Mefistofele
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Mefistofele
Arrigo Boito MEFISTOFELE
Musikalische Leitung Daniele Callegari Regie Àlex Ollé (La Fura dels Baus) Bühne Alfons Flores Kostüme Lluc Castells Licht Urs Schönebaum / Georg Veit Dramaturgie Franz-Erdmann Meyer-Herder Chor Manuel Pujol
Oper in einem Prolog, vier Akten und einem Epilog Libretto vom Komponisten nach Johann Wolfgang von Goethes Faust I und II Revidierte Fassung von 1875 Uraufführung der Erstfassung am 5. März 1868 am Teatro alla Scala, Mailand Uraufführung der revidierten Zweitfassung am 4. Oktober 1875 am Teatro Communale, Bologna
Besetzung der Premierenserie: Mefistofele Mika Kares Faust Gianluca Terranova Margherita/Elena Olga Busuioc Wagner/Nerèo Christopher Sokolowski Marta/Pantalis Fiorella Hincapié
Eine Koproduktion der Opéra de Lyon und der Staatsoper Stuttgart Premiere in Lyon am 11. Oktober 2018 Staatsoper Stuttgart Stuttgarter Premiere am 16. Juni 2019
Staatsopernchor Stuttgart Kinderchor der Staatsoper Stuttgart Statisterie der Staatsoper Stuttgart Staatsorchester Stuttgart
S. 1 S. 2 ↗
Félicien Joseph Victor Rops, Pornokratès, 1878 Erwin Olaf, Grief, Barbara Portrait, 2007 Félicien Joseph Victor Rops, Fauna, 1850–1898
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Vorab in Kürze
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Handlung
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Synopsis
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Der Traum des Teufels Àlex Ollé/La Fura dels Baus
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Dem Leser Charles Baudelaire
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Wer wollte dem Leibhaftigen das Wort reden? Franz-Erdmann Meyer-Herder
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Dualismo Arrigo Boito
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Das Böse singt immer am schönsten Bettina Stangneth
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Terror-Glitterati Bret Easton Ellis
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Manichäische Wandlungen und der böse Wille Peter Strasser
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Françoise, oder der Vorteil der Gleichgültigkeit Marcel Proust
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Fotos der Klavierhauptprobe von Thomas Aurin
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Impressum und Nachweise
VORAB IN KÜRZE Der strebsame, aber lebensunlustige Gelehrte Faust wird Gegenstand einer Wette. Der große Menschenverführer Mephistopheles sieht die Möglichkeit, Gott die Unvollkommenheit seiner Schöpfung zu zeigen, indem er Faust zum Laster verführt. Faust wiederum verwettet seine Seele: Wenn Mephistopheles es schaffe, ihm einen Augenblick des Friedens und der Selbsterkenntnis zu schenken, dann wolle er im Jenseits sein Diener sein. In den folgenden Begegnungen mit Margarethe und Helena erkennt Faust jedoch nur, was ihn nicht ans Leben bindet: Die weltliche Liebe führt zum Schmerz der Unvollkommenheit; die zur gottgleichen Helena zeigt nur, was nicht mit Händen zu greifen ist. Angesichts großer Visionen und des darauffolgenden Todes spricht Faust sein verhängnisvolles „Augenblick, verweile doch, du bist so schön!“ Mephistopheles bleibt zurück, um Fausts Seele betrogen. Arrigo Boito: Ein Dichter-Komponist? Arrigo Boito (1842–1918) war nicht nur begnadeter Librettist Giuseppe Verdis, mit dem er Otello und Falstaff schrieb. In jungen Jahren machte er vor allem durch Provokationen gegenüber der zeitgenössischen Produktion von Texten des Musiktheaters und ein ambitioniertes Projekt von sich reden: der Oper Mefistofele. Boito war musikalisch-literarisch doppelbegabt, aber vielleicht etwas zu gebildet, um populär zu sein, und anfangs auch nicht ganz frei von einer gewissen Selbstgefälligkeit. In den frühen 1860er Jahren gehörte er dem Kreis der „Scapigliati“ an, den „Ungekämmten“. Diese bildeten eine Mailänder Bohème, die die Erstarrung der bürgerlichen Kunst umwerfen und einen nationalen Kunstgedanken erfinden wollte. Boito, der unter anderem fließend Deutsch sprach, sah in Richard Wagner sein künstlerisches Vorbild. Die Erstfassung des Mefistofele fiel 1868 in Mailand durch – Boito hatte den Bogen mit einem großangelegten Goethe-Libretto und seiner „germanisierten“ Musiksprache überreizt. 