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Selbstbestimmung

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Surprise-Porträt

Surprise-Porträt

Der Heimkehrer

Selbstbestimmung Das Basler Stadtoriginal Urs Saurer hatte sich in Kamerun mit Malaria infiziert. Kaum wieder auf den Beinen, reist der Surprise-Verkäufer noch einmal hin.

TEXT SARA WINTER SAYILIR ILLUSTRATIONEN RAHEL NICOLE EISENRING FOTOS KLAUS PETRUS

«Eine weitere Malaria werden Sie nicht überleben», hatte der Arzt im Unispital zu Urs Saurer gesagt. Das war Anfang 2018, der langjährige Surprise-Verkaufende lag ausgezehrt im Basler Spitalbett. Fast zwei Jahre später zeigt er im Surprise-Büro neue Fotos von sich, wie er mit einer Bananenstaude über der Schulter fröhlich grinsend durch Afambassi spaziert, das kleine Dorf im Herzen Kameruns, rund vierzig Kilometer nördlich der Grossstadt Yaoundé. «Ich lasse mir doch von einem Arzt nicht verbieten, wohin ich gehe!», sagt er.

Auf seiner ersten Reise nach Kamerun 2017 hatte sich Urs mit der Tropenkrankheit infiziert und erst viel zu spät nach seiner Rückkehr behandeln lassen. Leber und Nieren hatten ausgesetzt, achtzehn Mal hatte man sein Blut per Dialyse waschen müssen. Dünn war er geworden, konnte kaum noch stehen, mehrere Zehen am rechten Fuss drohten abzusterben. Es war nicht sicher, ob er je ohne Hilfe wieder laufen könnte.

Aufbruchstimmung Heute ist klar: Er kann. Den Rollator, den er zwischendurch brauchte, hat Urs in die Ecke gestellt. In Basel verdient er sein Geld als Tagelöhner bei Overall, einer Arbeitsintegrationsfirma. Hier muss der freiheitsliebende Vagabund sich nicht dauerhaft in ein enges Regelkorsett quetschen, was ihm schwerfällt, und wenn man ihm seine Eigenheiten lässt, verdient er recht gut mit den Aufträgen, die er angeboten bekommt. Er arbeitet gern, am liebsten draussen. Mal im Garten, mal spielt er Schwyzerörgeli. Zusätzlich verkauft er das Strassenmagazin Surprise. Manchmal kommt er auf diese Weise gut ohne Sozialhilfe zurecht, manchmal auch nicht.

Urs vermisst das Landleben. Als er ein Kind war, im Berner Oberland, hielten seine Eltern ein paar Kühe und Ziegen, mit Tieren würde er auch jetzt gern wieder arbeiten. Aber zurück ins Heimatdorf Ringoldswil möchte er nicht, das erscheint ihm abwegiger als das weit entfernte Afambassi mit dem undurchdringlichen Busch ringsum, den schlechten Strassen und dem Wechsel von Trockenund Regenzeit. In Afambassi leben seine beiden Freundinnen Kathrin Witschi und Carole Erlemann Mengue. Die Frauen sind vor sechs Jahren gemeinsam dorthin ausgewandert, Kathrin ist Baslerin, für Carole ist es eine Rückkehr, sie kommt ursprünglich aus der Gegend.

Erstmals luden die Frauen Urs im Juni 2017 in ihr Dorf ein. Damals waren sie auf Besuch in Basel, Urs kannten sie über den Surprise Strassenfussball. Er hört ihren Erzählungen zu und träumt bald vom Auswandern in die afrikanischen Tropen – von einer Geissenzucht, vom Maisund Kakaoanbau und von der Flucht vor seiner mageren AHV, die ihm hier im Alter zusteht. Damals ist er sechzig. Also reist er hin, ein Abenteuer für den Schweizer, der mit Standarddeutsch eher seine Mühe hat, kaum Französisch spricht und seit den Achtzigerjahren kein Flugzeug mehr betreten hat. Unterwegs in Istanbul geht er fast verloren, aber als er endlich im Dorf ankommt, gefällt es ihm dort sehr. Hierher auszuwandern, das kann er sich gut vorstellen. Mit diesem Plan kehrt er zurück in die Schweiz, um alles vorzubereiten. Doch da kommt ihm die Malaria

dazwischen. Sie verläuft so schwer, dass es ihn fast ein Jahr Genesungszeit kostet. Die Ansage des Tropenmediziners, dass er sein Leben riskiere, wenn er noch einmal Malaria bekäme, beeindruckt ihn anfangs schwer.

