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Die da oben - Eine Familie auf der Alm
Bernhard Mulser ist Hirte auf der Zirmait-Alm hoch über Brixen. Mit seiner Frau und den beiden Kindern kümmert er sich um Rinder und Schweine, monatelang leben die vier abgeschieden am Berg. Was das Leben auf der Alm mit einer Familie macht.

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Text — MATTHIAS MAYR Fotos — MICHAEL PEZZEI
Nein, die Zirmait-Alm ist keine überlaufene Almhütte mit kitschigen Tischdecken und Bedienungen in Dirndl oder Lederhose. Diese Alm ist echt. Hier, weitab vom geschäftigen Treiben im Tal, ist das Leben noch urig und authentisch. Kälber grasen auf den steilen Wiesen, Schweine suhlen sich im Schlamm. Für hungrige Wanderer wird auf einem Holzherd gekocht.
An diesem Ort hat Bernhard Mulser gerade seinen ersten Almsommer verbracht, gemeinsam mit seiner Familie. „Von Anfang Juni bis Ende September sind wir jeden Tag auf Zirmait – und von Sonnenauf- bis Sonnenuntergang gemeinsam auf den Beinen“, sagt er. Kann das gut gehen, oder versinkt das Familienleben im Streit? Gibt es Almkoller wegen zu viel Nähe? Was macht das Leben da oben mit einem? Wie verändert sich das Bewusstsein? Das Denken? Das Fühlen?
Familie Mulser stammt aus Völs am Schlern. Vater Bernhard ist selbstständiger Tischler, Mutter Bernadette Verkäuferin. Sohn Klaus, 17, sucht eine Lehrstelle als Gärtner, Tochter Lisa, 21, hat die Kunstschule in Gröden besucht und möchte jetzt Psychologie und Kunst studieren. Es sind ihre letzten Sommertage auf der Alm. Alle vier blicken zufrieden auf die vergangenen Wochen zurück – dabei kann so ein Sommer beschwerlich sein, die Tage auf der Alm sind lang und anstrengend.
Mal etwas anderes machen, das wollte Familie Mulser. Andere würden dafür übers Wochenende wegfahren, sie haben einen radikalen Schritt gewagt, Alltag und Arbeit hinter sich gelassen und etwas Neues ausprobiert.
Bernhard Mulser und Sohn Klaus kümmern sich um das Vieh. 15 Kälber, eineinhalb bis zwei Jahre alt, verbringen den Sommer auf der Alm. Die neugierigen Tiere gehören zum Tiroler Grauvieh, einer typischen Rasse dieser Gegend. Die Tiere geben sowohl gute Milch wie auch gutes Fleisch und eignen sich wegen ihrer guten Futterverwertung und Trittsicherheit ausgezeichnet für die Weidewirtschaft. Neben dem Grauvieh halten die Mulsers drei Tiroler Alpenschweine, eine alte Rasse. Die Schweine wachsen langsam, haben dafür aber ein hochwertiges, cholesterinarmes Fleisch. Sie dürfen sich auf der Alm von Heu, Äpfeln und anderen Leckereien ernähren. Zu den Bewohnern der Zirmait-Alm gehören ebenso ein Esel, ein Pferd und ein Pony – und gemeinsam mit ihrer Familie verbringen Parson-Russell-Terrier Kiwi sowie die Katzen Furbi und Kitti hier ihre Sommerfrische. Die Katzen verstecken sich, der Hund will spielen.
„Den Umgang mit den Tieren habe ich als Kind auf dem elterlichen Hof und als Hirte in meiner Jugend gelernt“, sagt der Vater. Er hat sich Wissen angeeignet, das er täglich weiter vertieft. „Auf der Alm muss man Allrounder sein“, fährt er fort. „Hirte, Handwerker, Meteorologe, Tierarzt und Fremdenführer.“ Tochter Lisa hat schon zwei Sommer auf einer Schutzhütte gekellnert, aber die Arbeit auf einer kleinen Alm ist dann doch noch außergewöhnlicher. Statt nur Kellnerin ist sie jetzt auch Köchin, Hirtin, Handwerkerin und Bäuerin.



