Sudetendeutsche Zeitung 19. November 2021 Ausgabe 46

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Prof. Manfred Kittel: Vertreibung erfüllt den Tatbestand des Völkermords (S. 3)

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Reicenberger Zeitung 160. Jahrgang

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Jahrgang 73 | Folge 46 | 2,80 EUR · 75 CZK | München, 19. November 2021 Regierung von Petr Fiala

B 6543

Der zukünftige Premierminister Petr Fiala ist mit seiner Regierungsbildung auf der Zielgeraden

Koalitionsvertrag: Was die neue tschechische Regierung plant

Favoriten für ein Ministeramt Finanzen: Zbyněk Stanjura (ODS). Erster stellvertretender Vorsitzender der ODS (ab 2020). Diplom-Ingenieur für Elektrotechnik, war Verkehrsminister (2012–13). Von 2002 bis 2010 Bürgermeister von Troppau. Justiz: Pavel Blažek (ODS). JuraStudium an der Masaryk-Universität in Brünn. Er ist seit 1996 als Rechtsanwalt tätig und war 2012 bis 2013 Justizminister. Verteidigung: Jana Černochová (ODS). Bürgermeisterin von Prag 2, Master-Abschluß in internationalen Beziehungen und europäischen Studien an der Metropolitan University in Prag. Im Unterhaus war sie die Vorsitzende des Verteidigungsausschusses. Verkehr: Martin Kupka (ODS). Journalismusstudium, Moderator beim Tschechischen Rundfunk, Sprecher des Prager Rathauses sowie kurzzeitig Regierungssprecher. Kultur: Martin Baxa (ODS). Lehrer, Bürgermeister von Pilsen. Innen: Vít Rakušan (Stan). Vorsitzender der Stan-Bewegung. Favorit für das Amt des stellvertretenden Premierministers. Er war Bürgermeister von Kolin (2010–19) und Erster Stellvertreter des Gouverneurs der Region Mittelböhmen (2016–17). Wirtschaft: Věslav Michalík (STAN). Bürgermeister von Unter Breschan. Davor Forscher an der Tschechischen Akademie der Wissenschaften am Institut für Kernphysik und am Institut für Strahlendosimetrie. Bildung: Petr Gazdík (STAN). : Mitbegründer der STAN-Bewegung und Ex-Vorsitzender. Europa: Radim Sršeň (STAN). Ph.D. in Internationalen Politischen Beziehungen. Präsident der Europäischen Vereinigung für ländliche Entwicklung. Gesundheit: Vlastimil Válek (TOP 09). Studium der Allgemeinmedizin, Einsatz für das Internationale Rote Kreuz, Leiter der Abteilung für Radiologie und Nuklearmedizin am Universitätsklinikum in Brünn. Wissenschaft und Forschung: Helena Langšádlová (TOP 09). Masterstudium in Politikwissenschaften. Von 2004 bis 2010 Mitglied des EU-Ausschusses der Regionen. Landwirtschaft: Zdeněk Nekula (KDU-ČSL). Bürgermeister von Töstitz. Arbeit/Soziales: Marián Jurečka (KDU-ČSL). Vorsitzender der KDU-ČSL. Studiums an der Mendel-Universität in Brünn. Landwirtschaftsminister unter Bohuslav Sobotka (ČSSD). Umwelt: Anna Hubáčková (KDU-ČSL). Senatorin. Regionale Entwicklung und Digitalisierung: Ivan Bartoš (Piraten). Vorsitzender der Piratenpartei. Experte für Datenbanken. Auswärtiges: Jan Lipavský (Piraten). War stellvertretender Vorsitzender des Verteidigungsund des Auswärtigen Ausschusses, hat unter anderem bei McKinsey gearbeitet. Legislative: Noch unbekannt.

VOLKSBOTE

Schritt für Schritt nimmt der Regierungswechsel in Prag Formen an. Als letzter Bündnispartner haben am Dienstag auch die Piraten dem Koalitionsvertrag zugestimmt, nachdem sich bei einer Mitgliederbefragung 82,1 Prozent dafür ausgesprochen hatten.

