik und Wirtschaft zusammen und setzt die Themenschwerpunkte für das neue Medienjahr.

Medienausbildung: Lieber unabhängig als eingebettet

Auch das Medienausbildungszentrum MAZ in Luzern war eine Selbsthilfe­Organisation der Branche, durfte sich aber seit dem Beginn im Jahre 1984 der Hilfe von Stadt und Kanton Luzern erfreuen. Das MAZ wird getragen von einer Stiftung, deren Rückgrat die Journalisten­ und Verlegerverbände zusammen mit der SRG bilden. Das MAZ führt zwei voneinander getrennte Abteilun­gen, eine für Journalismus und eine für (zweck­ bzw. institutionsgerichtete) Kommunikation. Dies tut es vor allem aus wirtschaftlichen Gründen. Die Kommunikationsschiene subventioniert den Journalismusteil. Das MAZ erreicht auch deshalb einen für private höhere Fachausbildungsstätten ungewöhnlich hohen Eigenfinanzierungsgrad.

Bemerkenswert ist, dass sowohl Medieninstitut und MAZ aus eigenem, freiem Willen nicht dem staatlichen Fachhochschulsystem angehören wollen, obwohl sie die dafür erforderliche Qualifikation besässen. Die Abschlüsse beider Institutionen sind in der Branche allgemein anerkannt; das MAZ führt CAS­Lehrgänge (Certificate of Advanced Studies) zusammen mit der Hochschule für Wirtschaft Zürich (HWZ) bzw. der Hochschule Luzern – Wirtschaft (HSLU Wirtschaft) durch.

Die Zukunft liegt in den Nischen

Im letzten Fünftel seiner 125­jährigen Geschichte hat der Verlegerverband Schweizer Medien die zerstörerische Kraft eines Tsunamis, aber auch die zähe Widerstandskraft des gewachsenen «Urwalds» erlebt. Verschärft wurde die wirtschaftliche Lage durch die Kleinheit des Marktes. Die deutsche Schweiz zählt etwa gleich viele lesefähige Einwohner wie ein Drittel von NordrheinWestfalen. Zugleich ist die Schweiz ein Land mit hohen Durchschnittslöhnen und entsprechenden Kosten.

Das Fixkostenproblem bremst manche Zeitungen und Zeitschriften und hat auch schon das Überleben gut gemachter und im Lesermarkt erfolgreicher Titel (z. B. «Cash», «Facts») verhindert. Als Folge des Internets ist die traditionelle Querfinanzierung vor allem der Lokalzeitungen durch Rubrikenanzeigen (Stellen, Wohnraum, Autos usw.) entfallen. Zugleich hat die rasante Verbreitung der Mobilkommunikation die Bereitschaft vieler Menschen, für Informationen zu bezahlen, gegen null gedrückt. Dies wiederum zwingt manche Anbieter zu äusserster Sparsamkeit vor allem beim Personal, wie die in den letzten Monaten verkündeten schmerzhaften Stellenreduktionen bei den grossen Medienhäusern exemplarisch aufzeigen. Neuerdings ist auch von der möglichen Schliessung von grossen Zeitungsdruckereien die Rede.

Neue Probleme bedeuten auch neue Chancen, zum Beispiel für Nischenprodukte. Schon 1998 startete der Journalist Peter Knechtli die Basler Informationsplattform OnlineReports, die er für den Rest seines beruflichen Lebens (bis 2023) auch wirtschaftlich erfolgreich als Chefredaktor und Geschäftsführer in Personalunion betrieb und dann an jüngere Kollegen übergab. Weitere Nischenplattformen folgten auf nationaler und lokaler Ebene, wie die Onlineportale republik.ch, tsüri.ch oder bajour.ch. Im grösseren Stil, aber auch mit ungleich höheren Investitionen brachte es watson.ch gemäss eigenen Angaben nach sechs Jahren in die schwarzen Zahlen. Watson gibt es inzwischen auch in der Romandie und als Lizenzausgabe in Deutschland. Gegründet wurde die erfolgreiche Marke von Hansi Voigt; heute gehört sie zum CH­-Media-­Verbund der Familie Wanner.

Jeder ein Verleger – oder beinahe …

Seit zehn Jahren ist auch finews.ch auf dem Markt, die Gründung des Journalisten Claude Baumann, die sich heute «das Intranet der Schweizer Finanzbranche» nennt und mit hohem Aufwand Ware liefert, deren Qualität sich nicht an den Primeurs misst. Am anderen Ende des gleichen Spielfelds betreibt der Journalist Lukas Hässig seit 2011 die Internet­Zeitung «Inside Paradeplatz», die schon viele vermeintliche oder wirkliche Geheimnisse ausgegraben hat und offen von der Mitteilungsfreude von «Kanalratten» lebt, die ihr Insiderwissen wohlgetarnt nach aussen tragen.

Hässig und andere beweisen seit Jahren, dass man – mit Hilfe des Internets – Verleger sein kann, ohne hohe Investitionen riskieren zu müssen. Die Leitwährung ist die eigene Arbeit bis zur Selbstausbeutung. Eindrücklich ist das Echo, das diese Portale hervorrufen: 200, 300 Zuschriften auf einen «Aufreger» sind keine Seltenheit. Bei der gedruckten Presse sprach man bei fünf oder zehn Leserbriefen schon von einer «Flut». Unter dem Druck der Rechtsabteilungen ihrer Widersacher haben die neuen Internet­Verleger gelernt, dass auch die Wiedergabe von anonymen Werturteilen und Informationen unter die redaktionelle Verantwortung fällt.

Mit anderen Worten: «Am Ende des Tages kommt es auf den Inhalt an und nicht auf das Gefäss, in dem dieser dargeboten wird.»

--- Die «Schweizer Mediengeschichte» ist in 4 Teile aufgeteilt. Dies war Teil 3 von 4. Lesen Sie die nächste Folge «Die Zukunft ist digital – der Wert des Journalismus bleibt»---

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