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MUSIK MIT BASKENMÜTZE
VON SIGFRIED SCHIBLI
Spanien war, vermutlich angestossen durch Georges Bizets Oper Carmen, in der französischen Musikszene des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts ausgesprochen in Mode. Fast alle Komponierenden, die mit der Zeit gehen wollten, schrieben Stücke im spanischen Stil. Und jede Mode bringt auch ihren Spott hervor. So machte sich der Komponist Erik Satie –ohnehin ein genialer Spötter – lustig über die französische SpanienBegeisterung, indem er den Titel von Emmanuel Chabriers OrchesterRhapsodie España verballhornte zu Espagnaña .
Die Bindungen der französischen Komponierenden zur iberischen Welt waren unterschiedlich eng. So ist von Emmanuel Chabrier bekannt, dass er Spanien durch zahlreiche Reisen und längere Aufenthalte gut kannte. Claude Debussy dagegen, der in seinen Images pour orchestre mit dem Satz Ibéria dem spanischen Lebensgefühl huldigte, kannte Spanien kaum aus eigener Anschauung – was im Übrigen auch für Bizet gilt. Spanische Musik war beiden Komponisten vor allem aus dem französischen Musikleben geläufig. Ihnen genügte es, das spanische Lokalkolorit zu kennen, um Werke von unverkennbar spanischem Charakter zu schaffen. Schliesslich haben Komponierende auch den Weltraum zum Klingen gebracht, ohne jemals die Milchstrasse betreten zu haben!
Einige spanische Interpretinnen und Interpreten wirkten als ‹Geburtshelfer› französischer Kompositionen, so etwa der Pianist Ricardo Viñes und der Geiger Pablo de Sarasate. Und es gab durchaus auch französische Musikerinnen und Musiker mit familiären Bindungen an Spanien. Édouard Lalo, dessen Symphonie espagnole zu den beliebtesten Violinkonzerten überhaupt gehört, hatte mütterlicherseits spanische Wurzeln: Seine Mutter stammte aus dem Baskenland. Einer Region, die sich überlappend über die Landesgrenzen von Spanien und Frankreich legt, die eine eigene Sprache hatte und zeitweise einen baskischen Nationalismus hervorbrachte.
Ähnlich wie Lalo hatte Maurice Ravel eine halb baskische Herkunft. Sein Vater
PierreJoseph war ein Ingenieur aus Versoix im Schweizer Teil von Savoyen. Ihm werden bedeutende Erfindungen zugeschrieben, so etwa die Entwicklung des ersten dampfgetriebenen Automobils (1868) und eines Apparats zur Herstellung von Papiertüten. Maurice Ravels Mutter Marie Delouart stammte dagegen aus dem äussersten Südwesten Frankreichs, aus Ciboure, das zum baskischen Teil des Landes gehörte und daher auch Ziburu geschrieben wurde. Sie sprach neben französisch auch baskisch und sang gern Lieder aus ihrer baskischen Heimat. Man darf annehmen, dass die baskischen Wiegenlieder seiner Mutter, die ausserehelich geboren worden war und möglicherweise von Sinti und Roma abstammte, zu den ersten musikalischen Eindrücken des kleinen Maurice zählten.
Kennengelernt hatten sich die Eltern Ravels in Aranjuez, südlich von Madrid. Zur Zeit der Geburt von Maurice lebten sie bereits in Paris, doch zur Geburt ihres ersten Kindes kehrte Marie in ihre Heimatstadt Ciboure zurück. Damals gehörte Ciboure an der Einmündung des Flusses Nivelle in den Atlantik zum Département BassesPyrénées, heute PyrénéesAtlantiques. Das Städtchen mit knapp 6000 Einwohnerinnen und Einwohnern ist der Nachbarort des grösseren SaintJeandeLuz. «Im Alter von drei Monaten verliessen wir Ciboure und zogen nach Paris, wo ich seither lebe», notierte Ravel nüchtern in seiner autobiografischen Skizze. Als Feriengast kehrte er öfter ins Baskenland zurück; historische Fotografien zeigen ihn am Atlantikstrand von SaintJeandeLuz.
Es wäre missverständlich, würde man Ravel als ‹baskischen Komponisten› bezeichnen. Aber durch seine Mutter erhielt er zweifellos eine baskische Prägung, und die Faszination für Spanien und die angrenzenden Regionen Frankreichs begleitete ihn sein ganzes Komponistenleben lang. Eines seiner ersten Werke war eine Habañera für Klavier. Danach komponierte Ravel mehrere spanisch inspirierte Stücke, von der Pavane pour une infante défunte über Alborada del gracioso, die Rapsodie espagnole und die einaktige Oper L’ heure espagnole bis zur späten ViolinRhapsodie Tzigane von 1924. Sein grösster Welterfolg aber blieb der Boléro, dessen ursprünglicher Titel Fandango war.