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Zusatzkapitel

Strafrecht

Jene Beziehungen zwischen Menschen, deren Grundlagen nicht wirtschaftlicher Art sind, zählen wir zum sozialen System. Auch hier besteht Bedarf an rechtlichen Regelungen. Einerseits muss die staatliche Organisation in einen rechtlichen Rahmen gestellt und andererseits die Tätigkeit der Verwaltung mit gesetzlichen Grundlagen versehen werden. Solche Rechtsnormen sind im Staats- und Verwaltungsrecht zusammengefasst.

Theorie 1 2 3 4

Beispiel zum Strafrecht: Verkehrsunfall .................................................................................. 2 Voraussetzungen für die Strafbarkeit einer Handlung ............................................................ 4 Zweck einer Bestrafung ......................................................................................................... 6 Mögliche Sanktionen ............................................................................................................. 8 Strafzumessung ................................................................................................................... 10

Daneben gibt es andere soziale Problemstellungen, um die sich der Rechtsstaat kümmern muss: Wenn eine Person den sozialen Frieden stört, indem sie Straftaten begeht, muss im Strafrecht festgelegt werden, mit welchen Sanktionen die betreffende Person belegt wird.

Aufgaben 1 2 3 4

Was sagt das Strafgesetzbuch? ............................................................................................ 12 Welche Strafe halten Sie für angebracht? ............................................................................ 14 Ist «Strafbarkeit» gegeben? ................................................................................................. 16 Was ist das richtige Strafmass? ............................................................................................ 18

Ausgabe für Lehrpersonen Brennpunkt Wirtschaft und Gesellschaft – Zusatzkapitel 1. Auflage 2017 / © STR teachware Diese Broschüre ist urheberrechtlich geschützt. Ohne Genehmigung der Autoren ist es nicht gestattet, die Broschüre oder Teile daraus in irgendeiner Form zu reproduzieren. Bestellung über: https://brennpunkt-wug.abacuscity.ch/de/home © STR teachware

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Beispiel zum Strafrecht: Verkehrsunfall Die fünfköpfige Familie A. ist auf dem Nachhauseweg von einem Veloausflug, als ein Automobilist wegen übersetzter Geschwindigkeit sein Fahrzeug nicht mehr unter Kontrolle halten kann. Ausgangs des Dorfes W. kommt der Wagen von Marco L. ins Schleudern, gerät auf die Gegenfahrbahn und erfasst frontal die korrekt auf dem Radstreifen fahrende Gruppe von Velofahrern. Der Vater wird schwer verletzt und wird vermutlich querschnittgelähmt bleiben. Die 10-jährige Tochter erliegt ihren schweren Verletzungen noch auf dem Weg ins Spital, die Mutter sowie der 8½-jährige Sohn liegen in besorgniserregendem Zustand im Spital, einzig die auf dem Kindersitz des Vaters mitfahrende jüngste Tochter kommt wie durch ein Wunder mit leichten Schürfungen davon. Abb. 1: Junger Automobilist verursacht einen tragischen Verkehrsunfall

n Der Staat ahndet Straftaten Für viele Leute liefern Straftaten wie dieses Beispiel die Hauptbegründung für vom Staat erlassene rechtliche Regelungen, für das Recht schlechthin. Bei einem Zivilrechtsverfahren («Zivilprozess») geht es «lediglich» um einen Streit zwischen zwei Privatpersonen, bei dem zur Schlichtung ein neutrales Gericht angerufen werden kann, beispielsweise um die Interpretation von Lieferbedingungen in einem Kaufvertrag zu beurteilen. Strafrechtsfälle beinhalten dagegen vom sozialen System nicht tolerierte Verletzungen von gesellschaftlichen Werten. Die Rechtsordnung des Staates muss die einzelnen Mitglieder der Gesellschaft vor Verletzungen von grundlegenden Werten schützen und die Täter bestrafen.

Die Justiz hat im geschilderten Unfall den Streit zwischen der betroffenen Familie A. und dem Verursacher Marco L. zu beurteilen. Nach unseren Auffassungen des gesellschaftlichen Zusammenlebens dürfen Verletzungen wichtiger Rechtsgüter, wie Vergehen gegen die körperliche Integrität durch Körperverletzung, Mord und Totschlag oder Vergewaltigung, aber auch Vermögensverletzung wie Raub oder Diebstahl, nicht willkürlich beurteilt werden.

n Grundsätze im Strafgesetzbuch Die Grundsätze des Strafrechts sind im Schweizerischen Strafgesetzbuch (StGB) festgelegt. Dieses Gesetz enthält in einem ersten, allgemeinen Teil Grundlagen, die für jeden Straffall gelten, auch für solche Handlungen, die nicht im StGB, sondern in anderen Bundesgesetzen geregelt werden. Im zweiten Teil des StGB werden die einzelnen strafbaren Handlungen explizit aufgeführt.