1875 brachte er einen revidierten Mefistofele in Bologna auf die Bühne, der schnell populär wurde – das italienische Publikum begeisterte sich mittlerweile auch für Wagner, dessen Lohengrin 1871 das erste Mal in Bologna gezeigt worden war. Boito und Verdi, den er in jungen Jahren mindestens einmal düpiert hatte, näherten sich über eine Revision des Simon Boccanegra von 1857 an, 1881 in Mailand uraufgeführt. Zeit seines Lebens arbeitete Boito, der mittlerweile auch anderen gegenüber sanftere Töne anschlug, an einer Oper über den römischen Kaiser Nero. Diese blieb unvollendet. Das Böse als ästhetischer Eigenwert – Schwarze Romantik revisited Ähnlich wie die französische ecôle du mal Charles Baudelaires und anderer französischer Zeitgenossen, hegte Boito eine ungebrochene Faszination für das Böse als ästhetischem Eigenwert. Seine frühen literarischen 6
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Schriften sind durchzogen von bewusst provozierender Hässlichkeit und ungeschönten Schilderungen menschlicher Schlechtigkeit, von Mord, Verwesung und Verstümmelung. Dabei ging es nicht alleine um den Grusel der Schwarzen Romantik eines Victor Hugo, Edgar Allan Poe oder E.T.A. Hoffmann. Das Schöne, Wahre und Gute erschien Boito überlebt, der Geltungsanspruch der göttlichen Schöpfung nicht alleine aus dem Idealen heraus zu beschreiben. Das Böse, das sich in einer entzauberten Weltsicht auch auf bisherige Denkverbote ausweiten lässt, wird zu einem neuen Faszinosum, der leibhaftige Satan zum Emblem des geistesgeschichtlichen Fortschritts – eine Konsequenz, deren problematische Kehrseite sich weit bis ins 20. Jahrhundert nachverfolgen lässt. Dekadenzphänomene Mit jeder Epoche unterliegt auch das Bild vom Menschen einem Wandel. Das europäische späte 19. Jahrhundert ist aufgespannt zwischen dem Ausgang aus der Zeit der Welterklärungen aus den großen metaphysischen Erzählungen und dem Eintritt in die Zeit der großen Fortschrittserzählung der Moderne. 1873 schreibt Friedrich Nietzsche den Aufsatz „Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne“ – Was sollte dem Menschen, wenn die Wahrheit nicht mehr vom Himmel kommt, noch Haltung und Richtung geben? Die Städte wachsen, der Glaube schwindet, die Industrie übernimmt. Die europäische Bourgeoisie orientiert sich an Luxus, Opulenz, Unterhaltung und macht sich, das hat Émile Zola in Romanen wie „Nana“ gezeigt, durch Sex und Prostitution korrumpierbar – die Beschleunigungslogik der Moderne setzt ein und verbreitet sich schnell in ganz Europa. Die Kunst reagiert in den großen Metropolen mit einer Abkehr vom akademischen Stil und einer Hinwendung zu den Abgründen des Menschlichen. Immer mehr und das immer schneller: Ein Phänomen von gestern, das sich im Heute widerspiegelt und begreifbar macht, wie schnell Moral gegen Geld- und Unterhaltungswert aufgewogen werden, wie die Reflexion über die Daseinsgründe des Menschen in künstlicher Dauerbeschäftigung aufgehoben werden kann. Abnorme Fantasien Àlex Ollé inszeniert Mefistofele als Halluzination eines Psychopathen. Damit wird das Böse seiner Titelfigur zu etwas Ununterscheidbarem zwischen moralischem und unmoralischem Verhalten. Auf der anderen Seite steht aber auch eine Zeit und eine Gesellschaft, die keinen Stillstand kennt. Dass ewiger Spaß zum Horror werden kann, sehen wir in den Fantasien Mephistopheles’, aber auch in der Banalität von Fausts Wünschen gespiegelt. Zerstörungswut und der Wunsch, der Seinsleere zu entgehen, werden so zum zentralen Gegensatzpaar dieser Inszenierung.