I

n der vergangenen Woche hatte Staatspräsident Miloš Zeman Wahlsieger Petr Fiala (ODS) offiziell mit der Regierungsbildung beauftragt. Bereits am Dienstag vergangener Woche hatten die Koalitionäre ODS, KDU-ČSL, TOP 09, Piraten und STAN ihren Koalitionsvertrag unterschrieben, die Piraten allerdings nur unter Vorbehalt ihrer Mitgliederentscheidung (Sudetendeutsche Zeitung berichtete). Am Mittwoch vergangener Woche hat das neugewählte Abgeordnetenhaus Top-09-Chefin Markéta Pekarová Adamová zu seiner Vorsitzenden gewählt. Die 37-jährige ist erst die zweite Frau, die diesen Posten innehat. Am Montag dieser Woche hat der noch amtierende Premierminister Andrej Babiš (Ano) das Staatsoberhaupt im Prager Militärkrankenhaus besucht, um den bereits per Brief eingereichten Rücktritt seiner Regierung formell zu bestätigen. Am Mittwoch war dann Fiala im Militärkrankenhaus, wo Zeman seit dem 10. Oktober stationär behandelt wird, um die personelle Zusammensetzung seines Kabinetts vorzustellen (Ergebnis war zum Redaktionsschluß noch nicht bekannt).

Auf dem Weg ins Premierministeramt: Petr Fiala (ODS) hat die Ergebnisse des Koalitionsvertrages vorgestellt. Links: Top-09-Chefin Markéta Pekarová Adamová, neu gewählte Präsidentin des Abgeordnetenhauses. Foto: ODS Im Koalitionsvertrag üben die zukünftigen Regierungsparteien heftige Kritik an der Vorgänger-Regierung: „Die Tschechische Republik hat die schwierigste Zeit in ihrer postsowjetischen Geschichte hinter sich. Unser Land muß sich nicht nur mit den Folgen einer globalen Pandemie auseinandersetzen, sondern auch mit den Folgen einer rücksichtslosen Verantwortungslosigkeit der vorherigen Regie-

rung. Die Vorgängerregierung hinterließ ein Land mit der höchsten Verschuldung seiner Geschichte und stark steigenden Preisen, insbesondere für Energie und Immobilien.“ Der Streit, der das Land gespalten habe, sei „durch eine populistische Politik angeheizt“ worden. Man wolle, so heißt es im Koalitionsvertrag „die grenzüberschreitende Zusammenarbeit ausbauen“ und Grenzbewohnern

ermöglichen, Krankenhäuser auf beiden Seiten der Grenze zu nutzen. Die Zusammenarbeit mit EU und Nato solle gestärkt werden. „Wir betrachten die Mitgliedschaft in der Europäischen Union als wesentlich und vorteilhaft für die Tschechische Republik. Die Außenpolitik wird eine unbestreitbare euro-atlantische Ausrichtung haben. Wir werden unsere Beziehungen zu Rußland

und China überprüfen“, schreiben die Koalitionäre und kündigen an, daß sich die neue Regierung dafür einsetzen werde, die Verteidigungsfähigkeit der Nato an der Ostgrenze zu stärken. Gleichzeitig werde man „nicht-demokratischen Staaten keinen Zugang zur tschechischen Infrastruktur gewähren“. Auch die neue Regierung setzt beim Thema Energie auf Atomkraft. „Wir nehmen die Wende zu erneuerbaren Energien ernst, aber wir weigern uns, auf Energiesicherheit, Selbstversorgung und Unabhängigkeit zu verzichten. Die Zukunft des tschechischen Energiemixes liegt in einer Kombination aus Kernkraft und dezentralen erneuerbaren Energien.“ Ziel sei ein Kohleausstieg bis 2038. Wie berichtet, haben Frankreich und die Tschechische Republik, die 2022 nacheinander die EU-Ratspräsidentschaft übernehmen, mit weiteren EU-Ländern eine Initiative gestartet, damit Atomkraft als CO2-freie und klimafreundliche Energiequelle anerkannt und von der EU subventioniert wird. Konfliktstoff mit der neuen deutschen Regierung könnte auch das Thema Migration bergen. „Die EU muß ihre Außengrenzen wirksam schützen. Wir lehnen die Lösung von Migrationskrisen durch eine Politik der verbindlichen Quoten ab“, heißt es im Prager Koalitionspapier. Stattdessen wolle man sich für Auffanglager außerhalb der EU einsetzen. Torsten Fricke

Zwölf-Punkte-Programm der neuen tschechischen Regierung

Deutliches Bekenntnis zur EU und zur Nato In einem 42-seitigen Koalitionsvertrag haben ODS, KDU-ČSL, TOP 09, Piraten und STAN die Schwerpunkte ihrer Zusammenarbeit definiert. Die Sudetendeutsche Zeitung dokumentiert den Zwölf-Punkte-Plan in Auszügen.

