Le nozze di Figaro: Programmheft (Auszüge) | Staatsoper Stuttgart

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Wolfgang Amadeus Mozart LE NOZZE DI FIGARO Opera buffa in vier Akten Libretto von Lorenzo Da Ponte nach der Komödie La Folle Journée ou Le Mariage de Figaro von Pierre-Augustin Caron de Beaumarchais Uraufführung am 1. Mai 1786 im Wiener Hoftheater Staatsoper Stuttgart Premiere der Neuproduktion 1. Dezember 2019

Musikalische Leitung Roland Kluttig Regie Christiane Pohle Bühne Natascha von Steiger Kostüme Sara Kittelmann Video Anna-Sofie Lugmeier Licht Reinhard Traub Dramaturgie Ingo Gerlach Chor Bernhard Moncado Besetzung der Premierenserie: Graf Almaviva Johannes Kammler Gräfin Almaviva Sarah-Jane Brandon Susanna Esther Dierkes Figaro Michael Nagl Cherubino Diana Haller Marcellina Helene Schneiderman Bartolo Friedemann Röhlig Basilio Heinz Göhrig Don Curzio Christopher Sokolowski Barbarina Claudia Muschio Antonio Matthew Anchel Staatsopernchor Stuttgart Statisterie der Staatsoper Stuttgart Staatsorchester Stuttgart


INHALT

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Vorab in Kürze

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Handlung

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Synopsis

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Christiane Pohle im Gespräch mit Ingo Gerlach über Mozart, Macht und Möbel

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Die Erfindung des Ensembles Mladen Dolar

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Eine kurze Geschichte der Liebesheirat Liv Strömquist

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Über Liebe und Konsum Eva Illuoz

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Dort ist Freiheit Armin Petras

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Wenn Engel lieben Laurie Penny

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Über die Treue in der Ehe Theodor Gottlieb von Hippel

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Bluescreen Mark Greif

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Aufgewirbelte Zeiten Donna Haraway

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Fotos der Klavierhauptprobe von Martin Sigmund

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Impressum und Nachweise


VORAB IN KÜRZE Susanna und Figaro wollen heiraten. Das wäre nicht weiter problematisch, wenn nicht der Graf Almaviva, von dessen Zustimmung der Ehevollzug der beiden abhängt, selbst ein Auge auf Susanna geworfen hätte. Susanna wiederum ist der Gräfin, die der Graf mit Figaros Hilfe vor ein paar Jahren aus dem Haus ihres Vormunds entführt hatte, sowohl dienstlich, als auch freundschaftlich verbunden. Gemeinsam versuchen sie, den Avancen bzw. Eifersuchtsattacken des Grafen zu entgehen und nicht nur die Hochzeit von Susanna und Figaro zu erwirken, sondern auch die bald nach Eheschließung erkaltete Liebesbeziehung der Almavivas wiederzubeleben. Und als wäre das nicht schon Aufgabe genug, durchkreuzt Cherubino irrlichternd alle Pläne und Selbstgewissheiten. Revolution am Werk Der tolle Tag oder Figaros Hochzeit ist nicht nur der Titel, sondern gewissermaßen auch eine so kurze wie prägnante Inhaltsangabe der 1778 geschriebenen und 1784 uraufgeführten Komödie von Pierre-Augustin Caron de Beaumarchais. Denn der den Rand des Irrsinns zumindest streifende Verlauf des Hochzeitstages stiftet den Rahmen und den zentralen Konflikt zwischen dem Grafen Almaviva und dem Brautpaar. Und darüber hinaus auch den zwischen der Aristokratie und dem Bürgertum. Das Ideal der Liebesheirat, eine der zentralen Ideen des Bürgertums, steht in extremem Gegensatz zum legendären „Recht der ersten Nacht“, das der Graf zwar gerade abgeschafft hat, das er aber bei Susanna gern wieder einführen würde. So ist das vermeintlich Private von Figaros Hochzeit eben doch und immer noch politisch. Denn auch mit der Abschaffung des Feudalsystems und dem Siegeszug der Demokratie ist die Utopie von Freiheit, Gleichheit und Geschwisterlichkeit, von der vor allem Mozart und Da Ponte erzählen, noch lange nicht eingelöst. Verwirrspiel von Zeichen und Ebenen „… di tutte sarai tu certo il più bello.“ „Von all den schönen Frauen des Schlosses wirst du sicher der Schönste sein“, verspricht Barbarina Cherubino im dritten Akt. In diesem Moment steht eine Sängerin auf der Bühne, die einen jungen Mann spielt, der als Frau verkleidet ist oder – in der Inszenierung von Christiane Pohle: eine Sängerin, die eine Frau spielt, die sich als Mann ausgibt, der als Frau verkleidet wird. Das Verkleiden und Verstecken, das Spiel mit Identitäten, mit Gender und Rollenklischees ist nicht nur der Figur des Pagen eingeschrieben, die bereits in der Vorlage von Beaumarchais als Hosenrolle angelegt war, sondern dem ganzen Stück. In Figaros berühmter Cavatina im ersten Akt, mit der er dem Grafen den Kampf ansagt, tut das Orchester so, als spiele es ein höfisches Menuett, in Figaros Arie am Ende des ersten Aktes, mit der er Cherubino