Vorab in Kürze
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HANDLUNG Prolog im Himmel Die himmlischen Heerscharen preisen Gott und provozieren damit den Spott des Teufels Mephistopheles. Da die Vernunftanmaßung des Menschen nun schon zu weit gewachsen sei, mache ihm nicht einmal die Ver führung zum Bösen mehr Spaß. Auf Nachfrage, ob er den Doktor Faust kenne, lässt sich Mephistopheles auf eine Wette ein: Er wolle versuchen, dem asketisch lebenden, strebsamen Gelehrten neue Illusionen einzuflößen und ihn vom Laster kosten zu lassen. Erster Akt Ostersonntag Das Leben steht in neuer Blüte – vor der Stadt vergnügen sich lebenshungrige Volksmassen, junge Männer laufen Mädchen nach. Alleine Faust ist müde und hat an dieser Freude keinen Anteil. Er zieht sich mit seinem Adlatus Wagner zurück, sie reden über das Kommen und Gehen des Lebens im Frühling. Faust bemerkt eine umherschweifende düstere Gestalt, die ihn mit Grauen erfüllt. Wagner redet ihm seine Furcht aus. Der Pakt Faust entdeckt im Frieden der Einsamkeit, dass die Gestalt ihn in seine Studierstube verfolgt hat. Nach seiner Identität befragt, gibt der Fremde sich als des Schönen der Schöpfung überdrüssig zu erkennen – es ist Mephistopheles, der nichts als Zerstörung im Sinn hat. Er bietet sich Faust als Diener an. Da ihn ein Leben nach dem Tod wenig kümmert, setzt Faust die höchste Voraussetzung an: Sollte es Mephistopheles gelingen, ihm einen Augenblick der Lust zu verschaffen, so wolle er sein Diener werden. Der Pakt ist geschlossen. Mephistopheles und Faust brechen mit wüsten Orgien im Sinn in die Welt auf. Zweiter Akt Im Garten Faust, zu neuer Jugend erwacht, und Mephistopheles spazieren mit Margarete und ihrer Nachbarin Marthe im Garten. Faust umwirbt heftig verliebt die schüchterne und unerfahrene Margarete während Mephistopheles nur halbherzig mit der offensiven Marthe flirtet. Margarete lässt sich von Faust verführen, ihre Mutter mittels eines Schlaftrunks zu betäuben, damit die beiden sich in der Nacht ungestört treffen können. Walpurgisnacht Faust hat Margarete verlassen. Mephistopheles feiert sich im Kreise des Auswurfs der göttlichen Schöpfung beim Hexensabbat auf dem Brocken als Herrscher der Welt. Faust, inmitten der Menge orgiastisch tanzender Hexen, meint in einer Gestalt in der Ferne Margarete zu erkennen. Sie ist leichenblass und trägt eine rote Schnur um den Hals. Mephistopheles zerstreut Fausts Sorgen, der Reigen um sie wird immer ekstatischer. 8
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Dritter Akt Margaretes Tod Im Kerker erwartet Margarete ihren Henker – um Fausts Lust gerecht zu werden, hat sie unwissend ihre Mutter mit dem Schlaftrunk vergiftet und aus Verzweiflung das Kind, das sie von Faust bekommen hat, ertränkt. Faust kommt in Mephistopheles’ Begleitung, um sie zu retten. Ihre Taten holen Margarete immer wieder ein und treiben sie fast in den Wahnsinn. Sie weigert sich, mit den beiden zu gehen. Erst als Faust ihr von einem Traum berichtet, in dem er mit ihr auf einer weit entlegenen Insel lebt, ist sie bereit zur Flucht. Als sie jedoch in Mephistopheles’ Gestalt das Unmenschliche erkennt, schreckt sie zurück und entscheidet sich für den Tod. Faust kann sie nicht mehr retten, doch die himmlischen Heerscharen verkündigen Margaretes Erlösung. Vierter Akt Klassische Walpurgisnacht Faust strebt nun nach den großen Dingen und findet sich in der Traumwelt Arkadiens wieder. Mephistopheles fühlt sich in dieser ungebrochen liebreizenden Atmosphäre sichtlich unwohl. Hier begegnet Faust der legendären Helena von Troja, dem antiken Ideal von Schönheit und Anmut, die sich ihm bereitwillig hingibt. Mit ihr, glaubt er, entdeckt er das Geheimnis der Liebe und der Ewigkeit. Epilog Fausts Tod Faust ist zurück in seiner Studierstube und sieht das Lebensende nahen. Ein Augenblick, der ihm Lust und Seelenfrieden verschafft und den er zur Ewigkeit hätte werden lassen wollen, sei ihm bisher verwehrt geblieben – in der Begegnung mit Margarete hätte sich ihm nur das Leid der irdischen Liebe offenbart, die unerreichbare unveränderliche Schönheit Helenas nur die Lächerlichkeit seines Strebens vor Augen geführt. Unter dem Einfluss der himmlischen Heerscharen, die ihm seinen Tod anzeigen, eröffnet sich Faust eine neue Vision als Herrscher einer befreiten Welt. Er spricht die erlösenden Worte: „Augenblick, verweile doch, du bist so schön!“. Mephistopheles, der Herrscher des Nichts, sieht sich um Fausts Seele betrogen.