n Weitere strafbare Handlungen im Nebenstrafrecht Neben dem StGB enthalten auch weitere Gesetze (als «Nebenstrafrecht» bezeichnet) Rechtsnormen, die für ein bestimmtes menschliches Verhalten Strafen vorsehen. So kommt beispielsweise für unser einleitendes Beispiel das Strassenverkehrsgesetz (SVG) zur Anwendung. Menschen, die durch den Konsum von Haschisch oder anderen Drogen straffällig werden, verstossen gegen das Betäubungsmittelgesetz (BMG). Die Anstellung eines ausländischen Pizzaiolos in einem Restaurant betrifft juristisch nicht nur das Arbeitsrecht, sondern erfüllt, falls keine Arbeitsbewilligung für Ausländer vorliegt, auch einen Straftatbestand aus dem Ausländergesetz (ANAG). Ferner enthalten auch viele Bestimmungen des Umweltrechts Straftatbestände. Es ist einleuchtend, dass es nicht genügen kann, wenn der Staat im Gewässerschutzgesetz (GSchG) den Grundsatz aufstellt, die Gewässer vor nachhaltigen Einwirkungen zu schützen. Regeln zum Schutz der Umwelt können nur dann durchgesetzt werden, wenn Verstösse dagegen auch bestraft werden.


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Voraussetzungen für die Strafbarkeit einer Handlung

Damit eine Tätigkeit zu einer strafbaren Handlung wird (die Juristen sprechen von einem «Delikt»), müssen verschiedene Voraussetzungen erfüllt sein.

a)

Legalitätsprinzip

Eine erste Voraussetzung beinhaltet das so genannte Legalitätsprinzip, das im ersten Artikel des Strafgesetzbuches festgehalten ist: «Eine Strafe oder Massnahme darf nur wegen einer Tat verhängt werden, die das Gesetz ausdrücklich unter Strafe stellt.» Ein Verhalten muss danach durch einen Gesetzesartikel als strafbar erklärt sein. Genau diese Aufzählung von strafbaren Handlungen enthält der zweite Teil des Strafgesetzbuches. Die Marginalien zu den Artikeln 111ff. StGB lesen sich denn auch wie eine Anleitung zu einem Kriminalroman: Mord und Totschlag, schwere Körperverletzung, Veruntreuung, Diebstahl, Raub, Betrug, Freiheitsberaubung und Entführung, Vergewaltigung, Geld- oder Urkundenfälschung sind nur einige Beispiele daraus. Die folgende Abbildung 2 mit den Kapitelüberschriften des zweiten Teils des Strafgesetzbuches vermittelt eine Übersicht über mögliche Straftatbestände. • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • •

Strafbare Handlungen gegen Leib und Leben Strafbare Handlungen gegen das Vermögen Strafbare Handlungen gegen die Ehre und den Geheim- oder Privatbereich Verbrechen und Vergehen gegen die Freiheit Strafbare Handlungen gegen die sexuelle Integrität Verbrechen und Vergehen gegen die Familie Gemeingefährliche Verbrechen und Vergehen Verbrechen und Vergehen gegen die öffentliche Gesundheit Verbrechen und Vergehen gegen den öffentlichen Verkehr Fälschung von Geld, amtlichen Wertzeichen, amtlichen Zeichen, Mass und Gewicht Urkundenfälschung Verbrechen und Vergehen gegen den öffentlichen Frieden Straftaten gegen die Interessen der Völkergemeinschaft Verbrechen und Vergehen gegen den Staat und die Landesverteidigung Vergehen gegen den Volkswillen Strafbare Handlungen gegen die öffentliche Gewalt Störung der Beziehungen zum Ausland Verbrechen und Vergehen gegen die Rechtspflege Strafbare Handlungen gegen die Amts- und Berufspflicht Bestechung Übertretungen bundesrechtlicher Bestimmungen

Abb. 2: Straftatbestände aus dem Strafgesetzbuch (StGB)

b)

Rechtswidrigkeit

Als zweite Voraussetzung für die Strafbarkeit einer Handlung ist zu prüfen, ob der Täter oder die Täterin in einem bestimmten Fall «rechtswidrig» handelte; nur unter der Voraussetzung der Rechtswidrigkeit wird nämlich eine Handlung zu einem Delikt.

n Notwehr und Notstand Spontan wird man zwar sagen, dass eine Straftat wie Mord oder Totschlag grundsätzlich immer rechtswidrig sei. Wenn eine angegriffene Person aber aus Notwehr einen Angreifer verletzt, so ist die Rechtswidrigkeit nicht gegeben. Gemäss Art. 15 StGB ist eine angegriffene Person ausdrücklich berechtigt, den Angriff in «einer den Umständen angemessenen Weise» abzuwehren. Eine Frau, die sich gegen eine drohende Vergewaltigung wehren kann, indem sie durch heftige Gegenwehr mit einem harten Gegenstand das Auge ihres Peinigers verletzt, begeht demzufolge keine strafbare Handlung. Ebenfalls keine strafbare Handlung begeht diejenige Person, die für eine bestimmte Tat einen Notstand geltend machen kann. Wenn D. Schmid unbefugt in den Keller der Liegenschaft seiner Nachbarin eindringt (die momentan ortsabwesend ist), um drohende Wasserschäden infolge einer Überschwemmung zu verhindern, so wird er sich im Falle eines Streites auf Notstand berufen können und deshalb den Straftatbestand des Hausfriedensbruchs nicht erfüllen. Die Überprüfung einer strafbaren Handlung auf Rechtswidrigkeit bedeutet folglich, dass eine Tat nur dann strafbar ist, wenn die Handlung weder aus Notwehr noch im Notstand erfolgte.

c)