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in den Krieg verabschiedet, tut es so, als spiele es einen Marsch. Diese ironischen musikalischen Momente tragen einen guten Teil zur Komik der Komposition bei. Aber die Musik täuscht nicht nur, sie erzählt auch von der Ernsthaftigkeit der Gefühle. Bemerkenswerterweise tut sie das vor allem in den Momenten der Verstellung. Hier wird sie am ehrlichsten. Sowohl das Duett vom Grafen und Susanna, als auch die Briefszene von Susanna und der Gräfin, die Ver- oder Entkleidungsszene mit Cherubino und auch Susannas große Arie im vierten Akt, in der sie als Gräfin verkleidet ist – all diese Momente weisen darauf hin, dass die Figuren im Spiel, in der Verstellung und in der daraus vielleicht auch unbewusst resultierenden Gleichstellung am deutlichsten bei sich selbst oder besser gesagt: am intensivsten sind. Figaro, Figaro, Figaro Die Hochzeit des Figaro ist Teil zweier verschiedener Trilogien: Als La Folle Journée ou Le Mariage de Figaro gehört es zu den drei Figaro-Komödien von Beaumarchais und als Le nozze di Figaro ist es die erste der drei sogenannten Da Ponte-Opern Mozarts. In Le Barbier de Séville erzählt Beaumarchais davon, wie Figaro dem Grafen Almaviva hilft, seine geliebte Rosina zu gewinnen; in La Mère coupable (Die Schuld der Mutter) von der tragisch endenden Liebesgeschichte von Cherubino und der Gräfin. Das große verbindende Thema der drei Da Ponte-Opern ist wiederum die Frage nach den Möglichkeiten und Konsequenzen von Leidenschaft, Liebe und Treue und wie wir Menschen damit umgehen. Während Le nozze di Figaro bei der Diskussion dieser Fragen noch ohne die Verletzung humaner Grundwerte auskommt, werden diese in Don Giovanni fraglos überschritten und in Così fan tutte radikal in Frage gestellt. Die existenzielle Erschütterung der Folgewerke wirft jedoch bereits deutliche Schatten auf Le nozze di Figaro. Auch hier werden die Abgründe sichtbar, die sich hinter der vordergründig komödiantischen Oberfläche verbergen. Und auch im Figaro ist mit dem Ende des „tollen Tages“ das Problem nicht gelöst: Im Anschluss an die choralhafte Eloge an die Liebe und die Kraft des Verzeihens setzt Mozart einen sehr schnellen, fast grellen Schlusschor. Es liegt in der Logik des Stückes, dass man diesen allgemeinen Jubel nicht als wirklich glaubhafte Lösung akzeptieren will, sondern in ihm eher eine weiter Maskerade erkennt: „Corriam tutti a festeggiar!“ – „Eilen wir alle schnell zum Fest!“