Handlung
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SYNOPSIS Prologue in Heaven The celestial angels praise God, thereby provoking derision from the Devil, Mefistofele. Now that the arrogance of humankind has already grown out of control, his seduction of people to evil is no longer fun. When asked if he knows Dr Faust, Mefistofele strikes up a bet: he shall attempt to instil new illusions in the clean-living and ambitious scholar, and lead him towards a life of vice. First Act Easter Sunday Life is good. Fun-loving crowds enjoy themselves outside the city, and the young men are chasing the girls. Only Faust is tired, and wishes to take no part in the celebrations. He retires with his assistant Wagner, and they discuss the coming and goings of life in spring. Faust notices a dark, sombre figure that fills him with dread. Wagner reassures and calms him. The Pact In the peacefulness of solitude, Faust discovers that the strange figure has followed him to his study. Upon being asked his identity, the stranger discloses that he is weary of the beauty of creation. He is Mefistofele, the man with only destruction in mind. He offers himself as Faust’s servant. As he has never really cared about life after death, Faust puts the highest pre-condition to Mefistofele: should the stranger succeed in showing him a moment of bliss, then Faust shall become his servant. The pact is made. Mefistofele and Faust set forth into a world of debauchery. Second Act In the Garden His youth restored, Faust and Mefistofele walk with Margherita and her neighbour Marta in the garden. Faust amorously woos the shy and inexperienced Margherita while Mefistofele only half-heartedly flirts with an aggressive Marta. Margherita falls for Faust’s charms, and allows him to convince her to sedate her mother with a sleeping potion in order that the two may meet, undisturbed, in the night. Walpurgis Night Faust has left Margherita. Mefistofele proclaims himself ruler of the world in the circle of those ejected from divine creation at the witches’ sabbath on the Brocken mountain. Faust, in the middle of the orgiastically dancing witches, believes he can see Margherita’s figure in the distance. She is deathly pale and has a red line around her neck. Mefistofele dissipates Faust’s concerns, and the revelry becomes ever more ecstatic.
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Third Act Margherita’s Death Margherita waits for her executioner in gaol. In order to satisfy Faust’s lust, she had unknowingly poisoned her mother with the sleeping potion and, out of despair, had drowned the child she had borne Faust. Faust arrives to rescue her, accompanied by Mefistofele. Her crimes catch up with Margherita and almost drive her crazy. She refuses to leave with the men. Only after Faust tells her of his dream in which the couple live together on a remote island, is she prepared to escape. However, as she recognises the unhuman in Mefistofele, she recoils in horror and opts for death. Faust can no longer save her, but the celestial angels proclaim her redemption. Fourth Act Classic Walpurgis Night Faust now reaches for the stars and chases his dreams, finding himself back in the Arcadian dream world. Mefistofele feels visibly uncomfortable in this unfractured, enchanting atmosphere. Faust meets the legendary Helen of Troy, the ancient ideal of beauty and grace, and she gives herself readily to him. He believes that, with her, he shall uncover the secrets of love and eternity. Epilogue Faust’s Death Faust is back in his study and sees death approaching. The one moment that showed him delight and peace of mind, and to which he would have happily given himself for eternity, remains denied to him. In meeting Margherita, the sorrow of earthly life was revealed, and the unobtainable and unchangeable beauty of Helen showed only the ridiculousness of his pursuit. Under the influence of the celestial angels, who show him his death, Faust has a new vision of himself as the ruler of a liberated world. He speaks the redemptive words, “Moment, stay, you are so beautiful!” Mefistofele, the ruler of nothing, feels cheated out of Faust’s soul.