Verschulden: Vorsatz oder Fahrlässigkeit

Als dritte Voraussetzung für die Strafbarkeit einer Handlung ist das Verschulden zu überprüfen. Bestraft werden kann nur, wer für sein Verhalten eine Schuld trägt. Im Strafgesetzbuch wird für das Verschulden zwischen Vorsatz und Fahrlässigkeit unterschieden. Während beim Vorsatz ein «Verbrechen oder Vergehen mit Wissen und Willen» ausgeführt wird, handelt ein Täter dann fahrlässig, wenn er «die Folgen seines Verhaltens aus pflichtwidriger Unvorsichtigkeit» nicht berücksichtigt hat. In unserem Eingangsbeispiel kann davon ausgegangen werden, dass Marco L. den Unfall nicht vorsätzlich verursacht hat. Die Tatsache, dass er mit übersetzter Geschwindigkeit in die Kurve raste, macht ihn aber trotzdem schuldig, sein Verhalten war fahrlässig. Man würde in diesem Fall sehr wahrscheinlich von grober Fahrlässigkeit ausgehen; eine solche ist dann gegeben, wenn wir den Satz «so etwas darf nicht passieren» anwenden können. Falls gilt, «so etwas kann passieren», sprechen wir von leichter Fahrlässigkeit.


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n Schuldfähigkeit Unter dem Aspekt des Verschuldens ist ferner auch die Schuldfähigkeit zu überprüfen. So ist beispielsweise jemand nicht strafbar, der wegen Geisteskrankheit, Schwachsinn oder Bewusstseinsstörungen zur Zeit der Tat das Unrecht einer Handlung nicht einzusehen vermag. Für Jugendliche zwischen dem 10. und dem 18. Altersjahr gelten die besonderen Bestimmungen des Jugendstrafgesetzes (JStG). Darin gilt der Grundsatz «Erziehung kommt vor Strafe», und entsprechend werden Jugendliche nicht im Sinne des StGB bestraft, sondern es werden mehrheitlich erzieherische Massnahmen ausgesprochen, um damit die Jugendlichen wieder auf den «rechten Weg» zu bringen. Kinder unter 10 Jahren sind grundsätzlich nicht strafmündig. In solchen Fällen werden die Eltern von den zuständigen Stellen informiert und eventuell vormundschaftliche Massnahmen in die Wege geleitet.

d)

Offizial- oder Antragsdelikt?

Sind die drei oben beschriebenen Voraussetzungen für die Strafbarkeit einer Handlung – das Legalitätsprinzip, die Rechtswidrigkeit und das Verschulden – erfüllt, so ist die Strafbarkeit immer noch nicht in jedem Fall gegeben. Der Staat wird nämlich nur bei schweren Verbrechen von sich aus aktiv; wir sprechen dort, wo der Staat auch ohne den Willen des Opfers aktiv wird, von Offizialdelikten. Geringfügige Delikte wie beispielsweise Sachbeschädigungen werden nur dann geahndet, wenn das Opfer dies auch beantragt, entsprechend heissen solche Tatbestände Antragsdelikte.

e)

2 Zweck einer Bestrafung Der Zweck der Bestrafung einer Tat liegt einmal in der Vergeltung (oder Sühne) eines verübten Unrechts. Die Strafe soll einen gerechten Schuldausgleich bewirken. Aus dieser Begründung leitet sich der Grundsatz des Verschuldensstrafrechts ab. Ferner soll im individuellen Fall ein überführter Täter durch die abschreckende (präventive) Wirkung einer Strafmassnahme von weiteren Straftaten abgehalten werden (Spezialprävention). Die präventive Wirkung kann sich aber nicht nur auf einen individuellen Fall, sondern auf die Allgemeinheit ganz generell beziehen. Wenn eine in Aussicht stehende Bestrafung für eine Tat (zum Beispiel das Wissen, dass eine Geschwindigkeitsübertretung von 18 km/h innerorts mit einer Busse von 400 Franken bestraft wird) einen Dritten von dieser Tat abhält, sprechen wir von der «Generalprävention» einer Strafe. Diese allgemeine abschreckende Wirkung darf allerdings nicht überschätzt werden. Potenzielle Täter (in unserem Beispiel die Raser) ziehen in aller Regel bei Übertretungen nicht so sehr die abschreckende Wirkung einer möglichen Bestrafung, sondern vielmehr die Wahrscheinlichkeit einer Überführung, d.h. die Wahrscheinlichkeit des Erwischtwerdens in Betracht.

Tat noch nicht verjährt?

Schliesslich muss noch eine allerletzte Voraussetzung erfüllt sein, damit ein menschliches Verhalten bestraft wird: die Verfolgung einer Tat darf nicht verjährt sein. Schwerwiegende strafbare Taten, die mit lebenslänglichen Freiheitsstrafen bestraft werden, zum Beispiel ein skrupelloser Mord, verjähren nach 30 Jahren. Für andere, weniger schwerwiegende Taten gelten Fristen von 15 oder 7 Jahren. Abb. 3: Für die Stiftung RoadCross sind repressive und präventive Massnahmen dringend nötig: «Sonst ist der Tod zahlreicher junger Menschen programmiert.»


