bulletin Nr. 1/2013

Page 1

bulletin Nr. 1/2013

sek · feps

/

Nr. 1 2013

bulletin

Das Magazin des Schweizerischen Evangelischen Kirchenbundes

6

–Verfassungsrevision

Quo vadis, ecclesia?

– Lesen, hören und sehen Sie Ihren Kirchenbund im bulletin online! www.sek.ch

16 –  Ansichten von Abt Martin Werlen und Gottfried Locher Ökumene

20 – Über die Gefahren, ein Embryo zu sein 36 –  Der Sonntag – Ein Anliegen Option Leben

Sonntagsallianz

Schweizerischer Evangelischer Kirchenbund SEK Sulgenauweg 26 CH-3000 Bern 23 Telefon +41 (0)31 370 25 25 info@sek.ch

sek · feps Schweizerischer Evangelischer Kirchenbund

weltlicher Spiritualität?

sek · feps



3

– Editorial

Quo vadis, ecclesia? Die Petrusakten haben es nicht in den biblischen Kanon geschafft. Sie fristen ihr Dasein inmitten der verborgenen, der apokryphen Schrif­ ten. Wenig schmeichelhaft, und doch ein gutes Beispiel für die Tatsache, dass aus Verborgenem grosses entstehen kann. Quo vadis zum Beispiel, die einfache Frage «Wohin gehst Du?» aus den Petrusakten, die es spä­ testens mit Peter Ustinov zu Weltruhm gebracht hat. Wohin gehst Du, Kirche? Diese Frage verbirgt sich hinter der Ver­ fassungsrevision, einem Grossprojekt des Kirchenbundes. In einem Jahr soll die Abgeordnetenversammlung, das Sprachrohr der rund zwei Mil­ lionen Evangelischen der Schweiz, entscheiden. Bleibt alles, wie es ist? Ist der Kirchenbund Gemeinschaft, die Gemeinschaft Kirche, die Kirche eine Kirchengemeinschaft? Drei Persönlichkeiten nehmen in diesem Heft den Faden auf. Gabriel Bader aus Neuenburg, Dölf Weder aus St. Gallen und Gottfried Locher vom Kirchenbund. Einheit? Unbeque­ me Fragen? Idenitätsdiffusionen? Lesen Sie selbst ab Seite 8. Wohin gehst Du, Kirche? Was bedeutet Dir die Einheit, wenn Du über den evangelischen Tellerrand hinaus blickst? 500 Jahre nach der Reformation ist vieles im Verborgenen, fristet sein Dasein, ist wenig schmeichelhaft. Kann hier noch grosses entstehen? Die Bereitschaft zur Ökumene ist grösser, als ich das je vermutet hätte, sagt Abt Martin Wer­ len dazu in seinem Gastbeitrag ab Seite 18. Wo arbeitest Du, Kirche? Sie kennen Ihre Kirchenratspräsidentin, Ihren Synodalratspräsidenten. Aber kennen Sie ihr Arbeitszimmer, seinen Schreibtisch? Der Arbeitsort verrät manches – raten Sie mal. Ab Seite 50. Ich wünsche Ihnen eine anregende Lektüre.

Titelbild: Eigene Bildmontage

Pfr. Philippe Woodtli Geschäftsleiter


4 bulletin Nr. 1/2013

– bulletin Nr. 1/2013

Themen dieser Ausgabe

– Quo vadis, ecclesia?

Gottfried Locher, Gabriel Bader und Dölf Weder zur Verfassungsrevision

6

– Zur Ökumene

Ansichten von Abt Martin Werlen und Gottfried Locher

16

– Option Leben

Über die Gefahren, ein Embryo zu sein – Verdingkinder

20

Ein dunkles Kapitel der jüngeren Schweizer 24 Geschichte


5

– Menschen nicht alleine lassen

Zur Volksinitiative «Abtreibungs­ finanzierung ist Privatsache»

– bulletin Nr. 1/2013

26

– Ein ökumenischer Meilenstein

40 Jahre Leuenberger 29 Konkordie

– Sonntagsallianz

Der Sonntag – Ein Anliegen weltlicher Spiritualität?

36

– Reformations-Jubiläum

– Schutz von Verfolgten

Das Referendum gegen die «dringlichen Massnahmen» 30 im Asylgesetz

In Bewegung bleiben

40

Bildung/ Ausbildung Forschung, Wissenschaft

Weiterbildung

Europäische Netzwerke

Diakonische Landschaft

Strategie

– Umwelt und Klima

Informations­ plattform

My home is in heaven? or on earth?

Austausch­­forum Gesellschafts­ politische Stellungnahmen

– Neuordnung

Wer erfüllt in wessen Auftrag welche Aufgaben in der Diakonie?

34

42

Aus den Kirchen des Kirchenbundes

45

– Gastgeberin Sommer-AV 2013 Die Evangelisch-Reformierte Landeskirche des Kantons Glarus

46

– So verschieden … Wer gehört an welchen Arbeitsplatz? Raten Sie mal!

50


6 bulletin Nr. 1/2013

– Quo vadis, ecclesia?

Schweizerischer Evangelischer Kirchenbund? Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in der Schweiz? Evangelische Kirche in der Schweiz?


7

Wohin gehst Du, Kirche? Diese Frage verbirgt sich hinter der Verfassungsrevision, einem Grossprojekt des Kirchenbundes. In einem Jahr soll die Abgeordnetenversammlung, das Sprachrohr der rund zwei Millionen Evangelischen der Schweiz, entscheiden. Bleibt alles, wie es ist? Ist der Kirchenbund Gemeinschaft, die Gemeinschaft Kirche, die Kirche eine Kirchengemeinschaft? Drei Persönlichkeiten nehmen in diesem Heft den Faden auf. Gabriel Bader aus Neuenburg, Dölf Weder aus St. Gallen und Gottfried Locher vom Kirchenbund. Einheit? Unbequeme Fragen? Idenitätsdiffusionen? Lesen Sie selbst.


8 bulletin Nr. 1/2013 Quo vadis, ecclesia?

– Gottfried Locher, Kirchenbundspräsident

Warum Einheit?

E

inheit in Vielfalt: Das leuchtet unmittelbar ein und stößt auf breite Zustimmung. Aber der Teufel liegt im Detail: Wie genau verhält sich denn die behauptete Einheit zur Vielfalt? Die Evangelisch-reformierten Kirchen in der Schweiz stehen jetzt vor dieser Herausforderung. Sie haben in den letzten Jahren ihre Zusammenarbeit deutlich verstärkt. Nun ste­ hen sie kurz davor, auch die formalen Grundlagen ihrer Kirchengemeinschaft zu erneuern. Das geschieht exemp­ larisch im Rahmen der Verfassungsrevision des Schwei­ zerischen Evangelischen Kirchenbundes. Nun geht es darum, der Formel «Einheit in Vielfalt» im Alltag der Kirchen Leben einzuhauchen.

Vielfalt

Vielfalt ist in der reformierten Schweiz bekannt­ lich kein Problem. Vielfalt ist Tatsache: kleine Kirchen, große Kirchen, Jahrhunderte alte und junge Kirchen, Mehrheits- und Minderheitskirchen, staatsnahe und unabhängige, Volkskirchen und Freikirchen, urbane und ländlich geprägte. Dazu noch die Sprachenviel­ falt mit Französisch, Deutsch, Italienisch und Rätoro­ manisch; unterschiedliche Sprachen bedeuten unter­ schiedliche Kulturen. Schließlich die konfessionellen Prägungen: Genfer Calvinisten und Zürcher Zwingli­ aner, dazwischen Kirchen mit kombinierter Identität, zudem die integrierten lutherischen Gemeinden, und nicht zu vergessen die methodistische Kirche mitsamt Bischofsamt. Alle sind sie Teil des Schweizer Protestan­ tismus. Vielfalt ist selbstverständlich.

Einheit?

Weniger selbstverständlich ist die Einheit. Refor­ mierte Ekklesiologie beschreibt sie primär als geistliche Gemeinschaft im und durch den gemeinsamen Glauben.

Strukturfragen stehen nicht im Vordergrund, und sicht­ bare Einheit, zum Beispiel über Kantonsgrenzen hinweg, ist kein Kernanliegen reformierter Kirchenlehre. Ist die Suche nach institutioneller Gemeinschaft überhaupt «re­ formiert»? Wer mehr sichtbare Einheit unter Kirchen fordert, muss deshalb zwei Fragen beantworten: Warum? Und welche Einheit überhaupt?

Einheit in Vielfalt

Zuerst zur zweiten Frage: Welche Einheit? Dazu arbeitet der Rat des Kirchenbundes gegenwärtig Vor­ schläge aus. Diese Arbeit ist anspruchsvoll. Theolo­ gische, juristische, kulturelle und ökonomische Rah­ menbedingungen sind zu berücksichtigen. Auch die soziologischen Studien der letzten Jahre, unbequeme Tatsachen, sind ernst zu nehmen. Die Schweiz steht mitten in weitreichenden gesellschaftlichen Verände­ rungen. Und die Kirchen stehen vor einer unsicheren Zukunft. Das hat einen Einfluss auf die Art und Weise, wie sie ihre Gemeinschaft gestalten. Neue Möglichkei­ ten der Verkündigung ergeben sich durch gemeinsames kirchliches Auftreten. An solchen Chancen orientiert sich der Rat in der Arbeit am Verfassungsentwurf. Das Kriterium für evangelische Strukturen der Kirchenge­ meinschaft ist der gemeinsame Verkündigungsauftrag. Noch im laufenden Jahr wird der Rat seinen Entwurf in die Vernehmlassung geben. Wie auch immer der Vor­ schlag konkret aussehen wird: Einheit in Vielfalt ist die Überzeugung, die ihm zugrunde liegt.

Drei Gründe …

Reformierte Kirchen scheuen sich stärker als ande­ re Konfessionsfamilien vor verbindlicher Gemeinschaft. Befürchtet wird Autonomieverlust oder gar die Beschrän­ kung der Glaubensfreiheit. Warum also mehr Einheit?


9

Weniger Menschen, aber mehr Gemeinschaft

Erstens, weil die Schweizer Kirchen kleiner werden. Sie werden deutlich kleiner, und sie werden vermutlich noch jahrelang kleiner. Vor einem halben Jahrhundert war über die Hälfte der Menschen in der Schweiz refor­ miert, heute noch ein Fünftel. Nur schon die Verschiebung der Altersstatistik verheißt weitere Reduktionen. Sicher, es gibt regionale Unterschiede, der Mitgliederschwund ist nicht einheitlich, aber der gesamtschweizerische Trend ist klar. Wer ihn negiert, steckt den Kopf in den Sand. Die heutigen Strukturen sind die Erbschaft einer anderen Zeit, und sie laufen Gefahr, zur Belastung zu werden. Will er seinen Verkündigungsauftrag nicht gefährden, dann muss der Schweizer Protestantismus seine Kräfte bün­ deln. Theologische, liturgische oder ethische Klärungen, Ausbildungs­ gänge für Pfarramt und Diakonie, Lehrpläne, Schulungsunterlagen, Lie­ derbücher, Gottesdienstagenden, aber auch Standards in der Finanzplanung, Personalführung oder Liegenschafts­ verwaltung: all das kostet Geld, zu viel Geld in Strukturen, die den kleineren Mitgliederbestand nicht berücksich­ tigen. Noch dringender ist aber, dass die reformierten Kirchen eine gemeinsame Identität entwickeln. Kleinere Kantonalkirchen sind schon heute darauf angewiesen, dass sie zu einem größeren Ganzen gehören, das ihnen Sichtbarkeit und Gewicht verschafft. Größere Kirchen sind weniger auf die Gemeinschaft angewiesen – noch. Profitieren können aber auch sie von einem starken, lan­ desweiten evangelischen Profil. Weniger reformierte Men­ schen brauchen mehr reformierte Gemeinschaft. Es gilt zu handeln, solange noch Handlungsfreiheit besteht.

Kirchliches Profil nicht ohne nationale Öffentlichkeit

Ein zweiter Grund: Die Medienlandschaft hat sich verändert. Nationale oder sprachregionale Medien, Fern­ sehen, Radio und Presse, prägen die öffentliche Meinung. Ob und wie die reformierte Kirche wahrgenommen wird, hängt mit davon ab, ob sie in den nationalen Leitme­dien profiliert dargestellt wird. Dazu genügt es aber nicht, eine gemeinsame Medienarbeit zu machen, tatsächliche Einheit ist gefragt. Die Medienanfrage lautet fast immer: «Was sagt die reformierte Kirche?» – wohlgemerkt, im Singular. Bei aller Vielfalt ist doch die Frage nach dem Gemeinsamen, dem Einenden das, was profiliert. Zu behaupten, die Vielfalt sei gerade das Profilieren­ de, löst das Problem nicht, dass die Öffentlichkeit von der Kirche Positionen und nicht nur Relati­ vierungen erwartet. Entweder «die reformierte Kirche» hat etwas Ver­ ständliches und Verbindliches zu sagen, oder sie wird nicht mehr ge­ fragt. Das gilt nicht nur für die Me­ dien, sondern auch für die Politik und die Bundesverwaltung. Welche Kirche erhebt hier die evangelische Stimme?

– Reformierte Kirchen scheuen sich stärker als andere Konfessionsfamilien vor verbindlicher Gemeinschaft.

Ökumene-Fortschritt dank evangelischer Einheit

Und schließlich ein dritter Grund: Christliche Ein­ heit braucht evangelische Einheit. Ökumenische Fort­ schritte, nachhaltige und verbindliche, kommen nur zustande, wenn die involvierten Kirchenfamilien kon­ fessionell geeint auftreten. Nicht alles muss gleich global geschehen, aber die kantonale Ebene wäre für Vereinba­


10 bulletin Nr. 1/2013 Quo vadis, ecclesia? – Gottfried Locher

rungen mit den meisten Konfessionen zu tief angesetzt. In der heutigen ökumenischen Großwetterlage schafft eine Kantonalkirche im Alleingang keinen ökumeni­ schen Durchbruch mehr. Strukturen der interkantonalen Zusammenarbeit sind hilfreich, aber nicht ausreichend. Was zählt, ist tatsächliche, innere, theologische Gemein­ schaft. Auch evangelische Kirchen müssen sich auf ge­ meinsame Aussagen in Glaubensfragen einigen können, sonst finden sie keine ökumenischen Partner mehr. Wem die Einheit der Christenheit ein Herzensanliegen ist, der sollte sich deshalb zuerst für evangelisch-reformierte Einheit einsetzen. Uniformität wird nicht verlangt, aber erkennbare Bandbreiten einer gemeinsamen Position sind unerlässlich.