Vorab in Kürze

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HANDLUNG Was bisher geschah Mit Hilfe seines Freundes Figaro hat Graf Almaviva seine Geliebte Rosina aus dem Haus ihres Vormunds Bartolo entführt, der sie gern selbst geheiratet hätte. Bald nach der Hochzeit hat der Graf das Interesse an seiner Gattin verloren. Figaro, der sein aufregendes aber unsicheres Leben als Barbier von Sevilla zu Gunsten einer Anstellung beim Grafen aufgegeben hat, ist in Susanna verliebt, die Zofe der Gräfin. Sie wollen heiraten. Allerdings hat er sich vor längerer Zeit bei Marcellina, der früheren Haushälterin Bartolos, Geld geliehen und ihr als Pfand ein Eheversprechen gegeben. Der Graf wiederum hat das legendäre „Recht der ersten Nacht“ abgeschafft und sucht nach einer anderen Möglichkeit, Susanna ins Bett zu kriegen. Erster Akt Am Morgen der Hochzeit erzählt Susanna Figaro von Zudringlichkeiten Almavivas. Figaro ist erschüttert und sagt ihm den Kampf an. Marcellina besteht darauf, dass Figaro sein Eheversprechen einhalte. Bartolo sagt ihr seine Hilfe zu. Cherubino, Page des Grafen, ist in Aufregung, weil der Graf ihn bei Barbarina, der Tochter des Gärtners, erwischt hat. Er bittet Susanna um Hilfe, die Gräfin als Fürsprecherin zu gewinnen. Vor dem plötzlich eintretenden Grafen kann er sich gerade noch verstecken und wird so Zeuge, wie Almaviva Susanna Geld für eine Liebesnacht verspricht. Als überraschend der Musiklehrer Basilio eintritt, versteckt sich der Graf ebenfalls. Basilio unterstellt der Gräfin eine Liebelei mit Cherubino und weckt so die Eifersucht des Grafen, der aus seinem Versteck tritt. Cherubino wird entdeckt und entgeht der Wut des Grafen lediglich durch den Auftritt Figaros, der auf den Beginn der Hochzeitsfeier drängt. Um ihn endgültig loszuwerden ernennt der Graf Cherubino zum Offizier und verschiebt die Hochzeit. Zweiter Akt Die Gräfin trauert um die Liebe des Grafen. Mit Susanna spricht sie über die Zudringlichkeiten ihres Gatten. Figaro schlägt eine Intrige vor: Almaviva soll durch einen anonymen Brief von einem angeblichen Rendezvous der Gräfin mit einem Liebhaber erfahren. Zugleich soll Susanna in das Stelldichein mit dem Grafen einwilligen, zu dem dann Cherubino in Frauenkleidern gehen wird. Als die Gräfin und Susanna mit Cherubino Kleider anprobieren, klopft der Graf an die Tür. Cherubino versteckt sich im Kabinett. Durch den Brief eifersüchtig gemacht, vermutet Almaviva einen Liebhaber hinter der verschlossenen Tür. Almaviva zwingt seine Frau, gemeinsam mit ihm Werkzeug zu holen, um die Tür zu öffnen. Er verschließt den Raum. Cherubino springt aus dem Fenster, Susanna versteckt sich im Kabinett. Aus Angst vor der Brutalität ihres Mannes gesteht

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die Gräfin, Cherubino halte sich im Kabinett versteckt. Als zur Verwunderung aller Susanna heraustritt, muss Almaviva zugeben, zu weit gegangen zu sein. Er bittet um Verzeihung. Susanna und die Gräfin gestehen ihrerseits, gemeinsam mit Figaro den Brief verfasst zu haben. Figaros zweiter Versuch, mit der Hochzeit zu beginnen, wird vom Gärtner Antonio unterbrochen, der sich beschwert, jemand sei aus dem Fenster in seine Blumen gesprungen. Figaro behauptet, er selbst sei es gewesen. In die zunehmende Verwirrung platzen Marcellina, Bartolo und Basilio, die Marcellinas Eheansprüche durchsetzen wollen. Eine Gerichtsverhandlung wird angesetzt, die Hochzeit erneut verschoben. Dritter Akt Die Gräfin und Susanna modifizieren Figaros Plan: Susanna soll sich mit dem Grafen zu einem Rendezvous verabreden, zu dem dann die als Susanna verkleidete Gräfin erscheinen wird. Durch eine Bemerkung Susannas wird Almaviva jedoch misstrauisch und plant erneut, die Hochzeit zu durchkreuzen; Marcellinas Anliegen soll ihm dabei helfen. Bei der Verhandlung stellt sich jedoch heraus, dass Figaro der entführte uneheliche Sohn von Marcellina und Bartolo ist. Die Gräfin diktiert Susanna einen Brief, der den Grafen zu einem nächtlichen Stelldichein einlädt. Der Brief versiegeln sie mit einer Nadel. Als der Graf entdeckt, dass Cherubino immer noch vor Ort ist, erinnert Barbarina ihn daran, dass er ihr als Lohn für sexuelle Gefälligkeiten die Erfüllung eines Wunsches versprochen habe. Sie bittet, Cherubino heiraten zu dürfen. Erneut drängt Figaro darauf, mit der Feier zu beginnen. Susanna und Figaro, Marcellina und Bartolo feiern Doppelhochzeit. Während des Hochzeitstanzes empfängt der Graf Susannas Brief und sticht sich an der Nadel. Vierter Akt Barbarina sucht verzweifelt die Nadel, die sie im Auftrag des Grafen Susanna zurückgeben soll. Als sie Figaro davon erzählt, bricht für ihn die Welt zusammen: Er ist überzeugt, dass Susanna ihn betrügt. Im Dunkel des Gartens gibt die als Gräfin verkleidete Susanna vor, auf einen Lieb haber zu warten. Cherubino wiederum begegnet der als Susanna verkleideten Gräfin und bedrängt sie. Gerade noch kann sie ihn abweisen, als Almaviva dazukommt und seine verkleidete Gattin verführt. Figaro trifft seinerseits auf die als Gräfin verkleidete Susanna. Er hat sie an ihrer Stimme erkannt, tut aber so, als gestehe er der Gräfin seine Liebe. Susanna ohrfeigt ihn aus Eifersucht. Beide versichern sich ihrer Treue und spielen dem Grafen eine Liebeszene vor. Almaviva ist überzeugt, seine Frau in flagranti erwischt zu haben und ruft Zeugen herbei. Doch das Hinzutreten der wahren Gräfin beendet alle Maskierungen: Der Graf muss seine eigene Schuld und Untreue eingestehen und bittet seine Gattin um Verzeihung.