Synopsis
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KEIN DENKSP GESCHEIT – KE APHORISMUS WEDER PRED NOCH ST TZE ZU EWIGEN LE N TZE
NIEM
PRUCH EIN S, VERZEIHT, DIGT E– EHREN
Arrigo Boito – Il Re Orso
SUCHE MAND IN MIR
Wer wollte dem Leibhaftigen das Wort reden? Arrigo Boito und eine Poetik des Bösen Franz-Erdmann Meyer-Herder
Dass wir den Namen Arrigo Boito weniger als Komponisten kennen, sondern eher als Librettisten des Spätwerks Giuseppe Verdis, muss wohl in jeder Auseinandersetzung mit seiner Oper Mefistofele Erwähnung finden. Gemeinsam schufen sie als kongeniale Weiterentwicklung der italienischen lyrischen Oper Otello und Falstaff, und auch den 1857 durchgefallenen Simone Boccanegra überarbeiteten sie für eine revidierte Fassung, die 1881 mit großem Erfolg am Teatro alla Scala in Mailand uraufgeführt wurde (just hier fiel die erste Fassung des Mefistofele 1868 durch). Dabei hatte es erst so ausgesehen, als würden aus den beiden keine Freunde – 1863 rezitiert Boito bei einem Essen, bei dem man den Erfolg der Oper I profughi fiamminghi seines Freundes Franco Faccio feiert, sein Gedicht „All’arte italiana“, eine „Sapphische Ode, vorzutragen mit dem Glas in der Hand“: „Vielleicht ist der Mann schon geboren“, heißt es da, „Der auf dem Altar die Kunst wieder aufrichten wird, schamhaft und rein; auf dem Altar, der beschmiert ist wie eine Bordellwand.“ Ein Affront für den Großmeister, Verdi war außer sich: Eine junge Generation begann mit den ersten bescheidenen Erfolgen an seinem Ast zu sägen! Es dauerte folglich einige Zeit, bis Verdi und Boito erkannten, was sie verband. Doch der Boito von 1863 war ein anderer als der spätere Librettist Verdis. Gerade einmal 21, gehörte er zu diesem Zeitpunkt den sogenannten „Scapigliati“ an, den „Ungekämmten“, einer Mailänder Bohème, die sich an der französischen ecôle du mal Charles Baudelaires und anderer Zeitgenossen orientierte. Mit der Ausrufung des geeinten Italiens unter König Vittorio Emmanuele 1861 regten sich Reformgedanken, ein nationaler Kunstgedanke musste her. Verdi hatte zwar als Sturmvogel für die „Risorgimento“ genannte Bewegung des „Wiedererstehens“ der italienischen Nation gedient und sein Rang als Opernkomponist war 26
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und ist unbestritten. Aber er stammte doch aus der Tradition des lyrischen Dramas, Puccini kannte noch niemand und der Verismo war noch nicht erfunden. Boito, der doppelbegabt schon als Kind am Mailänder Konservatorium studiert hatte, und die „Scapigliatura“ bildeten in diesem Klima keine „Schule“ im engeren Sinne. Vielmehr verband ihn mit Künstlern wie dem Maler Tranquillo Cremona, dem Komponisten Franco Faccio, den Schriftstellern Emilio Praga und Giovanni Verga (der später die literarische Vorlage für Mascagnis Cavalleria rusticana lieferte) und anderen die Unzufriedenheit über soziale wie politische Zustände. Wie auch in Frankreich lehnte man sich auf gegen einen „akademischen Stil“ und die Limitierungen von Tradition und der Disziplinen. Dabei schien die Kunst des Risorgimento verdächtig, hauptverantwortlich für die bürgerliche Selbstzufriedenheit im geeinten Staat zu sein. Für die Oper stellte sich der junge Boito eine Vermählung der bisherigen Ergebnisse der italienischen Musiktradition mit Neuerungen aus dem deutschsprachigen Raum vor: Die Formelhaftigkeit überwinden, zur Form finden, das rhythmisch wie tonal Mögliche bis zum Äußersten ausreizen und die höchste Inkarnation des Dramas finden, waren Forderungen, die Boito 1864 in der von ihm mitgegründeten Zeitschrift Figaro verkündete. Er war italienischer Wagnerianer der ersten Stunde, in den 1870er Jahren unterhielt der Komponist des durchgefallenen Mefistofele einen pathetischen Briefwechsel mit dem deutschen Großmeister, der seinem unverstandenen Bewunderer auf unnachahmliche Art schmeichelte. Dieser hatte schon 