Seitdem ist eine Menge Wasser den Rhein hinuntergeflossen. Der zähe Urs Saurer ist wieder auf den Beinen, er fühlt sich fit. Die Idee auszuwandern steht weiter im Raum. Noch in der Reha spricht er von Kanada, da sei das Leben ebenfalls günstiger als in der Schweiz, vielleicht wäre das ja was. Doch je länger die Malaria zurückliegt, desto weniger abwegig scheint es ihm, es doch noch einmal mit Kamerun zu versuchen. Dort kennt er sich schon aus, er weiss, worauf er sich einlässt, und dort wäre er nicht allein: Kathrin und Carole leben ja vor Ort.

Im Juni 2019 nimmt er erstmals wieder Kontakt mit den beiden Frauen auf. Sie hätten sich gefreut, von Urs zu hören, erzählt Kathrin der Autorin später am Telefon. Und klar könne er wiederkommen, er müsse einfach ge nau sagen, wann, damit sie ihm eine entsprechende Einladung für das Visum schicken könnten. Sie halten nichts vom Alarmismus des Arztes, schliesslich leben sie jeden Tag mit der Gefahr, die das Leben auf dem Land in den Tropen mit sich bringt. «Das entscheidest du», sagt Kathrin zu Urs, «hier bist du auf jeden Fall willkommen.» Also macht Urs Nägel mit Köpfen und plant seine nächste Reise. «Angst habe ich keine, ein bisschen Respekt vielleicht.» Diesmal wird er die Prophylaxe-Tabletten nicht zuhause liegen lassen und genügend Anti-Brumm einpacken. Er lässt im Unispital abchecken, ob seine Gelbfieberimpfung noch wirksam ist nach all der Dialyse im Spital. «Falls ich merke, dass sich wieder etwas anbahnt, komme ich sofort retour», beschliesst er.

Doch zuerst muss Urs reinen Tisch machen: Er hat noch Schulden bei Susanne Witschi, der Mutter von Kathrin. Ob er ihre Nummer noch einmal haben könne, fragt er Kathrin per SMS. Die pensionierte Lehrerin hatte ihm während seiner ersten Reise per Kreditkarte einen neuen Flug gebucht, als er in Istanbul seinen Anschlussflug verpasst hatte. Neben Geld hatte es Susanne vor allem Nerven gekostet, den am Atatürk-Flughafen gestrandeten

Urs aus der Distanz mit einem neuen Ticket zu versorgen. Ihren Einsatz weiss Urs sehr zu schätzen, und deshalb will er seine Schulden begleichen. Dabei erfährt er, dass Susanne selbst eine Reise nach Kamerun plant. Er beschliesst: Ich gehe mit.

«Ich war am Anfang sogar ein wenig enttäuscht», er zählt Susanne im Nachhinein. Sie hatte ihre Tochter und deren Freundin ein Jahr nicht gesehen, und nun würde sie deren Aufmerksamkeit teilen müssen. Aber sie sagt nicht nein. Einerseits weil Kathrin und Carole schon ihre Bereitschaft signalisiert haben, Urs wieder bei sich aufzunehmen. Und andererseits, weil für alle drei Frauen offenbar unstrittig ist, dass Urs ein Freund ist, den sie bei seinen Plänen unterstützen wollen. Obwohl er sich manchmal sehr darauf verlässt, dass andere sich schon kümmern – was er nicht so sieht.