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Mögliche Sanktionen

Im Strafrecht gibt es zwei grundsätzliche Arten von Sanktionen, Strafen und Massnahmen: n

Strafen Dazu zählen Geldstrafen, die Leistung von gemeinnütziger Arbeit, zum Beispiel in einem Alters- oder Pflegeheim, oder die Verbüssung einer Freiheitsstrafe. Die drei Strafen lassen sich auch miteinander verbinden.

n

Massnahmen Darunter fallen therapeutische Massnahmen wie beispielsweise die stationäre Behandlung eines Drogenabhängigen. Der damit verbundene Freiheitsentzug beträgt in der Regel höchstens drei Jahre. Bei schweren Verbrechen und wenn aufgrund der Persönlichkeitsmerkmale des Täters ernsthaft zu erwarten ist, dass der Täter weitere Taten dieser Art begeht, ordnet das Gericht eine Verwahrung an, durch welche die Öffentlichkeit vor gefährlichen Wiederholungstätern geschützt werden soll. Für diese «Bestrafung» ist im Gesetz keine Maximaldauer vorgesehen.

n Bei Übertretungen: Bussen Eine Busse als Geldstrafe ist die mildeste Sanktion im Strafrecht. Sie wird bei geringfügigen Vergehen, so genannten Übertretungen, ausgesprochen. Das kann beispielsweise eine Tätlichkeit sein, die keine Schädigung des Körpers oder der Gesundheit zur Folge hat. Eine Busse kann höchstens 10 000 Franken betragen. Sie wird vom Gericht nach den persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen (Einkommen, Vermögen, Familienverhältnisse usw.) des Täters derart festgelegt, dass die Strafe seinem Verschulden angemessen ist und er durch die Vermögenseinbusse auch tatsächlich bestraft wird. Anstelle einer ausgesprochenen Busse kann die Richterin oder der Richter – allerdings nur mit Zustimmung des Täters – gemeinnützige Arbeit bis zu 360 Stunden anordnen.

n Bei Vergehen: Geldstrafen und Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren Freiheits- oder Geldstrafen werden nach der Schwere des Deliktes abgestuft. Als Vergehen werden Straftaten wie beispielsweise eine einfache Körperverletzung bezeichnet, für die das Gesetz eine Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren (oder eine Geldstrafe) vorsieht. Freiheitsstrafen betragen in der Regel mindestens sechs Monate. Im heute geltenden Strafrecht treten allerdings anstelle der früher üblichen, eher kurzen Freiheitsstrafen vermehrt nicht freiheitsentziehende Geldstrafen.

Geldstrafen werden in Tagessätzen von 1 bis 360 Tagessätzen ausgesprochen, wobei die Anzahl der Tagessätze vom Gericht nach dem Verschulden des Täters festgelegt wird. Bei der Festsetzung der Höhe der Tagessätze berücksichtigt das Gericht die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse des Täters. Als Minimum empfehlen die Schweizer Strafbehörden 30 Franken pro Tag; die Höchstgrenze beträgt gemäss Gesetz 3'000 Franken. Weil maximal 360 Tagessätze möglich sind, beträgt die maximale Geldstrafe 1,08 Millionen Franken. Solche Geldstrafen können auch bedingt ausgesprochen werden. Falls ein Verurteilter eine Geldstrafe nicht bezahlt, tritt an deren Stelle eine Freiheitsstrafe: Ein Tagessatz entspricht dabei einem Tag Freiheitsstrafe.

n Bei Verbrechen: Freiheitsstrafe über drei Jahre Verbrechen sind schwerwiegendere Taten, bei denen Freiheitsstrafen von über drei Jahren gelten. Die Höchstdauer beträgt 20 Jahre; in ausdrücklich aufgezählten Fällen, beispielsweise bei einem besonders skrupellosen Mord, dauert sie lebenslänglich.

n Abstufung im Strafvollzug: «bedingt», «teilbedingt» oder «unbedingt» Eine besondere Form der Bestrafung ist der bedingte Strafvollzug. Bei Verurteilung zu einer Geldstrafe, zur Leistung von gemeinnütziger Arbeit oder zu einer Freiheitsstrafe von mindestens sechs Monaten und höchstens zwei Jahren kann das Gericht den Vollzug aufschieben. Ein Verurteilter erhält dadurch die Chance, eine Strafe nicht antreten zu müssen, falls er während einer Probezeit von zwei bis fünf Jahren keine weiteren strafbaren Handlungen begeht. Wird der Verurteilte allerdings während der Probezeit wieder straffällig, so muss er die Strafe antreten. Ein bedingter Strafvollzug wird vom Gericht nur unter bestimmten Voraussetzungen ausgesprochen. So dürfen in den letzten fünf Jahren keine schwer wiegenden Vorstrafen vorliegen, und dem Verurteilten muss aufgrund von Vorleben und Charakter ein gutes «Zeugnis» ausgestellt werden können. Neben dem bedingten Strafvollzug gibt es seit 2007 neu auch den teilbedingten Strafvollzug. Dabei kann eine Richterin den Vollzug einer Geldstrafe, von gemeinnütziger Arbeit oder einer Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr und höchstens drei Jahren nur teilweise aufschieben. Dies heisst, dass ein Teil der Strafe bedingt, der andere Teil unbedingt vollzogen wird, beispielsweise 280 Tagessätze zu je 50 Franken, davon 140 bedingt mit einer Probezeit.


n Vollzugsanstalten Ausgesprochene Freiheitsstrafen müssen in Straf- oder Vollzugsanstalten verbüsst werden. Es gibt besondere Anstalten für Erstmalige, die ihre Strafe in so genannten offenen oder halboffenen Anstalten absitzen können. Eine Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu einem Jahr kann in Form der Halbgefangenschaft vollzogen werden, wenn nicht zu befürchten ist, dass der Gefangene flieht oder weitere Straftaten begeht. Die Vollzugsform der Halbgefangenschaft wurde geschaffen, um den verurteilten Personen den Verbleib in ihrem beruflichen und sozialen Umfeld zu ermöglichen. Tagsüber kann der gewohnten Arbeit nachgegangen werden, während die Freizeit, d.h. die Abende, Nächte, Wochenenden und Feiertage in der Vollzugseinrichtung zu verbringen sind.