... und ein Auftrag

Weniger reformierte Getaufte, neue Medienland­ schaft und mehr Ökumene: drei Gründe für mehr evan­ gelische Einheit. So wichtig sie sind, so klar muss doch bleiben: Sie sind zeitbedingt und sekundär. Biblisch und primär ist hingegen die Erkenntnis, dass das Evangelium glaubwürdiger wird, wenn unter denen, die es bezeugen, Einheit herrscht. Christus spricht: «So sollen sie vollen­ det sein in der Einheit, damit die Welt erkennt, dass du mich gesandt und sie geliebt hast» (Joh 17, 23). Die Kirche hat von ihrem Herrn den Auftrag zur inneren Einheit erhalten. Das gilt auch für die Schweizer Kirchen, wenn sie im Rahmen einer Verfassungsrevision über ihre Einheit nachdenken. Nicht, weil Zusammen­ arbeit Geld spart; nicht, weil die Medien Köpfe wollen; nicht, weil kleine Kirchen gemeinsam mehr Gewicht ha­ ben als je einzeln, nicht deswegen. Sondern weil es of­ fenbar eine Rolle spielt, ob das Evangelium geeint oder getrennt verkündigt wird. Christus ruft die Kirche zur Einheit auf, nicht um ihrer institutioneller Selbstbehaup­

tung willen, sondern «…damit die Welt glauben kann.» Uniformität ist dazu nicht nötig, Einheit schon. Einheit in Vielfalt eben. Liebe Leserin, lieber Leser, welche reformierte, wel­ che evangelische Kirche in der Schweiz wünschen Sie sich? Jetzt ist der richtige Moment, um mitzudenken und mitzusprechen. Der Kirchenbund erneuert seine Verfas­ sung. Dabei geht es nicht nur um Strukturen und Finan­ zen. Es geht auch darum, dem Glauben eine Sprache zu geben, die heute verstanden wird. Und dem Evangelium eine Stimme, die heute gehört wird. Eine neue Verfas­ sung für die protestantische Schweiz: Es geht um unsere Glaubwürdigkeit. <


11

– Gabriel Bader, Synodalratspräsident der Église réformée évangélique du canton de Neuchâtel

Eine unbequeme Frage …

«U

nd wie geht es der evangelischen Kirche in der Schweiz?», fragt mich ein spanischer Kollege bei einem Treffen europäischer Kirchenver­ treter. Ich ertappe mich dabei zu stammeln. Das glei­ che Gefühl hatte ich, als mir bei anderer Gelegenheit ähnliche Fragen gestellt wurden – einmal von einem Kirchenvertreter aus dem Tschad, einmal vom Vorsit­ zenden der Evangelischen Kirche Vietnams. Ähm … Wie soll ich sagen? Kann ich mich ohne die klassische Erklärung aus der Affäre ziehen: «Wissen Sie, in der Schweiz haben wir 26 verschiedene Kirchen …» Eine bei internationalen Präsentationen oft gehörte Formel – unverständlich, wenig überzeugend und ausserstande, eine zukunftsorientierte Botschaft zur Situation un­ serer Kirchen zu vermitteln. Die Blicke der Spanier, Tschader, Vietnamesen, Franzosen und Deutschen lö­ sen bei mir eine gewisse Betretenheit aus. Wer sind wir denn, dass wir uns in einem so kleinen Land eine sol­ che Vielfalt an Strukturen erlauben und uns zugleich so schwertun, unsere Vision zu artikulieren? Am liebsten hätte ich geantwortet: «Das denkt die schweizerische Kirche, das bietet sie, das will sie, und so präsentiert sie sich.» Wer sind wir denn?

Unwägbarkeiten aus Geschichte und Selbstbestimmung

Die Geschichte der Schweizer Kantone und des Sonderbundskrieges, die Einführung republikanischer Institutionen sowie deren Konsequenzen im Hinblick auf die Staatsbindung, der helvetische Föderalismus und die Befugnisse der Kantone in Bezug auf ihre Religionsverfassung, mehr noch: die unterschiedli­ chen reformierten Traditionen erklären für jeden, der sich um Verständnis bemüht, die Komplexität unse­

res Erbes. Erklärungen rechtfertigen jedoch nicht das Fehlen eines kirchlichen Projektes zur Überwindung derart mikroskopischer Grenzen, dass sie für unse­ re ausländischen Amtskollegen angesichts der riesi­ gen Herausforderungen, denen sie gegenüberstehen, kaum wahrnehmbar sind. Denn wir müssen zugeben: Die Fragmentierung unserer schweizerischen evan­ gelischen Identität stellt einen Luxus dar, der zeigt, in welchem Wohlstand wir uns eingerichtet haben – gemessen an der Situation fast aller Kirchen im Aus­ land. Wo die Pfarrer nicht wissen, wie sie über die Run­ den kommen sollen und keinerlei Rentenabsicherung haben, wo die religiöse oder konfessionelle Minorisie­ rung schreiende Ungerechtigkeiten nach sich zieht, wo die Meinungsfreiheit bedroht ist, wo ethnische Konflik­ te die Kirchen in Versöhnungsprozesse verwickeln, wo das menschliche Leben von Hunger und anderen Pla­ gen bedroht ist, da lassen sich die Kirchen von anderen Prioritäten leiten. Diejenigen, die in meiner Neuenburger Kirche versucht sind, über die finanziellen Belastungen zu kla­ gen, die wir schultern müssen, erinnere ich gern dar­ an, dass wir nach wie vor zu den reichsten Kirchen der Welt gehören. Weder der finanzielle Druck noch das geschichtliche Erbe können rechtfertigen, dass wir uns gelegentlich schwertun, unsere gemeinsame Vision zu formulieren. Das hängt eher davon ab, welche Prioritä­ ten wir setzen wollen. Meine kritischen Worte zur Zersplitterung unse­ res protestantischen Images mögen lediglich offene Tü­ ren einrennen. Ich hoffe es zumindest. Wäre dem nicht so, bedeutete dies, dass die Analyse der Soziologen über die Schwächen unserer gemeinsamen Kommunikation ebenso wie das Problem unserer Wahrnehmung in der Öffentlichkeit unberücksichtigt bleiben.


12 bulletin Nr. 1/2013 Quo vadis, ecclesia? – Gabriel Bader

Eine Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in der Schweiz

Im Rahmen der Überlegungen zur Revision der Verfassung des Kirchenbundes habe ich mich mit gros­ sem Vergnügen an einer Arbeitsgruppe beteiligt, die dem Prozess theologische Impulse geben sollte. Die Gruppe beschäftigte sich ausführlich mit der Frage eines gesamt­ schweizerischen evangelischen Kirchenverständnisses. Sie vertrat dabei die Grundidee, dass Kirche stets in drei Dimensionen wahrgenommen werde: in einer lokalen Dimension (im Prinzip als Gemeinde), in einer synoda­ len Dimension (in der Schweiz oft auf kantonaler Ebene) und in einer grösseren Dimension, die einer Art Kirchengemeinschaft entspricht, innerhalb derer die sy­ nodal geleiteten Kirchen sich un­ tereinander auf die Durchführung gemeinsamer Projekte verständi­ gen. Im Sinne dieser Arbeitsgruppe könnte der Kirchenbund als «Ge­ meinschaft Evangelischer Kirchen in der Schweiz» anerkannt werden und somit kirchliche Legitimation er­ halten. Dann könnte man von einer Schweizer Kirche sprechen. Es müss­ te jedoch noch definiert werden, was diese Gemeinschaft eigentlich bein­ haltet: Handelt es sich um eine Kir­ chenleitung, geht es um operationelle Koordination oder darum, sich auf grundlegende ekklesiologische Optionen zu einigen? Mit diesem Impulspapier bin ich persönlich nur in­ sofern zufrieden, als es die vielfache Synodalität unserer schweizerischen Kirche weiter in Frage stellt. Denn in meinen Augen beruht die reformierte Kirche im Idealfall

nicht auf drei Dimensionen, sondern ist zweidimensio­ nal: presbyterial und synodal. Die Ausübung von Auto­ rität erfolgt auf lokaler (Gemeinde) und globaler (syno­ daler) Ebene. Jede andere Form der Gemeinschaft mit den evangelischen sowie christlichen Kirchen mag zwar notwendig sein und ihre Legitimität stärken, doch mir scheint es probematisch, eine «Kirchengemeinschaft» in die massgeblichen Entscheidungsprozesse zu integrieren. Das hat durchaus Konsequenzen für die Vorstellung ei­ ner Schweizer Kirche. Ich muss einfach weiter von einer Schweizer Landessynode träumen, die befugt wäre, ei­ nen Auftrag für die – eventuell nach Regionen gebündel­ ten – schweizerischen Gemeinden zu definieren.

– Die Schweizer Kirchen bekommen die Folgen der zunehmenden Säku­ larisierung und Laizisierung der öffentlichen Hand direkt zu spüren.

Vom Traum zur dringlichen Notwendigkeit

Die Schweizer Kirchen be­ kommen die Folgen der zuneh­ menden Säkularisierung und Lai­ zisierung der öffentlichen Hand direkt zu spüren. Das wirkt sich in den einzelnen Kantonen zwar un­ terschiedlich aus, doch es gibt ge­ nügend Indizien und Analysen, die das Ausmass dieser Entwicklung zweifelsfrei belegen. Die Kirchen müssen sich neu positionieren. Einst Garanten einer evangelischen Tradition, die es zu bewahren galt, müssen die Kirchen heute den Mehrwert deutlicher herausstellen, den sie inmitten bisweilen kon­ kurrierender gesellschaftlicher Akteure erbringen wol­ len. Mit anderen Worten: Die Kirchen müssen die Wich­ tigkeit ihres Angebots beweisen, ihre Fähigkeit, genau definierte Bedürfnisse zu bedienen sowie schnell und


13

adä­quat zu reagieren. Hie und da bemühen sich die Kan­ tonalkirchen bereits, ihre Kommunikation zu verbes­ sern, ihre Zielgruppen mit Hilfe von Marktstudien genau zu ermitteln und innovative Strategien zu entwerfen. «Hie und da» – das ist das Problem. Lässt die Grös­ se der Herausforderung überhaupt den Luxus eines so unterschiedlichen Vorgehens zu? Nein. Und offenkun­ dig verkennen wir immer noch die Dringlichkeit dieser Frage. Die Kirchen der französischen Schweiz disku­ tieren bereits über die Notwendigkeit einer gemeinsa­ men corporate identity, die sich auf die Gesamtheit der reformierten Kirchen der Schweiz ausdehnen liesse. In einer so bedeutenden Angelegenheit darf jedoch keine Entscheidung fallen, ohne vorher ernsthaft die Frage zu stellen, ob es für die schweizerischen Kirchen nicht drin­ gend angebracht wäre, die Herausforderungen im Zuge ihrer Neupositionierung, zu der sie durch den Wandel der Umwelt genötigt werden, gemeinsam, unter einer starken Identität anzugehen.

Die Kirche von morgen

Ich bin mir nicht sicher, ob ich mich dafür oder da­ gegen aussprechen soll, dass der Kirchenbund eine «Kir­ che Schweiz» wird. Er wird gewiss eine gewichtige Rolle in dieser Frage spielen. Der Vorschlag, den Kirchenbund als «Kirchengemeinschaft» anzuerkennen, stellt einen vernünftigen Mittelweg dar. Die Revision der Verfassung des Kirchenbundes wird nur dann einen Sinn haben, wenn sie die Grenzen in Frage stellt, die wir unter dem Vorwand oft äusserer Zwänge fortbestehen lassen. Das erste Zeichen der notwendigen Neupositionierung ist, dass die Schweizer Kirche das Ergebnis einer selbstbe­ stimmten Entscheidung der Einzelkirchen sein wird. Die Akteure in Politik, Wirtschaft und Kultur mögen die Kir­ chen in ihrer Vision unterstützen oder auch nicht. Doch

selbst bei bestem Willen werden sie niemals stellvertre­ tend für die Kirchen deren Auftrag festlegen können. Müsste man ein Bild der Kirche von morgen zeichnen, würde ich persönlich mit der Wahl einer schweizerischen Landessynode beginnen und eine gemeinsame schweize­ rische Ordination zum Kirchendienst entwickeln. Erst danach kämen die institutionellen, politischen und wirt­ schaftlichen Konsequenzen an die Reihe. Ich gebe zu: Ich habe immer gern … gezeichnet. <


14 bulletin Nr. 1/2013 Quo vadis, ecclesia?

– Dölf Weder, Kirchenratspräsident St. Gallen

Eine Identitätsdiffusion

V

ielfalt ist kein Defekt, sondern ein essentiel­ les Merkmal evangelischer Kirchen. «In der Vielfalt zuhause» lautete des Thema des in­ ternationalen Bodenseekirchentages 2006. «Wer dem Geist Gottes Raum zum Wirken gibt, der muss mit Vielfalt rechnen. Monotonie, Eintönigkeit ist seine Sache nicht, sondern in der Vielstimmigkeit erklingt die­ ser Geist», formulierte der Festprediger. In der Tat kommt bereits in der Bibel eine Vielfalt von Glaubenszeugnissen zu Wort, ineinander gearbei­ tet, nebeneinander stehend, sich gelegentlich gar wider­ sprechend. So vielfältig die Menschen sind, so vielfältig antworten sie auf Gottes Ruf, so vielfältig leben sie ihren Glauben. Die Reformation setzte als Kriterium «sola scriptura» («die Schrift allein»). Neue Bibelüber­ setzungen ermöglichten das ei­ gene Urteil – Vorboten der Mün­ digkeit des Menschen, die zum zentralen Thema der Aufklärung und schliesslich der Demokrati­ sierung wurde.

ferenzierten Positionen. Gefordert sind kurze, kantige Statements, leicht einzuordnen in polarisierenden Denk­ schemen. Einheitlich und erkennbar sollen wir sein. Das ist für Landeskirchen und ihre Vielfarbigkeit ein ech­ tes Problem. Es ist zudem dem Menschsein mit seinen Schattierungen und Widersprüchlichkeiten grundsätz­ lich nicht angemessen, geschweige denn der Vielfarbig­ keit persönlich geprägter Glaubensvollzüge. Der Ruf nach Vereinheitlichung und Einheitlich­ keit findet auch in unseren Kirchen seine Vertreter. Viel­ falt und Einheitlichkeit sind aber Gegensätze. Also Ab­ striche bei der biblisch-evangelischen Vielfalt und statt dessen «evangelische Korrektheit», Definition von Grenzen und ausgren­ zendes «Ihr seid draussen»? Es gibt einen anderen Weg: Ein­ heit in der Vielfalt. Denn Vielfalt und Einheit sind keine Gegensätze. Jesus hat für diesen Weg gebetet, Paulus ihn vertreten.

Einheitlichkeit wird gefordert, ist aber kein evangelischer Weg

Die Einheit der Glaubenden war Jesus und den frühen Gemeinden ein grosses Anliegen. Erst recht, als sie sich über den ganzen Mittelmeerraum mit dessen kultureller und religiöser Vielfalt ausbreite­ ten. Paulus spricht beschwörend vom einen Leib Christi. Die Vielfalt und Unterschiedlichkeit von dessen Gliedern kritisiert er nicht. Er fordert nicht Einheitlichkeit – aber Einheit und Einsatz der vielfältigen Charismen zur Er­ bauung der Gemeinde. «Einheit in Vielfalt» und Jesu Gebet «… dass sie alle eins seien …» waren in der Kirchengeschichte des

– Vielfalt ist die natürliche Folge des biblischen und des evangelischen Glaubensverständnisses.

Die neue Selbstverantwortung führte zu Konfes­ sionalisierung und Aufsplitterung der protestantischen Kirchenfamilie, in der Schweiz zur Ausbildung eines farbigen Teppichs von Landes- und Freikirchen mit ih­ rer gelegentlich kontroversen Vielfalt an theologischen Prägungen und Ausgestaltungen des kirchlichen Le­ bens. Der Glaubwürdigkeit unseres Zeugnisses ist das nicht förderlich. Zudem kompliziert es das ökumenische Gespräch. Unsere mediale Welt tut sich schwer mit dif­

Einheit der Glaubenden – «… auf dass sie alle eins seien …»


15

20. Jahrhunderts die grosse, die protestantische Fami­ lie einander weltweit näher bringende Vision. Es ist der Weg, den auch wir Schweizer Kirchen in den nächsten Jahren viel betonter verfolgen müssen.

Einheit «von oben» oder «von unten»?

Einheitlichkeit lässt sich von oben verordnen oder durch demokratische Mehrheitsbeschlüsse anstreben. Aber Einheit gibt es nicht ohne die Herzen der Men­ schen. Wenn die Menschen keine Einheit spüren, in ihnen kein Gefühl von Verbundenheit besteht oder ent­ steht, kann man «oben» noch lange Konsensformeln, Be­ kenntnisse und liturgische Texte verabschieden. Sie mö­ gen sogar theologisch richtig sein. Aber sie werden wenig neue Einheit bewirken. Einheit entsteht, wenn auch bei den Menschen an der Basis etwas geschieht. Neues muss auch «unten» in Bewegung kommen, erlebbar werden, zu Veränderung und einer stärkeren gemeinsamen Ausrich­ tung führen. Das heisst nicht, dass man «oben» zur Untätigkeit verurteilt ist. Die Förderung von Einheit in der Vielfalt benötigt eine Interaktion der beiden Bewegungsrich­ tungen.