Gemeinsam mit der Familie verbringen Parson-Russell-Terrier Kiwi und die beiden Katzen Furbi und Kitti den Sommer auf der Alm.

Neben Grauvieh, einem Esel, einem Pferd und einem Pony halten die Mulsers auch Tiroler Alpenschweine – eine alte Rasse.


„Im Tal unten sind wir alle zu verwöhnt“, sagt Bernhard. „Hier oben nimmt man es eben, wie es ist, und versucht das Beste daraus zu machen.“

Beschwerlich und angenehm, so fassen die Mulsers den Sommer zusammen. Lange, harte Tage, aber auch eine Auszeit vom Alltag und eine neue Erfahrung. „Das ist keine Entbehrung, das ist das wahre Leben!“, sagt Bernhard. „Hier oben hab’ ich alles, was ich brauche“, ergänzt Sohn Klaus.
Die Zirmait-Alm liegt auf 1891 Meter Meereshöhe, man erreicht sie zu Fuß vom Dorf Vahrn nördlich von Brixen aus in etwa zweieinhalb Stunden, vom Parkplatz am Ende der befahrbaren Straße aus in einer Dreiviertelstunde. Von hier aus hat man einen weiten, offenen Blick zur Plose, zum Kronplatz, zu den schroffen Geislerspitzen und den Zillertaler Alpen. Die Alm liegt abseits der Touristenströme: Es sind vorwiegend Einheimische, die hier einkehren. Ziel der Wanderer ist meist die 2517 Meter hohe Karspitze, eineinhalb Stunden weiter.
Für die Verpflegung sind Mutter Bernadette und Tochter Lisa zuständig. Der Holzherd in der kleinen Küche ist voller Pfannen und Töpfe und verbreitet eine heimelige Wärme. Gulasch und Gemüsesuppe köcheln vor sich hin, der Knoblauchduft der Tomatensoße für die Zirmaitnudeln zieht durch den Raum. Bernadette steht vor einer riesigen Schüssel Knödelteig und dreht mit flinken Fingern das Südtiroler „Nationalgericht“. Sie ist zudem leidenschaftliche Kuchenbäckerin, immer sind mehrere Sorten vorrätig. Bernhard ergänzt das Genusserlebnis mit seinen selbstgemachten Schnäpsen.

Zeit bekommt hier oben ihre ganz eigene Geschwindigkeit. Die Sonne bestimmt Arbeitsbeginn und -ende, und Arbeit gibt es genug. Trotzdem wirkt die Familie nicht gestresst. „Man muss sich die Zeit eben nehmen“, sagt Bernhard. Die vier Mulsers genießen den Luxus, über ihr Leben selbst zu bestimmen, eins mit der Natur. Und doch: Das Leben auf der Alm ist abenteuerlich. Für Strom auf der Hütte sorgt eine Fotovoltaikanlage mit acht LKW-Batterien als Puffer. Die bringt 3,5 Kilowatt Maximalleistung – wenn die Sonne schön scheint. Bei Schlechtwetter gilt es Strom zu sparen, damit Kühl- und Gefrierschrank ihren Dienst tun können. Das Wasser sprudelt aus der eigenen Quelle, aber auch da ist Sparsamkeit angesagt. Wegen der großen Trockenheit im vergangenen Sommer war die Alm wochenlang fast ohne Wasser. Das mache zwar alles etwas komplizierter, aber wirklich schlimm sei das nicht, meint Bernhard. „Im Tal unten sind wir alle zu verwöhnt. Hier oben nimmt man es eben, wie es ist, und versucht das Beste daraus zu machen.“
Vor der Almhütte gibt es eine Sonnenterrasse und eine Schaukel für die Kleinen, daneben einen kleinen Kräutergarten. So viel wie möglich wird selbst angebaut – zurück zu den Wurzeln. Das Haus selbst ist klein: Neben der Küche gibt es noch eine Gaststube, ein Zimmer für die Eltern und ein kleines WC – das Plumpsklo neben dem Stall allerdings dient tatsächlich nur noch der Folklore. „Gäste, die spontan vorbeischauen und über Nacht bleiben, werden in einem Matratzenlager im Dachgeschoss einquartiert“, sagt Klaus. Er und seine Schwester schlafen allerdings nicht in der Almhütte – sondern im Stall. Weil Kälber im Sommer keinen Stall brauchen, dient er als Lagerraum, für die Kinder wurden dort zwei Zimmer eingerichtet.

