Chronisch kranke Patienten

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Besondere Personengruppen im Rettungsdienst

Chronisch kranke Patienten

Band 4

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© Copyright by Verlagsgesellschaft Stumpf + Kossendey mbH, Edewecht 2023, Titelbild: Carsten Dammann, Hamburg

Satz: Bürger Verlag GmbH & Co. KG, Edewecht

Druck: Tolek Sp. z o.o., 43–190 Mikołów (Polen)

ISBN 978-3-943174-64-9

ISBN 978-3-943174-60-1 (Gesamtausgabe)

Besondere Personengruppen im Rettungsdienst – Band 4

Herausgegeben von Harald Karutz & Stefan Schröder Chronisch kranke Patienten

Tobias Sambale

Verlagsgesellschaft Stumpf & Kossendey mbH, Edewecht 2023

Inhalt

Abkürzungen 8 Geleitwort der Herausgeber 11 Vorwort 12

1

Epidemiologische und gesellschaftliche Hintergründe chronischer Erkrankungen 15

1.1 Einleitung 15 1.2 Definition 17

1.3 Prävalenz und Verteilung der Krankheitslast 18

1.4 Epidemiologische Transition 22

1.5 Auswirkungen chronischer Erkrankungen 27

1.6 Chronische Erkrankungen und ihr Bezug zum Rettungsdienst 30 1.7 Zusammenfassung 32

2 Chronische Erkrankungen als Herausforderung für den Rettungsdienst 33

2.1 Einleitung 33

2.2 Kontaktanlässe 33

2.2.1 Herausforderungen 34 2.2.2 Gegenseitige Rollenerwartungen 37 2.2.3 Zusammenarbeit zwischen Behandlern und Patienten 39

2.3 Gesundheitspsychologische Grundlagen 42

2.3.1 Maslow’sche Bedürfnispyramide 42 2.3.2 Biopsychosoziales Krankheitsmodell 46 2.3.3 Konzept der Salutogenese 48 2.3.4 Kausalattribution und Kontrollüberzeugungen 49 2.3.5 Soziales Modell von Behinderung 52 2.3.6 Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit 55

2.4 Zusammenfassung 57

3 Ressourcen des Rettungsfachpersonals 59

3.1 Persönliche, berufsunabhängige Ressourcen 59 3.2 Erfahrungsbedingte Ressourcen 61

5

4

3.3 Ausbildungsbezogene Ressourcen 64

3.3.1 Rettungssanitäter 65 3.3.2 Notfallsanitäter 66

3.4 Fortbildungsbezogene Ressourcen 68

3.5 Strukturelle Ressourcen 69 3.6 Zusammenfassung 70

Chronische Krankheiten 71

4.1 Überblick 71

4.1.1 Versorgungsstrukturen 71 4.1.2 Alltagsgestaltung 72 4.1.3 Finanzielle Folgen 73

4.2 Neurologische Erkrankungen 73 4.2.1 Spastisches Syndrom 74 4.2.2 Kopfschmerz 82 4.2.3 Schwindel 88 4.2.4 Demenzielle Syndrome 92 4.2.5 Besondere Syndrome 99

4.3 Erkrankungen des Verdauungssystems 105 4.3.1 Chronisch-entzündliche Darmerkrankungen (CED) 105 4.3.2 Leberzirrhose 109 4.3.3 Chronische Pankreatitis 111 4.4 Erkrankungen des Bewegungsapparates 113 4.4.1 Rheumatologische Erkrankungen 113 4.4.2 Osteoporose 116

4.5 Hauterkrankungen 119 4.5.1 Psoriasis vulgaris (Schuppenflechte) 120 4.5.2 Diabetesfolgen mit Bezug zur Haut 123 4.5.3 Atrophie der Haut 125

4.6 Erkrankungen der Atemwege 127

4.6.1 Chronisch obstruktive Lungenerkrankung (COPD) 128 4.6.2 Mukoviszidose (Zystische Fibrose) 130 4.6.3 Lungenfibrosen (interstitielle LungenparenchymErkrankungen) 133

4.7 Herz-Kreislauf-Erkrankungen 136 4.7.1 Herzinsuffizienz 136 4.7.2 Koronare Herzkrankheit (KHK) 139 4.7.3 Herzrhythmusstörungen 143

6

4.8

Tumorerkrankungen 146

4.8.1 Solide Tumoren 147

4.8.2 Tumoren von Blut und Lymphsystem 148

4.8.3 Symptomkomplexe 150 4.8.4 Therapien 150

4.9 Vermischte und Multisystemerkrankungen 152

4.9.1 Chronische Schmerzsyndrome 152

4.9.2 Niereninsuffizienz 154 4.9.3 Diabetes mellitus 156 4.9.4 Patienten vor bzw. nach Organtransplantationen 160 4.9.5 Multimorbidität 162

5 Versorgung von chronisch kranken Menschen 165

5.1 Einführung 165 5.2 Beginn der Patientenversorgung 165 5.3 Kommunikative Aspekte 168 5.4 Entscheidungsfindung 170 5.5 Notfälle bei chronisch erkrankten Patienten 172