Die neue Leadership-Rolle des Kirchenbundes

Wir müssen dem Kirchenbund einen neuen Auf­ trag erteilen. Er muss im Thema evangelische Identität und Einheit künftig eine Leadership-Funktion zur För­ derung der gemeinsamen Ausrichtung wahrnehmen. Der Kirchenbund benötigt dafür nicht viele neue Entscheidungskompetenzen. Es ist nicht Ziel, dass eine neue «Schweizer Synode» «oben» irgendwelche Beschlüs­ se fasst und sie «nach unten» durchzusetzen versucht. Auftrag des Kirchenbundes ist das Initiieren, Lei­ ten und Nähren schweizweiter Ausrichtungsprozesse.

Dynamisch, interaktiv und partizipativ müssen sie sein. Dazu gehören durchaus auch klare programmatische Botschaften und Anstösse. Und basistaugliches Materi­ al, damit keine Luftschlösser entstehen. Es müssen die konkreten Realitäten und Zukunftsperspektiven unserer Kantonalkirchen, Kirchgemeinden und ihrer Menschen angesprochen werden. Dazu braucht es ihr Engagement und Mittun.

Zentral ist die Glaubensfrage

Viel beklagt wird unser schwaches «Profil». Mir ist das eine zu oberflächliche Diagnose. Unser Problem liegt tiefer: wir haben eine Identitätsdiffusion. Unsere Vielfalt ist nicht nur Ausdruck einer gesunden Glaubensvielfalt, sondern oft auch einer gewissen Richtungslosigkeit, ei­ nem Mangel an einer klaren Identität und Ausrichtung. Wer sind wir? Wofür stehen wir? Was ist unser Auftrag? Was wollen wir erreichen? Wir müssen neu mit­ einander darüber nachdenken. Wir müssen neu wagen, deutlich, klar und verständlich vom Glauben zu reden. Dazu benötigen wir einander, benötigen wir einen offe­ nen, lebhaften Diskurs, benötigen wir eine gemeinsame Ausrichtung, benötigen wir einen gestärkten Kirchen­ bund. Es geht um zwei, eng miteinander verbundene Elemente. Mit der St. Galler Vision gesagt: Es geht um Kirche «nahe bei Gott – nahe bei den Menschen» und darum, was das heute konkret bedeutet – in Einheit und Vielfalt. <


16 bulletin Nr. 1/2013

– zur Ökumene

Gottfried Locher Der Anfang einer engagierten Debatte um die Ökumene: Auszüge aus dem Wort des Kirchenbundspräsidenten Gottfried Locher vor der HerbstAbgeordnetenversammlung des Kirchenbundes im November 2012 in Bern.

D

ie katholisch-evangelische Amtsökumene steckt in der schwierigsten Phase seit Beginn der Ökumenischen Bewegung. Die beiden großen Kirchen sind nicht bloß «vielfältig», sie sind widersprüchlich, sie sind nicht versöhnt. Die Ökumene steckt in der Krise. So sagt der ehemalige vatikanische Chef-Ökume­ niker Walter Kasper: «Theologische, vor allem ekkle­ siologische Hürden scheinen im Augenblick kaum überwindbar. Während in vielen Gemeinden ökumenische Zusammenarbeit selbstverständlich ist, fehlen ge­ meinsame Zielvorstellungen der Kirchenleitungen.» Wenn das keine Krise sein soll! Nicht genug, dass es in wichtigen Fragen keinen Konsens gibt, nicht einmal über das Ziel kann man sich einigen. Wohin die ganze mühsame, auf­ wändige und teure Amtsökumene führen soll, sogar da sind wir geteilter Meinung. Das ist das eigentliche Drama: Die Ökumene in der Westkirche hat kein gemeinsames Ziel. Zu lange hat niemand das Zauberwort «Ökume­ ne» hinterfragt. Zu lange wurde eine leicht rosa gefärb­ te ökumenische Hermeneutik gepflegt. Offenbar falsch. Die Erklärung «Dominus Iesus», veröffentlicht unter der Leitung des damaligen Joseph Kardinal Ratzinger, mach­ te das schon im Titel klar: «Über die Einzigkeit und die Heilsuniversität Jesu Christi und der Kirche.» Kirche:

im Singular, natürlich, und nun auch wieder mit expli­ ziter Identifikation mit der römisch-katholischen Kirche. Weitere Verlautbarungen der Kurie folgten, und sie spra­ chen alle dieselbe Sprache: Es gebe nur eine Kirche, und sie sei römisch-katholisch. Evangelische Kirchen seien keine Kirchen. Keine «Kirchen im eigentlichen Sinn» so der Vatikan. Dann also vermutlich sind sie Kirchen «im uneigentlichen Sinn» – was immer diese obskure Unter­ scheidung bedeuten soll.

– Es ist Zeit für einen ökumenischen Perspektivenwechsel. Ökumenismus gedeiht nicht indem man sich etwas vorgaukelt.

Am Ziel ändert sich nichts, aber wir suchen einen neuen Weg

Es ist Zeit für einen ökumeni­ schen Perspektivenwechsel. Ökume­ nismus gedeiht nicht indem man sich etwas vorgaukelt. Konzentrieren wir unsere Kräfte eher dort, wo Fortschritt möglich ist, dort wo heute Versöhnung und kirchliches Zusammenwachsen eine Chance haben. Konzentrieren wir uns jetzt auf die protestantische Ökumene. Und die Ökumene mit unseren katholischen Schwestern und Brüdern, sollen wir die aufgeben? Natürlich nicht. Wir brauchen einander. Wir lernen voneinander: in der Li­ turgie, im Glauben, im Kirchesein. Wir haben dieselben Wurzeln. Es gilt der gemeinsame Glaube in einer ge­ meinsamen Kirche: Am Ziel ändert sich nichts, wir su­ chen einen neuen Weg. «Evangelisch ökumenisch» : Das ist der Perspekti­ venwechsel, das ist unser Engagement. Rücken wir jetzt


Marco Zanoni/Pixsil

17

die evangelische Einheit in den Vordergrund. Warum evangelisch ökumenisch? Weil diese Ökumene heute eine Chance hat. Weil hier Mögliches greifbar ist. Re­ formationskirchen teilen das Kirchenverständnis, das Amtsverständnis, das Abendmahlsverständnis. Nicht in allen Details, aber im Grundsätzlichen. Und die Unter­ schiede sind nicht kirchentrennend. Sie sind stimulie­ rend. Hier gibt es Ideen für die eigene Weiterentwicklung zu entdecken, umsetzbare Ideen. Die Schweiz ist Ursprungsland der Reformation. Was Deutschland für das Luthertum, ist die Schweiz für den Calvinismus und die ganze reformierte Traditi­ on: Ursprungsland. Wir sind uns möglicherweise dieser Bedeutung zu wenig bewusst, in gut eidgenössischer Be­ scheidenheit. Aber jetzt liegt ein Reformationsjubiläum vor uns. Wir tragen Verantwortung für ein glaubwürdig gefeiertes Jubiläum, auch über die Landesgrenzen hinaus. Und wir finden Halt und Stärke im Familienverbund. Auch unser Kirchenbund ist Ökumene. Auch seine Zukunft hängt vom Willen zur Einheit ab, von konkre­ ter Annäherung seiner Kirchen. Diese Ökumene braucht Engagement. Die Einheit kommt nicht von allein. Wir sind verschieden. Kleine Kirchen, große Kirchen, Mehr­ heits- und Minderheitskirchen, staatsnahe und unab­ hängige Kirchen. Auch hier sind wir zur Einheit und Versöhnung aufgerufen. Sie hängt von unserem Perspek­ tivenwechsel ab.

Realistische Ökumene jetzt

Wir haben die Kraft für christliche Einheit, wenn wir mit der evangelischen Einheit beginnen. Wir haben

die Kraft, miteinander Kirche zu werden, Evangelische Kirche Schweiz. Eine Kirche aus mehreren Kirchen: Kir­ che bleiben, je vor Ort, und Kirche werden, gemeinsam. Das ist die Ökumene, die heute möglich ist. Das ist rea­ listische Ökumene jetzt. Stellen Sie sich einen Bergbach vor. Munter plät­ schert er vor sich hin. Und dann beginnen Buben, den Bach zu stauen. Sie werfen Steine in den Bach, möglichst große und schwere. Was geschieht? Das Wasser staut sich vor diesen Steinen. Es kommt nicht weiter. Aber Wasser ist dynamisch. Wasser ist in Bewegung. Es bleibt nicht vor dem Hindernis stehen. Es umgeht das Hindernis. Fließt anderswo durch. Sucht sich einen neuen Weg. Und kommt am Schluss weiter. Ökumene: das gleiche Ziel – eine neue Perspektive. <


18 bulletin Nr. 1/2013

– Zur Ökumene

Abt Martin Werlen Durch die Taufe gehören wir zu Jesus Christus. Sie ist nicht der kleinste gemeinsame Nenner, sondern die grösste mögliche Basis, sagt Martin Werlen, Abt des Klosters Einsiedeln, in seinem Gastbeitrag.

W

er das Evangelium liest, wird nicht in Ruhe gelassen. Wir werden ständig pro­ voziert – es sei denn, dass wir diese Worte gar nicht mehr unser Herz berühren las­ sen. Zum Beispiel das Wort Jesu: «Nicht nur für diese hier bitte ich, sondern auch für die, welche durch ihr Wort an mich glauben: dass sie alle eins seien, so wie du, Vater, in mir bist und ich in dir, damit auch sie in uns seien, und so die Welt glaubt, dass du mich gesandt hast» (Joh 17, 20–21). Das Zweite Vatikanische Konzil stellt sich im Dekret über den Ökumenismus dieser Herausforderung: «Die Ein­ heit aller Christen wiederherstellen zu helfen, ist eine der Hauptaufgaben des Heiligen Ökumenischen Zweiten Va­ tikanischen Konzils. … Eine solche Spaltung widerspricht aber ganz offenbar dem Willen Christi, sie ist ein Ärgernis für die Welt und ein Schaden für die heiligen Sache der Verkündigung des Evangeliums vor allen Geschöpfen.» Auch ein Blick auf die Situation der Kirchen in unserem Land müsste uns ein deutliches Zeichen «von oben» sein, dass wir uns die Spaltungen nicht mehr leis­ ten können – keinen Tag länger. Für einen Grossteil der Getauften bedeutet ihre Zugehörigkeit zur Kirche nicht mehr viel. Getaufte bilden übrigens auch den Grossteil derjenigen 20 % unserer Bevölkerung, die sich zu keiner Religionsgemeinschaft mehr zählen. Müssten wir als Getaufte ob solchen Worten und Fakten nicht erschrecken? Ist da eine intern-reformierte Ökumene angebracht, wie sie Kirchenbundspräsident Gottfried Locher anregt? Auf römisch-katholischer Seite habe ich mit der Schrift «Miteinander die Glut unter der Asche entdecken» zum «Jahr des Glaubens» einen ähnli­

chen Weg eingeschlagen: intern-katholische Ökumene. Die Polarisierung zwischen konservativ und progressiv ist gross und lässt kaum mehr einen Dialog zu. Wenn wir als Kirche in den Polarisierungen stehen bleiben, dann stehen wir den Menschen im Weg, die Glut zu entdecken, die Le­ ben schenkt und auch heute brennen will. Damit würde sich Ökumene zwischen den Konfessionen erübrigen. In einer so verstandenen zuerst intern wirkenden Ökumene geht es nicht darum, was die anderen anders machen müssten, sondern darum, wie wir in grösserer Treue unsere Berufung heute leben können. Denn ich bin überzeugt: Das grösste Hindernis in der Ökumene ist das Hüten der Asche und der grösste Beitrag zur Ökumene ist das ehrliche Suchen nach der Glut. Unsere Aufgabe, in welcher Konfession auch immer, ist nicht die Pflege der Asche – das wäre Untreue – , sondern die Glut des Glaubens entdecken und das Feuer weitergeben, das Je­ sus Christus selber ist. «Ich bin gekommen, Feuer auf die Erde zu werfen, und wie sehr wünschte ich, es wäre schon entfacht!» (Lk 12, 49).

Das Sagen in der Kirche hat nicht der Kirchenbundspräsident

Bringen wir es auf den Punkt: Das Sagen in der Kir­ che hat nicht der Papst; das Sagen haben nicht die Bischöfe; das Sagen hat nicht der Kirchenbundspräsident oder der Kirchenratspräsident; das Sagen hat nicht die sogenann­ te Basis. Das Sagen hat – Gott sei Dank – Jesus Christus selbst. Und unser aller Aufgabe ist es, miteinander heute auf diese Stimme zu hören. Als Getaufte sind wir berufen, auf Jesus Christus horchende und ihm gehorchende Men­


Keystone/Urs Flueeler

19

schen zu sein. Das ist der grösste Beitrag zur Ökumene! Nur so kommen wir von einer in der Zwischenzeit selbst­ verständlichen Ökumene weg, die sich mit dem kleinsten gemeinsamen Nenner zufrieden gibt, Kompromisse sucht, gegen die Haltung der eigenen Kirche handelt oder sogar ein Ausdruck von Gleichgültigkeit ist. Wir kommen aber auch weg von einer unchristlichen Haltung, der es um die Erhaltung von Systemen geht und aus der heraus Andersdenkenden vorgeschlagen wird, sie sollen doch in die andere Konfession wechseln. Durch die Taufe gehören wir zu Jesus Christus. Sie ist nicht der kleinste gemeinsame Nen­ ner, sondern die grösste mögliche Basis: Unsere gemeinsame Beru­ fung, Leib Christi zu sein. Darum muss es eine ökumenische Selbstverständlichkeit werden, dass die Taufe so gefeiert wird, dass wir die gegenseitige Taufanerkennung nie mehr in Frage stellen müssen: die trinitarische Taufspendeformel, das Untertauchen oder Überfliessen mit Wasser und das kirchliche Glaubensbe­ kenntnis, das uns über alle Konfessionsgrenzen verbindet. Die Glut unter der Asche entdecken – in welcher Konfession auch immer – können wir nur miteinander tun. Die intern-katholische Ökumene hat mich immer neu in die Ökumene über die Konfessionsgrenzen hinaus geführt. Im Jahre 2006 hielt Gottfried Locher in unserer Klostergemeinschaft die Exerzitienvorträge. Daraus ent­ stand ein Gesprächskreis, an dem neben uns beiden der damalige Bischof von Basel und heutige Kardinal Kurt

Koch teilnahm, der Zürcher Kirchenratspräsident Ruedi Reich und der christ-katholische Theologe Urs von Arx. Miteinander die Glut unter der Asche entdecken. Und aus der Begegnung mit Jesus Christus werden wir die anstehenden Fragen angehen können. Die Bereit­ schaft zu solcher Ökumene ist grösser, als ich das je ver­ mutet hätte. Seit ein paar Jahren pflegt eine freikirchli­ che Gruppe intensiven Kontakt mit unserem Kloster. Nach unserer letzten Begegnung erhielt ich die Rückmel­ dung: «Sie haben ohne zu übertrei­ ben einen tiefen Eindruck auf uns alle hinterlassen, besonders auch auf unseren freikirchlichen Freund aus Deutschland, der auf der Heimfahrt begeistert erzählte, dass er sich das nie hätte vorstellen können, aber es habe ihn gepackt: ‹Ich liebe die katholische Kirche.› Da ist ein schönes Stück Asche aus dem Weg geräumt worden.» Das Kloster Einsiedeln schwamm zur Zeit der Re­ formation in fast allen Problemen der Kirche mit. Darum kam der spätere Reformator Ulrich Zwingli auch als Leut­ priester nach Einsiedeln. Mich freut es, wenn das Klos­ ter Einsiedeln heute dazu beitragen kann, dass das «Jahr des Glaubens» tatsächlich über alle Konfessionsgrenzen hinaus zu einem Jahr des Glaubens wird. Nur miteinan­ der können wir die Glut unter der Asche entdecken. Das Feuer unseres Glaubens soll neu brennen. Das Ziel der Reformation ist erst erreicht, wenn die grössere Treue in den einzelnen Konfessionen zur sichtbaren Einheit aller führt, die zu Jesus Christus gehören. <

– Die Bereitschaft zur Ökumene ist grösser, als ich das je vermutet hätte.