Abb. 4: Die Freiheitsstrafe und ihre Zukunft in der Schweiz. Waren zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch rund 80 % aller Sanktionen unbedingte Freiheitsstrafen, so sind es heute, bei nahezu 100'000 Verurteilungen von Erwachsenen, noch 15 %.

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Strafzumessung

Die allgemeine Regel aus dem Strafrecht lautet gemäss Art. 47 StGB: «Das Gericht misst die Strafe nach dem Verschulden des Täters zu. Es berücksichtigt das Vorleben und die persönlichen Verhältnisse sowie die Wirkung der Strafe auf das Leben des Täters.»

n Verschulden, Bewegründe, Vorleben und persönliche Verhältnisse Das Gericht kann für eine Strafzumessung nie schematisch vorgehen, sondern es muss in jedem individuellen Fall die vier Elemente Verschulden, Beweggründe, Vorleben und persönliche Verhältnisse eines Täters oder einer Täterin berücksichtigen. So wirken sich beispielsweise achtenswerte Beweggründe oder aufrichtige Reue strafmildernd, kurz zurückliegende frühere Straftaten jedoch strafverschärfend aus.

n Verschuldens- oder Erfolgsstrafrecht? Die Gesamtbeurteilung einer Tat bzw. des oder der Angeklagten ist Ausfluss des geltenden Verschuldensstrafrechts, wonach eine Person entsprechend ihrem individuellen Verschulden beurteilt wird. Massgebend für die Bestrafung ist das subjektive Verschulden des Täters oder der Täterin. Stark vereinfacht gesagt, werden gemäss Verschuldensstrafrecht zwei Fälle mit einer Geschwindigkeitsübertretung von 40 km/h genau gleich bestraft. Der Gegensatz dazu bildet das so genannte Erfolgsstrafrecht. Nach diesem Ansatz werden für die Bestrafung eines Deliktes vor allem die Folgen (oder mit andern Worten eben «der Erfolg») einer Tat beurteilt. Wenn der eine Fall der Geschwindigkeitsübertretung lediglich zu einem Blechschaden führte, während im andern Fall zusätzlich Verletzte oder Tote zu beklagen sind, so würden diese (vom Verschulden her gleich gelagerten) Fälle nach dem Erfolgsstrafrecht unterschiedlich beurteilt und die Täter oder Täterinnen entsprechend unterschiedlich bestraft. In der Öffentlichkeit werden Urteile in Strafprozessen – gerade mit Bezug auf den angerichteten Schaden, also aus Sicht des Erfolgsstrafrechts – oft als zu milde angesehen. Wenn der Verursacher des Verkehrsunfalls aus unserem Einführungsbeispiel, der Automobilist Marco L., beispielsweise zu einer bedingten Freiheitsstrafe von 10 Monaten und einer Busse von 1'000 Franken verurteilt wird, so kann man dies angesichts des Leides für die betroffene Familie als zu milde betrachten. Aus juristischer Sicht muss argumentiert werden, dass es sich bei «10 Monaten» keineswegs um ein mildes Urteil handelt, und dass das Gericht in seiner Strafzumessung eine Gesamtbeurteilung aus den Elementen Verschulden, Beweggründe, Vorleben und den persönlichen Verhältnissen vorzunehmen hat und auch die geltende Gerichtspraxis in seine Überlegungen mit einbezieht.

Neben der Strafe muss Marco L. der Familie A. selbstverständlich auch den entstandenen finanziellen Schaden (Arbeitsunfähigkeit der Eltern, Schmerzensgeld usw.) ersetzen. Dies wird aber im Rahmen eines Zivilprozesses (vgl. Abschnitt 5.2.1) festgelegt. Der Schaden wird von der Motorfahrzeughaftpflichtversicherung von Marco L. übernommen. Falls das Gericht das Verhalten von Marco L. als «Grobfahrlässigkeit» qualifiziert, wird allerdings die Versicherungsgesellschaft Regress auf Marco L. nehmen, d.h. sie wird zwar die Ansprüche der Familie A. vergüten, einen Teil dieser Vergütung aber von Marco L. zurückfordern. Schliesslich erwachsen Marco L. sehr wahrscheinlich weitere negative Folgen durch seine Verurteilung: sei dies eine gewisse gesellschaftliche Ächtung, ein allfälliger Arbeitsplatzverlust oder Konsequenzen durch den Strafregistereintrag, der sich bei Stellenbewerbungen oder Bewerbungen für eine Mietwohnung als nachteilig erweisen kann.


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Aufgabe 1

Was sagt das Strafgesetzbuch?