5.5.1 Psychosoziale Krisen 173 5.5.2 Symptomkrisen 175 5.6 Zusammenfassung 181

6 Blick in eine mögliche Zukunft 182

6.1 Veränderung der Versorgungsstrukturen 184 6.1.1 Integrierte Versorgung 184 6.1.2 Primärarztsystem 186 6.1.3 Community Health Nurses 189 6.1.4 Gemeindenotfallsanitäter 190

6.2 Bildungsbezogene Konzepte 192 6.2.1 Gesundheitsunterricht als Präventionsansatz 194 6.2.2 Notfallvorsorgeberatung und Beratung zu Selbsthilfe 196

6.3 Rettungsdienst und Gesundheitsforschung 197 6.4 Zusammenfassung 198

Onlineressourcen 200 Literatur 202 Autor und Herausgeber 208 Register 209

7

1.6

Chronische Erkrankungen und ihr Bezug zum Rettungsdienst

Chronisch Erkrankte haben in zwei typischen Situationen Kon takt zum Rettungsdienst. Zum einen kann die Erkrankung selbst der Grund für den Notruf sein, so zum Beispiel im Fall eines aku ten Krankheitsschubs. Zum anderen kann die chronische Erkran kung als Nebenbefund vorliegen und u.U. andere Vorgehenswei sen im Einsatz rechtfertigen, so etwa die Anpassung einer Me dikamentendosierung bei Patienten mit einer schweren Leberzirrhose. In den meisten Fällen kann das Rettungsfachpersonal diese Situationen gut bewältigen. In einigen Fällen kann es je doch vorkommen, dass der Einsatz im Nachgang als nicht zu friedenstellend bewertet wird. Zwar wurden alle zur Verfügung stehenden Ressourcen aufgewendet, man hat aber ebenso gemerkt, dass der Patient möglicherweise durch andere Strukturen oder Institutionen hätte besser versorgt werden können. In solchen Fällen hilft es, eine Systemperspektive einzunehmen und zu überlegen, welche Ressourcen oder politischen Maßnahmen notwendig wären, um dieses Ziel langfristig erreichen zu können.

Aus gesundheitssystemischer Perspektive ist der Rettungs dienst ein Sonderfall: Üblicherweise ist die Patientenversorgung in Deutschland in den ambulanten und den stationären Sektor auf geteilt. Krankenhäuser tragen Sorge für die stationäre Behand lung. Sie rechnen über das DRG-System direkt mit den Kranken kassen ab und werden in einem gewissen Umfang von den Kom munen gefördert. Der ambulante Sektor besteht vornehmlich aus privaten Arztpraxen, die unter anderem durch die Kassen ärztliche Bundesvereinigung (KBV) organisiert werden. Die Abrechnung erfolgt nach dem Einheitlichen Bewertungsmaßstab (EBM).

Die Notfallversorgung findet in Abhängigkeit vom Schwere grad des Notfalls in beiden Sektoren statt. So sind Notaufnah men in der Regel der stationären und Anlaufpraxen der ambu-

30

lanten Versorgung zuzurechnen. Die Grenzen verschwimmen natürlich durch Einrichtungen wie Klinikambulanzen oder das Belegarztsystem. Dennoch ist diese Trennung juristisch und ökonomisch von großer Bedeutung und stellt nicht selten eine be sondere Herausforderung bei der Umsetzung neuer Versor gungskonzepte dar.

Der Rettungsdienst ist aus diesem Blickwinkel besonders, denn obwohl die meisten Transporte in stationäre Einrichtungen erfolgen, gibt es auch eine bedeutende Schnittstelle zum ambu lanten Sektor. So ist der ganze Arbeitsbereich des Krankentransportes ein Bindeglied zwischen ambulanter und stationärer Ver sorgung. Rettungsdienste arbeiten in der Regel nach dem Prin zip der Selbstkostendeckung und werden durch Krankenkassen und Landkreise bzw. kreisfreie Städte finanziert. Sie unterliegen bisher nicht dem Wirtschaftlichkeitsgebot aus dem Sozialgesetzbuch V (SGB V), und aktuell fällt dem Rettungsdienst unter an derem daher in den meisten Bundesländern keine sogenannte Gatekeeper-Funktion zu. Im Gegensatz zum klassischen Akut geschehen ist bei chronischen Erkrankungen allerdings seltener klar, welcher Behandlungspfad der sinnvollste für den Patienten ist. Profitiert er eher von einer stationären Behandlung, einer Be handlung vor Ort, von einem Transport zu seinem behandelnden Arzt oder von einem telemedizinischen Konsil?

Merke: Eine „Gatekeeper-Funktion“ hat der Rettungsdienst rein formell betrachtet bislang nicht. Es wäre aber äußerst sinnvoll und wünschenswert, könnte das Rettungsfach personal auch in diesem Bereich kompetent handeln und Teil eines umfassenden Versorgungssystems sein, dass sich keineswegs nur auf „Vitalfunktionsmecha nik“ beschränkt. Möglicherweise könnte sogar noch wei ter gedacht werden, indem man den Rettungsdienst der Zukunft als „Gate Opener“ betrachtet, der die richtigen

31

Behandlungspfade in einem vernetzten Gesundheitssys tem anbahnt.

1.7 Zusammenfassung

 Es gibt keine einheitliche Definition für chronische Erkran kungen.

 Allen chronischen Erkrankungen ist gemeinsam, dass sie über einen längeren Zeitraum bestehen und zumeist nicht vollständig heilbar sind.

