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«ES GIBT MOMENTE, DA TRETEN WIR IN BEZIEHUNG ZUR SEELE DES PUBLIKUMS»
VON CHRISTIAN FLURI
Die Musik des 20. und nun auch des 21. Jahrhunderts ist fester Bestandteil der Biografie des französischen Dirigenten Pierre Bleuse. Er ist Chefdirigent des dänischen Odense Symphony Orchestra, Co Leiter des Genfer Lemanic Modern Ensemble und übernimmt diesen Sommer die Leitung des Ensemble Intercontemporain Paris. Bleuse, der erstmals das Sinfonieorchester Basel dirigiert, äussert sich im Gespräch dazu, welch wichtige Inspirationsquelle Volksmusiken für viele Komponist*innen sind.
CF Im Video, in dem sich das Odense Symphony Orchestra mit Ihnen als Chefdirigent vorstellt, nennen Sie das Sinfoniekonzert eine «Party of Sound» – ein Fest des Klangs also für Publikum, Orchester und Dirigent?
PB Im Konzertsaal fühlen wir die Energie, die von der Musik ausgeht. Es gibt Momente, da treten wir in Beziehung zur Seele des Publikums. Gerade nach der CovidTragödie erfuhren wir wieder, wie wichtig für uns Musiker*innen die Beziehung zu den Menschen ist. In einem Saal mit guter Akustik kann das Publikum im Konzert gar zu einem Teil des Orchesters werden.
CF Ist nicht gerade auch Maurice Ravels Boléro ein Fest des Klangs, der Rhythmen?
PB Für Ravel war das Stück, das er für die Tänzerin Ida Rubinstein geschrieben hatte, eine Art Übung in Orchestration. Er selbst war überrascht vom Erfolg. Der Boléro ist ein schamanisches, ein rituelles Stück, das vom Rhythmus mit seiner Wirkung auf unseren Körper, unseren Geist lebt. Ravel zeigt in der Orchestration, wie modern er ist.
CF Aber die vordergründig einfache Musik verlangt viel vom Orchester, eine stete sich steigernde Spannung, um den Effekt der Ekstase zu erreichen … PB Wir müssen die unterschiedlichen Klangfarben genau herausarbeiten. Einerseits verlangt der Boléro hohe Präzision und Sicherheit, andererseits müssen wir die Musik laufen lassen. Es gilt, die ganze Energie in eine Richtung zu lenken, um mit der steten Modulation den Effekt von Befreiung zu erzeugen.
CF Sie dirigieren in Basel neben dem spanischen Tanz Boléro auch Manuel de Fallas Suite Nr. 2 aus Der Dreispitz. Die Affinität französischer Komponisten und auch Dirigenten zur spanischen Musik ist gross … PB Das ist eine lange Geschichte, die ins späte 19. Jahrhundert zurückgeht. Um 1900 kamen Juan Miró, Pablo Picasso, Manuel de Falla, Isaac Albéniz und andere Spanier nach Paris, in die Stadt, die das Zentrum der Künste war. Sie pflegten enge Beziehungen zur französischen Szene. Freund schaften entstanden wie jene von de Falla und Debussy. Die Spanier brachten ihre Musik nach Frankreich. Spanien ist reich an traditioneller Musik mit einer prägnanten Rhythmik. Sie bildete eine wichtige Inspiration und wurde auch als eine Art Befreiung wahrgenommen.
CF Der 1. Satz von Debussys Images pour orchestre, Gigues, gründet auf englischer, der 3. Satz, Rondes de printemps auf französischer Volksmusik …
PB Bei Images fühle ich mich wie auf einem Gang durch ein Museum, bei dem ich verschiedene Bilder anschaue. Die Musik ist voller schöner Momente und reich an Fantasie.
CF Und im RondoSatz von Pjotr Iljitsch Tschaikowskis 1. Klavierkonzert finden sich Spuren russischer Volkstänze. Verwandelt auch er eigene folkloristische Traditionen in Kunstmusik?
