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BOHUSLAV MARTINŮ
EIN FRANZÖSISCHTSCHECHISCHAMERIK ANISCHES CONCERTO GROSSO IM 20. JAHRHUNDERT
VON CHRISTIAN REICHART Martinůs dramatische Flucht vor den Nazis sei im Konzert für zwei Klaviere und Orchester nachgezeichnet, der Komponist benutze «die beiden Klaviere wie sich duellierende Kampfflugzeuge, um im Finale einen Wirbelwind der Aufregung zu erzeugen». Der dies schrieb, müsste es wissen: Frank Rybka war seit 1941 enger Freund, Arzt und Biograf Bohuslav Martinůs in den USA.
Für jedes Kunstwerk gilt, dass jede Generation ihren eigenen Eindruck erhält, sich ihr eigenes Bild macht. Ein Mensch in den frühen 1940er-Jahren, Angehöriger einer Nation im Kriegszustand, mag in Martinůs harter, hochtouriger Motorik mancher Abschnitte der Ecksätze des Konzerts die unaufhaltbare Technik einer Kriegsmaschinerie gehört haben, und es ist beileibe kein Widerspruch, dass uns – im seit Jahrzehnten friedensverwöhnten Westeuropa – bei demselben Werk zuvorderst die Virtuosität, die Farbigkeit und die rhythmische Ranesse von Martinůs Musik auallen. Martinů selbst hat sich dazu nicht geäussert («Ich glaube, ich kann besser Musik schreiben als über sie schreiben»).
Martinů schrieb sein Konzert für zwei Klaviere zu Beginn des Jahres 1943. Zwei Jahre zuvor war ihm und seiner Frau die Flucht nach Amerika geglückt, nachdem er von 1923 bis 1940 in Paris gelebt, dort zu seiner musikalischen Sprache gefunden, eine Französin geheiratet und sich überhaupt sehr wohl gefühlt hatte. Kaum des Englischen mächtig, fühlte sich der Komponist in der Neuen Welt zunächst sehr unwohl. Die gleichförmige Umgebung der New Yorker Blocks, durch die ihn nun seine täglichen Spaziergänge führten, lähmte seine Gedanken.
ZUM WERK Er wohnte bei seinem Freund und späteren Biografen Miloš Šafránek; der nannte diese Zeit Martinůs «Periode der Betäubung». Gleichwohl erhielt er nach und nach Zugang zu den amerikanischen Musikerkreisen, und nachdem Sergei Kussewitzki sein Concerto grosso mit grösstem Erfolg uraufgeführt hatte, ihm den Auftrag für eine Komposition für das Boston Symphony Orchestra erteilt und ihn zum Kompositionslehrer der Sommerkurse in Tanglewood gemacht hatte, gehörte Martinů beinahe über Nacht zur ersten Garde der in Amerika lebenden Komponisten.
In Tanglewood lernte er die Pianisten Pierre Lubishutz und Genia Nemeno kennen, die ihn um ein Konzert für zwei Klaviere baten. Martinů hatte Jahre zuvor Béla Bartók und dessen Frau mit Bartóks Sonate für zwei Klaviere und Schlagzeug gehört und später auch Bartóks Umarbeitung der Sonate zum Konzert für zwei Klaviere und Orchester. Darüber hinaus hatte Martinů selbst in den Tre Ricercari und im letzten Satz des von Kussewitzki uraufgeführten Concerto grosso zwei Klaviere solistisch einem Orchester gegenübergestellt, sodass ihn diese seltene Kombination überaus reizte. Die Komposition erfolgte rasch, in eineinhalb Monaten war das Werk fertig. Für den 1. Satz benötigte er nur vier Tage, was manchen Biografen zu der fassungslosen Frage führte, wie man in so kurzer Zeit überhaupt so viele Noten aufschreiben könne – vom Komponieren einmal ganz abgesehen. Die Urauührung fand am 5. November 1943 mit dem Philadelphia Orchestra unter Eugene Ormandy statt und wurde zu einem der grössten Erfolge Martinůs in den USA.
Das Konzert für zwei Klaviere oenbart Martinůs Persönlichkeit und zeigt die Bestandteile seines Personalstil: die in Paris bei Albert Roussel erworbene französische Elastizität und Feinheit, ein armatives amerikanisches Selbstbewusstsein, Jazz-Einflüsse (mit denen er sich allerdings schon in den 20er-Jahren in Paris intensiv auseinandergesetzt hatte) und die unverkennbare Idiomatik der tschechischen Musik. Nicht ganz überraschend nehmen die tschechischen Einsprengsel in Martinůs Musik in Amerika (insbesondere in den Sinfonien) noch einmal deutlich zu. Die Heimat erscheint uns
BOHUSL AV M A RTINŮ 16 eben nie herrlicher und der Verklärung würdiger als aus der Ferne.
Martinůs musikalische Gedanken manifestieren sich auch im Konzert für zwei Klaviere und Orchester nicht in handfesten Themen und Motiven, sondern eher in musikalischen Zellen (Mariss Jansons sprach von «musikalischen Keimen»), die sich mal oen, mal mehr im Verborgenen durch das Werk ziehen, wieder auftauchen, sich verändern, sich weiterentwickeln und so das Werk ausbalancieren und zu einer Einheit werden lassen. Neben den rasenden Läufen und gewaltigen Akkordballungen tauchen in den Ecksätzen des Konzerts gesangliche Phrasen auf, die gut und gern der tschechischen Folklore entlehnt sein könnten (tatsächlich hat Martinů nur sehr selten auf gegebenes Material zurückgegrien). Die der tschechischen Sprachmelodie entsprechende Rhythmik und die immer wieder zu hörende ‹Mährische Kadenz› (eine dezidiert tschechische musikalische Chire, die zuerst bei Janáček auftaucht) verleihen der Musik ihr Kolorit.
Konzert für zwei Klaviere und Orchester, H 292
BESETZUNG 2 Klaviere solo, 2 Flöten, 2 Oboen, 2 Klarinetten, 2 Fagotte, 2 Hörner, 2 Trompeten, Pauken, Schlagzeug, Streicher
ENTSTEHUNG Januar und Februar 1943 im Exil in New York
URAUFFÜHRUNG 5. November 1943 in Philadelphia mit dem Philadelphia Orchestra unter der Leitung von Eugene Ormandy mit dem Piano-Duo Genia Nemeno und Pierre Luboshutz als Solisten
WIDMUNG Genia Nemeno und Pierre Luboshutz