 Chronische Erkrankungen sind häufig.

 Chronische Erkrankungen kommen häufiger bei älteren Menschen vor. Aber auch 15 – 20 % der jungen Menschen geben an, unter einer chronischen Erkrankung zu leiden.

 Die Krankheitslast in der Bevölkerung hat sich in den letzten zwei Jahrhunderten stark gewandelt.

 Aktuell stehen sogenannte Zivilisationskrankheiten und degenerative Erkrankungen im Vordergrund.

 Chronische Erkrankungen haben persönliche, soziale und gesamtgesellschaftliche Auswirkungen.

 Der Rettungsdienst ist für den Umgang mit chronischen Erkrankungen grundsätzlich geeignet, aber organisational derzeit nicht ausreichend darauf ausgerichtet.

32

Chronische Erkrankungen als Herausforderung für den Rettungsdienst

2.1 Einleitung

Um zu verstehen, vor welche Herausforderungen Rettungsfach personal im Umgang mit chronisch erkrankten Menschen ge stellt wird, sind drei Fragen zentral:

1. In welchen Situationen begegnen sich Rettungsfachperso nal und chronisch Erkrankte?

2. Welche Herausforderungen ergeben sich für den Patien ten selbst?

3. Über welche Ressourcen verfügt das Rettungsfachpersonal (s. Kap. 3)?

2.2 Kontaktanlässe

Mitarbeiter von Krankentransport, Rettungsdienst und Sanitäts diensten haben zahlreiche Berührungspunkte mit chronisch erkrankten Patienten. Sie erleben diese Patienten bei Kranken transporten, in krisenhaften Momenten, etwa im Fall von Versor gungsnotständen im häuslichen Bereich oder aber in akuten me dizinischen Notfallsituationen (s. Tab. 3).

Die Grenzen zwischen diesen Bereichen sind natürlich flie ßend, und glücklicherweise laufen diese Einsatzsituationen oft sehr routiniert ab, da erfahrene Rettungskräfte auf gut informierte Patienten treffen. Dennoch geht mit dem Vorliegen einer chronischen Erkrankung immer ein erhöhtes Risiko für Konflikte oder eine Fehlversorgung einher, da die Komplexität der Einsatz lage deutlich erhöht wird. Bedauerlicherweise liegen keine ver

33
2

Tab. 3  Begegnungen von chronisch Erkrankten mit Rettungsfach- und Sanitätspersonal

Kontaktanlässe

Ausgewählte Beispiele

Im Krankentransport · Einweisungstransport durch einen niedergelassenen Arzt · Entlassungstransport aus einer sta tionären Einrichtung Transport in eine Hospizeinrichtung

In psychosozialen Krisensituationen

· Versorgungsnotstände im häuslichen Bereich emotionale Krisen, die nicht ohne Hilfe bewältigt werden können · Konflikte innerhalb der Familie

In akuten medizinischen Notfällen · Schmerzkrisen akute Krankheitsschübe · Atemnot · Störungen des Wasser-ElektrolytHaushaltes

lässlichen Informationen darüber vor, wie häufig es zu Fehlver sorgung oder Konflikten in solchen Einsatzsituationen kommt: Eine darauf fokussierte Statistik gibt es nicht.

2.2.1 Herausforderungen

Da es der rettungsdienstliche Einsatz im Regelfall nicht zulässt, Patienten vor der Versorgung kennenzulernen, einzuschätzen und sich umfassend über sie zu informieren, müssen viele Ent scheidungen „ad hoc“ und in relativ kurzer Zeit getroffen werden. Hier kann es zu Zielkonflikten kommen, die antizipiert und pati entenzentriert bearbeitet werden müssen.

Als professionelle Kommunikatoren haben Rettungskräfte in einigen Belangen einen Wissens- und Handlungsvorteil gegen über ihren Patienten. So weist die Soziologin Irmhild Saake (2003) auf Asymmetrien in der medizinischen Versorgung hin. Unter an derem werden diese im Arzt-Patient-Gesprächen dadurch sicht-

34

4 Chronische Krankheiten

4.1 Überblick

In diesem Kapitel sollen einige chronische Erkrankungen und Syndrome verschiedener Körper- und Organsysteme vorgestellt werden, die exemplarisch für bestimmte Funktionsstörungen stehen. Dieses Kapitel hat selbstverständlich keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Ziel ist es vielmehr, notwendiges Wissen zu systematisieren und auf diese Weise einen übersichtlichen Ein stieg in das Thema zu finden. Allerdings müssen zuvor einige zusätzliche Überlegungen zur Lebenssituation von chronisch Erkrankten angestellt werden, die in jede der hier angeführten Erkrankungskonstellationen mit einfließen können.

4.1.1

Versorgungsstrukturen

Da mit chronischen Krankheiten im Regelfall langwierige Diagno se- und Behandlungsprozesse verbunden sind, bei denen zahl reiche Akteure eine Rolle spielen, ist der bürokratische und zeitliche Aufwand für Betroffene immens. Neben der Koordination verschiedener Arzttermine oder regelmäßiger therapeutischer Anwendungen und den Verhandlungen mit Krankenkassen um etwaige Kostenerstattungen oder Bewilligungen für Kuren, Hilfs mittel oder Haushaltshilfen, müssen auch zahlreiche weitere ar beits- und sozialrechtliche Dinge beachtet werden. Dabei kann es sich um das Einholen von Gutachten, um das Beantragen eines Behindertenstatus oder um das Erstreiten von Nachteils ausgleichen handeln. Häufig muss sich die gesamte restliche Le bensführung nach diesen Aufgaben und dem Therapieplan aus richten (etwas bei Dialysepatienten mit Dialysezeiten von drei mal mind. vier Stunden pro Woche).