PB Es gibt sie in allen Kulturen, die Einflüsse traditioneller Musiken der jeweiligen Bevölkerung auf Komponist*innen. Wir finden sie auch bei Michail Glinka oder Alexander Borodin. Musik ist so immer auch Ausdruck der eigenen Kulturgeschichte, und sie ist Ausdruck von Menschlichkeit. Von der Basis der eigenen Tradition ausgehend schaffen Komponist*innen eigene, wunderbare Kunstmusik.
CF Sie haben einen engen Bezug zur Moderne wie zur zeitgenössischen Musik. Soeben sind Sie zum neuen künstlerischen Leiter des Ensemble Intercontemporain Paris gewählt worden –meine Gratulation!
PB Die musikalische Gegenwart ist wichtiger Teil meines Musikerlebens, in dem ich zuerst Violinist war. Mein Vater Marc Bleuse war Komponist und hatte enge Beziehungen zur Szene der Neuen Musik. Für das musikalische Leben ist es essenziell zu hören, was die Erfinder von Musik erzählen. Das exzellente Ensemble Intercontemporain arbeitet in engem Kontakt mit Komponist*innen. Das erinnert mich wiederum an die Arbeitsweise von Debussy und Ravel mit ihren Verbindungen zu Musiker*innen.
CF Und Sie engagieren sich in der Ausbildung junger Musiker*innen, haben in Toulouse die Orchestra Academy gegründet …
PB Wir haben eine Verantwortung gegenüber der Jugend. In der Akademie vermitteln wir unser Wissen über Musik, über die Künste. Und die jungen Menschen geben uns wiederum Energie. Sie kommen zu uns nach Toulouse in dem Moment, in dem sie zwischen Hochschule und dem eigenständigen Berufsleben stehen.
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Claude Debussy
Images pour orchestre
Gemalt Mit Orchesterfarben
VON KERSTIN UNSELD
Das Bildhafte faszinierte
Claude Debussy: Neben seinen Images pour Orchestre hatte er bereits zwei Klavierbände mit Images komponiert, in denen das Schillern der Goldfische in einem Teich ebenso wie die Lichtbrechungen auf der Fassade einer Kathedrale zu hören/sehen sind.
Für Debussy, dem die Bezeich nung ‹impressio nistisch› für seine Musik überhaupt nicht gefiel, hatte das ‹Malen› in Musik viele Vorteile gegenüber dem Malen auf Leinwand:
Ein Musikstück entsteht in der Zeit, kann einen Prozess beschreiben. Das Bild an der Wand kann das nicht.
Im Februar 1906 riet Debussy seinem Stiefsohn, dem Komponisten Raoul Bardac: «Sammeln Sie Eindrücke. – Beeilen Sie sich nicht, diese sofort aufzuzeichnen … Die Musik ist der Malerei insofern überlegen, als sie die verschiedenen Variationen der Farbe und des Lichtes zusammenbringen und in einem Werk vereinen kann. Eine Wahrheit, die trotz ihrer Einfachheit oft übersehen worden ist.»
Images pour Orchestre entstand genau in dieser Zeit und bildete nicht nur Debussys Freude am Entstehenlassen von (Orchester) Farben, sondern auch seine Faszination für die spanische Musik, Landschaft und Folklore ab.
Im Programmheft der Uraufführung am 26. Januar 1913 konnten die Zuhörer*innen – oder soll man sagen: Zuschauer*innen? – lesen: «Wirkliche Bilder, wo sich der Musiker bemüht, für das Ohr die Eindrücke des Auges zu übersetzen; er beeilt sich, die beiden Arten von Sinneseindrücken zu verschmelzen, um sie zu intensivieren; die Melodie mit ihren unendlich vielen Rhythmen entspricht den vielfältigen Strichen einer Zeichnung, das Orchester ist eine grosse Palette, zu der jedes Instrument seine Farbe liefert. Wie sich der Maler an Gegenüberstellungen von Farbtönen, am Spiel von Schatten und Licht freut, so freut sich der Musiker am Zusammenprall von unvorhersehbaren Dissonan zen, an der Mischung von seltenen Klangfarben; er will das, was er zu Gehör bringt, sichtbar mischen, und die Feder zwischen seinen Fingern wird ein Pinsel. Das ist ein musikalischer Impressionismus von besonderer Nuance und seltener Qualität.»
Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Südwestrundfunks (SWR)
Images pour orchestre
BESETZUNG
2 Flöten, 2 Piccoli, 2 Oboen, Oboe d’Amore, Englischhorn, 3 Klarinetten, Bassklarinette, 3 Fagotte, Kontrafagott, 4 Hörner, 4 Trompeten, 3 Posaunen, Pauken, Schlagzeug, 2 Harfen, Celesta, Streicher
ENTSTEHUNG
1905–1912
URAUFFÜHRUNG
26. Januar 1913 in Paris unter der Leitung des Komponisten
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DAUER
I. Gigues ca. 7 Minuten
III. Rondes de printemps ca. 9 Minuten
Boléro
BOHREND BESESSEN: DAS MYSTERIUM DES BERÜHMTEN BOLÉRO
War das ernst gemeint, oder spiegelt sich ein gehöriges Mass Ironie in dieser Aussage? «Ich bin von Natur aus künstlich», hat Maurice Ravel einmal von sich behauptet. Schaut man sich seine Kompositionen genauer an, so spiegelt sich in seiner lapidar knappen Aussage zumindest ein Teil seiner musikalischen Ästhetik. Denn Künstlichkeit findet sich auch in La Valse, diesem doppelbödigen Abgesang auf den Wiener Walzer, ausserdem in einigen seiner Klavierwerke und, am ehesten wohl, in seinem berühmtesten Werk, dem Boléro.
Was aber meint Künstlichkeit: die genaue Kalkulation der Form? Die mathematische Kühle der Instrumentierung? Das Berechnende dieser grossen, unaufhörlichen dynamischen Steigerung? Ravel schreibt mit diesem Boléro ein Werk von ungeheurer Sogkraft, dabei wirkt es bei näherer Betrachtung, als zeichne hierfür weniger ein Künstler als vielmehr ein Ingenieur, ein Technokrat verantwortlich. Das Grundprinzip ist einfach: ein simpler Rhythmus, der sozusagen als Dauerschleife fungiert, eingeführt von der Kleinen Trommel, die das Fundament bildet. Sie spielt ohne Unterlass, penetrant fast und bohrend. «Keine Form im eigentlichen Sinne des Wortes, keine Entwicklung, keine oder so gut wie keine Modulation, ein Thema nach der Art von Padilla (dieses reichlich gewöhnlichen Komponisten von ‹Valencia›), zusammen mit Rhythmus und Orchestrierung», so umschreibt der Komponist selbst die wesentlichen Zutaten seines Boléro.
Jede und jeder kann den Rhythmus mittrommeln, die Melodie lässt sich nach kurzem Hören mühelos mitpfeifen. Die Musik wirkt so einfach, fast furchterregend einfach. Vielleicht ist diese Simplizität, die Wiederkehr und unscheinbare Abwandlung des Immergleichen, ihr Geheimnis?
Doch lohnt es sich zu fragen: Ist wirklich alles einfach? Jede Sogkraft, jede Magie ist das Ergebnis von Zufall oder einem aus geklügelten System. Bei Ravel, dem ‹Künstlichen›, ist es sicher Letzteres. Er kommt mit nur zwei Themen aus und dreht gleichzeitig den Lautstärkeregler kontinuierlich höher. Ausgerechnet auf dem Höhepunkt bricht alles zusammen, folgt der Stillstand. Ravel arbeitet seine beiden Themen so raffiniert aus und verteilt sie so kunstvoll auf die einzelnen Instrumente, dass man das dynamische Anschwellen nur als Ganzes wahrnimmt, nicht aber in seinen einzelnen Segmenten.