Susanne aber kennt ihre Grenzen: «Ich habe eine Be dingung gestellt: Wenn er mit mir reisen will, dann muss er die Nacht zuvor bei uns übernachten.» Sie weiss aus Erfahrung, dass Urs die Zeit nicht immer im Griff hat, und will verhindern, dass sie selbst wieder unter Druck gerät. Diesmal soll alles etwas geplanter vonstattengehen. «Etwa drei Wochen vorher haben wir begonnen, uns regelmässig zu treffen, um die Reise ein wenig aufzugleisen.» Gleichwohl kommt Urs am Tag vor der Abreise zu spät und mit einer langen Liste von Dingen, die er noch erledigen muss. Susanne fällt aus allen Wolken: «Er wollte dann noch Malaria-Medikamente und Werkzeug besorgen, Kleider holen an der Feldbergstrasse – und ich dachte, wenn er kommt, ist er fertig, dann essen wir noch Znacht und packen.» Die Malaria-Tabletten konnte er nicht früher holen, erklärt er, sonst hätte er das schon rechtzeitig gemacht. Susanne hilft dabei, die von Urs mitgebrachten Gastgeschenke in Koffer zu verpacken. Und ist überrascht, wie viele Gedanken Urs sich bei der Auswahl der Mitbringsel gemacht hat: Rebscheren für die Feldarbeit, Becher zum Trinken – praktische Dinge, aber auch feine, wie eine Schmuckuhr und ein gutes Olivenöl für sein «Kirchen-Schätzeli». So nennt Urs Caroles ältere Schwester, mit der er bei seinem ersten Besuch eine kleine Romanze hatte.

Der lange Weg nach Afambassi Auf der Reise verläuft alles nach Plan. Ausser dass Urs das Anti-Brumm im Handgepäck verstaut hat und bei der Sicherheitskontrolle abgeben muss. «Eigentlich weiss ich, dass man keine Flüssigkeiten dabeihaben darf», sagt er, «ich habe nur nicht dran gedacht.» Dahin ist ein Teil der Malaria-Prophylaxe. Und das Zeug war teuer, ärgert sich Urs. Nachdem sie in Brüssel umgestiegen sind, sitzen Susanne und Urs im Flieger an unterschiedlichen Stellen. Bei der Zwischenlandung in Douala steigt Urs irrtümlich aus, kommt aber gerade noch rechtzeitig zurück, als er sein Versehen bemerkt. Susanne bemerkt, dass er weg ist und versucht, die Nerven zu behalten.

In Yaoundé kommt einer der Koffer nicht an. Es dau ert lange, bis sie die Verlustmeldung aufgeben können. Spät am Abend endlich das grosse Wiedersehen mit Kath rin und Carole in der Schalterhalle. Sie steigen in einen kleinen Bus mit Fahrer, den die Frauen für teure 70

«Wenn Urs mit mir reisen will, muss er die Nacht zuvor bei uns übernachten.»

SUSANNE WITSCHI

Franken gemietet haben, und machen sich auf den Weg nach Obala, der Kreisstadt, zu der ihr Dorf gehört. Für die rund 55 Kilometer Weg brauchen sie locker zweieinhalb Stunden. Der Verkehr ist chaotisch.

Auf halber Strecke meldet sich der Flughafen: Der Koffer ist gefunden worden. Also umkehren, denn die beschwerliche Reise in die Stadt am nächsten Tag noch einmal zu machen, das wollen alle verhindern – auch wenn es inzwischen Mitternacht ist. Die Nacht verbringen sie schliesslich in einem kleinen Hotel in Obala.

Am nächsten Morgen kommt nicht wie verabredet der Minibus für die Weiterfahrt ins Dorf. Also werden die vier Passagiere – Urs, Susanne, Kathrin und Carole – und die über sechzig Kilogramm Gepäck auf drei Motorräder verladen. So kommen sie sowieso besser durch: Es ist Regenzeit, die Strassen sind aufgeweicht. Weil es schon ihr vierter Besuch in Kamerun ist, hat Susanne sich an das Risiko solcher Fahrten gewöhnt. «Anfangs habe ich Blut geschwitzt, man sitzt da ja nicht allein auf dem Motorrad, sondern zu dritt oder viert plus Gepäck.» Immerhin: Kathrin und Carole mieten immer dieselben Fahrer, die sie als geübt und bei jedem Wetter zuverlässig erlebt haben.