Bernadette ist leidenschaftliche Kuchenbäckerin. Gemeinsam mit Tochter Lisa kümmert sie sich um die Verpflegung.

Auf der Alm müssen viele Dinge gemeinsam erledigt werden – auch das Einkochen von Preiselbeermarmelade.


Dem Familienleben hat der Sommer auf der Alm gutgetan. „Die Erfahrung hat uns noch enger zusammengeschweißt“, sagt Bernhard Mulser.
Es ist sehr ruhig auf der Alm. Selbst auf das Handy müssen Eltern und Kinder die meiste Zeit verzichten, Empfang gibt es hier oben nur hin und wieder. Man hört nur Kuhglocken und ab und zu eine Krähe. Wirklich aus der Welt ist die Familie auf der Zirmait-Alm zwar nicht, mit dem Geländewagen oder dem klassischen Gefährt vieler Südtiroler Bergbewohner – einem Fiat Panda – ist man in einer halben Stunde in Brixen. Gefühlt ist das Stadtleben allerdings unendlich weit weg. So weit, dass man es gar nicht mehr vermisst: Die Mulsers streiten regelmäßig, wer zum Einkaufen ins Tal fahren muss.
Dem Familienleben hat der Sommer auf der Alm jedenfalls gutgetan. „Die Erfahrung hat uns noch enger zusammengeschweißt“, sagt Bernhard. Was nicht selbstverständlich ist, wenn man vier Monate lang aufeinander klebt. „Man lernt die Familie besser kennen“, sagt auch Tochter Lisa. Der Morgen beginnt beim gemeinsamen Frühstück, bei dem der Tag besprochen und die Aufgaben geplant werden: Wo sind die Kälber, was wird gekocht, haben wir genug Strom für das Backrohr, wer holt Holz? Keine weltbewegenden Entscheidungen, aber auf der Alm überlebenswichtig. Unten im Tal geht jeder seines Weges, aber hier oben müssen viele Dinge gemeinsam erledigt werden. Trotz aller Herausforderungen – zum großen Streit ist es nie gekommen. „Wir vertragen uns immer noch“, freut sich Klaus.
Nun, ab Ende August, wird es spürbar kühler auf Zirmait. Der Herbst hält noch viele sonnige und warme Tage bereit, aber auf dieser Höhe kann es auch im September schon schneien. Ein erfolgreicher Sommer liegt hinter der Familie, doch es wird Zeit, sich vom Almleben zu verabschieden. Die Mulsers denken bereits mit Wehmut an die Rückkehr ins Tal. „Im nächsten Jahr wollen wir unbedingt wiederkommen“, sagt Bernadette. Und so lindert der Gedanke an den nächsten Almsommer den Abschiedsschmerz.
Die Zirmait-Alm liegt unterhalb der Karspitze und ist für Wanderer von Vahrn, Spiluck oder Schalders aus leicht zu erreichen. Von der Alm bis zum Gipfel ist rund eine Stunde einzurechnen, die Besteigung ist nicht besonders anspruchsvoll. Von ganz oben aus bietet sich ein herrlicher Panoramablick über die umliegenden Berge und Täler.