Die Idee zu diesem Werk kam Ravel während der Sommerferien. Die verbrachte er auch im Jahr 1928 am Meer, nahe SaintJeandeLuz, in seiner Heimat unfern der spanischen Grenze im äussersten Südwesten Frankreichs, wo er geboren worden war. Morgens vor dem Frühstück ging er im Meer schwimmen, nur an einem Tag nicht. Da setzte er sich ans Klavier, weil ihm eine Melodie im Kopf herumspukte. «Glaubst du nicht, dass dieses Thema von eindringlicher Wirkung ist? Ich werde versuchen, es einige Male ohne jede Entwicklung zu wiederholen und die Orchestrierung nach und nach anwachsen lassen», meinte Ravel zu seinem Freund und FerienBegleiter, dem Kritiker Gustave Samazeuilh. Der spanisch geprägte Rhythmus zu dieser Melodie folgte erst, als Ravel sich bereits wieder in Paris befand. Zur Ausarbeitung kam es in den anschliessenden Wochen.
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Die Premiere am 22. November 1928 an der Pariser Opéra dirigierte Walther Straram. Bronislava Nijinska hatte die Choreografie entworfen. Das Stück spielte in einer Taverne. Dort tanzte eine Solistin, Ballerina Ida Rubinstein, auf dem Tisch, bis ihre Bewegungen nach und nach die männliche Kneipenkundschaft in Verzückung versetzten. Doch diese Idee einer Verortung und Umsetzung ist nur eine von zahllosen denkbaren. Ravel selbst sagte einmal: «Eine Fabrik war es, die meinen Boléro inspiriert hat. Am liebsten würde ich das Stück mit einer riesigen Fabrik im Hintergrund spielen lassen.» Inwieweit Ravel hier nur eine von vielen möglichen Fährten legen wollte, wer weiss es?
Als «Verrückter» wurde Ravel am Abend der Uraufführung von einer Dame im Publikum beschimpft. Vielleicht steht ihre Irritation auch exemplarisch für viele der Rätsel, die das Werk von Anfang an aufgegeben hat. Bis heute ist die RavelRezeption sich nicht einig darüber, worum es in diesem Stück überhaupt geht. Der Komponist selbst hatte die Verwirrung kommen sehen und daher im Vorfeld bereits gewarnt, was in diesem Stück geschehen werde –nämlich nichts! Keine Kontraste, keine Vielfalt an melodischen Einfällen, keine Virtuosität im spätromantischen Sinne. Nur eine über 300 Takte anwachsende Steigerung, bis zur Besessenheit, bis am Ende plötzlich das Umfeld der eigentlichen Tonart, CDur, verlassen wird und die ganze Sache nach EDur verrutscht und dort abbricht. So etwas ruft Ratlosigkeit hervor, Verstörung oder Begeisterung.
Natürlich haben längst auch die Popmusik und der Film die Kraft des Boléro für sich erkannt. Hollywood hat auf dieses Sujet dankbar zurückgegriffen, schon 1934, als Carole Lombard und George Raft zu Ravels Musik einen HollywoodTanz par excellence vollführten, bevor ein härteres ZensurGesetz die Filmwelt vor solchen
Exzessen bewahren sollte. Nicht sehr nachhaltig ... Bo Derek hat später zu Ravels Klängen einen Komponisten in ihr FilmBett gelockt: Halb zog sie ihn, halb sank er hin W
«Ich habe nur ein einziges Meisterwerk gemacht», gestand Ravel einmal seinem Kollegen Arthur Honegger, «das ist der Boléro. Leider enthält er keine Musik.» Der Ruhm seines berühmtesten Werks blieb Ravel stets suspekt.
Boléro
BESETZUNG
2 Flöten, Piccolo, 2 Oboen (davon 1 Oboe d’Amore), Englischhorn, 2 Klarinetten, PiccoloKlarinette in Es, Bassklarinette, 2 Fagotte, Kontrafagott, 2 Saxofone, 4 Hörner, 4 Trompeten, 3 Posaunen, Tuba, Pauken, Schlagzeug, Celesta, Harfe, Streicher
ENTSTEHUNG
Juli bis Oktober 1928
URAUFFÜHRUNG
22. November 1928 in der Pariser Oper mit dem dortigen Orchester unter der Leitung von Walther Straram, in der Choreografie von Bronislava Nijinska mit der Widmungsträgerin Ida Rubinstein in der Hauptrolle
DAUER ca. 13 Minuten
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