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I WIE IMPROVISATION

VON BENJAMIN HERZOG

Etwas hat das Kunstwerk, und wir meinen hier das musikalische Kunstwerk, im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit bis heute nicht verloren: die Faszination der Unvorhersehbarkeit, der Improvisation. Musik scheinen wir hauptsächlich dann zu lieben, wenn sie zwar gewissen Regeln folgt oder wenigstens einer gewissen Regelmässigkeit, diese aber auch immer wieder durchbricht. Und zwar dort, wo wir es nicht erwarten. Haben Sie schon einmal eine*n Cembalisten*in aus dem Stegreif eine Fuge improvisieren gehört? Da entsteht ein Gebäude aus Tönen, das es so vorher noch nie gegeben hat und nachher nie mehr geben wird.

Natürlich sind das keine Luftschlösser. Die vor 300 Jahren formulierten Regeln solcher Improvisation wurden und werden noch heute an den Musikhochschulen gelehrt. Auch im Kollektiv, etwa in einer Generalbassgruppe, blüht und windet sich Barockmusik improvisierend um die Rankhilfen solcher Regeln. Im Gegensatz dazu, geschweige denn zu einem einzelnen Musiker, einer Musikerin, die beim Improvisieren schalten und walten können, wie sie wollen, ist das Kollektiv eines modernen Sinfonieorchesters auf die Vorhersehbarkeit der Ereignisse angewiesen. Diese, sofern sie musikalischer Natur sind, stehen in den Noten weitgehend festgeschrieben. Über

Tempo, Lautstärke, Artikulation herrscht ein Konsens, der das sinfonische Ganze erst ermöglicht. Selbst die Länge einer Fermate, also eines Tons oder einer Pause mit per se undefinierter Dauer, wird in der Probe für alle verbindlich festgelegt. Im 20. Jahrhundert suchten und fanden Komponisten von Orchestermusik wie etwa John Cage Auswege aus dieser für sie überdeterminierten Situation. Sie schrieben Stücke, die komponiert sind und zugleich bei jeder Aufführung improvisiert werden. Ein nur scheinbarer Widerspruch. Auch die erwähnte Barockmusik ist allein durch die Notierung noch nicht komplett. Im Sinfonieorchester spielt sich die Improvisation auf subtileren Ebenen ab. In ihrer Berufskarriere können Flötist*innen fünfzig Mal das gleiche Solo in der Eroica spielen. Dabei können sie sich für ein allzeit gültiges Modell entscheiden, mit einer finalen Interpretation , und sich so einen Harnisch anziehen, in dem sie garantiert nicht nervös werden. Oder sie spielen ihr Solo jeden Abend leicht anders. Dann haben auch wir das Glück, uns nicht zu langweilen. Meist sind sie ja kurz, die Soli von Orchestermusiker*innen. Innerhalb von vier Takten so etwas wie Individualität aufscheinen zu lassen ohne gleich aus dem Kollektiv auszuscheren, das ist grosse Kunst. Oft handelt es sich ja ohnehin um eine Schein-Individualität, denn mein Flöten­ solo hat vorher vielleicht schon das Fagott gespielt und wird nachher von der Klarinette aufgenommen. Da wollen Dirigent*innen keine drei komplett verschiedenen Fassungen hören. Statt von Improvisation müsste man vielleicht eher von Reaktion sprechen, auf die Kolleg*innen, auf die Stim mung insgesamt. Und das in Sekundenbruchteilen. Ein berühmter Dirigent hat mal gesagt, die besten Musiker*innen seien diejenigen mit der kürzesten Reaktionszeit. Am anderen Ende der Skala hat der Begriff Improvisation weitab von solchen Feinheiten Qualitäten, mit denen sich Anekdoten pfeffern lassen. Sie erinnern sich vielleicht an das Konzert einer Geigerin mit dem Sinfonieorchester Basel. Man spielte Mozart, die Sinfonia concertante . Ihr reisst während des langsamen Satzes eine Saite. Weiterspielen unmöglich. Tatsächlich setzt sie für ein paar Takte aus. Aber nur, um ihr Instrument an den Konzertmeister weiterzugeben, der es wiederum an seine Pultkollegin weiterreicht. Die geht, zumindest äusserlich seelenruhig, aus dem Konzertsaal in die Orchestergarderobe, um pünktlich zum Schluss­Presto mit dem frisch besaiteten Instrument zurückzukehren. Da hat ein unvorhersehbares Ereignis eine Reaktion von Handlungen ausgelöst, sodass man getrost von einer Gruppen-Improvisation sprechen kann. Reproduzierbar jedenfalls wäre so ein Ereignis nicht.

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