Handlung

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SYNOPSIS What’s happened so far With the aid of his friend Figaro, Count Almaviva once took his beloved Rosina from the house of her guardian Bartolo, who would have preferred to marry her himself. Soon after the wedding, the Count quickly lost interest in his spouse. Figaro, who gave up his exciting yet insecure life as the Barber of Seville in favour of a position with the Count, is in love with Susanna, the Countess’ maid, and they wish to wed. However, a long time before, Figaro borrowed money from Bartolo’s previous housemaid Marceline, and promised her his hand in marriage as collateral. Meanwhile, the Count has abolished the legendary “jus primae noctis”, and is attempt­ing to get Susanna into bed. First Act On the morning of the wedding, Susanna tells Figaro of Almaviva’s intrusiveness. Figaro is shocked and declares war on the Count. Marceline insists that Figaro keep his promise of marriage, and Bartolo offers to help her. Cherubin, the Count’s page, is agitated because Almaviva caught him with Barbarina, the gardener’s daughter, and asks Susanna to gain him the Countess’ advocacy. When the Count suddenly enters the room, Cherubin barely has time to hide himself, and so becomes a witness to the Count’s monetary offer to Susanna to spend the night with her. However, Basilio the music teacher unexpectedly enters, causing the Count to also hide. Basilio’s insinuation that the Countess and Cherubin are having an affair awakens a jealous rage within the Count, who leaps from his hiding place. Cherubin is then discovered and only escapes the Count’s wrath through the entrance of Figaro, pressing for the wedding cele­brations to begin. In order to get rid of Cherubin, the Count appoints him officer in the army and postpones the wedding. Second Act The Countess laments her husband’s love, and speaks to Susanna of his meddlesomeness. Figaro suggests a scheme: via an anonymous letter, Almaviva should learn of an alleged rendezvous between the Countess and her lover. At the same time, Susanna should agree to rendezvous with the Count, but with Cherubin disguised as her in women’s clothing. As the Countess and Susanna help Cherubin try on the clothes, the Count knocks on the door. Cherubin hides in the cabinet. Inflamed with jealousy from the letter, Almaviva suspects a lover to be behind the locked cabinet door, and forces his wife to leave with him and fetch a tool for opening it. As Almaviva leaves and locks the room door, Cherubin jumps out the window, and Susanna hides herself in the cabinet. Fearing her husband’s brutality, the Countess confesses that Cherubin is hiding in the cabinet.