71

4.1.2

Alltagsgestaltung

Hinzu kommen zahlreiche Einschränkungen für chronisch Er krankte im Alltag. Insbesondere bei Erkrankungen, bei denen Symptomkrisen auftreten oder die mit starken Funktionseinschrän kungen einhergehen, können ganz alltägliche Dinge wie das Ein kaufen von Lebensmitteln oder ein Kinobesuch unmöglich wer den.

Gleichzeitig wird chronisch kranken Menschen gelegent lich sogar mit Unverständnis für ihre Situation begegnet. Nicht Betroffene können oder wollen sich mitunter nicht in die Lage von Betroffenen hineinversetzen. Dies kann zu direkten oder in direkten Schuldvorwürfen führen („Warum hast du auch immer so viel geraucht!“, „Ich selbst bin ja nie krank gewesen, weil ich so gut auf meine Ernährung achte.“). Die Folge ist nicht selten der soziale Rückzug, der nach und nach zu Einsamkeit und einem deutlich erhöhten Depressionsrisiko führt (Rayner et al. 2016). Auch Angsterkrankungen spielen eine größere Rolle bei chronisch Erkrankten, und selbst unterhalb der Krankheitsschwel le können Ängste, etwa vor einer Symptomkrise oder dem Fort schreiten der Krankheit (Progressionsangst), sehr belastend sein. Daneben wird auch die Teilhabe am Sozialleben erschwert. Mög licherweise ziehen sich Freunde, Kollegen oder Familienmitglieder zurück oder es ist kaum möglich, bestimmte Veranstaltun gen zu besuchen, Pflichten in einem Verein wahrzunehmen oder den eigenen Kindern bei den Hausaufgaben zu helfen. Auch kön nen sehr persönliche Lebensbereiche, wie die Sexualität oder das gemeinsame Essen, betroffen sein, sodass es zu familiären Krisen kommt.

Der typische Verlauf der jeweiligen Erkrankung hat erhebliche Auswirkungen auf die Alltagsgestaltung. Schubförmig verlaufen de Erkrankungen wie Colitis ulcerosa, Morbus Crohn oder Mul tiple Sklerose etwa bringen die Betroffenen regelmäßig an Belas tungsgrenzen. Phasen (relativen) Wohlbefindens wechseln sich

72

mit Phasen ab, in denen der normale Alltag stark eingeschränkt ist. Progredient verlaufende Erkrankungen wie die Amyotrophe Lateralsklerose (ALS) haben zwar im Regelfall nicht solche starken Symptomschwankungen, durch die kontinuierliche Zunahme der Symptomlast müssen sich viele Patienten aber an stetig fort schreitende Einschränkungen im Alltag gewöhnen, was eine enor me psychische Herausforderung darstellt. Auch Kombinationen aus schubförmigen und progredienten Verläufen existieren.

4.1.3 Finanzielle Folgen

Daneben sind chronische Erkrankungen immer auch eine finan zielle Belastung. Die Ausgaben für nicht-verschreibungspflichtige Medikamente und Hilfsmittel sind mitunter sehr hoch und Zei ten, in denen nicht gearbeitet werden kann, können sich auf die finanziellen Rücklagen Erkrankter auswirken. Gerade Menschen, die regelmäßig länger als sechs Wochen arbeitsunfähig oder selbstständig tätig sind, werden hiervon besonders hart getrof fen.

4.2

Neurologische Erkrankungen

Die vielleicht vielfältigsten Erkrankungen des Menschen betref fen seine neurologischen Funktionen. Da somatisches und au tonomes Nervensystem an fast allen Steuerungsprozessen im Körper beteiligt sind und das zentrale Nervensystem für Hand lungsplanung, Denkprozesse und Emotionsregulierung verant wortlich ist, wird schnell klar, wie vielgestaltig Erkrankungen aus diesem Feld sein können. Es bietet sich daher an, die wichtigs ten Störungsbilder Syndromen zuzuordnen. Die Syndrome wer den nachfolgend durch Steckbriefe wichtiger Leiterkrankungen ergänzt.

73

4.2.1 Spastisches Syndrom

Spastische Lähmungen entstehen immer dann, wenn das 1. Motoneuron geschädigt ist. Es verläuft von der Großhirnrinde zum Rückenmark und wird dort auf das 2. Motoneuron umge schaltet. Sendet das 1. Motoneuron keine Signale mehr, kommt es durch eine spezielle Verschaltung zu einer Übererregung am 2. Motoneuron. Die Muskulatur erhält infolgedessen anhaltend ein „Anspannungssignal“ und verkrampft dauerhaft. Das spasti sche Syndrom tritt zum Beispiel auf bei:

 Schlaganfällen

 Querschnittslähmung

 Multipler Sklerose (MS)

 Amyotropher Lateralsklerose (ALS)

 perinatalen Hirnschäden (auch: infantile Zerebralparese).