Sachverhalt: Herr Fink reinigt die Fenster seiner Wohnung im 18. Stock. Dabei rutscht ihm der volle Wassereimer vom Fenstersims und tötet ein Kind auf dem darunterliegenden Spielplatz.

Nehmen wir an, Sie müssten als Richter bzw. Richterin diesen Sachverhalt entscheiden: a)

Wie sähe Ihr Urteil aus, wenn Sie die geltenden Rechtsvorschriften nicht berücksichtigen müssten?

b)

Formulieren Sie einen Rechtssatz, der aus Ihrer Sicht für diesen Sachverhalt gerecht wäre.

c)

Im Strafgesetzbuch sind verschiedene strafbare Handlungen gegen Leib und Leben aufgeführt. Lesen Sie dazu die Art. 111, 112, 113 und 117 StGB, und entscheiden Sie, welcher Artikel für diesen Sachverhalt angewandt werden muss. Wie hoch wäre die maximale Strafe für diesen Sachverhalt?

d)

Vergleichen Sie Ihren Rechtssatz mit den Formulierungen im Strafgesetzbuch. Inwiefern unterscheiden sich die Formulierungen voneinander?

a) Individuelle Antworten

b) Individuelle Antworten (Vergleich mit Strafgesetzbuch)


c) Mögliche Rechtssätze bestimmen und analysieren

Art. 113 StGB: Totschlag

(Woraus leiten sich welche Ansprüche ab?)

9

Tötung eines Menschen

Freiheitstrafe von

9

Handlung in einer den Um-

1 bis zu 10 Jahren

Tatbestandsmerkmale

Abstrakte Rechtsfolge

ständen nach entschuldbaren heftigen Gemütsbewegung

Art. 111 StGB: Vorsätzliche Tötung

oder grosse seelische

9

Tötung eines Menschen

Freiheitsstrafe nicht

9

Vorsätzlich

unter fünf Jahren

(d.h. «mit Wissen und Willen»)

Belastung

Art. 117 StGB: Fahrlässig Tötung

Art. 112 StGB: Mord

9

Tötung eines Menschen

Freiheitstrafe

9

fahrlässig

bis zu 3 Jahren

9

Tötung eines Menschen

Lebenslängliche Freiheits-

(d.h. «die Folgen seines Verhaltens

9

Handlung besonders

strafe oder Freiheitsstrafe

aus pflichtwidriger Unvorsichtigkeit

nicht unter 10 Jahren

nicht berücksichtig»)

skrupellos 9

Beweggrund, Zeck der Tat

9

Oder Art der Ausführung besonders verwerflich

Höchststrafe:

oder Geldstrafe

3 Jahre Freiheitstrafe oder Geldstrafe, max. 360 Tagessätze zu max. CHF 3'000.– = CHF 1'080'00.–

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Aufgabe 2

Welche Strafe halten Sie für angebracht?

Sachverhalt: «Ich ahnte, dass jetzt etwas Schlimmes passiert», erinnert sich die 32-jährige Katja F. vor dem Bezirksgericht. Ihr Ex-Ehemann Matthias F. (die beiden wurden nach fünfjähriger Ehe vor 1½ Jahren geschieden) konnte es nicht verkraften, dass die Frau ein Verhältnis mit seinem Arbeitskollegen hatte. Als der Geschiedene zwischen den Lamellenstoren der Wohnung seiner früheren Frau seinen Kollegen erblickte, wollte er ihn – laut Verteidigung – zur Rede stellen und ihm höchstens zwei Faustschläge verabreichen. Der Angeklagte, ein kräftiger Bauarbeiter, drosch jedoch derart mit Fäusten und Füssen auf sein Opfer ein, selbst als dieses schon regungslos am Boden lag, dass der Arbeitskollege mit schwersten Verletzungen ins Spital eingeliefert werden musste. Der Freund der geschiedenen Frau ist heute aufgrund der erlittenen Verletzungen an Kopf und Rücken nur noch zu 50% arbeitsfähig.

a)

Wie beurteilen Sie die Tat des Ex-Ehemannes?

b) Welche Strafe würden Sie für angebracht halten? Suchen Sie nach Kriterien, die für die Bestrafung massgebend sein könnten.

c)

a) Individuelle Antworten

Welcher StGB-Artikel kommt zur Anwendung, und mit welcher Strafe muss der Täter rechnen?

d) Unter welchen Voraussetzungen könnte die Strafe bedingt ausgesprochen werden?

b) Individuelle Antworten (Vergleich mit Strafgesetzbuch)

Mögliche Kriterien: Verschulden (Verschuldensstrafrecht) oder Auswirkungen, Folgen einer Tat (Erfolgsstrafrecht)


c) Schwere Körperverletzung, Art. 122 StGB:

Freiheitsstrafe bis zu 10 Jahren oder Geldstrafe nicht

Im konkreten Fall führte der Staatanwalt aus, es gehe nicht

unter 180 Tagessätzen

an, der geschiedenen Frau Weisungen zu erteilen, wie sie ihr Leben nach der Scheidung zu führen habe. Der Staatsanwalt beantragte eine Freiheitsstrafe zwischen 5 1/2 und 6 Jahren, während die Verteidigung auf «18 Monate bedingt» plädierte (weil es dem Täter am Vorsatz gefehlt habe).

d) Voraussetzungen für bedingte Strafe

Das Gericht verurteilte den Täter zu einer Freiheitsstrafe

(Art. 42 Abs. 1 StGB)

von 6 Jahren Zuchthaus, dem Opfer wurde eine

... wenn eine unbedingte Strafe nicht notwendig

Genugtuung von 100’ 000 CHF zugesprochen.

erscheint, um den Täter von der Begehung weiterer Verbrechen oder Vergehen abzuhalten

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Aufgabe 3

Ist «Strafbarkeit» gegeben?