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When, to the astonishment of all, Susanna steps out of the cabinet, Almaviva admits that he has gone too far, and pleads for forgiveness. Susanna and the Countess, in turn, confess to having written the letter with Figaro. Figaro’s second attempt to begin the wedding ceremony is interrupted by Antonio the gardener, who has come to complain of somebody jumping from the window into his flowers. Figaro claims that it was himself who jumped. Into the growing confusion, Marceline, Bartolo and Basilio burst, with the intention of enforcing Marceline’s marital claim. Judicial proceedings are announced, and the wedding once more postponed. Third Act The Countess and Susanna modify Figaro’s plan: Susanna should arrange a rendezvous with the Count, to which the Countess will go dressed as her maid. However, a remark by Susanna arouses suspicion within the Count, and he once again plans to foil the wedding, using Marceline’s wish to do just that. At the trial, however, it transpires that Figaro is actu­ ally the kidnapped, illegitimate son of Marceline and Bartolo. The Count­ess dictates to Susanna a letter inviting the Count to an eve­ning rendez­vous. This letter is then sealed with a needle. As the Count dis­covers that Cherubin is still around, Barbarina reminds him of his promise to fulfil a wish of hers in return for sexual favours. She asks for permission to wed Cherubin. Once again, Figaro pushes to begin the celebration. Susanna and Figaro, together with Marceline and Bartolo, celebrate a double wedding. During the wedding dance, the Count receives Susanna’s letter and pricks himself on the needle. Fourth Act Barbarina searches desperately for the needle the Count has commanded her to return to Susanna. As she tells Figaro everything, his world falls apart, and he is convinced that Susanna has betrayed him. In the darkness of the garden, Susanna, disguised as the Countess, pretends to wait for her lover. Meanwhile, Cherubin meets the Countess disguised as Susanna and pressures her. She is barely able to refuse him just as Almaviva arrives and seduces his disguised wife. At the same time, Figaro meets Susanna disguised as the Countess. He was able to recognise her from her voice but, nevertheless, continues to profess his love to the ‘Countess’. Susanna slaps him out of jealousy. Both assure themselves of their loyalty and perform a love scene for the Count. Almaviva is convinced that he has caught his wife in flagranti and summons witnesses. But the presence of the real Countess brings a close to all the pretence, and the Count has to acknowledge his own guilt and disloyalty while begging for his wife’s forgiveness.

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Ein toller Tag … oder: Die Leidenschaft der Nesseltiere Christiane Pohle im Gespräch mit Ingo Gerlach über Mozart, Macht und Möbel CP

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Liron Kroll, Slide Show No. 2, 2013


Dass Paare sich bei einem gemeinsamen IKEA-Besuch streiten, ist nicht nur eine gute Geschichte, es gibt auch ernstzunehmende Untersuchungen wie die der Psychologin Dr. Ramani Durvasula, die im Wall Street Journal die IKEA-Wohnlandschaften als „Landkarte der Beziehungsalbträume“ bezeichnet hat. Warum zerstreiten sich Paare bei IKEA? Naja, das ist doch einigermaßen schockierend: Der persönliche bzw. der gemeinsame Lebensentwurf soll sich in der zusammen auszusuchenden Wohnungseinrichtung spiegeln. Die gemeinsame Zukunft, von der wir noch gar nichts wissen, soll bereits möbliert werden. Die offensichtliche Berechenbarkeit, der wir uns bei der „Möblierung“ einer partnerschaftlichen Beziehung gegenübersehen, entspricht aber so gar nicht der Tatsache, dass wir selbst, geschweige denn der*die Partner*in oder das anvisierte Zusammenleben, in irgendeiner Weise berechenbar wären. Aber man guckt jetzt auf dieses Vorproduzierte, Fertige, auf diese vor einem aufgebauten, detailliert ausgestatteten Wohnmodule, die scheinbar von Individualität erzählen, aber normiert, uniformiert und vorgefertigt sind. Und die vielleicht, genau wie die konstruierten Partnerschafts- und Selbstbilder, ein Verkaufstrick sind. Diese Einrichtungen sind ja Bühnen, die darauf warten, bespielt zu werden, und die Ausstattung bestimmt das Leben, das in ihr stattfindet. IG Würde man sich beim Durchblättern des Kataloges auch streiten? Möglicherweise dramatisiert die Tatsache, dass mehrere Paare mit dem ähnlichen Ziel die Wohnbühnen bei IKEA betreten, die Situation. Es gibt Parallelbühnen, Parallelpaare, Doppelgänger*innen. Wollen die jetzt alle das gleiche? Alle wollen eigentlich das „andere“, das „spezielle“, das „individuelle“. Aber wie kann es sein, dass die ganze Welt eine irgendwie skandinavische Form von Gemütlichkeit, von Wohn- und Lebensqualität teilt? Gut, über große Auswahl und Variationen wird natürlich die Freiheit der Wahl suggeriert. Die slowenische Philosophin Renata Salecl schildert in ihrem Buch Die Tyrannei der Freiheit, dass wir uns einem andauernden Anspruch ausgesetzt sehen, unser Leben ständig durch Entscheidungen zu konfigurieren. Dazu gehören auch Fragen wie Partnerschaft, Liebe und Familiengründung. Der Umkehrschluss ist dann: Wenn es mir schlecht geht, habe ich mich wohl falsch entschieden, gesellschaftliche Probleme werden ins Private verlagert. Kurz gesagt: Wenn ich die Wahl habe zwischen 20 verschiedenen Joghurtsorten, bin ich mit diesen relativ unwichtigen Entscheidungen so gebunden, dass ich die entscheidenden Entscheidungen gar nicht treffe. IG Das heißt, wenn alles möglich ist, ist man an seinem Unglück selbst schuld. Also muss man sich und seinen Lebensentwurf immer weiter optimieren. Das gilt dann für Cerealien und Sitzmöbel genauso wie für Hochzeiten, um zu unserem Titel zu kommen. Wenn man sich im Internet Hochzeitsfotos ansieht, fällt auf, dass dieser ganz besondere Tag bei vielen Paaren eben doch verblüffend ähnlich aussieht. Also auch hier eine Form von Serialität in der Inszenierung von Individualität und Glück. Was sagt das über eine Gesellschaft aus? IG