Im Rettungsdienst trifft man in Akutsituationen, zum Beispiel bei frischen Schlaganfällen oder Rückenmarksverletzungen, eher auf schlaffe Lähmungen (Hemiparese, Paraplegien etc.). Diese schlaffen Lähmungen sind jedoch nicht von Dauer, sondern ent wickeln sich unbehandelt oft zu spastischen Lähmungen weiter.

Merke: Bei der Amyotrophen Lateralsklerose (ALS) werden sowohl das 1. als auch das 2. Motoneuron geschädigt, was oftmals zum parallelen Vorhandensein von schlaf fen und spastischen Lähmungen führt.

Im Fokus: Umgang mit Menschen, deren Muskulatur beeinträch tigt ist

 Menschen steuern über ihre Muskulatur mehrere wesent liche Aspekte ihres Daseins, insbesondere Bewegung, Ernährung und Kommunikation. Bei Patienten mit spasti schen (und schlaffen) Lähmungen muss immer mit einer

74

Einschränkung dieser Funktionen gerechnet werden. Wichtige Leitfragen sind daher:

– Wie mobil ist der Patient (z.B. im Hinblick auf Transfer und Transport)?

Kann der Patient sich selbst lagern (z.B. zur Vermei dung von leidvollen Situationen wie Atemnot oder Dekubitus)?

– Wie ist der Ernährungszustand des Patienten (körperliche Reserven und Flüssigkeitshaushalt)?

– Über welchen Weg/Kanal kann mit dem Patienten kommuniziert werden (z.B. für die Anamneseerhe bung und das Shared Decision Making)?

 Multiple Sklerose (MS)

Definition und Ätiologie

 Multiple Sklerose ist eine chronisch-entzündliche Erkrankung des zentralen Nervensystems.

 Die Ursache ist unbekannt, diskutiert werden Autoimmun prozesse als Fehlreaktion auf eine Viruserkrankung (z.B. mit Epstein-Barr-Virus).

 Genetische Aspekte und Umweltfaktoren sind vermutlich von Bedeutung.

Epidemiologie

 Prävalenz: ca. 300/100.000 (MS International Federation 2020)

 Häufigkeitsgipfel um das 30. Lebensjahr

 ♀ > ♂ (2 – 3 : 1).

Pathophysiologie

 Abwehrzellen dringen in das ZNS ein und führen dort zu Entzündungen.

 Betroffen sind graue und weiße Substanz.

 Der Schaden an der weißen Substanz überwiegt deutlich. Die Markscheiden werden zerstört. Ein Wechsel von Schä-

75

digung und Regeneration führt zur Vernarbung („Skle rose“).

 Die Symptome variieren je nachdem, welche Bereiche im ZNS geschädigt werden.

 Die Erkrankung kann verschiedene Verläufe annehmen: schubförmig primär progredient (stetige Zunahme der Symptome) – sekundär progredient (zunächst schubartig, dann pro gredient).

Ausgewählte Symptome

 Sehstörungen (Entzündung des Sehnervs)

 Motorische Störungen

 Sensibilitätsstörungen (z.B. Kribbelgefühle)

 Schmerzen

 Müdigkeit

 Sprachstörungen.

Abb. 7  Symptome und Befunde bei Multipler Sklerose (Wiki Creative Commons/Dr. med. Guido Hegasy, Hamburg)

76

Therapie

 Die Patienten erhalten Immunmodulatoren: – im Schub: Glukokortikoide Dauertherapie: z.B. Interferone oder Antikörper.

 Dementsprechend können bestimmte Nebenwirkungen auftreten: Iatrogenes Cushing-Syndrom Infektneigung durch Immunsuppression.

 Idealerweise erfolgt zudem eine Begleittherapie durch Psychotherapeuten, Logopäden, Ergo- und Physiotherapeuten.

Prognose

 Individuell nicht gut vorhersagbar

 Die Lebenserwartung ist um etwa 6 Jahre verkürzt.

 Behinderung: Nach 5 Jahren sind noch 70 % der Patienten berufs tätig. Nach 20 Jahren sind nur noch 36 % berufstätig und 20 % bereits verstorben.

Rettungsdienstliche Relevanz

 Hypertonie und Hyperglykämie durch Glukokortikoide

 Opportunistische Infektionen durch Immunsuppression

 Schwer behandelbare oder chronifizierte Schmerzen sind möglich.

 Bewegungseinschränkungen und Sehstörungen erschweren Transport und Transfer.

 Sprachstörungen erschweren Anamnese.

77

Amyotrophe Lateralsklerose (ALS)

Definition und Ätiologie

 Die Amyotrophe Lateralsklerose ist eine degenerative Erkrankung des 1. und 2. Motoneurons.

 Etwa 90 – 95 % der Fälle treten sporadisch auf (spora dische ALS). Die Ursache ist vermutlich multifaktoriell bedingt und wird bisher nicht gut verstanden.

 In ca. 5 – 10 % der Fälle ist eine familiäre Häufung (fami liäre ALS) zu beobachten. Hier scheinen Genmutationen eine Rolle zu spielen.

Epidemiologie

 Inzidenz: 3/100.000 Einwohner pro Jahr (DGN 2021)

 Durch das schnelle Versterben der Patienten ist die Präva lenz der Erkrankung gering. Allerdings ergibt sich rechnerisch ein Lebenszeitrisiko von 1 : 400, an ALS zu erkranken.