20 bulletin Nr. 1/2013

– Option Leben

Über die Gefahren, ein Embryo zu sein Die moderne Medizin hat die Gefahren zu erkranken und an Krankheiten, Behin­ derungen oder schweren Verletzungen zu sterben immer besser im Griff. Das Leben bei uns ist kaum noch in Gefahr. Dafür ist es deutlich riskanter geworden.

Von Frank Mathwig

D

er Soziologe Niklas Luhmann hat den Un­ terschied zwischen Gefahren und Risiken an einem einfachen Beispiel verdeutlicht. Es gab einmal Zeiten, da lebten die Menschen in ständiger Gefahr, vom Regen überrascht zu werden. Seit es Regenschirme gibt, ist die Gefahr gebannt, aller­ dings um den Preis des Risikos, den Schirm zu Hause zu vergessen oder im Tram liegenzulassen und genau dann in einen kräftigen Schauer zu geraten. In einem riskan­ ten Leben muss nicht nur ständig entschieden werden. Vielmehr liegt es in der Regel an einem selbst, wenn die schlechte Prognose eintrifft. Gefahren sind etwas Schick­ salhaftes, Risiken müssen verantwortet werden. Die Kalkulation von und der Umgang mit Risiken benötigen Information. Das ist naheliegend. Allerdings schafft die Zunahme von Wissen ein neues Problem: Je

mehr Informationen zur Verfügung stehen, desto ris­ kanter werden die Entscheidungen, die getroffen wer­ den müssen: Informationen sind niemals vollständig, sie müssen richtig interpretiert werden und es braucht einen Massstab, um Informationen in ein Urteil zu übersetzen. Andernfalls steuern die Informationen diejenigen, die meinen, mit ihrer Hilfe Entwicklungen und Situationen steuern zu können. Wie Informationen die Menschen, die darüber verfügen, manipulieren können, zeigt sich nicht nur in der Werbung, sondern viel weitreichender in der medi­ zinischen Diagnostik. Zwar verweisen die Fachleute stets darauf, dass eine diagnostische Methode lediglich die Informationen liefern, die einer Entscheidung zugrunde liegen. Faktisch wird aber bei bestimmten Informationen das Urteil bereits vorweggenommen. Nur so ist erklärbar,


Science magazine/Michael K. Richardson

Geboren? Gl端ck gehabt. Pech hingegen hat, wer, als Gefahr entlarvt, zum Opfer von Risikover足 meidungsstrategien wird.


22 bulletin Nr. 1/2013 Option Leben warum beispielsweise über 90 % der positiv auf Trisomie 21 getesteten Schwangerschaften abgebrochen werden. Die Diskussion über den im Sommer 2012 einge­ führten Praena-Test zur Diagnostik von Trisomie 21 ist noch im vollen Gange, da kommt bereits – von der Öf­ fentlichkeit kaum bemerkt – das nächste Verfahren auf den Markt. Der PrenDia-Test stellt nach Aussagen des schweizerischen Herstellers Medisupport AG alle bishe­ rigen Diagnosetechniken in den Schatten. Mit seiner Hil­ fe lassen sich neben der Trisomie 21 auch Trsiomie 18 und 13, weitere seltene Trisomien und andere X-chromosoma­ le Anomalien feststellen. Glaubt man der Homepage des Unternehmens, ist das erst der Anfang einer ganz neuen vorgeburtlichen Diagnostik. Eines steht fest: Die Schwanger­ schaft wird zunehmend zur existen­ ziellen Gefahr für den Embryo, nicht wegen der Schwangerschaft selbst, sondern weil fortschreitende Diag­ nosetechnologien Mütter und Eltern immer mehr Entscheidungskonflik­ te zumuten. Was im biotechnologi­ schen Denken nicht vorkommt, ist für die Betroffenen längst harte Re­ alität: Selbst wenn eine Frau oder ein Paar vorgeburtliche Untersuchungen ablehnt, sind sie die Last der Verantwortung für ihre Entscheidung nicht los. Schliesslich haben sie selbst be­ schlossen, nicht zu entscheiden.

eine Mutter oder Eltern mit der Entscheidungssituation umgehen können und wollen. Die Herausforderung für sie besteht nicht in irgendeinem Testergebnis, sondern in der Tatsache, sich mit der Einwilligung zur Untersu­ chung unweigerlich einer solchen Entscheidungssitua­ tion auszusetzen. Im Augenblick, wo die Blutprobe für den Test entnommen wird, ist die schwerwiegende Ent­ scheidung längst gefallen: die Entscheidung, entscheiden zu wollen. Die Schwangerschaft wird somit in ihrem Ver­ lauf selbst noch einmal zu einer Option, die gewählt oder verweigert werden kann. Beratungsbedarf entsteht also nicht erst dann, wenn das Ergebnis auf dem Tisch liegt. Vielmehr begegnet er bei der vorausgehenden Frage, ob das Testergebnis das Verhältnis der Mutter oder Eltern zum Kind beeinflussen würde. Hier findet in der Praxis die geringste Unterstüt­ zung statt, weil Pränataldiagnostik entweder routinemässig durchge­ führt wird (‹das ist so üblich›) oder Untersuchungen der Mutter ganz selbstverständlich (‹zu ihrer eige­ nen Sicherheit›) empfohlen werden. Nach einem positiven Ergebnis im Rahmen der herkömmlichen Un­ tersuchungsmethoden wurde in mehr als 9 von 10 Fäl­ len ein Schwangerschaftsabbruch vorgenommen. Die­ ser Zusammenhang legt die Vermutung nahe, dass die grundsätzliche Entscheidung nicht erst mit dem positi­ ven Testergebnis fällt, sondern bereits zum Zeitpunkt der Zustimmung zu der Untersuchung – zumindest als Mög­ lichkeit – einkalkuliert wird. Das macht auch Sinn. Denn keine Schwangere würde sich dem Test unterziehen, nur um ihr Wissen zu vermehren. Bei der Entscheidung für die pränatale Diagnose einer nicht therapierbaren Behin­ derung, Krankheit oder Schädigung des Fötus geht es in der überwiegenden Zahl der Fälle darum, das Risiko der Geburt eines solchen Kindes auszuschliessen.

– Nach einem positiven Ergebnis wurde in mehr als 9 von 10 Fällen ein Schwangerschaftsab­ bruch vorgenommen.

Die Schwangerschaft als Option – auch währenddessen

Die Kontroversen um die neuen Bluttests entzün­ den sich an ihrer Einfachheit und völliger Risikolosigkeit für Mutter und Kind. Deshalb können sie bedenkenlos durchgeführt werden und es spricht nichts dagegen, sie im Rahmen der Pränataldiagnostik routinemässig einzu­ setzen. Wird der Praena-Test für Schwangere ab 35 Jahren empfohlen, stellte eine Krankenkasse bereits in Aussicht, die Bluttests bei entsprechender Zusatzversicherung ohne Altersbegrenzung der Schwangeren mitzufinan­ zieren. Zwar betonen Medizin und Biotechnologieunter­ nehmen die Notwendigkeit einer begleitenden Beratung. Aber es ist weder klar, ob sie tatsächlich stattfindet, noch worin sie eigentlich besteht. Die von ihnen genannte me­ dizinischgenetische Fachberatung mag zwar hilfreich sein, aber trägt nichts zu der eigentlichen Frage bei, wie

Aus dem Wandel wird Gewohnheit

Die Entscheidung für oder gegen einen Schwanger­ schaftsabbruch darf nicht vorschnell auf eine moralische Frage reduziert werden, weil damit die strukturellen medizinischen und gesellschaftlichen Probleme auf die betroffenen Mütter oder Eltern abgeschoben würden. Wenn eine Untersuchung, die eine so schwerwiegen­


23

de Entscheidung verlangt, medizinisch nahegelegt oder routinemässig durchgeführt wird, dann wäre es inkon­ sequent, Mütter oder Eltern an den moralischen Pran­ ger zu stellen, sobald sie sich diesen Empfehlungen oder Vorgaben gemäss verhalten. Ebenso wenig kann von der Entscheidung für einen Schwangerschaftsabbruch au­ tomatisch auf die mangelnde Wertschätzung von Men­ schen mit Down-Syndrom geschlossen werden. Zu Recht weist der Moraltheologe Dietmar Mieth darauf hin, dass eine Mutter oder Eltern im Konfliktfall nicht das Kind, sondern sich selbst und ihre Fähigkeit, mit einem sol­ chen Kind zu leben, beurteilen. Aber solche «individu­ ellen» Entscheidungen haben gesellschaftliche Wirkun­ gen: sie verändern das allgemeine Bewusstsein. Der Wandel wird nicht als Stufe sichtbar, über die wir stolpern, sondern als kaum wahrnehmbares Gefälle, das – zur Gewohnheit geworden – das ge­ sellschaftliche Selbstverständnis prägt.

Vom Glück, geboren zu sein

chen, dann wird das Menschsein konsequent von seinem Gewordensein abgekoppelt. Das ist eine Art Geburtsöko­ nomie: nur das Ergebnis zählt. Das Geborensein ist dann das Ergebnis jener glücklichen Lage, nicht als Schwan­ gerschaftsrisiko diagnostiziert worden zu sein. Pech hat, wer – als Risiko entlarvt – zum Opfer von Risikovermei­ dungsstrategien wird. Wir denken über diesen Zusammenhang kaum nach, weil wir nur als Geborene diskutieren und davor sicher sind, einem nichtgeborenen Menschen begründen zu müssen, warum gegen sein Leben entschieden wurde. Es geht hier nicht um moralische Probleme oder die Fra­ ge des Lebensschutzes. Vielmehr steht das Verständnis vom Menschen selbst auf dem Spiel, wenn seine Existenz davon abhängt, ob er die Phase als potentieller Risi­ kofaktor unbeschadet überlebt. Dann wird das Gegebensein des Lebens zur willkürlichen Wahl (je nachdem wel­ che Tests die Medizin anbietet), die Schwangerschaft zur Option und die menschliche Würde zum Produkt (der Entscheidung anderer). Dann wird die Lotterie der Natur zur Willkür menschlicher Entscheidung. Bereits der Philosoph G. W. F. Hegel hat auf die ent­ scheidende Differenz aufmerksam gemacht: Die Natur kennt keine Gerechtigkeit: geboren ist geboren. Als Folge einer Entscheidung wird das Geborensein und Nicht-Ge­ boren-Werden dagegen zu einer Frage der Gerechtigkeit. Auf die Frage, welche Gerechtigkeit wir den Ungeborenen schulden (weil wir uns das Recht herausnehmen, über ihre Existenz zu entscheiden), können wir nur deshalb so leicht verzichten, weil wir das Glück hatten, geboren wor­ den zu sein. <

– Pech hat, wer – als Risiko entlarvt – zum Opfer von Risiko­ vermeidungsstrategien wird.

Die Art und Weise unseres Nachdenkens und Fragens sind ein untrügliches Zeichen für den Wandel der Selbstver­ ständlichkeiten. Es gehört zur verantwortlichen Mut­ ter- und Elternschaft, die Schwangerschaft medizinisch begleiten zu lassen. Schwangerschaften – erst recht so­ genannte Risikoschwangerschaften – bergen Gesund­ heitsrisiken für die Mutter und stellen den Wunsch nach einem gesunden Kind auf eine schwere Probe. Die Ge­ fahren, denen Menschen in der Schwangerschaftsphase ihres noch-nicht-Geborenseins ausgesetzt sind, werden konsequent verschwiegen. Die Rollen sind eindeutig verteilt: Die Mutter oder Eltern gehen mit der Schwan­ gerschaft gewisse Risiken ein. Das ungeborene Kind ist der kontrollierbare Risikofaktor. Dieser Rollenverteilung stellt sich die Frage in den Weg: Was riskiert eigentlich der ungeborene Mensch, wenn dessen Sein oder NichtSein vollständig von dem Ergebnis einer medizinischen Diagnose und der Entscheidung seiner Mutter oder El­ tern abhängt? Wer oder was ist überhaupt das ungebore­ ne Kind aus einer solchen Risikooptik? Wenn erst die weit fortgeschrittene Schwanger­ schaft oder die Geburt den Menschen von einem Risiko­ faktor zu einer vor Risiken zu schützenden Person ma­


24 bulletin Nr. 1/2013

– Verdingkinder

Ein dunkles Kapitel der jüngeren Schweizer Geschichte In der Zeit zwischen 1800 und 1960 war es hierzulande üblich, dass Kinder aus ärmlichen Verhältnissen – dazu gehörten Waisen- und Scheidungskinder sowie etwa Kinder aus sehr grossen Familien – von den lokalen Behörden in Heimen oder in anderen Familien, meistens Bauernbetrieben, fremdplatziert bzw. «verdingt» wurden.

Von simon Hofstetter

F

achleute schätzen die Zahl der in der genann­ ten Zeit verdingten Kinder und Jugendlichen schweizweit auf über 100 000. Die betroffenen Kinder galten an ihren neuen Lebensorten oft­ mals als Familienmitglieder zweiter Klasse und dien­ ten vorwiegend als Arbeitskräfte auf dem Betrieb; die Notwendigkeit des Verdingkinderwesens wurde jedoch lange Zeit mit wirtschaftlichen Zwängen begründet und nicht hinterfragt.

Ansätze zur Aufarbeitung

Erst in den vergangenen Jahren wurde die dama­ lige Praxis der Behörden kritisch betrachtet und die Lebensumstände der Verdingkinder rückten ins öffent­ liche Bewusstsein. So führten etwa wissenschaftliche Arbeiten, die Tätigkeiten von Betroffenen-Organisa­ tionen sowie kulturelles Schaffen (wie bspw. die Kinobzw. Dokumentarfilme «Der Verdingbub» und «Lisa und Yvonne») der Öffentlichkeit vor Augen, dass eine Vielzahl der Verdingkinder ihre Kindheit und Jugend unter harten, widrigen Umständen verbringen muss­ ten. Vielen Verdingkindern fehlte nicht nur familiäre Geborgenheit, sondern sie litten oftmals sogar unter Ausbeutung und Missbrauch. Das Bekanntwerden,

dass die behördlichen Aufsichtsgremien und -perso­ nen bei Missständen nicht einschritten, den Kindern nicht die nötige Unterstützung zukommen liessen oder aber schlicht bewusst wegschauten, führte schliesslich zur Forderung nach einer politischen Aufarbeitung der Verdingkinderpraxis.

Nationaler Gedenkanlass vom 11. April 2013

Verschiedene kantonale Parlamente haben sich be­ reits eingehend damit beschäftigt, zudem geniesst das Thema auf nationaler Ebene aktuell hohe Priorität: Unter der Federführung des Bundesamtes für Justiz im Depar­ tement von Bundesrätin Simonetta Sommaruga haben sich die politischen Behörden mit Betroffenen-Organi­ sationen und weiteren direkt oder indirekt involvierten Akteuren – Heimverbände, kirchliche Institutionen, Bauernverband, und andere – zusammengesetzt, um ei­ nen Gedenkanlass zu organisieren, der am Donnerstag, 11. April 2013 in Bern stattfindet. Dieser Gedenkanlass verfolgt die Absicht, den Erlebnissen und Erfahrungen der ehemaligen Verdingkinder auf nationaler Ebene öf­ fentlich Platz einzuräumen, von behördlicher Seite er­ folgtes Unrecht anzuerkennen und die Betroffenen hier­ für um Entschuldigung zu bitten.