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Gespräch mit Regisseurin Christiane Pohle

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Wenn das eigene Foto so aussieht wie die der anderen, hat man es richtig gemacht. Dann bewegt man sich im Rahmen. Das hat meines Erachtens etwas mit Kenntlichmachen zu tun. Mit der Sehnsucht danach, dass etwas lesbar wird. Das beschützt ja in gewisser Weise auch. Das wiederum könnte bedeuten, dass wir uns bedroht fühlen außerhalb der Wiedererkennung und Wiederholung. Im Fall von Figaro und Susanna stellt sich diese Frage sehr konkret. Das perfekte Bild, die Inszenierung der Hochzeit und der bürgerlichen Ehe muss stattfinden als Gegenmodell, als Schutz vor der Willkür des Grafen und Arbeitgebers aber irgendwie auch als Schutz vor der eigenen Unberechenbarkeit und möglichen Sehnsucht. Deshalb wird das Ehebett vermessen, der Brautschleier genäht, die Hochzeitsmesse besucht, der Wedding Planner gebucht, das Hochzeitsfoto geschossen. IG Also ist das Erfüllen des Bildes bei Susanne und Figaro nicht bloß Accessoire, sondern Voraussetzung, um die Hochzeit tatsächlich vollziehen zu können, um eben auch allen anderen kenntlich zu machen, dass die beiden zusammengehören. Interessant ist, dass diese Inszenierung des bürgerlichen Glückes von Mozart musikalisch gleich zu Beginn in Frage gestellt wird. Die beiden Brautleute sind sich nämlich überhaupt nicht „einig“, und zwar genau da, wo sie einander mit größter Intensität ihr Glück und ihre Vorfreude auf die Hochzeit beteuern. IG Sind sie sich am Ende sicherer als am Anfang? Ich würde sagen, sie sind uns am Ende viel näher, weil sie in der totalen Verwirrung gelandet sind. Und sie haben sich dem Verwirrspiel, dem Identitätstausch und dem daraus folgenden Chaos so exzessiv hingegeben, dass ich mich frage, ob nicht das die eigentliche Leidenschaft der beiden ist, nicht das abgezirkelte Ehebett, das sie am Anfang besingen. Figaro und Susanna erscheinen in der Fragilität und Unklarheit des vierten Aktes der Oper viel deutlicher, als in der zwanghaften Behauptung, mit der sie gestartet sind. Das betrifft eigentlich alle Figuren. Die Hochzeit findet statt, fast beiläufig in ihrer banalen Pompösität, aber dann passiert das Eigentliche im labyrinthischen Verwirrspiel des nächtlichen Hochzeitsfestes, nämlich der völlige Verlust der scheinbar eindeutigen Idee von Individualität, von der*m Partner*in, von der Hochzeit, von einer gemeinsamen Zukunft. IG Das heißt es geht Mozart und Da Ponte gar nicht nur um das Erreichen eines Ziels – die Hochzeit –, sondern um das, was den Figuren auf dem Weg dorthin passiert und wie sie sich dadurch verändern. Neben der heteronormativen Paarbeziehung tauchen ja diverse Lebens- und Liebeskonzepte auf. Ich weiß nicht, ob ich so weit gehen würde. Immerhin läuten sie alle im Finale des vierten Aktes doch mit aller Macht die Hochzeitsglocken und besingen ein „happy end“, aber die Vehemenz, mit der das passiert, ist erstaunlich und entlarvend. Die Hochzeit wird eigentlich zum Rettungsanker