 Erkrankungsbeginn im Mittel mit 60 Jahren

 Bei familiärer Form in der Regel früher.

Pathophysiologie

 Es werden verschiedene Mechanismen diskutiert (Entzün dungen, oxidativer Stress …).

 Gesichert ist, dass es zum Untergang von MotoneuronZellen in Großhirn, Hirnstamm und Rückenmark mit einer Degeneration der Pyramidenbahn kommt, wobei die Sen sibilität in der Regel erhalten bleibt.

 Durch die verschiedenen Schädigungsorte (1. und 2. Motoneuron) kommt es zu einer Kombination aus spasti schen und schlaffen Lähmungen.

Ausgewählte Symptome

 Frühe Symptome: Schluckstörungen fortschreitende Paresen und Muskelatrophien Faszikulationen und Muskelkrämpfe.

 Späte Symptome:

78

4.4 Erkrankungen des Bewegungsapparates

4.4.1 Rheumatologische Erkrankungen

Definition und Ätiologie

 Rheumatologische Erkrankungen betreffen nicht aus schließlich den Bewegungsapparat, beeinträchtigen ihn aber besonders häufig. Sie können daneben in beinahe allen anderen Organen auftreten (z.B. bei Lupus erythematodes/ „Schmetterlingsflechte“).

 Ihnen allen ist gemeinsam, dass sie durch autoimmune Prozesse verursacht werden.

Epidemiologie

 Das Lebenszeitrisiko für rheumatische Erkrankungen liegt bei rund 8 % für Frauen und bei etwa 5 % für Männer.

 Die Prävalenz der rheumatoiden Arthritis liegt bei ca. 1 % der Bevölkerung (DGRh 2021)

Pathophysiologie

 Wie bei allen Immunprozessen ist die Pathophysiologie sehr komplex und unterscheidet sich je nach betroffenem Organ bzw. Organsystem.

 Es kommt dabei stets zu einer Sensibilisierung des Immunsystems auf eine körpereigene Struktur und zur Ausbildung von Autoantikörpern (z.B. antinukleäre Anti körper bei Lupus erythematodes).

 Solch eine Sensibilisierung kann z.B. durch eine Infektion mit einem Virus geschehen, dessen Oberfläche für das Immunsystem Ähnlichkeit mit einer körpereigenen Struktur hat.

 Die Antikörper setzen sich an der jeweiligen Struktur fest und signalisieren den Immunzellen auf diese Weise, dass eine Entzündungsreaktion ausgelöst werden soll.

113

 Durch den wiederkehrenden Entzündungsprozess kommt es zur dauerhaften Gewebeschädigung.

Ausgewählte

Symptome

 Im akuten Stadium lassen sich die klassischen Symptome einer Entzündung finden:

Dolor (Schmerzen)

Rubor (Rötung)

Tumor (Schwellung)

Calor (Überwärmung)

Functio laesa (Funktionseinschränkung).

 Die Funktionseinschränkungen unterscheiden sich, je nachdem, welcher Gewebetyp betroffen ist.

 Durch immer wiederkehrende Schübe wird langfristig das betroffene Gewebe zerstört.

Therapie

 Die möglichen Therapieoptionen haben in den letzten Jah ren deutlich zugenommen; fast alle zielen auf Immunsuppression oder -modulation.

 Zudem erfolgen insbesondere bei Erkrankungen des Bewegungsapparates auch Physiotherapie und andere nicht pharmakologische Maßnahmen (z.B. Kälteapplika tion).

 Mögliche pharmakologische Interventionen sind: Glukokortikoide

niedrig dosierte Chemotherapeutika Antikörperpräparate/Biologika.

 Durch den Eingriff in das Immunsystem kann es zu ver schiedenen Nebenwirkungen kommen:

– Cortisol-induziertes Cushing-Syndrom opportunistische Infektionen.

Prognose

 Die Prognose hängt stark von der jeweiligen Krankheit ab. Durch neue therapeutische Interventionen hat sie sich

114

insbesondere bei der rheumatoiden Arthritis in den letz ten Jahren und Jahrzehnten deutlich verbessert.

 Auch bei Systemerkrankungen, wie dem Lupus erythematodes, hat sie sich deutlich verbessert. Hier beträgt die Zehn-Jahres-Überlebensrate aber immer noch nur 90 %.

Müdigkeit und Erschöpfung

trockene Augen schwere Atmung

Entzündung und Schädigung von Knorpel und Knochen

trockener Mund

Hautprobleme wie Ekzeme und Rheumaknötchen geschwollene, schmerzende Gelenke

Finger- und Zehgelenke steif, warm und geschwollen; kalte Hände und Füße; Taubheit und Kribbeln

Abb. 14  Mögliche Symptome von rheumatischen Erkran kungen im Überblick

115

Rettungsdienstliche Relevanz

 Hypertonie und Hyperglykämie durch Glukokortikoide möglich

 Opportunistische Infektionen durch Immunsuppression

 Entzündungen können in allen Körperpartien auftreten, daher muss vor allem bei Transfer und Transport an mögliche Einschränkungen gedacht werden.

