Interview mit Christoph de Vries, Vorsitzender der Vertriebenen-Gruppe (Seite 3/4)
Sudetendeutsche Zeitung Die Zeitung der Sudetendeutschen Landsmannschaft
Reicenberger Zeitung 160. Jahrgang
HEIMATBOTE
Jahrgang 73 | Folge 45 | 2,80 EUR · 75 CZK | München, 12. November 2021
Wenzel Jaksch (25. September 1896 bis 27. November 1966): Sein politisches Wirken in der Bundesrepublik Deutschland war geprägt von seinem Engagement für die Heimatvertriebenen.
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Von 1929 bis 1938 war der „tapfere Böhme“ (so Golo Mann) Abgeordneter im tschechoslowakischen Abgeordnetenhaus, von 1953 bis zu seinem Unfalltod SPDAbgeordneter im Bundestag. Verleihung des Wenzel-Jaksch-Gedächtnispreises 2020 und der Brückenbauer-Auszeichnung (von links): Jury-Vorsitzende Christa Naaß, die Bundesvorsitzenden der Seliger-Gemeinde Helena Päßler und Dr. Helmut Eikam, Vertriebenenpolitischer Sprecher der SPD-Landtagsfraktion Volkmar Halbleib, Preisträger Libor Rouček, Laudator Martin Schulz und die stellvertretende SPD-Fraktionsvorsitzende im Bayerischen Landtag, Ruth Müller.
Verleihung des Wenzel-Jaksch-Gedächtnispreises 2021 und der Brückenbauer-Auszeichnung (von links): Dr. Helmut Eikam, Mit-Bundesvorsitzender der Seliger-Gemeinde, verliest die Verleihungsurkunde für Albrecht Schläger. Zuvor hatte Kristina Larischová, Generalkonsulin der Tschechischen Republik in München, die Laudatio auf den ehemaligen BdV-Vizepräsidenten und SPD-Landtagsabgeordneten gehalten. Fotos: Torsten Fricke
Wenzel-Jaksch-Gedächtnispreis der Seliger-Gemeinde und Brückenbauer-Auszeichnung der SPD-Landtagsfraktion
Martin Schulz: „Demokratie kommt nicht aus der Steckdose“
Liste der Brückenbauer
WenzelJakschPreisträger Der Wenzel-Jaksch-Gedächtnispreis wurde erstmals 1968 verliehen: 1968: Georg Hans Trapp; 1969: Marie Günzl und Roman Wirkner; 1970: Doreen Warriner; 1971 : Adolf Hasenöhrl; 1972: Karl Gerberich; 1973: Albert Exler und Artur Schober; 1974: Axel Granath; 1974: Henry Weisbach; 1976: Dr. Josef Mühlberg; 1977: Volkmar Gabert; 1978: Dr. Bruno Kreisky; 1979: Herbert Wehner; 1980: Alfred Hauptmann; 1981: Willy Brandt; 1982: Dr. Fred Sinowatz; 1983: Prof. Dr. Friedrich Willy Brandt Prinz; 1984: Willi Jäger; 1985 : Olga Sippl; 1986: Holger Börner; 1987: Fritz Heine; 1988: Torsten Nilsson; 1989: Josef Köcher; 1990: Dr. Heinz Kreutzmann; 1991: Emil Werner; 1992: Hubert Pfoch; 1993: Otto Seidl; 1994: Dr. Martin Bachstein; 1995: Rudi Walther; 1996: Dr. Hans-Jochen Vogel; 1997: Erich Sandner; 1998: Annemarie Renger; 1999: Dr. Karel Hrubý und Jiří Loewy; 2000: Dr. Klaus Hänsch; 2001: Heinrich Giegold; 2002: Dr. Peter Becher; 2003: Prof. Dr. Peter Glotz; 2004: Petr Příhoda; 2005: Dr. Klaus Zeßner; 2006: Renate Schmidt; 2007: Jiří Paroubek; 2008: Max Mannheimer; 2009: Prof. Dr. Otto Pick; 2010: Franz Maget; 2011: Jan Hon; 2012: Martin Schulz; 2013: Prof. Dr. Detlef Brandes; 2014: Prof. Dr. Jan Křen; 2015: Hana Zakhari; 2016: Petr Vokřál; 2017: Dr. Wolfgang Thierse; 2018: Michaela Marksová; 2019: Reinhold Gall; 2020: Libor Rouček; 2021: Albrecht Schläger.
Beim Jahresempfang für Heimatvertriebene, Flüchtlinge und Aussiedler der SPD-Landtagsfraktion sind am Samstag im Münchner Maximilianeum die Wenzel-Jaksch-Gedächtnispreise 2020 und 2021 der Seliger-Gemeinde an Libor Rouček und Albrecht Schläger sowie die Brükkenbauer-Auszeichnungen der SPD-Landtagsfraktion verliehen worden, womit zusätzlich der BdV Bayern und dessen Vorsitzender Christian Knauer geehrt wurden (siehe Seite 5).