1. Stabilisierung der Staatsfinanzen Unser Land braucht eine verantwortungsvolle Haushaltspolitik, die die sinnlose Verschwendung eindämmt. Der Weg zur Stabilität führt über die Reform der öffentlichen Ausgaben, Maßnahmen gegen Interessenkonflikte und Korruption sowie eine effiziente Verwendung der Steuereinnahmen, und nicht über die Erhöhung der Steuerlast.

2. Ausrichtung auf die EU und die Nato

Die Tschechische Republik muß im Interesse ihrer Bürger ein aktives Mitglied der Europäischen Union und der Nato sein. Die Außenpolitik wird eine unbestreitbare euro-atlantische Ausrichtung haben, die auf stabi-

le Partnerschaften mit demokratischen Ländern in der ganzen Welt und dem Schutz der Menschenrechte setzt.

3. Rentenreform Es sind die Menschen, die den Wohlstand in unserem Land schaffen. Deshalb verdient es jeder, Sicherheit im Alter zu haben. Die Reform des Rentensystems wird auf einem gesamtgesellschaftlichen Konsens beruhen und eine langfristige Perspektive gewährleisten.

4. Bildung Die Zukunft hängt von der Bildung unserer Kinder und dem lebenslangen Lernen ab. Das Bildungssystem muß in der Lage sein, sowohl die Schwächsten als auch die Talente zu fördern.

5. Regionaler Zusammenhalt

Die wachsenden Ungleichheiten zwischen den Regionen unseres Landes sind eine große gesellschaftliche Herausforderung. Der Wohnort darf keinen grundlegenden Einfluß auf die Quali-

tät der Bildung oder der Gesundheitsfürsorge haben. Die Regierung wird Lösung erarbeiten, um die Entvölkerung der ländlichen Gebiete und der Grenzregionen zu stoppen.

6. Förderung des freien Marktes

Unterstützung kleiner und mittlerer Unternehmen sowie gezielte Investitionsbeihilfen sind der Weg, um den Wohlstand unseres Landes zu sichern. Wir werden kreative und innovative Maßnahmen unterstützen, um Wachstum und gesunden Wettbewerb zu schaffen. Öffentlichen Mitteln dürfen nicht dazu dienen, die Gewinne und den Einfluß des Großkapitals zu erhöhen.

7. Umwelt Der Klimawandel ist unbestreitbar. Diese Regierung ist entschlossen, Lösungen zu finden, um den menschlichen Einfluß auf den Klimawandel zu begrenzen. Wir werden nach realistischen Lösungen suchen, die zum Schutz von Umwelt, Wasser,

Luft, Boden, Wäldern und Landschaften beitragen. Und wir werden all dies unter Beachtung der Verantwortung für den Wohlstand unseres Landes tun.

8. Familie und Wohnen Die Stabilität der Familien ist wichtig für die Entwicklung unserer Gesellschaft. Wir helfen Familien bei der Bewältigung der Herausforderungen, mit denen sie konfrontiert sind. Wir werden flexiblere Arbeitszeitmodelle unterstützen, ein breiteres Angebot an Möglichkeiten zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf schaffen sowie eine bezahlbare Gesundheitsversorgung realisieren.

9. Digitalisierung Vereinheitlichung und Digitalisierung von Prozessen sind der Weg zu einer freundlicheren, effizienteren und kostengünstigeren Regierungsarbeit.

10. Wissenschaft und Forschung

Unser Land ist voll von gebildeten, talentierten und innovativen Menschen. Wir werden Wis-

senschaft und Forschung unterstützen, weil wir darin die Chance sehen, die Tschechische Republik noch erfolgreicher zu machen.

11. Moderne staatliche Verwaltung

Der öffentliche Dienst muß modern, schlank und flexibel sein. Wir werden die Verwaltung auf die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts vorbereiten, die besten Talente einzustellen, um den Bürgern hervorragende Dienstleistungen zu bieten.

12. Rechenschaftspflicht gegenüber den Wählern

Wir werden uns für eine bessere politische Kultur einsetzen. Wir werden ehrliche, kompetente Menschen für Führungspositionen auswählen und vertrauenswürdige Persönlichkeiten einsetzen, die die Interessen der Tschechischen Republik vertreten und sich nicht in einem Interessenkonflikt befinden. Wir werden miteinander sowie mit der Opposition konstruktiv zusammenarbeiten.


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