4.4.2 Osteoporose

Definition und Ätiologie

 Bei diesem Krankheitsbild führt ein Mangel an Knochen masse zu einer vermehrten Knochenbrüchigkeit.

 Die Ursachen sind vielfältig (z.B. Dauertherapie mit Glukokortikoiden, Pflegebedürftigkeit mit ausgeprägtem Bewegungsmangel). Am häufigsten scheint aber die Veränderung des weiblichen Hormonhaushaltes im fortge schrittenen Alter ursächlich zu sein.

Epidemiologie

 Lebenszeitprävalenzen: –

Frauen zwischen 45 und 64 Jahren: 4,4 %

Frauen ab 65 Jahren: 24 %

Männer zwischen 45 und 64 Jahren: 1,9 %

Männer ab 65 Jahren: 5,6 %.

 Beachtenswert ist hier vor allem die starke Zunahme der Erkrankungsfälle bei Frauen über 65 Jahren (Fuchs et al. 2017).

Pathophysiologie

 Grundsätzlich ist die Knochenstruktur sowohl auf Ebene organischer (z.B. Kollagen) als auch auf Ebene anorgani scher (z.B. Kalzium) Substanzen gestört.

 Es können zwei Typen unterschieden werden:

116

High-Turnover-Osteoporose: gesteigerter Knochen abbau

Low-Turnover-Osteoporose: verringerter Knochenstoffwechsel.

Ausgewählte Symptome

 Als Frühsymptom gelten z.B. diffuse Rückenschmerzen.

 Später treten eine Rundrückenbildung und pathologische Frakturen auf.

 Bei der senilen Osteoporose kommt es oft zu Frakturen des Oberschenkelhalses.

 Bei der postmenopausalen Osteoporose sind häufiger die Wirbelkörper betroffen.

Therapie

 Nicht-pharmakologische Maßnahmen: – Sturzprophylaxe

Ernährungsoptimierung (Zufuhr von Kalzium und Vita min D)

Verzicht auf Genussmittel Nutzung von Gehhilfen Wärmeanwendungen.

 Pharmakologische Maßnahmen: – Kalzium- und Vitamin-D-Substitution Bisphosphonatgabe

Einsatz hormonell wirksamer Medikamente Calcitoningabe.

Prognose

 Da eine Osteoporose eine kontinuierlich fortschreitende Erkrankung ist, sind sehr gute Absprachen und regelmä ßige Kontrollen notwendig.

 Patienten müssen enorm therapietreu sein, was insbeson dere im fortgeschrittenen Alter durch andere Komorbidi täten nicht immer gewährleistet werden kann.

 Statistisch steigt das Risiko weiterer Brüche mit jedem Knochenbruch um das 5-Fache.

117

 Im fortgeschrittenen Alter führen etwa 10 % der Ober schenkelhalsbrüche durch Folgekomplikationen und Ope rationsrisiko kurz- oder mittelfristig zum Tod.

 Etwa 50 % der Betroffenen bleiben dauerhaft pflege bedürftig.

Rettungsdienstliche Relevanz

 Vorsichtiger Transfer und Transport

 Tipp: Sofern vorhanden, Tragenfederung nutzen.

 Frakturrisiko ist im Fall von Stürzen deutlich erhöht.

 Tipp: Großzügige Indikation zur Immobilisation.

Abnahme der Körpergröße

Verkrümmung der Wirbelsäule (Buckelbildung)

Rückenschmerzen

Oberschenkel

Zahnausfall

Veränderung der Form der Wirbelsäule durch Wirbelbrüche Veränderung der Knochen

Oberschenkelkopf Oberschenkelfraktur

Knochenbrüche

Abb. 15  Typische Symptome einer Osteoporose

118

5 Versorgung von chronisch kranken Menschen

5.1 Einführung

In den letzten Kapiteln wurden sowohl die gesellschaftliche Be deutung von chronischen Erkrankungen als auch die aus ihnen resultierenden Herausforderungen für den Rettungsdienst her ausgearbeitet. In diesem Abschnitt soll es nun um die praktische Arbeit mit chronisch Erkrankten gehen:

 Was sind die Besonderheiten bei der Patientenversor gung?

 Wie wird eine Patienteneinschätzung jenseits von ABCDE und SAMPLER durchgeführt?

 Welche Notfälle können auftreten?

 Welche Maßnahmen müssen zu welchem Zeitpunkt ergriffen werden?

 Wie kann man Problemen vorbeugen oder mit bereits auf getretenen Problemen umgehen?

5.2 Beginn der Patientenversorgung

Die ersten drei Arbeitsschritte der akutmedizinischen Patienten versorgung sind auch bei chronisch Erkrankten im Bedarfsfall gleich (Tab. 8).

165

Entscheidungen:

• Bestehen Gefahren?

Tab. 8  Erste Arbeitsschritte bei der Patientenversorgung Beurteilung der Einsatz stelle

• Ist der Einsatzort zugänglich? Ersteinschät zung des Patienten

Entscheidungen:

• Potenziell kritisch/eher nicht kritisch?

• Reanimation erforderlich?

• Hinweise auf ein Trauma?

Behandlung nach ABCDE Entscheidungen:

• Kritisch/nicht kritisch?