Die schlechten Strassen und beschwerlichen Transportmöglichkeiten sind ein grosses Thema: Kathrin und Carole besitzen weder ein Motorrad noch ein Auto. Aber rund fünf Hektar Land, auf denen sie Mais, Kochbananen, Erdnüsse, Chili, Papayas und andere Gemüsesorten anbauen. Neuerdings halten sie auch Hühner und beginnen mit einer kleinen Schweinezucht. Einen Grossteil ihrer Erzeugnisse verkaufen sie direkt im Dorf. Der Transport der Waren auf den Markt ist beschwerlich und schwer berechenbar. Während der Kakaoernte im November beispielsweise haben alle Fahrer, die ins

12 Dorf kommen, bereits einen konkreten Auftrag. Für andere Waren ist dann kaum Platz. Kann man seine Ernte aber nicht rechtzeitig zum Markt bringen, verderben die Waren. Bei schlechten Strassenverhältnissen geht zudem ein Grossteil des Ertrags allein für den Transport drauf.

Urs kennt das Dorf schon vom letzten Besuch, nur hatten seine Freundinnen damals noch im Familienhaus gewohnt – wo auch Urs’ Kirchen-Schätzeli zuhause ist. Nun haben sie ein paar Kilometer weiter in Richtung Fluss ihr eigenes kleines Haus gebaut. Es steht auf ihrem Ackerland, etwas erhöht auf Stelzen und ganz aus Holz, mit grossen Fenstern, einem neuen Dach und einem grossen, mit einfachen Möbeln ausgestatteten Raum. Strom oder fliessend Wasser gibt es nicht, nur ein kleines Solargerät zum Aufladen der Mobiltelefone. Die Küche ist ein eigenes kleines Gebäude mit einer Feuerstelle, gegenüber vom Wohnhaus.

Da es mittags zu heiss zum Arbeiten ist, muss man die frühen Morgenstunden und die Zeit vor der Dämmerung nutzen. Urs schätzt die einfache, harte Arbeit. Er lässt sich genau erklären, was die Ideen der Frauen sind, und macht, was er kann. Er befestigt den Treppenaufgang zu den Ställen, baut einen Kaninchenstall aus Holz und Maschendraht und giesst die Tröge für die Schweine so wie die Desinfektionswanne im Eingangsbereich des Hühnerstalls mit Zement aus. Er holt auch morgens das Brot vom Dorfladen, der einen Kilometer entfernt ist. Es freut ihn, wenn der Nachbarshund ihn begleitet. «Als würde er mit mir beim Laden vorbeischauen und fragen, wie geht es euch?»

Kathrin und Carole sind mit ihrem Verein «Conseil de la Diaspora Africaine de Suisse – Branche Cameroun» an eine Landwirtschaftsschule in Obala angeschlossen. Die

«Ich denke, Urs könnte das. Man unterschätzt ihn o.»

KATHRIN WITSCHI

Tierhaltung erfordert spezielle Kenntnisse, die Kathrin sich dort in einem aufgrund ihrer Schulbildung etwas verkürzten Lehrgang aneignen konnte. Demnächst bekommen die beiden Frauen auch Praktikanten aus dieser Schule, die bei ihnen mitarbeiten werden. Nachhaltigkeit und ihren Arbeitern eine Ausbildung zu bieten, ist den Frauen ein Anliegen. Mutter Susanne hat dafür Verständnis, sie ist selbst leidenschaftliche Gärtnerin und ein grosser Fan von natürlichem Saatgut und der Bewahrung alter Sorten. In Afambassi fasziniert sie die Dichte der Vegetation vor Ort. «Da kommt man überhaupt nicht durch ohne Machete», sagt Susanne. Was Kathrin und Carole Plantagen nennen, sind aus Susannes Sicht eher Wildpflanzungen. Mit ihrem Natel fotografiert sie die vielen Schmetterlinge, die sich überall niederlassen. Grosse Falter in schönen Farben. «Der Grösste, der ist so blauviolett, der sitzt nie ab.»