Historisches und Völkerkundemuseum St. Gallen

25

Kirchliche Beteiligung

In die Praxis des Verdingkinderwesens waren ne­ ben staatlichen Behörden und verschiedenen Institutio­ nen nicht zuletzt auch kirchliches Personal und kirchen­ nahe Organisationen eingebunden. So waren zum Ersten etwa Dorfpfarrer im Auftrag der lokalen Armenbehörden zuständig für die Beaufsichtigung der Platzierungen, zum Zweiten engagierten sich reformierte Vereine im Rahmen der «Sittlichkeitsbewegung» für Pflegeplätze für uneheli­ che Kinder, und drittens bestand eine Vielzahl von Erzie­ hungsheimen in reformierter Trägerschaft. Es ist unbestritten, dass innerhalb dieses Engage­ ments der kirchlichen oder kirchennahen Vertreterinnen und Vertreter Verfehlungen geschahen und die Würde der ihrer Sorge übertragenen Kinder massiv verletzt wurde. Dass der Kirchenbund sich nun gemeinsam mit Vertretern der beiden anderen Landeskirchen an der Vor­ bereitung und Durchführung des Gedenkanlasses betei­ ligt, bringt zum Ausdruck, dass er stellvertretend für die kirchlichen Personen und kirchennahen Institutionen, die im damaligen Verdingkinderwesen involviert waren, Verfehlungen anerkennen und seinen Beitrag zum Ge­ denken an das dunkle Kapitel in der jüngeren Schweizer Geschichte beitragen will.

Weitere Schritte

«Gesundheitsvorsorge» an der Türschwelle: heute lebt in der Schweiz eine vermutlich fünfstellige Zahl ehemaliger Verdingkinder.

Alle involvierten Personen und Institutionen haben festgehalten, dass die Gedenkveranstaltung vom 11. Ap­ ril nicht als Abschluss, sondern erst als Auftakt zu einer längeren, gründlichen Aufarbeitung des Verdingkinder­ wesens gilt; weitere Schritte wie die Schaffung eines Run­ den Tisches, Forschungsaufträge zur Aufarbeitung sowie Zugänge zu lokalen Archiven werden dabei diskutiert werden. Der Kirchenbund wird an diesen Diskussionen beteiligt bleiben. <


26 bulletin Nr. 1/2013

– Menschen in Notlagen nicht alleine lassen

Zur Volksinitiative «Abtreibungsfinanzierung ist Privatsache» Die eidgenössische Volksinitiative «Abtreibungsfinanzierung ist Privatsache», über die das Schweizer Stimmvolk voraussichtlich in diesem Jahr abzustimmen hat, will die Finanzierung einer Abtreibung aus den Leistungen der obligatorischen Krankenkasse streichen.

Von Christina Tuor-Kurth

D

ie Übernahme der ärztlichen Kosten eines Schwangerschaftsunterbruchs durch die Grundversicherung der Krankenkasse war ausdrücklicher Bestandteil der Fristenrege­ lung beim Schwangerschaftsabbruch, die das Schweizer Stimmvolk im Jahr 2002 angenommen hatte. Seither räumt der Gesetzgeber der schwangeren Frau das Recht ein, innert der ersten zwölf Wochen straflos abzutreiben. Voraussetzung ist gemäss Schweizerischem Strafgesetz­ buch ein schriftliches Verlangen der Frau mit vorausge­ hendem ärztlichem Beratungsgespräch oder ein ärztli­ ches Urteil, das geltend macht, dass durch den Abbruch «die Gefahr einer schwerwiegenden körperlichen Schä­ digung oder einer schweren seelischen Notlage abgewen­ det werden kann».

Die politischen Entgegnungen: neue soziale Probleme

Der Bundesrat hat die Initiative zur Ablehnung empfohlen. Die circa acht Millionen Franken, die bei der Grundversicherung der Krankenkasse jährlich ein­ gespart werden könnten, liessen sich «angesichts der

rechtlichen, sozialen und gesundheitlichen Folgen für die Frauen» nicht rechtfertigen. Insbesondere sei mit einer Zunahme an illegalen Abtreibungen zu rechnen, die die Gesundheit der Frauen gefährden können, was wiederum die Krankenkassen zu tragen hätten. Diese Einschätzung teilt die Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit des Nationalrates offensichtlich, ihr zu­ folge hätte die Initiative «schädliche gesundheitliche und soziale Auswirkungen zur Folge».

Ziele die nach Meinung der Initianten durch die Initiative angeblich erreicht würden: >> >> >>

die Abtreibungsrate würde gesenkt die Grundversicherung der Krankenkasse würde entlastet Schweizer Bürgerinnen und Bürger müssten nicht etwas mitfinanzieren, was sie mit ihrem Gewissen nicht vereinbaren können.


Keystone/Samuel Truempy

Der Bundesrat lehnt die Initiative ab: die Einsparungen rechtfertigten die zu erwartenden rechtlichen, sozialen und gesundheitlichen Folgen nicht.

Die Eidgenössische Kommission für Frauenfra­ gen EKF ruft zusätzlich zu diesen Argumenten die Er­ rungenschaften der Fristenregelung in Erinnerung. Seit ihrer Einführung sei die Zahl der Abtreibungen in der Schweiz nicht gestiegen, folglich habe sie sich bewährt. An der Initiative kritisiert sie deren diskriminierenden Folgen für die Frauen. Sie führe dazu, dass einige Frauen sich eine aus medizinischer Sicht sichere Abtreibung nicht leisten könnten, dass die Männer aus der finan­ ziellen Mitverantwortung entlas­ sen würden und dass eine «Ent­ solidarisierung mit Frauen im gebärfähigen Alter» stattfinde, die sich aufgrund einer ungewollten Schwangerschaft als ultima ratio zu einem Abbruch entschliessen. Beim dritten Argument des Ini­ tiativkomitees, demjenigen des Gewissenskonflikts, gibt die EKF zu bedenken, dass es gefährlich sei, «das Kri­ terium ‚Moral‘ in gewisse Leistungen der solidarischen

Krankenversicherung einfliessen zu lassen». Sie befürch­ tet sozusagen einen Dammbruch, so dass andere gesund­ heitliche Folgen wie Rauchen oder Fettleibigkeit künftig ebenso in Frage gestellt werden könnten.

Die Kirchen: Lebensschutz und ­ die Situation der Frau

Innerhalb der Kirchen wird die Stossrichtung der Initiative befür­ wortet. Das Anliegen des Initiativko­ mitees, die Zahl der Abtreibungen zu senken, unterstützen die Kirchen vor­ behaltlos. Auch wenn in der Schweiz, verglichen mit anderen europäischen Ländern, die Abtreibungsrate sehr tief ist, bleiben die rund 11`000 Abtreibun­ gen pro Jahr eine beunruhigend hohe Zahl. Dem Vorschlag, Abtreibungen künftig mit dem Mittel der Privatfi­ nanzierung einzudämmen, wird hingegen Skepsis entge­ gengebracht. Der Kirchenbund weist in seiner Position darauf hin, dass es bei einer Abtreibung auch um das Le­

– Nicht durch Sanktionen, sondern durch Lebensperspektiven sollen Abtreibungen verhindert werden.


28 bulletin Nr. 1/2013 Menschen in Notlagen nicht alleine lassen ben der schwangeren Frau geht. Dies wiederum fordert die Gesellschaft als Ganze heraus: «Will eine Gesellschaft, dass Frauen ihre Kinder zur Welt bringen, muss sie sich so organisieren, dass Frauen ihre Lebenssituation auf­ grund einer Schwangerschaft nicht als Notlage bezeich­ nen.» Abtreibungen dürfen nicht als Privatangelegenheit des Einzelnen betrachtet werden. Schwangerschaftsab­ bruch bleibt in einer Gesellschaft, die am Tötungsverbot festhält, von besonderem öffentlichen Interesse. Daher ist die Privatisierung der Abtreibungsfinanzierung der falsche Weg. Wendet sich der Kirchenbund gegen die Wahrneh­ mung von Abtreibung als einer privaten Sache, so pro­ blematisiert die Schweizer Bischofskonferenz SBK das Mittel der Privatfinanzierung als «ungenügend». Zur Eindämmung von Abtreibung bedürfe es vielmehr ei­ nes Umdenkens in der Gesellschaft, einer «Wende». Als Gremium geben die Bischöfe keine Abstimmungsemp­ fehlung, sie verweisen auf den persönlichen Gewissens­ entscheid. Die Initiantinnen und Initianten, zum Teil aus den Parteien CVP, EVP und EDU zeigen sich über diese kirchlichen Positionen enttäuscht. Ihnen fehlt eine klare­ re Stimme gegen Abtreibungen und eine deutlichere Ge­ wichtung der Gebote Gottes. Der Dissens dürfte freilich anderswo liegen.

Die Schwierigkeit: Eine «schwerwiegende seelische Notlage»

Statistische Erhebungen zeigen, dass die soziale Notlage der weitaus häufigste Grund für eine Abtreibung ist. Es ist eben dieses Motiv, gegen das sich die Initiantin­ nen und Initianten wenden, und bei dem sie eine Finan­ zierung aus der allgemeinen Krankenkasse gestrichen haben möchten. Der Gesetzgeber hat mit seiner For­ mulierung, wonach eine Abtreibung straflos sei, sofern «eine schwere seelische Notlage» geltend gemacht werden könne, einen Raum gelassen, der Ärztinnen und Ärzte ebenso wie schwangere Frauen und deren Partner und Familien in die Verantwortung nimmt. Er hat gleich­ zeitig zugestanden, dass es sich beim Entscheid zu einer Abtreibung um die subjektive Beurteilung einer Lebens­ situation handelt. Die Initiantinnen und Initianten sehen hier die Gewissensfreiheit der Bürgerinnen und Bürger bedroht. Der Kirchenbund vertritt die Haltung, dass es einer Überforderung gleichkommt, sich von aussen ein abschliessendes Urteil über die Lebenssituation eines

Der Kirchenbund hat eine Position zur Abtreibungsfinanzierung veröffentlicht., die unter www.sek.ch heruntergeladen werden kann.

Abtreibung ist keine Privatsache. Position des Schweizerischen Evangelischen Kirchenbundes SEK zur Eidgenössischen Volksinitiative «Abtreibungsfinanzierung ist Privatsache».

sek · feps Schweizerischer Evangelischer Kirchenbund

Menschen zu bilden. Umso wichtiger erachtet er es, diese Lebenssituationen wahrzunehmen.

Der Kirchenbund: nicht Sanktionen, sondern Lebensperspektiven

Der Kirchenbund ist davon überzeugt, dass Schwangerschaftsabbrüche vermieden werden können und dass Wege zu finden sind, die Frauen aus der Situ­ ation befreien, in der sie sich gezwungen sehen, das in ihnen keimende Leben abtreiben zu müssen. Er plädiert für mehr institutionelle und gesellschaftliche Strukturen in der Schweiz, die alleinerziehende Mütter und Väter sowie Familien in beruflicher und wirtschaftlicher Hin­ sicht begünstigen. Und er plädiert für mehr öffentliche Einrichtungen und Räume, die das Leben mit Kindern fördern und unterstützen. Nicht durch Sanktionen, son­ dern durch Lebensperspektiven sollen Abtreibungen ver­ hindert werden. <

Weiterführende Informationen

Video-Interview: 3 Fragen an die Autorin Christina Tuor-Kurth, Leiterin Institut für Theologie und Ethik https://vimeo.com/61799791


29

– Ein ökumenischer Meilenstein

40 Jahre Leuenberger Konkordie Die Mitgliedschaft in der Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa GEKE ist für die evangelischen Kirchen der Schweiz wesentlich.

Von martin hirzel

W

as Luther und Zwingli nicht geschafft haben und seither als unverständlicher Streit unter Geschwistern 450 Jahre lang fortbestand, ist mit der Unterzeich­ nung der Leuenberger Konkordie am 16. März 1973 im Tagungszentrum Leuenberg oberhalb Hölstein BL end­ lich erreicht worden: die Kirchengemeinschaft unter den Kirchen der Reformation in Europa. Was ermöglichte die zwischen Reformierten, Lutheranern, Unierten und Methodisten bestehende Kirchengemeinschaft, die sich in der Kanzel- und Abendmahlsgemeinschaft und der gemeinsamen Verkündigung durch Wort und Tat kon­ kretisiert? Die Leuenberger Konkordie hält sich an die reforma­ torische Einsicht, dass zur wahren Einheit der Kirche die Übereinstimmung in der rechten Lehre des Evangeliums und in der rechten Verwaltung der Sakramente genügt. Das gemeinsame Verständnis des Evangeliums zeigt sich in der Überzeugung, «dass die ausschlieβliche Heilsmitt­ lerschaft Jesu Christi die Mitte der Schrift und die Recht­ fertigungsbotschaft als die Botschaft von der freien Gnade Gottes Maβstab aller Verkündigung der Kirche ist» (Leu­ enberger Konkordie, Artikel 12). Aufgrund des gemein­ samen Evangeliumsverständnisses kann die mit der Leu­ enberger Konkordie verwirklichte Kirchgemeinschaft die Einheit der Kirche als «Einheit in versöhnter Verschieden­ heit» leben. Der fundamentale Konsens im Evangeliums­ verständnis ermöglicht die Versöhnung der konfessionel­ len Differenzen. In der Konkordie beginnt dies damit, dass sie im Bereich bisheriger Lehrdifferenzen (Abendmahlsund Prädestinationslehre) Konsens formuliert. Und in den vergangenen vierzig Jahren hat die Leuenberger Kir­ chengemeinschaft ihre Einheit durch die theologische Wei­

terarbeit vertieft. So wurden beispielsweise an der letzten 7. Vollversammlung in Florenz im Herbst 2012 zwei Pa­ piere über das gemeinsame Amts- und Schriftverständnis angenommen. Seit der 5. Vollversammlung im Jahre 2001 in Belfast rückte zunehmend dann auch der gemeinsame Wille der evangelischen Kirchen in Europa in den Vor­ dergrund, im Lebensraum Europa die politischen Vor­ gänge aus der Sicht des Evangeliums zu erörtern und in grundlegenden Fragen die protestantischen Stimmen ge­ bündelt in der europäischen Öffentlichkeit zu Gehör zu bringen. Diese Vertiefung der Kirchengemeinschaft im Glauben und Handeln wurde 2003 mit der Umbenennung der Leuenberger Kirchengemeinschaft in «Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa» GEKE unterstrichen. Die 106 in der GEKE zusammengeschlossenen Kirchen geben sich jedoch mit dem Status quo nicht zufrieden. So wurde an der Vollversammlung in Florenz ein Lehrge­ spräch zum Thema «Kirchengemeinschaft» beschlossen, in dem nach der Bedeutung der bleibenden Differenzen, nach mehr Verbindlichkeit und der Intensivierung der Gemeinschaft gefragt werden soll. Die Mitgliedschaft in der GEKE ist für die evange­ lischen Kirchen der Schweiz wesentlich. Sie hilft ihnen, grenzüberschreitende Gemeinschaft zu sein. Für das Jubiläumsjahr plant der Kirchenbund, zusammen mit der Evangelisch-reformierten Kirche des Kantons BaselLandschaft, der Theologischen Fakultät der Universität Basel, dem Tagungszentrum Leuenberg sowie der Ausund Weiterbildung der Pfarrerinnen und Pfarrer eine Tagung auf dem Leuenberg vom 29. November bis 1. De­ zember. Dort sollen neben dem Rück- und Ausblick die beiden jüngsten GEKE-Papiere zum Amts- und Schrift­ verständnis im Mittelpunkt stehen. <


Das Referendum gegen die «dringlichen Massnahmen» im Asylgesetz

Keystone/Laurent Gillieron

– Schutz von Verfolgten in der politischen Arena


31

Das Asylthema gibt seit Jahren Anlass zu kontroversen Diskussionen. Nüchtern betrachtet, erweist sich die Ausgangslage hingegen als simpel. Der Schutz von Verfolgten ist eine internationale Verpflichtung. Für die Schweiz stellt sich folglich die Frage, welchen Beitrag sie zum Flüchtlingsschutz leisten kann. Die dringlichen Massnahmen im Asylgesetz lenken jedoch von dieser Kernfrage ab. Sie sind vielmehr Teil einer Verschärfung des Asylrechts.

Von Simon Röthlisberger

D

er Kirchenbund hat sich in den letzten Jahr­ zehnten kontinuierlich und konsequent zu Asylfragen geäussert. Dies geschah bei­ spielsweise in den jährlichen Äusserungen zum Flüchtlingssonntag oder in ökumenischen Stellung­ nahme von 1985 «Auf der Seite der Flüchtlinge». Der Kirchenbund sprach sich 2006 für das Referendum aus. Damit positionierte er sich öffentlichkeitswirksam gegen die Verschärfungen des Asylrechts. Ebenso beteiligte sich der Kirchenbund am Vernehmlassungsverfahren 2009, in welchem Hauptpunkte der aktuellen Asylgesetz­ revision zur Diskussion standen.