• Behandlung: Lebensbedrohung abwenden

Auf die Ersteinschätzung folgt die weitere Diagnostik (Anamne se, körperliche und apparative Untersuchung). Hier sind zahlrei che Aspekte zu beachten, die in den vorangegangenen Kapiteln dargestellt worden sind. Vieles kann bei der Anamneseerhebung direkt thematisiert werden, einiges bedarf jedoch auch einer in direkten Einschätzung durch das Rettungsfachpersonal. Einen Überblick zur weiteren Vorgehensweise gibt Tabelle 9.

Tab. 9  Weitere Vorgehensweise bei der Versorgung von chronisch Erkrankten

Aspekte/ Interventionen

Erläuterung

Leitfragen Verhältnis zueinander prüfen (s. Kap. 2.2.1)

Wissen zur Erkrankung/ Notfallsituation kann anders verteilt sein als bei sonstigen Notfallpatienten. Hierin liegt immer eine Gefahr für Konflikte und Fehlversorgung.

Ist meine Haltung dem Patienten gegen über angemessen?

Hat der Patient genügend Raum, seine eigenen Gedanken und Wünsche zu äußern?

Verfügt der Patient über wichtiges Spezial wissen zu seiner Erkrankung?

Gegenseitige Rollenerwar tungen klären (s. Kap. 2.2.2)

Das gezielte Klären von Rollenerwartungen senkt die Fehlerwahrscheinlich keit, erhöht die Zufrieden heit bei Behandelnden und Patienten und verbessert das Outcome.

„Was erwarten Sie aktuell von mir? Wie kann ich Ihnen helfen?“

„Ich würde von Ihnen erwarten, dass …“

„Ich kann Ihnen Folgendes anbieten.“

166

Bedürfnisse einbeziehen (s. Kap. 2.3.1) Soziales Modell von Behinde rung und Funk tionsaspekte bedenken (s. Kap. 2.3.5 / 2.3.6)

Biopsychosoziales Krankheitsmodell anwenden (s. Kap. 2.3.2) Kausalattri buierung und Kontrollüberzeugung prüfen (s. Kap. 2.3.4)

Nachteile, die ein Patient durch seinen aktuellen Zustand möglicherweise hat, sollten durch voraus schauendes Planen und gezieltes Nachfragen abge mildert werden.

„Gibt es aktuell etwas, dass wir für Sie tun können?“ (offene, weit gefasste Frage)

„Möchten Sie noch etwas trinken, bevor wir losfahren?“ (geschlossene, spezifische Frage)

„Welche Hilfsmittel benötigen Sie in der Klinik?“ (offene, spezifische Frage)

Ziel ist es, den Patienten und seine Umwelt als Gan zes zu sehen und auf diese Weise zum einen heraus zufinden, wo Probleme liegen, und zum anderen mögliche Folgeinterven tionen vorausplanen zu können.

Biologisch:

• Welche Störung liegt aktuell vor?

• Wie ist die Pathophysiologie?

Psychologisch:

• Wie fühlt sich der Patient?

• Ist er traurig, entspannt, motiviert, aufgeregt?

• Welches Verhältnis hat er zu seiner Krankheit?

• Fühlt er sich selbstwirksam?

Sozial:

• Wie ist die soziale Struktur um den Patienten herum?

• Können die Angehörigen unterstützen?

• Kommt es zur Überforderung?

Salutogenese fördern (s. Kap. 2.3.3)

Die aktuelle Situation muss für den Patienten mög lichst sinnhaft, bewältigbar und verstehbar gestaltet werden.

Teamressour cen bedenken (s. Kap. 3.1 bis 3.4)

Obwohl Rettungsfachper sonal selten über Exper tenwissen zu spezifischen, chronischen Erkrankungen verfügt, kann sich ein Teammitglied evtl. durch Ausbildung, Fortbildung oder Erfahrungswissen mit einem speziellen Themen bereich gut auskennen.

Welche Wünsche und Vorstellungen hat der Patient?

Ist hier Shared Decision Making möglich? (s. Kap. 5.4)

Ist z.B. soziale Unterstützung durch Ange hörige im Krankenhaus möglich?

Eine kurze Zusammenfassung und die weitere Planung nach dem 10-für-10-Prin zip durchführen (s. Kap. 5.5.2) und dabei die Meinungen und Gedanken aller Team mitglieder einholen.

Entscheidungen immer unter Einbezug der Patientenperspektive und seiner Wünsche treffen.

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Die Reihe stellt in Form kleiner Taschenbücher die Spezifika in der Versorgung besonderer Personengruppen durch das präklinische Fachpersonal dar. Dabei stehen je nach Personengruppe medizinische, technische, taktische oder auch psychosoziale Informationen im Vordergrund. Fachwissen und Versorgungskonzepte werden durch konkrete Handlungs empfehlungen und Tipps für die Praxis abgerundet.

Besondere Personengruppen im Rettungsdienst

Band 4

Chronisch kranke Patienten

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Band 4 vermittelt epidemio logische, gesellschaftliche und gesundheitspsychologische Aspekte chronischer Erkrankun gen und stellt die in Notfall situationen relevanten Symptome und Besonderheiten dar. Medizinische und kommunika tive Strategien für die rettungs dienstliche Versorgung werden vorgestellt. Wichtige chronische Krankheiten werden beleuchtet sowohl als Notrufanlass selbst wie auch als Begleitumstand. ISBN 978–3–943174–64–9

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