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EINE KAPITALE FEHLEINSCHÄTZUNG

Von Alexander Moore

Pjotr Iljitsch Tschaikowskis

1. Klavierkonzert ist eine der gelungensten Kompositionen dieser Gattung und zweifellos das berühmteste Instrumentalkonzert des 19. Jahrhunderts. Fast so berühmt wie der legendäre Anfang des Konzerts ist seine Entstehungsgeschichte. Denn die selbstverständliche Regelmässigkeit, mit der es auf heutigen Spielplänen zu finden ist, war dem Konzert nicht in die Wiege gelegt. Im Gegenteil: Tschaikowskis allererste Präsen­ tation des Werks im privaten Rahmen für seinen Förderer und Gönner Nikolai

Rubinstein war Anlass für eine der kapitalsten Fehlein­

schätzungen,

die Musiker*innen je widerfahren sind.

Doch der Reihe nach: Tschaikowski begann im Winter 1874/75 mit der Arbeit an seinem Klavierkonzert und war zu dieser Zeit noch wenig erfahren im Umgang mit dem Klavier. Schriftliche Notizen und Pläne für das Werk gibt es kaum; erst Jahre später formulierte er seine Vision in einem Brief an seine enge Vertraute Nadeschda von Meck: «Das Verhältnis von Klavier und Orchester ist ein Kampf zweier ebenbürtiger Kräfte.» Es gehe um ein «gewaltiges, an Farbenreichtum so unerschöpfliches Orchester, mit dem sich der kleine, unscheinbare, doch geistesstarke Gegner auseinandersetzt und auch siegt, wenn der Pianist begabt ist.» Auch wenn die Ausformulierung dieser Au ffassung erst später erfolgte, so komponierte Tschaikowski sein Klavierkonzert doch ganz aus dieser Haltung heraus: als noblen Wettstreit.

Ursprünglich war das Werk dem Pianisten Nikolai Rubinstein zugedacht, seinem Förderer und Direktor des Moskauer Konservatoriums. Dem Treffen mit dem berühmten Musiker fieberte Tschaikowski entgegen; umso grösser war die Bestürzung darüber, dass Rubinstein kaum ein gutes Haar an dem Konzert liess. Aus einem weiteren Brief an Nadeschda von Meck wissen wir von Tschaikowskis Gefühlen während dieses Treffens: «Da ich kein Pianist bin, wollte ich meine Kompositionen einem Klaviervirtuosen zeigen, damit er mir sage, ob alles aufführbar, effektvoll und dankbar sei. Ich wusste, dass Nikolai Rubinstein nicht verfehlen würde, seine Launen spielen zu lassen. Da er aber der grösste Pianist von Moskau ist, entschloss ich mich doch, ihn zu bitten, mein Konzert anzuhören. Er wäre auch sehr beleidigt gewesen, wenn ich einen anderen Pianisten aufgesucht hätte. Ich spielte ihm den ersten Satz vor. Kein Wort, keine Bemerkung! Wenn Sie wüssten, wie dumm man sich vorkommt, wenn der Freund die für ihn zubereitete Speise einfach verzehrt und dann schweigt! […] Ich nahm mich indessen zusammen und spielte bis zum Ende. […] Rubinstein fing an zu reden, zunächst leise, dann immer lauter werdend bis zum Jupiterton. Er sagte, mein Konzert sei schlecht, unspielbar, die Läufe abgedroschen und ungeschickt, die Erfindung schwach. Gestohlen hätte ich auch hier und dort. Ich war erstaunt und beleidigt. Schweigend ging ich hinaus. Ich war einfach wütend. Später sagte er mir, er wäre bereit, mein Konzert zu spielen, wenn ich dies und jenes ändern wollte. Ich ändere keine einzige Note, erwiderte ich ihm, das Konzert bleibt so, wie es ist.» Was immer auch den grossen Nikolai Rubinstein zu seiner Meinung veranlasst haben mochte – er blieb glücklicherweise einer der ganz wenigen, die das Werk ablehnten. Und noch glücklicher dürfen wir uns schätzen, dass der sonst zu Änderungen und Kompromissen durchaus bereite Tschaikowski hier nicht nachgab und an seiner Konzeption des Konzerts festhielt. Die Widmung wurde kurzerhand aus der Partitur gestrichen, Tschaikowski bot das Werk dem Pianisten und Dirigenten Hans von Bülow an, der sich überaus erfreut und dankbar zeigte, das Werk am 25. Oktober 1875 in Boston zur Uraufführung zu bringen. Es wurde ein grosser Erfolg. Nach drei Jahren erlebte das Klavierkonzert seinen endgültigen Durchbruch in Europa. Es ist das bis heute am meisten auf Tonträger verkaufte Instrumentalkonzert.