Der Kirchenbund äussert sich nicht nur aufgrund seiner grundsätzlichen Positionen zu Menschenwürde und Menschenrechten in Asylthemen, sondern auch vor dem Hintergrund konkreten Engagements. Beispielswei­ se ist er federführend bei der Koordination der ökume­ nischen Seelsorge Diensten in den Empfangs- und Ver­ fahrenszentren. Dieses Engagement für Asylsuchende spiegelt sich auch in den Legislaturzielen 2011–2014 des Kirchenbun­ des: «Er tritt dafür ein, dass Flüchtlinge weiterhin in der Schweiz uneingeschränkt Schutz vor Verfolgung finden.» (Legislaturziel 6)


32 bulletin Nr. 1/2013 Schutz von Verfolgten in der politischen Arena

Flüchtlingsbegriff zur Diskussion gestellt?

Am 29. September 2012 sind die «dringlichen Ände­ rungen des Asylgesetzes» in Kraft getreten. Gegen diese Änderungen ist das Referendum ergriffen worden. Neu steht nun im Asylgesetz: «Keine Flüchtlinge sind Perso­ nen, die wegen Wehrdienstverweigerung oder Desertion ernsthaften Nachteilen ausgesetzt sind oder begründete Furcht haben, solchen Nachteilen ausgesetzt zu werden. Vorbehalten bleibt die Einhaltung des Abkommens (…)» der Genfer Flüchtlingskonvention von 1951. Schon bisher hat wegen Wehrdienstverweigerung oder Desertion alleine niemand Asyl erhalten. Die Asyl­ gewährung musste mit asylrelevanten Verfolgungsgrün­ den in Verbindung gebracht wer­ den. Insofern ist die vorgebrachte Änderung von symbolischer Na­ tur, um die Schweiz für Dienstver­ weigerer und Deserteure weniger attraktiv zu machen. Dienstverweigerer und De­ serteure, die im Herkunftsland unmenschliche Härte erfahrten, würden zwar weiterhin nicht zu­ rückgeschafft und könnten des­ halb in der Schweiz auch in Zu­ kunft Zuflucht finden. Doch eine nur «vorläufige Aufnahme» und die damit verbundene Nichtan­ erkennung als Flüchtling ist eine Beschneidung des Schutzes. Dieser Schutz ist nicht frei­ willig, sondern muss aufgrund internationaler Verpflich­ tungen eingehalten werden, wie dem Rückschiebungs­ verbot in der Europäischen Menschenrechtskonvention sowie der Genfer Flüchtlingskonvention. Der Kirchenbund weist in einer Stellungnahme zu den Änderungen des Asylgesetzes darauf hin, dass der rechtliche Status der vorläufigen Aufnahme die Inte­ gration der Betroffenen tendenziell behindert. Beispiels­ weise ist bekannt, dass Personen, die einen unsicheren Aufenthaltsstatus haben, auf dem Arbeitsmarkt deutlich schlechtere Chancen haben als diejenigen mit einem dauerhaften Aufenthaltsrecht.

schweizerischen Vertretung im Ausland ein Asylgesuch zu stellen, wurde aufgehoben. Bisher ermöglichte das Botschaftsverfahren Schutzsuchenden, ein Asylgesuch zu stellen, ohne die Hilfe eines Schleppers in Anspruch zu nehmen und ir­ regulär in die Schweiz einzureisen. Mit der Abschaffung des Botschaftsverfahrens werden nur noch diejenigen Flüchtlinge, welche die nötigen finanziellen Mittel für die Reise verfügen und den Weg in die Schweiz auch effektiv bewältigen, in der Schweiz ein Asylgesuch stellen kön­ nen. Die EU-Aussengrenzen sind aufwändig gesichert, dadurch werden die Einreisemöglichkeiten erschwert. Tausende von Flüchtlingen erreichen Europa nie, weil sie z. B. bei der Durchquerung des Mittel­ meers ertrinken. Die Schweiz hat das Abkommen von Dublin gutgeheissen und ist des­ halb nur für Asylsuchende zuständig, die nicht zuvor längere Zeit in einem anderen Dublin-Staat weilten oder dort bereits ein Asylgesuch gestellt hatten. Das Botschaftsverfahren kann deshalb auch als Kompensation dafür gesehen werden, dass die Schweiz auf­ grund Dublin-Zuständigkeitsregelun­ gen tendenziell für weniger Asylsu­ chende zuständig sein wird und dass die Möglichkeiten, überhaupt in die Schweiz zu gelangen (Grenzschutz) und hier ein Asylge­ such zu stellen, beschränkt sind. Das Botschaftsverfahren ist für die Schweiz auch ein effizienter und gleichzeitig kostengünstiger Weg, Flüchtlinge zu schützen: Die Asylsuchenden werden nur bei einer positiven Erstprüfung in die Schweiz geholt. Dies bedeutet: viele bleiben in den Krisenregionen und müssen nicht in der Schweiz untergebracht, verpflegt oder allenfalls in ihr Herkunftsland zurückgeführt wer­ den. Zudem ist das Botschaftsverfahren ein Zeichen der Solidarität beim Flüchtlingsschutz mit Ländern in Kri­ senregionen, in welchen sich 80 Prozent der Flüchtlinge aufhalten.

– Am 29. September 2012 sind die «dring­ lichen Änderungen des Asylgesetzes» in Kraft getreten. Gegen diese Änderungen ist das Referendum ergriffen worden.

Abschaffung Botschaftsverfahren

Neu soll nur noch ein Asylgesuch einreichen kön­ nen, «(…) wer sich an der Schweizer Grenze oder auf dem Gebiet der Schweiz befindet.» Die Möglichkeit auf einer

Testphasen

Im Asylgesetz sind Asylverfahren im Rahmen von Testphasen vorgesehen. Der Bundesrat regelt die Test­


33

phasen in einer Verordnung. Demnach werden Kompe­ tenzen von der Legislative hin zur Exekutive verschoben. Der Kirchenbund anerkennt, dass Testphasen po­ sitive Wirkung auf die Weiterentwicklung des Asylsys­ tems entfalten können. Neben demokratiepolitischen und rechtsstaatlichen Grundsatzfragen zu Testphasen äussert der Kirchenbund Bedenken zur Verkürzung der Beschwerdefristen für Asylsuchende von 30 auf 10 Tage. Der Rechtsschutz von Asylsuchenden müsste deutlich gestärkt werden. Dies würde die Sicherung des Zugangs zu Rechtsberatung und die zusätzliche finanzielle Unter­ stützung durch den Bund der massgeblich durch Kirchen und kirchliche Hilfswerke finanzierten Rechtsberatungs­ stellen notwendig machen.

Unterbringung

Asylsuchende, welche die «öffentliche Sicherheit und Ordnung gefährden oder durch ihr Verhalten den ordentlichen Betrieb der Empfangsstellen erheblich stö­ ren» sollen zukünftig in besonderen Zentren unterge­ bracht werden können. Der Kirchenbund hat Verständnis für das Bedürf­ nis, Sicherheit und Ordnung zu gewährleisten, steht der Schaffung solcher Zentren jedoch kritisch gegenüber. Es

stellen sich Fragen, aufgrund welcher Kriterien die Zu­ teilung in ein solches Zentrum erfolgt oder wie lange der Aufenthalt dauert. Aufgrund der Erfahrungen der Kirchen mit den ökumenischen Seelsorge Diensten weist der Kirchen­ bund schon seit Jahren auf die Notwendigkeit hin, mehr Beschäftigungsmöglichkeiten in den Empfangs- und Verfahrenszentren zu schaffen. Die entsprechende Än­ derung des Asylgesetzes, die Beschäftigungsprogramme finanziell zu unterstützen, ist deshalb eindeutig eine po­ sitive Neuerung.

Schlussfolgerung

Der Kirchenbund lehnt aufgrund der dargelegten Überlegungen die dringlichen Änderungen des Asylge­ setzes ab. Anstelle der vorgesehenen Änderungen gin­ ge es darum, faire Asylverfahren für Menschen auf der Flucht und Vertriebene zu gewährleisten. Es gilt Verant­ wortung wahrzunehmen und Schutzbedürftige effektiv und menschenwürdig zu schützen. <

Weiterführende Informationen

Video-Interview: 4 Fragen an den Autoren Simon Röthlisberger, Beauftragter für Migration https://vimeo.com/61799792


34 bulletin Nr. 1/2013

– Neuordnung der diakonischen Landschaft

Wer erfüllt in wessen Auftrag welche Aufgaben in der Diakonie? Im Jahr 2010 ereigneten sich in der diakonischen Landschaft auf nationaler Ebene folgenreiche Umbrüche. Der Diakonieverband Schweiz wurde aufgelöst und der Ausbildungsbetrieb des Diakonenhauses Greifensee eingestellt. Mit diesen Umbrüchen wurde zunehmend unklar, in welchem Verhältnis die verbliebenen diakonischen Verbände mit den Ausbildungsorganisationen und den diakonischen Werken standen. Von SIMON HOFSTETTER

D

iese Unübersichtlichkeit führte dazu, dass verschiedene diakonische Organisationen parallel Reorganisationsbemühungen in der nationalen diakonischen Landschaft unter­ nahmen – was wiederum die Unübersichtlichkeit eher vergrösserte, denn verkleinerte. Selbst langjährig in der Diakonie engagierte Personen verloren den Überblick, wer aktuell in welchem Auftrag welche Aufgaben zu er­ füllen hat. Diese verworrene Lage veranlasste einige Kantonal­ kirchen dazu, den Reformbestrebungen einen Marschhalt zu verordnen. Der Kirchenbund wurde beauftragt, auf­ bauend auf einer zu erstellenden Analyse «Massnahmen zur verbesserten Bündelung, Koordination und Steue­ rung» in der diakonischen Landschaft zu entwickeln.

Die Motionsbearbeitung durch den Kirchenbund: der Analysebericht

Der Rat des Kirchenbundes hat unter der Leitung von Ratsmitglied Regula Kummer eine Steuergruppe mit Synodal- und Kirchenratsmitgliedern sowie Fachexper­ ten eingesetzt und sie mit der Umsetzung der Motions­ forderungen betraut. In einer ersten Phase bis Ende des vergangenen Jah­ res haben der vom Kirchenbund mit der Projektleitung beauftragte Wissenschaftliche Mitarbeiter, Pfr. Simon Hofstetter, und die Steuergruppe einen ausführlichen

Analysebericht erstellt, in welchem sie die komplexe Lage der nationalen diakonischen Landschaft detailliert auf­ schlüsseln und darstellen. Hierfür setzten sie die folgen­ den drei Instrumente ein:

Landesweite Umfrage: Diakonie vor Ort konkret

Zum Einstieg verschaffte sich die Steuergruppe eine Übersicht über die diakonische Landschaft der Schweiz, indem sie gemeinsam mit dem Projekt «diakonie.ch» der Deutschschweizerischen Kirchenkonferenz KIKO bei diakonisch tätigen Institutionen und Einzelpersonen eine landesweite, elektronische «Umfrage zur Diakonie» durchführte. Die Umfrageresultate, die aus den Rückmeldungen von nicht weniger als 470 Personen bestehen (entspricht einem Rücklauf von ca. 30 %), bieten nicht nur einen gründlichen Überblick über die Vielzahl an diakoni­ schen Akteuren, sondern weisen darüber hinaus auf, wie sich die Kirchgemeinden vor Ort und die kirchlichen Werke austauschen, wie sie mit Partnerorganisationen aus dem Sozial- und Gesundheitswesen zusammenarbei­ ten sowie wie sie sich sozialpolitisch engagieren.

Organisationsanalyse: wer macht was womit?

Im Bericht der Steuergruppe wurden rund 20 dia­ konische Akteure ausgemacht, die auf nationaler oder sprachregionaler Ebene tätig sind. Dies sind kirchlich-


35 Bildung/ Ausbildung Forschung, Wissenschaft

Weiterbildung

Europäische Netzwerke

Wie sieht die diakonische Landschaft in der Schweiz heute aus – und wie morgen? Eins steht fest: gebündelter, effizienter und übersichtlicher soll sie werden.

Diakonische Landschaft

Strategie

Informations­ plattform

diakonische Fragen von strategischer Be­ deutung behandelt werden – dazu gehören Fragen der innerkirchlichen Positionierung diakonischer Arbeit, der Positionierung der Diakonie im Wohlfahrtsstaat sowie der Zu­ sammenarbeit zwischen Kirchen und Werken. Zudem messen sie etwa der Veröffentlichung ge­ sellschaftspolitischer Stellungnahmen aus diako­ nischer Perspektive grosse Bedeutung bei.

Austausch­­forum Gesellschafts­ politische Stellungnahmen

diakonische Werke und Hilfswerke, Ausbildungsinsti­ tutionen für Sozialdiakoninnen und Sozialdiakone in der Deutschschweiz und Diacres in der Romandie sowie verschiedene verbandsähnlich organisierte und weitere diakonische Akteure wie die Diakoniekonferenz des Kir­ chenbundes oder die Deutschschweizerische Diakonats­ konferenz. Die Leitung dieser 20 Institutionen ist personalin­ tensiv: insgesamt 55 Personen sind mit Leitungsfunktio­ nen betraut, weitere rund 100 Personen sind in Delegier­ tenposten vertreten. Gemeinsam setzen diese Akteure jährlich über 41 Millionen Franken um, wobei der grösste Teil daraus auf das Hilfswerk der Evangelischen Kirchen Schweiz HEKS und die in der Romandie beheimateten Centres Sociaux Protestants entfällt. Die Kantonalkirchen beteiligen sich mit knapp zehn Prozent am gesamten Umsatz.

Die anstehende Weiterarbeit: Modelle und Massnahmen für eine neu geordnete diakonische Landschaft

Die Ergebnisse dieses Analyseberichts dienen der Steuergruppe nun als Grundlage für den zweiten Schritt, die gemäss Motion geforderte Entwicklung von «Mass­ nahmen zur verbesserten Bündelung, Koordination und Steuerung» innerhalb der diakonischen Landschaft. Sie macht sich also im Auftrag des Rates während des lau­ fenden Jahres daran, Vorschläge von Modellen zu erar­ beiten, die im Dienste einer gebündelten, effizienteren und übersichtlicheren diakonischen Landschaft stehen. Die Abgeordnetenversammlung wird im November 2013 in Bern über diese Vorschläge befinden. <

Weiterführende Informationen

Aufgabenüberprüfung: was braucht’s? Was nicht (mehr)?

Mit einer Aufgabenüberprüfung erhob die Steuer­ gruppe schliesslich, in welchen Tätigkeitsbereichen die rund 20 Akteure aktiv sind sowie welche der Tätigkeits­ bereiche zukünftig mehr und welche weniger Beachtung verdienten. Dabei stellte sie fest, dass diakonische Fachperso­ nen insbesondere ein Gremium vermissen, in welchem

Video-Interview: 3 Fragen an den Autoren Simon Hofstetter, Wissenschaftlicher Mitarbeiter Recht und Gesellschaft https://vimeo.com/61799790

Der vollständige Analysebericht kann unter www.kirchenbund.ch/de/diakonie-analysebericht abgerufen werden.


36 bulletin Nr. 1/2013

– Sonntagsallianz

Der Sonntag – Ein Anliegen weltlicher Spiritualität? In der Schweiz ist die Sonntagsruhe gesetzlich geschützt. Das ist nicht in allen europäischen Ländern so. Artikel 18 Abs. 1 des Bundesgesetzes über die Arbeit legt fest, dass «in der Zeit zwischen Samstag 23 Uhr und Sonntag 23 Uhr … die Beschäftigung von Arbeitnehmern untersagt» ist.