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artin Schulz, ehemaliger Präsident des Europaparlaments, jetziger Vorsitzender der Friedrich-Ebert-Stiftung und selbst Wenzel-Jaksch-Preisträger, nutzte seine Laudatio auf Libor Rouček, um für Demokratie, Menschenrechte und den gemeinsamen Kampf gegen Extremisten aufzurufen. Bei allen politischen Differenzen zwischen Sozial- und Christdemokraten habe es im Europaparlament immer in einem Punkt Einigkeit gegeben, sagte Schulz und begrüßte dabei den Sprecher der Sudetendeutschen Volksgruppe. „Bernd Posselt und ich waren uns im Europaparlament immer einig, daß das Bekenntnis und das Engagement zur Überwindung von Grenzen das beste Friedensprojekt für Europa ist.“ Die Idee von Europa sei ganz einfach, so Schulz: „Daß wir uns über Grenzen hinweg mit Respekt, Toleranz und Würde begegnen, völlig unabhängig von unserer Hautfarbe, unserer Herkunft, unserer Religion oder unserer politischen Überzeugung, daß wir mit guten Argumenten dafür kämpfen, das Beste für die Menschen herauszuholen.“ Libor Rouček sei, so Schulz, eine „wandelnde Grenzüberschreitung“, die genau für diese Idee von Europa stünde. Die Demokratie müsse jeden Tag neu erkämpft werden. „Die Demokratie kommt nicht wie der Strom aus der Steckdose“, sagte Schulz und warnte: „Die Feinde der Demokratie sind jeden Tag unterwegs.“ Libor Rouček habe, so Schulz, den EU-Abgeordneten der westlichen Staaten beigebracht, was es bedeutet, eine Diktatur zu überwinden und De-
Der ehemalige Präsident des Europäischen Parlaments, Martin Schulz, hielt am Samstag im Bayerischen Landtag die Laudatio auf Libor Rouček. Im Hintergrund: Bernd Posselt, Sprecher der Sudetendeutschen Volksgruppe. mokratie aufzubauen. „In gewisser Weise war Libor ein Lehrer für mich“, denn, so Schulz, „die Dämonen des 20. Jahrhunderts, wie Haß, Fremdenfeindlichkeit, Intoleranz, Gewaltbereitschaft“, die überwunden schienen, seien wieder sichtbar. „Für den Triumph des Bösen reicht es, wenn die Guten nichts
tun“, zitierte Schulz den englischen Philosophen Edmund Burke. Libor Rouček sei jemand, der nicht nur zu den Guten gehöre, sondern auch nach seinem Ausscheiden aus dem Europaparlament etwas tue. Schulz: „Lieber Libor, dein Einsatz wird weiterhin gebraucht.“ Der 1954 in der mittelböh-
mischen Stadt Kladen geboren Rouček arbeitete nach seinem Studium und seiner Promotion in Wien zunächst als Journalist für den US-amerikanischen Auslandssender Voice of America. 1998 kehrte er in seiner Heimat zurück und wurde Sprecher der tschechischen sozialdemokratischen Partei ČSSD sowie
„Die EU ist trotz aller Probleme und Schwierigkeiten eine Erfolgsgeschichte.“ Wenzel-Jaksch-Preisträger Libor Rouček warb in seiner Dankesrede dafür, im Engagement für Europa, Frieden und Freiheit nicht nachzulassen.
Sprecher der im selben Jahr ins Amt gewählten ČSSD-Regierung unter Miloš Zeman. 2002 wurde Rouček in das tschechische Abgeordnetenhaus gewählt und engagierte sich dort unter anderem im Europaausschuß. Nach dem EU-Beitritt der Tschechischen Republik war er von 2004 bis 2014 Mitglied des Europäischen Parlaments, und dort von 2009 bis 2012 Vizepräsident. Seit 2014 ist Rouček Vorsitzender der Union der Europäischen Föderalisten in der Tschechischen Republik und seit 2015 Co-Vorsitzender des Deutsch-Tschechischen Gesprächsforums. „Diese Auszeichnung ist eine große Ehre für mich, da ich Wenzel Jaksch als sudetendeutschen Sozialdemokraten, der sich selbst nach oben gearbeitet hat und immer an der Seite des kleinen Mannes stand, sehr schätze“, bedankte sich Libor Rouček. Dieser Preis sei aber auch eine Verpflichtung aus der Zeit, zu der Wenzel Jaksch gelebt hatte, zu lernen. „Wir dürfen die Fehler der früheren Generationen nicht wiederholen“, mahnte Rouček und erklärte: „Das jahrhundertelange Zusammenleben der Völker in Mitteleuropa wurde durch den Nationalimus in der zweiten Hälfte des 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zerstört. Diese Fehler, dieses menschliche Versagen dürfen wir nie wieder wiederholen.“ Die Geschichte nach dem Zweiten Weltkrieg habe gelehrt, „daß die besten und wirkungsvollsten Mittel gegen Nationalismus und gegen das Wiederaufflammen der nationalen Konflikte europäische Zusammenarbeit und europäische Integration“ seien. Rouček: „Die europäische Integration hat uns die längste Periode des Friedens, der Freiheit und des Wohlstands in Europa gebracht. Noch nie in der europäischen Geschichte haben so viele Menschen in Frieden, in demokratischer Freiheit und in sozialer Absicherung gelebt wie heute. Die EU ist trotz aller Probleme und Schwierigkeiten eine Erfolgsgeschichte, ein Vorbild für die ganze Welt.“ Torsten Fricke