Wieder eine Tropenkrankheit Urs würde derweil gern die Transportproblematik lösen. Er plant, bei seinem nächsten Besuch ein kleines Unter nehmen aufzumachen und per Cargo ein landwirtschaftliches Zugfahrzeug aus der Schweiz hierher zu schiffen. Grosse Pläne für einen, der beim Packen seines Koffers Assistenz brauchte. «Ich denke trotzdem, er könnte das», sagt Kathrin, «man unterschätzt ihn oft.» Auch Solaranlagen zur Stromgewinnung möchte Urs ins Dorf bringen. Kathrin kann sich vorstellen, dass Urs irgendwann dauerhaft in Afambassi bleibt. Unter einer Bedingung: «Urs muss Französisch lernen, einfache Sätze, damit er allein zurechtkommt.»

Eines Tages reist Urs mit seinem Kirchen-Schätzeli nach Yaoundé, wo ihre bereits erwachsenen Kinder leben. «Der Sohn wollte aber Geld für die Übernachtung, war ziemlich aggressiv», erzählt Urs, das ist ihm unver ständlich. Also geht er. Nun ist er, mit seinem limitierten Französisch, allein in der Millionenstadt. Das Kirchen-Schätzeli meldet Kathrin und Carole per Telefon, dass Urs weggegangen ist. Kathrin und Carole im Dorf machen sich Sorgen und sind aufgebracht, dass die Schwester ihn hat gehen lassen. Urs hat kein funktionierendes Telefon bei sich. Nun mobilisieren die beiden Frauen sämtliche Busfahrer, die von Obala nach Yaoundé fahren. Sie sollen nach einem einsamen weissen Mann Ausschau halten, der zu Fuss unterwegs ist. «Wir haben uns grosse Sorgen gemacht», erzählt Kathrin. Das Kirchen-Schätzeli findet ihn schliesslich als Erste wieder: Urs sitzt an einem Verkehrskreisel nicht allzu weit von ihrem Haus, weigert sich aber, mit ihr zu reden. Er kann sehr stur sein, wenn ihm etwas gegen den Strich geht. Thimothé, ein enger Freund von Kathrin und Carole, sammelt ihn schliesslich mit dem Motorrad ein. Es ist Nacht, als sie wieder ins Dorf kommen.

Ein paar Tage vor Susannes Rückreise merkt Kathrin, dass irgendwas mit der Mutter nicht stimmt, weiss es aber nicht richtig einzuordnen. Den Symptomen nach – Fieberschübe bis 40 Grad, Schwindel – könnte es Mala ria sein. Susanne nimmt – im Gegensatz zu Urs – keine Prophylaxe-Medikamente. Da der Arzt vor Ort keine dif-

ferenzierte Diagnose stellen kann, bekommt Susanne Medikamente gegen Malaria und Amöbenruhr gespritzt. Das hilft zwar so weit, dass sie für den Heimflug den Durchfall los ist, aber sie kann nicht mehr richtig laufen. Kathrin und Carole organisieren am Check-in, dass man Susanne im Rollstuhl bis ins Flugzeug bringt. «Ich konnte nicht mal die Handtasche tragen und musste mich beim Aufstehen mit der Rückseite der Beine immer an eine Wand lehnen, um zu merken, ob ich geradestehe», erinnert sich Susanne.