Von otto schäfer

D

as betreffende Gesetz deckt gleichwohl nicht alle Wirtschaftszweige ab (sondern nur In­ dustrie, Gewerbe und Handel) und lässt begründete Ausnahmen zu. Bestimmte – wichtige – Ausnahmen wurden erst in den letzten Jahren hinzugefügt, insbesondere der Sonntagsverkauf an stark frequentierten Flughäfen und Bahnhöfen sowie die vier Sonntage pro Jahr, an denen die Kantone die Öffnung von Verkaufsgeschäften erlauben dürfen. Bereits seit den 80er-Jahren steht die Sonntagsruhe unter Druck; mehrere Initiativen und Motionen zur Libe­ ralisierung der Arbeitszeit und der Ladenöffnungszeiten

haben lebhafte Diskussionen ausgelöst und tun es im­ mer noch. Zu den Verteidigern der Sonntagsruhe zählen die Gewerkschaften und die Kirchen. Sie haben sich am 26. April 2012 zur schweizerischen Sonntagsallianz zu­ sammengeschlossen. Ihr gehören verschiedene evangeli­ sche Organisationen an, darunter die methodistische Kir­ che (Mitglied des Kirchenbundes) und die Evangelischen Frauen Schweiz. Bedeutet dies, dass die Kirchen und die Gewerkschaften in der Sache für dasselbe kämpfen? Natürlich nicht ganz – trotz einer ganzen Reihe gemeinsamer Überzeugungen und Anliegen: das soziale Miteinander, das durch einen gemeinsamen freien Tag ge­


Keystone/Gaetan Bally


38 bulletin Nr. 1/2013 Sonntagsallianz festigt wird, die Vereinbarkeit familiärer und beruflicher Verpflichtungen und die Gefahr, dass Anpassungsdruck auf die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer steigen könnte, «freiwillige» Sonntagarbeit zu akzeptieren. Für die Kirchen basieren diese gesellschaftlichen Anliegen allerdings auf der spirituellen Dimension des Sonntags. Diese reicht über die schlichte historische Begründung des Sabbats in der Heiligen Schrift und später des Sonn­ tags in der Christentumsgeschichte hinaus. Ebenso über den sonntäglichen Besuch des Gottesdienstes, bzw. der Messe – obwohl sie diese natürlich mit einschliesst.

Ein nicht einfach bezifferbarer Wert

Die Kirchen gehen weiter. Ihrer Ansicht nach ist ein regelmässiger, periodischer Wechsel zwischen An­ spannung und Entspannung, zwischen Bewegung und Ruhe, zwischen Anstrengung und Sammlung essenziell für das spi­ rituelle Wohlbefinden aller – und nicht nur der Christinnen und Christen. Inmitten unseres all­ täglichen do ut des materialisiert der Sonntag das unentgeltliche Handeln auf zeitlicher Ebene. Der gemeinsame, übereinstimmen­ de Rhythmus macht die Unent­ geltlichkeit sichtbar und greifbar. Bereits in dem von allen Mit­ gliedkirchen der Arbeitsgemein­ schaft christlicher Kirchen in der Schweiz AGCK gemeinsam verab­ schiedeten Dokument «Sonntag schützen, Gemeinschaft stärken» aus dem Jahre 2005 steht: «Der Sonntag entzieht sich jeder einfachen Begrün­ dung. Für sich genommen bringt er wirtschaftlich nichts ein und trägt zur materiellen Daseinsvorsorge nichts bei. Es ist gerade diese bestimmte ‹Wertlosigkeit›, die NichtVerrechenbarkeit, die den Wert des Sonntags ausmacht: Er ist nicht für etwas da, sondern er ist einfach da.» Der Sonntag markiert eine Grenze in unserer durch die Natur, die Geschichte, die Arbeit und das Kapital be­ dingten Existenz. Im Gegensatz zum Tag, zum Monat und zum Sonnenjahr gehorcht der Sonntag wie auch der jüdische Sabbat oder der Freitag der Muslime – dessen Ruhetagscharakter allerdings weit weniger betont wird – keinem natürlichen Rhythmus. Somit verweist er uns auf eine Freiheit, deren Ursprung woanders liegt. Er schlägt

eine Bresche in die Dichte der Welt. Diese Erfahrung ist Juden, Christen und Muslimen gemeinsam – trotz aller trennenden Unterschiede zwischen den drei Religionen. Das erklärt zweifellos, warum auf europäischer Ebene im Rahmen der European Sunday Alliance, der auch der Kirchenbund angehört, kein Widerstand seitens der an­ deren Buchreligionen gegen die Verteidigung des Sonn­ tags zu verzeichnen ist. Das praktische Interesse von Geschäftsleuten, die religiösen Minderheiten angehören, spielt dabei sicherlich ebenfalls eine Rolle. Das Problem ist nicht der Sonntag, der dem Sams­ tag oder dem Freitag vorgezogen wird, sondern vielmehr die Homogenisierung der Wochentage sowie der konti­ nuierliche Verlust eines zusätzlichen Tages pro Woche. Der Revolutionskalender hatte den Sonntag abge­ schafft und die Sieben-Tage-Woche durch die Dekade ersetzt – einen natürlichen Rhythmus, der sich an den Fingern beider Hände abzählen lässt. Die gegenwärtige Ent­ wicklung, die weitgehend von einem ungezügelten Wirtschaftsliberalismus bestimmt ist, sieht keine formelle Ab­ schaffung vor: indem sie die individu­ ellen Wahlmöglichkeiten vervielfacht, führt sie zu einer Aufsplitterung der gemeinsamen Ruhe im Rahmen der ununterbrochenen Aktivität, die nun­ mehr durch individuelle Ruhetage gedämpft wird. Dieser Prozess ist in mehreren europäischen Ländern be­ reits sehr weit fortgeschritten – insbe­ sondere in Grossbritannien.

– Das Verschwinden des Sonntags würde die Provokation durch ein Jenseits, das über unsere gegenwärtige Welt hinausgeht, aus der Zeit der Woche eliminieren.

Provokation für unsere gegewärtige Welt

Das Verschwinden des Sonntags würde die Pro­ vokation durch ein Jenseits, das über unsere gegenwär­ tige Welt hinausgeht, aus der Zeit der Woche eliminie­ ren. Genau diese Provokation liegt aber der Dynamik der Kulturen zugrunde, die von den Buchreligionen geprägt sind. Der islamische Kalender stülpt dem übli­ chen Kalenderjahr, dem Sonnenjahr, ein heiliges Mond­ jahr über, das aus 12 Monaten à 30 Tagen besteht. Der religiöse Kalender von 360 Tagen verschiebt sich daher langsam innerhalb des natürlichen Jahreslaufs (365/366 Tage). Der Fastenmonat Ramadan wandert im Laufe der Jahre durch alle Jahreszeiten. Die Gott gewidmete Zeit entspricht nicht der von der Natur vorgegebenen Zeit.


39

Diese zentrale Aussage gilt auch für den Sabbat und den Sonntag. Ob man glaubt oder nicht, ist der Religionsfreiheit eines jeden anheimgestellt. Niemand ist verpflichtet, dem Sonntag die christlich-spirituelle Bedeutung zuzuschrei­ ben, die ihn begründet und die selbst in einer komplexen Beziehung zum jüdischen Sabbat steht. Hingegen geht die periodische Erinnerung an die Möglichkeit einer Transzendenz, einer von woanders herrührenden Frei­ heit, jeden an. Der Sonntag macht menschlicher. Er ist nicht nur ein Element religiöser, sondern auch weltlicher Spiritualität: er steht für eine Welt, die nicht in sich ein­ geschlossen und in allem durch die Natur, die Geschich­ te, die Arbeit und das Kapital bestimmt ist. Der Sonntag lässt den Menschen zu sich selbst finden. «Bleibt seine Ar­ beit einmal wirklich hinter ihm zurück, wird es einmal still um ihn und in ihm, wird er ruhig, dann passiert fürs erste einmal das, dass er, das Subjekt, sich selbst Objekt wird. Das alte ‹Erkenne dich selbst!› dürfte hier seinen Ort und Sinn haben» (Karl Barth). Deswegen reicht nicht nur die soziale, sondern auch die spirituelle Dimension des Sonntags über die Kirchen hinaus und betrifft die ge­ samte Gesellschaft. <


40 bulletin Nr. 1/2013

– Reformations-Jubiläum

In Bewegung bleiben Margot Kässmann, ehemalige Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland, war im November zusammen mit dem Kirchenbundspräsidenten Gottfried Locher zu Gast in der Synode der Zürcher Landeskirche.

Von Felix Reich

B

eide Kirchen feiern bald 500 Jahre Reforma­tion. Kässmann ist Botschafterin des Lutherjahres 2017, die Schweizer Reformierten bereiten ein Jubeljahr auch für 2019 vor. Die Frage stellte sich, inwiefern sich die Vorstellungen über das, was in vier und sechs Jahren gefeiert wird, unterscheiden, und ob es gelingt, über Landes- und Konfessionsgrenzen hinweg das Verbindende zu betonen. «Wir werden kein triumphales Reformationsjubi­ läum der Abgrenzung feiern», erklärte Kässmann gleich zu Beginn. Sie betonte die Wirkung der Reformation, wie sie von Martin Luther ausgegangen war, über die lu­ therische Kirche hinaus: Die Bewe­ gung habe die gesamte Gesellschaft tiefgreifend verändert und selbst in die katholische Kirche hinein gewirkt. Deshalb habe das Jubiläum der Refor­ mation immer auch eine ökumeni­ sche Dimension. Die einstige lutherische Bischöfin fokussierte auf die Wirkungsgeschichte der Reformation und deren histori­ sches Erbe, zu dem sie mit Nachdruck die historisch-kriti­ sche Bibelexegese zählte. Zur historischen Verantwortung der evangelischen Kirche gehöre beides: Sich einerseits von problematischen Äusserungen Luthers beispielsweise zum Judentum zu distanzieren. Andererseits hofft Käss­ mann, auf die wenig bekannte «zärtliche, tröstliche Seite» des sprachgewaltigen Reformators hinweisen zu können. Als einfühlsamer Seelsorger habe er das Alltagsleben der Menschen nie gegen das kirchliche Leben ausgespielt.

Kirchenbundspräsident Gottfried Locher begann seine Rede mit einer Jahreszahl, der deutschen Jahreszahl: 1517. Und er setzte damit einen Kontrapunkt, weil er expli­ zit nicht den berühmten Thesenanschlag Martin Luthers an der Wittenberger Kirchentür meinte. Locher zeichnete stattdessen das Bild eines jungen Pfarrers, der 1517 in ei­ nem abgelegenen Dorf predigte: Huldrych Zwingli. Damit stellte Locher implizit die gemeinsame Kirchengeschich­ te aller Konfessionen heraus: Er beschrieb nicht Zwingli, den Reformator aus Zürich. Sondern Zwingli, den jun­ gen Priester im Kloster Einsiedeln, der öffentlich die Missstände in der Kirche anprangerte. Locher ging von den geistigen Entstehungsbe­ dingungen der reformatorischen Bewegung aus, die ihren Ursprung «in der Stille» der klösterlichen Ab­ geschiedenheit hatte. Auch Luther habe seine Thesen «betend entwi­ ckelt». Kässmann wie Locher blieben nicht in der Geschich­ te stehen. Während sie die Rolle der Kirche heute in Po­ litik und Gesellschaft herausstrich, fragte er zuerst nach dem geistigen Fundament, das Voraussetzung ist für das öffentliche Engagement der Kirche. Beide Reformationsju­ biläen wollen nicht nur zurückblicken, sondern Stärkung sein für die Zukunft und ermutigen «evangelisch Kirche zu sein», wie Locher sagte. Neben die Einsicht, dass Reformation aus der Stille kam und noch immer kommt – im Hören auf das Wort, das Gott selbst ist (Johannes 1,1) –, stellte Gottfried Locher

– «Wir werden kein triumphales Refor­ma­tionsjubiläum der Abgrenzung feiern.»


Diskutierten in Zürich mit der anwesenden Presse: Luther-Botschafterin Kässmann und Kirchenbundspräsident Locher.

die Thesen, dass die Reformation «bewegt mit dem Evan­ gelium» und dass Reformation Gemeinschaft sucht. Und wieder berührten sich die Schlussfolgerungen der beiden Gäste trotz unterschiedlicher Rhetorik und verschiedener Argumentation. Während Kässmann die gesellschaftspo­ litische Wirkung der Reformation als Verpflichtung las, dass sich die Kirche in den politischen Diskurs einmi­ schen und zuweilen eine unbequeme Rolle spielen müsse, verwies Locher mit der gleichen Intention auf die Aufga­ be, auf das Evangelium zu hören: «Wir glauben an den, der die Machtstrukturen der Welt entlarvt. Wir glauben an den, der keine Kompromisse macht, wo es um Schutz des Schutzbedürftigen geht.» Damit stützte er Kässmanns Postulat, eine gesunde Distanz zwischen Kirche und Staat sei unabdingbar, weil die Kirche Kraft und Mut aufbrin­ gen müsse, beispielsweise in der Asylfrage Spannungen mit den staatlichen Behörden auszuhalten.

Die Gesellschaft zum Guten verändern

Angesichts dieser Berührungspunkte, die sich auf Umwegen einstellten, war Lochers dritte Beobachtung nur logisch: «Reformation sucht Gemeinschaft». Den Refor­ matoren fiel es zwar zuweilen unendlich schwer, sich über theologische Streitfragen zu einigen. Kässmann kritisierte hier, dass sich «die Reformatoren stark über Abgrenzung definiert haben, was ein Fehler war». Doch Locher wies zugleich auf das «europaweite reformierte Netzwerk» Heinrich Bullingers als historisches und dennoch zu­ kunftsweisendes Vorbild hin. Ohne explizit aufeinander zu antworten, zeichneten Margot Kässmann und Gottfried Locher das Bild einer

Gemeinschaft reformierter Kirchen, die um ihre Diffe­ renzen wissen und sie im gemeinsamen Kirchesein über­ springen: indem sie sich wieder bewusst werden, dass sie trotz ihrer institutionalisierten Struktur im Kern Teil ei­ ner Bewegung sind, die sich ständig neu zu reformieren hat. Die Bewegung hält Differenzen aus, solange sie sich auf ein gemeinsames Fundament beruft, das trägt. Oder in den Worten von Gottfried Locher: «Wir sind Kirche miteinander. Die Zwinglianer mit den Calvinisten. Die Lutheraner mit den Reformierten. Und so Gott will, auch einmal die Evangelischen mit den Katholischen.» Trotz des Drucks, dem sie in ihren säkularisierten Gesellschaften ausgesetzt sind, werden die evangelischen Kirchen in Deutschland und in der Schweiz also keine Ju­ biläen der Abgrenzung feiern, um die eigene Identität zu stärken. Vielmehr wollen sie sich als sich selbst bewusste Kirchen die Freiheit nehmen, sich pointiert in den gesell­ schaftlichen Diskurs einzubringen. Und die Gesellschaft zum Guten verändern. Genauso wie sich selbst. <

Felix Reich, Redaktionsleiter bei reformiert.zuerich www.reformiert.info


42 bulletin Nr. 1/2013

– Theologische Grundfragen von Umwelt und Klima

My home is in heaven? or on earth?

iStockphoto

Seit einigen Jahren wird der Bedeutung von Religion und Spiritualität für die Entwicklungsarbeit vermehrt Beachtung geschenkt. Die wirtschaftlichen, sozialen und politischen Rahmenbedingungen werden damit nicht weniger wichtig, aber die religiöse und spirituelle Einbettung von Entwicklungszielen und Entwicklungsprojekten lässt sich auf sie nicht reduzieren.


43

Von Otto Schäfer

D

iese Einsicht bedeutet beispielsweise, dass Umwelt- und Klimaprojekte im Süden in einem religiösen und spirituellen Deutungs­ zusammenhang stehen, der über ihren Er­ folg in hohem Masse mit entscheidet: wie werden lokale und regionale Auswirkungen des Klimawandels von den Partnern vor Ort religiös verstanden? Welche spirituellen Faktoren stärken oder schwächen das verlässliche, dauer­ hafte Engagement aller Projektpartner? Ebenso wichtig ist das theologische Selbstverständnis der kirchlichen Hilfswerke und Missionen, ihre spezifische Motivati­ on und ihre Legitimation nach innen und nach aussen. Für die Kirchen ist es wesentlich, ein Grundkonzept wie etwa Klimagerechtigkeit theologisch zu verankern und die Klimaprojekte, die diesem Ziel dienen, theologisch zu begründen. Für die pluralistische Gesellschaft ist es wichtig, die christlich-theologische Reflexion über Ent­ wicklung als eine zwar kontextabhängige, aber häufig entscheidende Erfolgsbedingung einzubringen. Dort wo christlicher Glaube offensichtlich eine gestaltende Kraft ist, braucht es die Selbstreflexion dieses Glaubens. Allzu bescheidene Selbstverleugnung wäre hier fehl am Platz.