1863 in seiner „Sapphischen Ode“ die alte italienische Musik als „Lehrmeisterin eines nordischen Landes“, beschrieben, das sich gerade von ihr emanzipiert – ein Antagonismus, der bald entlang der Achse Wagner-Verdi verläuft. Spätestens nach der Uraufführung der italienischen Walkiri 1893 jedoch kühlte sich Boitos Wagner-Verehrung sichtlich ab. Der junge Komponist knüpft aber in den 1860er Jahren noch an Wagners Gedanken der Zusammenführung verschiedener künstlerischer Elemente zu einer italienischen Idee des „Gesamtkunstwerks“ an. Seine ausführlichen Regiebücher, Requisitenlisten und die überlieferten Bühnenbildentwürfe zum Mefistofele, aber auch seine literarischen Ausführungen zu romantischen Topoi des Sublimen, des Grotesken, weisen ihn als Ikonoklasten aus, als einen vielleicht zu gebildeten „jungen Wilden“, der alles auf einmal sein und dabei mit großer Geste alles Bestehende zerschlagen will. Entsprechend gespannt sah man 1868 – Boito war 26 – der Uraufführung des Mefistofele am Mailänder Teatro alla Scala entgegen. Boito, der statt „libretto“ den Begriff „tragedia“ für die dem Musikdrama Franz-Erdmann Meyer-Herder
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zugrundeliegende Dichtung gebrauchen wollte, veröffentlichte seine Bearbeitung der Goethe’schen Vorlage weit im Voraus. Das Libretto von 1868 beinhaltet dabei noch Passagen, die zwar eine tiefere philosophische Auseinandersetzung mit Faust I und II nahelegen, jedoch den Bogen eines lyrischen Dramas zu überreizen schienen. Neben einem philosophischen Diskurs zwischen Faust und Wagner und der Begegnung mit der biblischen Lilith auf dem Brocken finden sich hier zwei ganze Szenen, die in der revidierten Fassung von 1875 gar nicht mehr auftauchen: die Szene in der Kaiserpfalz, in der Mephistopheles das Papiergeld erfindet und die erste Begegnung mit Helena als Theater auf dem Theater inszeniert, und die Schlacht gegen den Gegenkaiser. Den Schluss konzipierte Boito sogar zweimal. In der revidierten Fassung spricht Faust unter den höhnischen Kommentaren Mephistopheles’ erst dann sein „Augenblick, verweile doch, du bist so schön!“, als er schon die himmlischen Heerscharen hört. 1868 war es noch, näher an Goethe, die dem Tod vorausgehende Vision vom „Auf freiem Grund mit freiem Volke stehn!“, die Faust Erlösung versprach, und nicht die fragwürdige Metaphysik der Erlösungsverkündigung. Das Werk hatte Proportionen angenommen, die dem italienischen Geschmack nicht zusagten. Die von Boito selbst dirigierte Premiere dauerte bis nach Mitternacht und wurde unter Hohn und Spott des Publikums zum Fiasko. Nach nur zwei Aufführungen wurde der Mefistofele abgesetzt, in den Zeitungen erschienen zahlreiche Verrisse. Hatte er sonst kaum je ein Blatt vor den Mund genommen, wurde es nun still um Boito. Als er 1875 die revidierte Zweitfassung in Bologna zur Uraufführung brachte, hatte er einige Zugeständnisse an den italienischen Publikumsgeschmack gemacht (darüber hinaus hatte aber auch Wagners Lohengrin 1871 seine triumphale italienische Erstaufführung in Bologna erlebt, die den „germanismo“ in der Musik mit einem anderen Fundament ausstattete). Aus Faust wird statt einer Bariton- eine Tenorpartie, die oben erwähnten Szenen sind gestrichen bzw. gekürzt, Faust und Margarete erhalten ein zusätzliches Duett in der Kerker-Szene, diese endet mit einem weiteren Arioso Margaretes und die berühmte Fuge aus der Walpurgisnacht-Szene findet Eingang in die Partitur. Das Streben Fausts spiegelt sich nun vor allem in den zwei Begegnungen mit Margarete 28
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Marco Sanges, Polaroids aus der Serie Wunderkammer 1, 2