Damit eine Tätlichkeit zu einer strafbaren Handlung wird, müssen die folgenden Voraussetzungen erfüllt sein:

Überprüfen Sie mit Hilfe der StGB-Artikel, ob für den hier beschriebenen Fall die Voraussetzungen für die Strafbarkeit gegeben sind.

I.

Sachverhalt:

Tatbestandsmässigkeit

Legalitätsprinzip gemäss Art. 1 StGB): „Strafbar ist nur, wer eine Tat begeht, die das Gesetz ausdrücklich mit Strafe bedroht.“

II. Rechtswidrigkeit Handlung nicht aus Notwehr bzw. aus einem Notstand heraus.

III. Verschulden Liegt Vorsatz oder Fahrlässigkeit vor? Ist der Täter, die Täterin schuldfähig?

IV. Strafverfolgung Geschieht dies von Amtes wegen oder auf Antrag des Geschädigten?

V. Verjährung Ist eine Verjährungsfrist für das vorliegende Delikt vorgesehen?

Als der Ex-Ehemann, Matthias F., die Wohnung seiner geschiedenen Frau betritt, flüchtet ihr Freund, Beda K., ins Schlafzimmer. Matthias F. schlägt die Schlafzimmertüre ein und bedroht seinen vermeintlichen Widersacher nicht mit blossen Fäusten, sondern mit einem Stellmesser. Als sich der Angreifer auf Beda K. stürzen will, zieht dieser unvermittelt eine Gaspistole und gibt aus nächster Nähe einen Schuss in das Gesicht von Matthias F. ab. Dieser bricht mit einem Schrei zusammen, worauf Beda K. nochmals zwei Schüsse in Richtung Gesicht des Angreifers abgibt. Matthias F. muss aufgrund ernsthafter Verletzungen im Gesicht für zwei Wochen ins Spital eingeliefert werden.


9

Tatbestandsmässigkeit gegeben:

9

Vorsätzlichkeit gegeben:

Art. 122 StGB: Schwere Körperverletzung

Beda K. zielt bewusst mit der Gaspistole auf Matthias F.

Analog wie in Sachverhalt 1 a), hier jedoch nicht der

er will sich wehren. Täter dürfte schuldfähig sein.

Ex-Mann, sondern der Freund.

Keine Hinweise auf Unzurechnungsfähigkeit gemäss Art. 10 und 11 StGB.

9

Rechtswidrigkeit sehr wahrscheinlich nicht gegeben, weil Handlung in Notwehr, Art. 33 StGB

9

Bezirksgericht verneint, Kantonsgericht bejaht

Offizialdelikt: weil in Art. 122 StGB der Hinweis «auf Antrag» fehlt.

Notwehr, Bundesgericht anerkennt Notwehr für den ersten Schuss, zweiter und dritter Schuss überflüssig;

9

Verjährung:

weil jedoch nicht bewiesen ist, dass der zweite und

Vgl. Art. 97 StGB, Frist beträgt hier 10 Jahre, weil die

dritte Schuss die Verletzung von Matthias F.

Tat mit Gefängnis von mehr als drei Jahren oder mit

verschlimmerte, gilt der Grundsatz

Zuchthaus bedroht wird.

«im Zweifel für den Angeklagten. Zusammenfassend: Kein Delikt, weil Handlung aus Notwehr

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Aufgabe 4

Was ist das richtige Strafmass?