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auf dem Sprung zurück in eine Naivität, die nicht mehr aufrechtzuerhalten ist. Und das ist auch banal und derb. Auf dem Weg dahin entstehen durch die Verwicklungen und Täuschungen ganz neue Möglichkeiten, Allianzen, Zuneigungen und Konstellationen. Es wurde mal eine Solidarität von Susanna und Figaro behauptet, aber die verliert sich recht schnell, weil Figaro Susanna durchaus zutraut, ihrerseits den Grafen provoziert zu haben. Später gibt es dann die Entscheidung von Marcellina, Susanna und der Gräfin, und letztlich auch von Cherubino, die ich durchgehend als weibliche Figur lesen würde, sich gegen das Herrschaftsprinzip und gegen den willkürlichen Zugriff auf die Frauenkörper zusammenzutun. Beides vor allem repräsentiert durch den Grafen, in einer bürgerlichen Variante aber durchaus auch von Figaro: Die Frau gehört zum Besitzstand des Mannes. Irgendwann entscheiden sich die Frauen alle – ohne das Wissen von Figaro, der ja eigentlich der Plänemacher der ganzen Geschichte ist – sich ein eigenes Konzept zu überlegen. Daraus folgt dann die völlige Verwirrung. Und für Figaro der schwärzeste und tiefste Einsamkeitsmoment. IG Dann wäre also gar nicht in erster Linie der Kampf des Bürgertums gegen die Aristokratie, sondern die Solidarität freier Individuen der utopische Gedanke? In einer Gesellschaft lebend, in der das Bürgertum unangefochten im Zentrum steht, die Mehrheiten und die politische Macht hat, lesen wir die Figur Figaro natürlich nicht mehr als vorrevolutionären Helden. Ich glaube ehrlich gesagt, dass Mozart und Da Ponte das auch nicht gemacht haben. IG Haben die Debatten der letzten Jahre, die unter Schlagworten wie GenderGerechtigkeit, Sexismus oder #MeToo geführt wurden und werden, die Sicht auf das Stück verändert? Ich nehme wahr, und das ist gut und endlich an der Zeit, dass wir viel sensibilisierter dafür sind, was in unserer Gegenwart in Stoffen, Rollenbildern und der Art und Weise künstlerischer Übersetzung im Theaterkontext verhandelt wird. Und es muss sich noch viel ändern. Auch im Figaro wimmelt es von Stereotypen und fragwürdigen Vereinfachungen. Gleichzeitig werfen Mozart und Da Ponte einen einerseits schonungslosen und entlarvenden, andererseits liebevollen Blick auf die Unzulänglichkeiten ihrer taumelnden, sich immer mehr in Widersprüche verstrickenden Protagonist*innen und legen damit unermüdlich deren Wunden und ihr anarchisch utopisches Potential frei. Ich könnte daher nicht behaupten, dass diese Oper nicht mehr erzählt werden sollte. IG Das liegt ja vielleicht auch daran, dass Mozart und Da Ponte eben keine Propagandisten der bürgerlichen Ehe sind, sondern dass sie alle Versuche, Liebe und Begehren zu kontrollieren und zu institutionalisieren eine Absage erteilen. Das ist ja sicherlich auch ein Aspekt, der gerade in den gegenwärtigen Diskursen eine Rolle spielt: Wo ist der Graf übergriffig, wo ist auch Figaro übergriffig, wo gibt es aber auch für eine Figur wie Susanna Aspekte des Genießens, wenn der Graf sie zu verführen versucht. Das ist alles eben nicht nur eindeutig. Gespräch mit Regisseurin Christiane Pohle