und Helena, mit dem Realen und dem Ideal der Liebe. Nichtsdestotrotz hält Boito an seiner Konzeption des Mephistopheles als Repräsentant einer Poetik fest, die sich als italienische Interpretation der décadence interpretieren lässt bzw. einen Ausblick weit in die kommenden Jahrzehnte und das Erwachen der künstlerischen Moderne gibt. Der Schriftsteller in Boito begann sich schon früh für die doppelte, die luziferische Natur des Menschen zu interessieren. Sein Gedicht „Dualismo“, 1863 geschrieben, legt nahe, dass die menschliche Existenz ein stetes Changieren zwischen dem Erlösungsbedürfnis des gefallenen Engels und der Verworfenheit des himmlischen Cherubs sei, ein wahrer Drahtseilakt, bei dem es immer um den drohenden Moment des Absturzes geht. Charakteristisch ist, wie Boito das Nebeneinander einer schwarzen Konzeption des Christentums und Wissenschaftsoptimismus engführt. Wo er an Vorbilder wie Edgar Allan Poe und Victor Hugo anknüpft, holt er nicht alleine die Schwarze Romantik als angenehm-unangenehme Beschäftigung mit den Nachtseiten der menschlichen Natur und dem Unheimlichen nach. Boito setzt viel eher wie auch Baudelaire auf den Schock der Leser*innen, das Angewidertsein von naturalistischen Darstellungen von Verstümmelung, Verwesung und Tod: Alles erklärbare Phänomene, die jedoch unerwartet hinter jeder Ecke lauern und die Vollkommenheit der göttlichen Schöpfung in ihrem Geltungsanspruch infrage stellen können. Dabei lenkt er den Fokus auch auf die Seinsmüdigkeit des Menschen, dem althergebrachte sittlich-moralische Traditionen keine Orientierung mehr bieten. Die Vereinigung Italiens führte nicht zuletzt territorial zu einer Entmachtung der katholischen Kirche – 1870 wird der römische Kirchenstaat endgültig von italienischen Truppen eingenommen. Die Suche der „Scapigliati“ nach einem neuen Nationalgedanken in der Kunst richtet sich daher nicht alleine gegen die Akademien und etablierten Kunst- und Kultureinrichtungen, sondern explizit gegen die Kirche und die durch sie auferlegte Disziplinierung des Denkens. Dass der leibhaftige Satan dabei für Boito und andere einen besonderen Reiz ausübt, weil er eben für das unlimitierte Denken steht, die Möglichkeit des Denkens des Anderen, des Verbotenen, erklärt ihn zum Emblem des Fortschritts. Das Böse und das Hässliche, sonst – in vorschneller quasi-platonischer Verkürzung – all das genannt, das am Guten und Schönen keinen Anteil hat, wird zum ästhetischen Eigenwert: „Mephistopheles ist die Inkarnation des ewigen Nein gegenüber dem Wahren, dem Schönen, dem Guten.“ Wer genau hinsieht, erkennt in Boitos Werk eine kosmische Dimension, die das Problem der Metaphysik über eine manichäisch-dualistische Konzeption der Welt aufzuheben versucht, in der das Böse unweigerlich zum Guten gehören muss. Boito zielt dabei auf kein neues verbindliches Denksystem, sondern eher auf „offene Werke“. Er unternimmt das, was der Philosoph Hans Blumenberg als „Arbeit am Mythos“ bezeichnet hat: Das Wiedererzählen eines sinnstiftenden Sujets in einer neuen, der Zeit Franz-Erdmann Meyer-Herder
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Berlinde De Bruyckere, ACTAEON IV (BEIJING),2012 3
des Erzähltwerdens gemäßen Form. Wir sprechen vom Vorabend der décadence und des fin de siècle, einer Zeit, in der sich aufgrund soziokultureller und politischer Umbrüche, der fortschreitenden Urbanisierung, Industrialisierung, kurz: Entzauberung das Gesicht Europas verändern wird. Das 19. Jahrhundert bereitet sich auf die Verlängerung über die Jahrhundertwende hinaus vor. Der Faust dieser Zeit schickt sich entweder, wie in der deutschen Rezeption, an, der germanische Titan zu werden, als den noch die Nationalsozialisten Goethes ewigen, moralisch nicht ganz einwandfreien Zweifler rezipieren. Oder aber er wird, in der romanischen Wahrnehmung, von einem ennui geplagt, das ihn als Spielball zwischen Gut und Böse verfügbar macht. In seinen Texten hatte Boito so für gewöhnlich eine doppelte Lesart im Sinne, die man als eine spät- und eine postromantische beschreiben kann. So lässt sich beispielsweise der Prolog im Himmel im Mefistofele durchaus als konventioneller Beginn lesen, zumal in Verbindung mit der Erlösung Fausts am Ende der Oper als reichlich affirmativ gegenüber dem katholischen Gedanken eines gnadenreichen Gottes. Allerdings führt uns Boito hier wie an anderen Stellen geschickt auf die falsche Fährte – Verdi hat es bemerkt und in Worte gefasst: „[…] als ich die Harmonien dieses Stücks fast immer auf Dissonanzen beruhen hörte, kam es mir vor…, dass ich bestimmt nicht im Himmel sei, […].