Theologische Grundfragen

Hinter Klimagerechtigkeit und Klimaprojekten zeigen sich spannende theologische Grundfragen. Wie können Lob und Dank für die Gabe der Schöpfung so ausgedrückt werden, dass damit nicht Blindheit einher­ geht für die Ursachen unseres zerstörerischen Umgangs mit der Schöpfung? Auf diesen Widerspruch hat Doro­ thee Sölle immer wieder aufmerksam gemacht. Wie ist das Verhältnis zu bestimmen zwischen animistischen Erfahrungen religiöser Gegenwart in der Natur und dem christlichen Glauben an die Präsenz von Gottes Geist in der Schöpfung? Beispielhaft sind etwa die Debatten, die die koreanische Theologin Chung Hyun Kyung ausgelöst hat. Und, noch viel fundamentaler: wie sind Diesseits und Jenseits miteinander verbunden?

«My home is in heaven»

Die kenianische Friedensnobelpreisträgerin Wan­ gari Maathai (1940– 2011) hat ihren beispielhaften Kampf für die Erhaltung und Wiederherstellung der Wälder (Green Belt Movement) ausdrücklich spirituell begrün­ det. Die Spiritualität, die sie propagiert, überschreitet


44 bulletin Nr. 1/2013 Theologische Grundfragen von Umwelt und Klima die Grenzen einzelner religiöser Traditionen und will zwischen ihnen vermitteln. Ihre eigene christliche Er­ ziehung hat sie jedoch nie verleugnet und sich mit ihr auseinandergesetzt. Als eine fatale Tendenz christlicher Spiritualität, so wie sie diese selbst erlebte, sieht sie die Abwertung des diesseitigen, irdischen Lebens im Ver­ hältnis zum jenseitigen, himmlischen. Dies führt zu ei­ ner resignativen Haltung gegenüber der Zerstörung der irdischen Lebensgrundlagen, so als gehe dieses Anliegen die Gläubigen nicht wirklich etwas an. «My home is in heaven, I am just travelling through this world» – dieses gerade in Afrika sehr volkstümliche Kirchenlied zitiert Wangari Maathai, um eine christ­ liche Frömmigkeit in Frage zu stellen, die im Pflanzen von Bäumen eine allzu diesseitige Befreiung sieht und im Green Belt Movement nichts Christliches erkennen kann. Letztlich sind wir hier mit unserem christlichen Verständnis von Auferstehung, Erlösung und Heiligung konfrontiert, einem Verständnis, in dem die Vermitt­ lung von Diesseits und Jenseits nicht klar ist. Christinnen und Christen des Nordens sind über­ wiegend – und vielleicht ebenso einseitig – davon geprägt, dass die Gemeinschaft mit dem Auferstandenen und die Erwartung des Reiches Gottes auch unser Leben hier und jetzt bestimmt, bestä­ tigt und verändert. Christinnen und Christen im Süden dagegen verstehen sich häufig als Pilger auf dem Weg zur himmlischen Heimat, die diese Erwartung wohl mit ge­ lebter Nächstenliebe vermitteln, nicht aber mit der Be­ wahrung einer ohnehin vergänglichen Welt. Der Einfluss der Erweckungsbewegungen des 19. Jahrhunderts auf die Missionstheologien ist hier stark spürbar: es tröstet nicht das Gleiche in so radikal unterschiedlichen Lebensver­ hältnissen. Hier offenbart sich eine zentrale entwicklungstheo­ logische Baustelle. Welche Materialien sind hilfreich? Die Überzeugung beispielsweise, dass der Erlöser immer auch der Schöpfer ist – und umgekehrt. Die fruchtbare Spannung – schon in den biblischen Überlieferungen – zwischen der verheissenen neuen Schöpfung und der Erhaltung der Schöpfung. Die Sakramente Taufe und Abendmahl als wirksame Zeichen dafür, dass das Reich Gottes in den stofflichen Elementen wie dem Wasser und

verarbeiteten Elementen wie Brot und Wein gegenwärtig ist. Der «neue Mensch» wirkt im alten, Christus in Adam; der auferstandene Christus lebt schon verborgen im Le­ ben hier und jetzt, das Reich Gottes wirkt schon «wie Sauerteig» in der Welt.

In heaven and in earth

Analog ist die irdische Schöpfung Gleichnis der himmlischen und bekommt ihre Würde auch daher, dass sie gleichnisfähig für das Kommende und Himm­ lische ist. Eine Kirche, die kleine Kinder und junge Er­ wachsene tauft und sich nicht dafür interessiert, wie das ihnen geschenkte neue Leben in Christus auch bewah­ rend und heilend wirksam sein kann in diesem Leben, in diesem auch ihrem irdischen Leben, ist zynisch. Eine Kirche, die das Abendmahl feiert und sich nicht dafür interessiert, wie die Gaben der Welt dankbar bewahrt und teilend ver­ mehrt werden, ist zynisch. Weil es diesen notwendigen Zusammenhang mit der Welt hier und jetzt gibt, ste­ hen in den Evangelien nicht nur die Abendmahlseinsetzungen, sondern auch die Speisungswunder, nicht nur Brot und Wein, sondern – in einer Gesellschaft von Fischern – auch die Sättigung mit Brot und Fisch, nicht nur das Mahl, son­ dern – damit die gelebte Geschwisterlichkeit deutlich wird – die Fusswaschung (Johannes 13). Ein Gott, der etwas für die Füsse der Menschen üb­ rig hat und nicht nur für ihre Seele, wie sollte der nicht auch der Anwalt der irdischen Schöpfung sein, damit wir nicht von ihr, sondern in und mit ihr erlöst werden? <

– «My home is in heaven, I am just travelling through this world»


45

– bulletin Nr. 1/2013

Aus den Kirchen des Kirchenbundes


46 bulletin Nr. 1/2013


47

Kirchenratspräsident, Pfarrer und auf den Hund gekommen: Ulrich Knoepfel nebst Sony.

– Gastgeberin der Sommer-AV 2013

Die EvangelischRefor­mierte Landeskirche des Kantons Glarus

Fridolin. Irland. Landolf und Ursus, das Skelett. Deutschland und die Erbschleicherei. Stoff für einen Krimi oder für boulevardeske Geschichten über die EU-Zugehörigkeit der Schweiz? Nein. Glarnerland.

Text Thomas Flügge / Bilder Gion Pfander


F

Didis Lädeli in Elm: Elisabeth Rhyner und Katharina Gamper-Rhyner mit den traditionellen Glarner Tüchli.

ridolin, geborener Ire, war gläubig und lebte vor fünfzehnhundert Jahren. Seines Zeichens Glau­ bensbote, machte er sich auf gen Glarus. Die Sage berichtet, er habe vom sterbenden Ursus grosse Teile des Glarnerlandes geschenkt erhalten. Das wiederum brachte dessen Bruder Landolf auf die Büh­ ne. Ein Erbstreit ist die Folge. Fridolin holt – nicht un­ geschickt – den mittlerweile verstorbenen Ursus aus dem Grab zu Hilfe. Jener bemüht sich zu Gericht, ist jedoch bereits der Verwesung anheim gefallen. Dies wiederum verjagt Landolf dermassen, dass er dem irischen Glau­ bensboten Fridolin auch seinen Teil des Glarnerlandes schenkt. Ende der Sage. Der weitere Verbleib von Ur­ sus ist unbekannt, Fridolin wiederum gilt seitdem als Schutzpatron vor Erbschleicherei. Fridolin, jener irische Erbe, ist bis heute der ein­ zige abgebildete Mensch auf einem Kantonswappen der Schweiz. Noch eine Besonderheit: Fridolin trägt eine Bi­ bel in der Hand. Sein Einfluss ist es wohl, durch den im sechsten Jahrhundert die erste Kirche in Glarus gebaut wird. Ob Fridolin auf seinem Weg von Irland das Klos­


Oben und Mitte: Die Kirche in Obstalden – hier ist Ulrich Knoepfel der Pfarrer. Unten: Sportzentrum in Filzbach.

ter Säckingen in Deutschland passierte, ist unbekannt, so oder so aber unterstand das Glarnerland nur wenige Jahrhunderte später eben diesem. «Ammann, Rat und Gmeind des Lands Glaris» widmete Zwingli 1523 seine Reformationsschrift. Das wirkte – bis 1530 war der Grossteil der Glarnerinnen und Glarner reformiert. Aber eben nicht alle. Zweckmässige Lösungen mussten her. Gefunden wurden diese zum Bei­ spiel mit der gemeinsamen Nutzung der Kirche von Gla­ rus durch die reformierte und die römisch-katholische Gemeinde. Ein paar Jahre dauerte dies an – bis 1964, bis zur Weihe der katholischen St. Fridolins-Kirche. Hier schliesst sich der Kreis. Und heute? Noch rund 35 % Reformierte gibt es im Kanton, das entspricht gut 11 000 Personen, verteilt auf dreizehn Gemeinden. Der siebenköpfige Kirchenrat wird durch Ulrich Knoepfel, selbst Pfarrer in Obstalden, prä­ sidiert. Unter dem Titel «Glarner Generationenkirche» ha­ ben die Reformierten ein Reformprojekt der Kantonal­ kirche gestartet, das pünktlich vor den Feierlichkeiten zum Reformationsjubiläum ab 2017 abgeschlossen sein soll. Alltagskirche, Feierkirche, Kulturkirche und Lern­ kirche soll die Generationenkirche Glarus werden. Ein «gastlicher Lebensraum mit vielfältigen Zugängen». Einen gastlichen Arbeitsraum bieten die Refor­ mierten Glarner schon diesen Sommer. Mitte Juni tagt die Abgeordnetenversammlung des Kirchenbundes auf Einladung der Evangelisch-Reformierten Landeskirche des Kantons Glarus in Filzbach. <


50 bulletin Nr. 1/2013

– So verschieden wie unsere Kirchen …

Raten Sie mal! Die Reformierten arbeiten gern, heisst es. Dem sind wir nachgegangen. Und weil Arbeitsplätze viel über die Person verraten, haben wir gleich damit begonnen. Welcher Platz gehört zu welchem Kopf? Raten Sie mal. Auflösung auf Seite 54

3

2 1

4 6

5

Die Präsidentinnen und Präsidenten in ihren Büros finden Sie auf www.sek.ch


51

8

?

7

A

G

B

H

C

I

D

J

E

K

F

L

9 10

11 12


52 bulletin Nr. 1/2013 So verschieden wie unsere Kirchen ‌

13

17

14 15

19

16


53

20 21

?

22

S

M

T

N

U

O

V

P

W

Q

X

R

Y

23 24

18

25


54 bulletin Nr. 1/2013

Schweizerischer Evangelischer Kirchenbund Der Schweizerische Evangelische Kirchenbund ist der Zusammen­schluss der 24 reformierten Kanto­ nalkirchen, der Evangelisch-methodistischen Kirche und der Église Évangélique Libre de Genève in der Schweiz. Damit repräsentiert der Kirchenbund rund zwei Millionen Protestantinnen und Protestanten. Er nimmt Stellung zu Politik, Wirtschaft und Glaubens­ fragen und ist unter anderem Ansprechpartner des Bundesrates. Der Schweizerische Evangelische Kirchenbund nimmt die gemeinsamen Interessen seiner Kirchen wahr und vertritt sie auf nationaler und internationaler Ebene. Politisch ist der Kirchenbund als Vertreter des Schwei­ zer Protestantismus unter anderem Gesprächspartner der Bundesbehörden. Der Kirchenbund nimmt politisch Stellung und äus­ sert sich in eigenen Publikationen zu theologischen und ethischen Gegenwartsfragen. Auf religiöser Ebene vertritt er seine Kirchen in der Weltgemeinschaft Reformierter Kirchen WGRK, in der Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa GEKE, in der Kon­ ferenz Europäischer Kirchen KEK und im Ökumeni­ schen Rat der Kirchen ÖRK. Der Kirchenbund pflegt Beziehungen zu den Partnerkirchen im In- und Aus­ land, zur jüdischen und islamischen Gemeinschaft, zur Bischofskonferenz sowie zu den Hilfswerken und Missionsorganisationen.

Auflösung der Seiten 50 bis 53

A8 Michel Müller Evangelisch reformierte Landeskirche des Kantons Zürich B6 Wilfried Bührer Evangelische Landes­k irche des Kantons Thurgau C4 Dieter Kolthoff Evangelisch-Reformierte Landes­k irche Uri D12 Tobias E. Ulbrich Chiesa evangelica riformata nel Ticino E10 Monika Hirt Behler Reformierte Kirche Kanton Zug F1 Andreas Zeller Reformierte Kirchen BernJura-Solothurn G11 Verena Enzler Evangelisch-Reformierte Kirche Kanton Solothurn H5 Therese Meierhofer-Lauffer Verband der evangelischreformierten Kirchgemeinden des Kantons Obwalden I3 Ulrich Knoepfel Evangelisch-Refor­mierte Landeskirche des Kantons Glarus J9 Lukas Kundert Reformierte Kirche Basel-Stadt K7 Gabriel Bader Église réformée évangélique du canton de Neuchâtel L2 Esther Gaillard Église Évangélique Réformée du canton de Vaud

M21 Patrick Streiff Evangelisch-methodistische Kirche in der Schweiz N17 Martin Stingelin Reformierte Kirche Baselland O16 Felix Meyer Evangelisch-reformierte Kantonalkirche Schwyz P15 Dölf Weder Evangelisch-reformierte Kirche des Kantons St. Gallen Q13 Beat Abegglen Evangelisch-reformierte Kirche des Wallis R22 Christoph Weber-Berg Reformierte Landeskirche Aargau S14 David A. Weiss Reformierte Kirche Kanton Luzern T18 Frieder Tramer Evangelisch-reformierte Kirche Kanton Schaffhausen U20 Andreas Thöny Evangelische Landeskirche Graubünden V24 Pierre-Philippe Blaser Evangelisch-reformierte Kirche des Kantons Freiburg W19 Charlotte Kuffer Église Protestante de Genève X23 Kurt Kägi Evangelisch-Reformierte Landeskirche beider Appenzell Y25 Wolfgang Gaede Evangelisch-Reformierte Kirche Nidwalden

Impressum Schweizerischer Evangelischer Kirchenbund SEK CH-3000 Bern 23 Telefon +41 (0)31 370 25 25 info@sek.ch, www.sek.ch Auflage: 4700 deutsch, 1700 französisch

Redaktion: Thomas Flügge, Nicole Freimüller-Hoffmann Gestaltung/Layout: Meier Media Design, Zürich

Übersetzung aus dem Französischen: Marianne Wolter Druck: Roth Druck AG, Uetendorf



bulletin Nr. 1/2013

sek · feps

/

Nr. 1 2013

bulletin

Das Magazin des Schweizerischen Evangelischen Kirchenbundes

6

–Verfassungsrevision

Quo vadis, ecclesia?

– Lesen, hören und sehen Sie Ihren Kirchenbund im bulletin online! www.sek.ch

16 –  Ansichten von Abt Martin Werlen und Gottfried Locher Ökumene

20 – Über die Gefahren, ein Embryo zu sein 36 –  Der Sonntag – Ein Anliegen Option Leben

Sonntagsallianz

Schweizerischer Evangelischer Kirchenbund SEK Sulgenauweg 26 CH-3000 Bern 23 Telefon +41 (0)31 370 25 25 info@sek.ch

sek · feps Schweizerischer Evangelischer Kirchenbund

weltlicher Spiritualität?

sek · feps


Turn static files into dynamic content formats.

Create a flipbook
Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.