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In diesem Zusammenhang fände ich es übrigens passender, wenn die Oper – wie bei Beaumarchais – Der tolle Tag hieße und nicht Figaros Hochzeit. Denn es geht ja tatsächlich um den Tag, der alle an den Rand des Wahnsinns führt. Und zwar unterschiedslos alle. Den Fokus über den Titel auf Figaro zu richten finde ich einschränkend. Zumal ja deutlich ist, dass Figaro zwar die Titel- aber nicht die Hauptfigur ist. Wenn es eine gäbe, dann wäre es Susanna. An ihr entzünden sich der Grundkonflikt und die Handlung. Auf ihren Körper wird zugegriffen. Genauso wichtig allerdings scheint mir zu sein, dass Mozart über die Ensembles und langen Finali konsequent die Gesellschaft als Hauptfigur ins Zentrum stellt. Erst in der Gesellschaft funktionieren die Individuen. IG Was sind die Voraussetzungen für Komik – gerade in diesen Zusammenhängen? Für mich hat Komik extrem viel mit einem Gefälle von Wahrnehmung und Wirkung zu tun. Mit der Menschheit als Spezies, die zum größten Teil glaubt, allen überlegen, souverän, unangefochten die Krone der Schöpfung zu sein, die durch ihr Handeln aber ständig ihre eigene Unzulänglichkeit offenbart. Diese Mickrigkeit hat eine unglaubliche Komik. Mozart und Da Ponte wie auch Beaumarchais erzählen von dieser Mickrigkeit, von Überforderung, die zum Slapstick wird, von der Lächerlichkeit der Existenz. Die leidende handlungsunfähige Gräfin, die Präsenz und der Machtanspruch des Grafen Almaviva sind absolut fürchterlich und lächerlich und herzzerreißend zugleich. Ähnlich die auftrumpfenden und pompösen Rachegefühle Figaros gegenüber Cherubino, oder die Auslöschungsphantasien Bartolos gegenüber Figaro. IG Also könnte man sagen, dass die soziale Sprengkraft des Stückes sich eben nicht nur auf die Klassenfrage beschränkt, sondern sich eher gegen alle Machtkonstellationen richtet, die sich für unangreifbar, für eine Art Naturgesetz halten. Der Hebel gegen die Privilegien des Grafen als Vertreter der Aristokratie wird zu einem Hebel gegen die Privilegien der berüchtigten „alten weißen Männer“? Indem die Frauen sich miteinander verbünden, landet Figaro plötzlich auch auf der Seite des Grafen. Das ist eine interessante Frontstellung. Natürlich tun die Frauen das nicht aus politischem Bewusstsein, sondern mit dem Ziel, das heteronormative Idealbild ihrer partnerschaftlichen Beziehungs-Ideen zu retten. Dennoch unternehmen sie etwas, das diese Idealbilder eigentlich torpediert. Würden sie ihre Solidarität ernst nehmen, würden sie nicht um Figaro oder den Grafen kämpfen, sondern um etwas vollkommen anderes. Nachdem sie dann realisiert haben, dass sie sich mit überhaupt nichts mehr auskennen, auch nicht mehr mit sich selbst, wirkt das lieto fine merkwürdig forciert und aufgesetzt. Vielleicht spürt man da auch so etwas wie die Angst, dass jetzt alles wieder vorbei ist.

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Also: schnell Vorhang zu. Das ist ja wiederum auch der Augenblick, an dem man das Erinnerungsfoto machen würde. In dem Moment versucht man auszuklammern, dass es danach wieder weitergeht mit Liebeskummer und Eifersucht. Apropos: Haben Quallen Liebeskummer? Ich hoffe nicht! Ich bin überzeugt, dass es andere Existenzformen gibt, mit denen es leichter ist, Beziehungen einzugehen als mit Menschen. Es gibt an dem Abend kleine Hinweise darauf, dass der einzelne Mensch gar kein in sich geschlossenes Individuum mit einem Wesenskern, mit einer ganz speziellen biographischen Herkunft und einem entsprechenden Narrativ ist, sondern ein montiertes, zersplittertes, nach vorne und nach hinten projiziertes, ausgedachtes, zusammengesetztes Mosaik. Eine Vielheit. Dieser Gesellschaft, die da im Figaro beschrieben wird, und die ganz offensichtlich nur um sich selbst kreist, um ihre Beziehungen und Leidenschaften als gäbe es nichts anderes, und die sich gleichzeitig so entfremdet fühlt, etwas entgegenzusetzen, war von Anfang an ein Anliegen. Und dass das etwas mit Quallen oder mit anderen Tiefseeexistenzen zu tun haben könnte, von deren Potenzial wir mit unserem Sensorium, unseren Beschreibungsmöglichkeiten und unserer ja dann doch sehr beschränkten Erkenntnis nie etwas erfahren werden, die aber vielleicht die viel interessantere und bereicherndere Begegnung sein könnte als die mit dem*r nächsten menschlichen Lebensabschnittsgefährt*in, das ist eine Frage, die ich an dem Abend gern stellen würde. IG

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