“ Die ewige Transformation nach oben konnte nach über 100 Jahren offiziell anerkannter Theodizee und der Dialektik einer transzendentalen Verfasstheit des Menschen nicht mehr ganz glaubwürdig wirken. Das eigentliche Thema des Mefistofele ist weniger die Unmoral des sonstigen Hauptprotagonisten, Faust. Durch die Beförderung Mephistopheles’ zur Gott ebenbürtigen Titelfigur wird die Menschheit zur metaphysischen Verfügungsmasse. Boito sitzt stilistisch zwischen den Stühlen. Natürlich mutet es fast an, als würde David gegen Goliath antreten, als der junge Scapigliato 1861 gegen Verdi austeilt. Sein Mefistofele ist auch in der Fassung von 1875 ein musikalischer Zwitter, dabei ein „offenes Werk“. Dieses zeichnet vor allem eine eigenwillige Behandlung des musikalischen Satzes und der harmonischen Schichtung vor der rhythmischen Gliederung und der musikalischen Einteilung in Nummern aus. Der Prolog im Himmel z.B. gliedert sich in sinfonische Bestandteile, die man als kontrastierende „Sätze“ bezeichnen könnte – die Loblieder der Engel wechseln sich ab mit den Entgegnungen Mephistopheles’, die jeweils Scherzo-Charakter haben und damit die höheren musikalischen Weihen des Sublimen quasi Lügen strafen. Doch auch wenn Boito seinem Mephistopheles in dessen Arie im ersten Akt allerlei kalkuliert „hässliche“ Musik mit auf den Weg gibt, ihn lachen und unmusikalische Sprünge machen, ja laut Partitur gar auf zwei Fingern dem potenziell empörten Publikum zurückpfeifen lassen will (alles Anhaltspunkte für einen grundlegenden Modernismus in seiner Musik, der erst Jahrzehnte später wirklich voll anerkannt sein sollte), finden sich doch immer wieder Anlässe für reinen, ungebrochenen
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Belcanto. Boito steht für eine Sattelzeit der künstlerischen Entwicklung in Italien. Zu spät geboren, um ein Verdi zu sein, zu früh geboren, um zur Schule des Verismo zu gehören; zu italienisch, um Wagnerianer zu sein, zu germanisch, um die italienische Oper grundlegend zu revolutionieren. Vielleicht verwundert es daher nicht, dass er zwar durchaus in der Lage war, Bedingungen für eine „arte dell’avenire“, die Kunst der Zukunft zu formulieren, auch in der Lage war, diese literarisch zu bedienen. Musikalisch hinterlässt er jedoch vor allem ein kunstgeschichtlich hochspannendes, widersprüchliches Scharnierstück zwischen Spätromantik und Moderne.
Seine Faszination für mephistophelische Charaktere verlor Boito dabei nie. Sein Lebensprojekt war die zweite, unvollendete Oper Nerone. In Giuseppe Verdi fand er nach einer längeren Phase der Annäherung einen kongenialen Partner – die beiden begegneten sich nach dem Lohengrin 1871 in Bologna zwar am Bahnhof, aber wirklich miteinander gesprochen haben sie wohl nicht, obwohl es einen Brief des Verlegers Giulio Ricordi an Verdi gibt, der belegt, dass Boito sich bereits 1870 zu dem Wunsch bekannt hatte, ein Nerone-Libretto für Verdi zu verfassen. Zusammen schufen sie weitere große Figuren und Hausgötter des Nihilismus. Dass der Otello von 1887 ursprünglich einmal Iago heißen sollte und es wohl sogar Überlegungen gab, dass Boito diesen selbst vertont, legt nahe, dass seine Faszination für das protagonistische Potential des Antihelden sich nach dem Mefistofele längst nicht erschöpft hatte. Franz-Erdmann Meyer-Herder
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