Sachverhalt: Ein angetrunkener, zu schnell fahrender Automobilist kommt auf einer Autostrasse zwischen zwei Dörfern ins Schleudern und fährt in eine fünfköpfige Familie hinein, die sich auf einer Velotour befindet. Eines der Kinder stirbt, der Vater wird lebensgefährlich verletzt und ist seither querschnittgelähmt. Das Bezirksgericht findet den Autofahrer der fahrlässigen Tötung sowie der fahrlässigen schweren Körperverletzung für schuldig und verurteilt ihn zu einer bedingten Gefängnisstrafe von zehn Monaten und einer Busse von 1'000 Franken (zuzüglich der amtlichen Kosten). Ergebnis dieses Urteils sind emotionale Reaktionen in den Leserbriefspalten der Regionalpresse mit Überschriften wie «Skandalurteil» oder «Lächerliches Strafmass». Die Justiz (Bezirksgerichtspräsident Christoph Keller und der zuständige Staatsanwalt André Zürcher) reagiert in einem Gespräch mit der regionalen Presse wie folgt: Das Urteil ist aus Sicht von André Zürcher durchaus schuldangemessen. Der Staatsanwalt sieht deshalb keinen Grund, das Urteil des Bezirksgerichts an das Kantonsgericht weiterzuziehen – ein Recht übrigens, das gemäss kantonaler Strafprozessordnung der betroffenen Familie nicht zustehen würde. Der Bezirksgerichtspräsident ist überrascht von den Reaktionen Unbeteiligter. Im Interview führt Keller aus: «Die schwierigste Frage für uns Richter ist doch jene nach der Angemessenheit der Strafe: Was können wir dem Angeklagten konkret vorwerfen? In unserem Fall fuhr der Mann angetrunken mit 0,89 Promille und einer Geschwindigkeit von 110 km/h, gerät ins Schleudern und rast in eine Velofahrergruppe. Das Gericht muss jetzt das Fehlverhalten einer Person beurteilen, einen Vorfall, der nur wenige Sekunden gedauert hat. Auf die Folgen des Fehlverhaltens stellt sowohl das Gesetz als auch ein Gericht als Anwender dieses Gesetzes nur beschränkt ab.» Dies sei ein Ausfluss des Wechsels vom Erfolgsstrafrecht zum Schuldstrafrecht, sagt Keller. Danach wird nicht primär auf das Opfer, sondern auf den Täter geschaut. Christoph Keller glaubt übrigens nicht, dass hohe Strafen generalpräventiv wirken, d.h. geeignet sind, Übertretungen zu verhindern. «Einem Delinquenten geht es in erster Linie darum, nicht erwischt zu werden.» Ein Urteil von zehn Monaten Gefängnis ist zudem, gemäss den Ausführungen von Keller, kein mildes Urteil, auch wenn es bedingt ausgesprochen worden ist. Eine bedingte Strafe sei nämlich die herausragendste Möglichkeit, spezialpräventiv zu wirken, d.h. einen bestimmten Delinquenten hinsichtlich seines künftigen Verhaltens zu beeinflussen. Abschliessend nimmt der Bezirksgerichtspräsident zu dem in vielen Leserbriefen geforderten Führerscheinentzug Stellung: «Der Führerscheinentzug ist nicht Sache des Gerichtes», stellt er klar. «Ein ‹Billett-Entzug› wird zwar von den Betroffenen durchaus als Strafe empfunden, aus rechtlicher Sicht handelt es sich dabei in unserem Kanton jedoch um eine Administrativmassnahme, für die das kantonale Strassenverkehrsamt und nicht das Bezirksgericht zuständig ist.»

Lösen Sie die nachstehenden Fragen zu diesen Ausführungen.

a)

Wie beurteilen Sie das Strafmass gemäss Ihrem persönlichen Empfinden?

b) Wie ist das Strafmass aufgrund der massgebenden StGB-Artikel zu beurteilen? c)

Wie wäre der Täter unter einem Erfolgsstrafrecht bestraft worden?

d) Suchen Sie nach Gründen, weshalb eine Bestrafung nach den Grundsätzen des Schuldstrafrechts als gerechter angesehen wird.

e)

Welches ist gemäss den Ausführungen des Bezirksgerichtspräsidenten der Unterschied zwischen der general- und der spezialpräventiven Wirkung einer Strafe?

f)

Wie beurteilen Sie persönlich die beiden unter e) genannten Wirkungen einer Strafe?

a) Individuelle Antworten Sehr wahrscheinlich wird das Urteil als «zu milde» empfunden.


b) Fahrlässige Tötung, Art. 117 StGB:

e) Generalpräventive Wirkung: Wirkung einer Strafe auf

Gefängnis oder Busse.

die Allgemeinheit. Aufgrund der Bestrafung in einem

Fahrlässige schwere Körperverletzung, Art. 125 StGB:

konkreten Fall hält sich die Allgemeinheit an eine

Gefängnis oder Busse.

Rechtsnorm, um nicht dieselbe Bestrafung zu erleiden.

Mit 10 Monaten Gefängnis bewegt sich das Gericht in

Spezialpräventive Wirkung: Wirkung einer Strafe auf

der Nähe der unteren Grenze des möglichen

das künftige Verhalten des betreffenden Delinquenten.

Strafmasses.

Weil jemand wegen Fahrens in angetrunkenem Zu-

Bedingter Strafvollzug (Art. 41 StGB) möglich bei

stand bestraft wurde, wird die betreffende Person ins-

Freiheitsstrafen von nicht mehr als 18 Monaten;

künftig nicht mehr in alkoholisiertem Zustand fahren.

Beurteilung von Vorleben und Charakter des Verurteilten.

f) Individuelle Antworten Generalpräventive Wirkung ist eher gering (angesichts der vielen FiaZ-Fälle (FiaZ, Fahren im angetrunkenen Zustand).

c) Sehr wahrscheinlich härter, wegen der Folgen der Tat (eine Person tot, eine Person querschnittgelähmt).

Spezialpräventive Wirkung dürfte etwas höher sein: Während der Probezeit darf sich ein Delinquent in keinem Fall nochmals strafbar machen, sonst muss er

d) Beurteilt wird alleine die Tat einer Person, nicht der

die Strafe absitzen. Gemäss praktischen Erfahrungen

Erfolg (die negativen Folgen).

empfinden viele Verurteilte eine bedingt erlassene

Gerechtigkeitsüberlegungen: Zwei Täter, die das

Strafe allerdings nicht wirkliche als Strafe. Deshalb kann

gleiche Delikt begangen haben, werden danach gleich

es sinnvoll sein, neben der bedingt aufgeschobenen

behandelt (und bestraft).

Freiheitsstrafe auch eine Busse zu verhängen.

© STR teachware

Strafrecht 19


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