Im 1. Satz (Allegro non troppo e molto maestoso) wird mit hellen Fanfarenklängen eine der berühmtesten Eröffnungen des klassischen Konzertrepertoires vorgetragen. Dass die Melodie aus der russischen Provinz stammt, würde man niemals erraten. Tschaikowskis Bruder Modest wusste aber zu berichten, dass Pjotr während eines Sommeraufenthalts in Kamenka einer Gruppe von blinden Bettlern beim Musizieren zuhörte und diese Melodie sofort notierte. Tschaikowski bearbeitete das ursprünglich breit und episch angelegte Volkslied und veränderte es in eine leicht schwebende Melodie, die ihren kapriziösen Reiz im Dialog zwischen Klavier und Holzbläsern entfaltet, ehe sie sich in den Oktavklängen des Soloinstruments verliert.

Der 2. Satz (Andantino semplice) hebt mit einer von der Flöte intonierten lyrischzarten Weise an, die eine kontemplative Stimmung erzeugt. Violoncello und Oboe nehmen das Thema auf, das vom Klavier mit hellen Arabesken umspielt wird. Im schnellen Scherzo­Mittelteil huscht ein Walzer vorüber, der auf ein französisches Chanson zurückgeht, das von Tschaikowski und seinen Brüdern gern angestimmt wurde: «Il faut s’amuser, danser et rire» (Man muss sich amüsieren, tanzen und lachen). Dieser sich in einem FortissimoSchlag entladende Übermutsausbruch bildet den scherzo­haften Kontrapunkt zur anmutigen, kammermusikalisch zarten Gesamtanlage des Satzes, einem gelösten Zusammenspiel von Orchester und Solist, einem gegenseitigen Zusingen, Zuhören, Abnehmen und Aufgreifen der musikalischen Gedanken. Es handelt sich um zwei Optionen der Selbstvergessenheit: sich in dialogischer Zweisamkeit zu verlieren oder sich ins Amüsement zu stürzen. Schwärmerisch klingt der Satz aus.

Das Finale (Allegro con fuoco) setzt wild und ungestüm ein. In Rondo­Form präsentieren sich zwei Themen; das erste ein ukrainisches Frühlingslied, das zweite dem Volkston frei nachempfunden. Klavierpart und Orchestertutti verhalten sich wie ein solistischer Vorsänger und der ihm antwortende Chor. Auch im Finale weiss sich das zweite Thema durchzusetzen, führt zu einer hymnischen Steigerung und zu einem die Themen synthetisierenden Finale. Es kündet von der glücklichen Übereinstimmung des Einzelnen mit dem Ganzen.

Hans von Bülow, der das Konzert uraufführte, schrieb: «Die Ideen sind so originell, so edel, so kraftvoll, die Details, welche trotz ihrer grossen Menge der Klarheit und Einigkeit des Ganzen durchaus nicht schaden, so interessant. Die Form ist so vollendet, so reif, so stilvoll – in dem Sinne nämlich, dass sich Absicht und Ausführung überall decken. Ich würde ermüden, wollte ich alle Eigenschaften Ihres Werkes aufführen, Eigenschaften, welche mich zwingen, dem Komponisten sowie allen denjenigen, welche das Werk ausführend oder aufnehmend geniessen werden, in gleichem Masse meine Gratulation darzubringen.»

Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Tonkünstler-Orchesters Niederösterreich

Konzert für Klavier und Orchester Nr. 1 b­Moll

BESETZUNG

Klavier solo, 2 Flöten, 2 Oboen, 2 Klarinetten, 2 Fagotte, 4 Hörner, 2 Trompeten, 3 Posaunen, Pauken, Streicher

ENTSTEHUNG

1874

URAUFFÜHRUNG

25. Oktober 1875 in Boston (USA) unter der Leitung von Benjamin Johnson Lang und mit Hans von Bülow als Solist

DAUER ca. 32 Minuten

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