Trotz Medikamenten wird es auf der Reise und in Basel immer schlimmer. Sie hat Halluzinationen. «Mit Ton und Bild: Im Kopf hat es Tatütata gemacht, dann Bohrmaschinengehämmer oder Kirchenchoräle in Endlosschlaufe.» Noch in der Nacht lässt sie sich ins Unispital bringen. «Ich habe bei mir in der Strasse Schwärme von Schmetterlingen gesehen, als ich aus der Haustür kam. Und ich wusste, im Dezember gibt es bei minus zwei Grad in Basel keine Schmetterlinge.» Susanne nennt es feindliche Übernahme, was in ihrem Kopf passiert. Im Unispital wird Malaria ausgeschlossen. Im Stuhl finden die Ärzte drei Stämme von Coli-Bakterien, die behandelt werden. Dazu wird eine Amöbenruhr diagnostiziert. Vier Tage muss Susanne im Spital bleiben.

Urs fühlt sich derweil so wohl, dass er sich sogar Zöpfe aus grauem Kunsthaar in seine wilde Mähne und den Bart flechten lässt. Mit der Malaria-Prophylaxe nimmt er es diesmal genau. Aber wie man an Susanne sieht, ist das nicht die einzige Gefahr. Kathrin und Carole erklären ihm zusätzlich, wie man sich verhalten muss, um generell möglichst wenig Infektionsrisiko ausgesetzt zu sein. «Wenn er einmal versteht, warum er etwas nicht machen darf, dann geht’s.» Kathrin weiss, wovon sie redet: Sie hatte selbst schon schwere Malaria, einmal Typhus, und Carole vor etwa einem Jahr eine Amöbeninfektion.

Im Juni zurück Vor der Abreise hatte Urs in Basel seine Impfungen auffrischen lassen. Gegen Ende seines Aufenthaltes bekommt er Durchfall, der auch nach der Rückkehr nach Basel noch anhält. Erst als er die Medikamente – die man nach der Reise noch weiter nehmen sollte – eines Abends vergisst, wird es besser. Er setzt die Pillen ab. «Das ist massives Material», sagt er danach und meint damit die Nebenwirkungen der Malaria-Medikamente. Stolz zeigt er derweil allen seine Kamerun-Souvenirs: Das T-Shirt, Schweissband und die Mütze in den Nationalfarben des zentralafrikanischen Landes trägt er jetzt täglich. Es sind Geschenke seines Kirchen-Schätzeli.

Auch bei Susanne ist mittlerweile alles wieder in Ordnung. Die Therapie im Spital hat die Halluzinationen verringert. Als die besorgte Kathrin in Kamerun endlich per WhatsApp erfährt, dass ihre Mutter in Basel wieder gesund ist, schickt sie drei Zeilen voller fröhlicher Emojis. «Obersuper, ich freue mich sehr.» Sie hatte zwischendurch noch andere Sorgen: Carole war von einer Giftschlange gebissen worden – hatte aber Glück. Ein Nachbar hat sie mit dem Motorrad in die Stadt gebracht, um die Anti-Seren zu bekommen. Und die haben geholfen.

Urs beobachtet sich derweil selbst genau, um nicht doch noch einmal eine unentdeckte Infektion zu verschleppen. Es geht ihm auch Wochen nach der Rückkehr gut, in seiner Kamerun-Kluft verkauft er nun Plaketten für die Basler Fasnacht. Im Juni möchte er wieder zurück, diesmal für ein halbes Jahr, das Transportunternehmen aufmachen. Was soll er schon verlieren? Das Zimmer ohne Kochgelegenheit in dem Haus an der Feldbergstrasse, das die Sozialhilfe ihm bezahlt, oder die minimale AHV, die er einmal bekommen wird? Über das Existenzminimum wird er hier nicht mehr weit hinauskommen.

Nach Kamerun auszuwandern, das ist seine Vorstel lung von Selbstbestimmung. Davon halten Urs auch Amöben, Malaria und Giftschlangen nicht ab. Und eine Aufgabe hat er dort auch.

Hintergrund: Urs Saurers erste Reise nach Kamerun und deren Folgen haben wir 2018 in der dreiteiligen Serie «Urs bricht auf» dokumentiert. Online nachzulesen unter: surprise.ngo/angebote/strassenmagazin/surprise-wirkt

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