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Sudan

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Vor Gericht

Vor Gericht

Weile lang zappelte, um sich zu befreien. Irgendwann hörte sie auf zu kämpfen und blieb reglos hängen. Je schneller die Maus aufgab, so die Annahme, desto depressiver war sie. Medikamente sollten dazu führen, dass die Maus länger kämpft. «Man muss kein Experte sein, um zu erkennen, dass eine kopfüber in der Luft baumelnde Maus nicht die beste Simulation einer menschlichen Depression ist», schreibt Bullmore.

Trotzdem funktionierte die Marketing-Maschinerie der Pharmaindustrie über Jahre – bis das Geschäft erschöpft war. Vor rund dreissig Jahren wurden die letzten innovativen Antidepressiva entdeckt. Danach suchten die Herstellerfirmen noch viele Jahre lang nach neuen, besseren Medikamenten, die auf die bekannten Hirnbotenstoffe zielten. Doch die Erfolge blieben nun aus, und vor rund zehn Jahren zogen sie sich grösstenteils aus der Forschung zurück, wie die Historikerin Anne Harrington im Buch «Mind Fixers» nach zeichnet. Obwohl die Zahl psychisch kranker Menschen ansteigt, liessen Pharmafirmen die Finger von der Erforschung neuer Therapien. Die Entwicklung von Medikamenten kostet sie Millionen. Mit dem Verkauf der gängigen Antidepressiva verdienen sie allein in der Schweiz immerhin noch jährlich rund 200 Millionen Franken.

Neue Erkenntnisse Als «biologische Revolution» wurden Psychopharmaka einst gefeiert. Auch wenn sich diese allzu euphorischen Hoffnungen in Luft aufgelöst haben: Ein Ehrenplatz in der Psychiatriegeschichte dürfte ihnen dennoch sicher sein. Schliesslich befreiten sie Betroffene aus unmenschlichen Bedingungen in geschlossenen Anstalten und lösten schreckliche Methoden wie die Lobotomie (Hirnoperationen bei psychisch Kranken) ab. Das Zeitalter der Antidepressiva könnte allerdings demnächst vorbei sein. Was aber kommt als Nächstes? Möglich, dass eine nächste, dieses Mal vielleicht echte «biologische Revolution» vor der Tür steht. So zumindest sieht es Neu rowissenschaftler Bullmore. Studien weisen nämlich einen Zusammenhang zwischen Depressionen und Entzündungen im Körper nach. Erstmals konnte ein Biomarker gefunden werden, eine messbare körperliche Auffälligkeit, die mit einer Depression in Verbindung steht. Man geht davon aus, dass rund vierzig Prozent aller Betroffenen erhöhte Entzündungswerte aufweisen – ein Forschungsfeld, in das zu investieren auch für die Pharmaindstrie wieder interessant werden könnte.

Kommen wir ein letztes Mal zurück zu Ihrem Arzttermin und verlegen ihn zehn Jahre in die Zukunft. Was könnte sich für Sie ändern? Womöglich wird Ihr Hausarzt Ihnen etwas Blut abnehmen. Bei einem auffälligen Entzündungswert wird er Ihnen statt eines Antidepressivums ein Antibiotikum verschreiben. Falls Sie skeptisch sind, könnte er Sie mit folgenden Worten beruhigen: «Ob eine Entzündung die Depression auslöst oder umgekehrt, wissen wir

nicht. Aber es spielt keine Rolle. Wichtig ist, dass wir den Teufelskreis durchbrechen, in dem sich Körper und Geist befinden.»

Vielleicht zeigt Ihre Blutprobe aber auch andere Auffälligkeiten, die andere Therapien notwendig machen. Oder aber Ihre Ärztin wird sagen: «Wir können nicht wissen, was Ihre Depression auslöst.» Auch das wäre ein Fortschritt, schliesslich lehrt die Geschichte der Psychiatrie eine gewisse Zurückhaltung vor allzu hohen Erwartungen. Nur eines ist sicher: Keine Depression ist wie die andere. Und so wird es die Wunderpille, die allen depressiven Menschen hilft, niemals geben.

«Keine Sache des Glaubens»

Wissenschaft Die Wirkung von Antidepressiva werde in Studien unterschätzt, sagt Universitätsprofessor Erich Seifritz.

INTERVIEW ANDRES EBERHARD

FOTO: ZVG

Herr Seifritz, glauben Sie an die Wirkung von Antidepressiva? Das ist keine Frage des Glaubens. Klinische Studien zei gen klar: Antidepressiva wirken signifikant besser als Placebos. Dass sie wirksam sind, sehen wir Psychiaterinnen und Psychiater auch jeden Tag in unserer praktischen Tätigkeit.

Meta-Analysen zeigen allerdings, dass die Pillen kaum besser wirken als Placebos. Wie erklären Sie sich das? Auch diese Studien beweisen die Wirksamkeit von Antidepressiva. Sie bestätigen, dass Antidepressiva einen signifikanten Zusatzeffekt besitzen, der über denjenigen der Placebo-Wirkung hinausgeht.

Der Effekt ist aber klein. Die Wirksamkeit von Antidepressiva wird in Meta-Analysen unterschätzt. In einer wissenschaftlichen Studie wird ein Patient über sechs bis acht Wochen mit dem gleichen Medikament in gleicher Dosierung behandelt – unabhängig davon, ob er auf die Therapie anspricht und ob er das Medikament verträgt. Kein Arzt oder Psychiater würde einen Patienten auf diese Weise behandeln.

Sondern? Er würde die Therapiewirkung engmaschig verfolgen, und wenn sich innerhalb von wenigen Tagen keine Besserung der Symptome ergibt, würde er die Behandlung anpassen. So etwas ist in Studien nicht möglich.

Es wird kritisiert, dass zu vielen Patienten mit leichter Depression Antidepressiva verschrieben werden. Die neueste Forschung zeigt eindeutig, dass auch leicht depressive Patienten von Antidepressiva profitieren. Dies bestätigt auch meine Erfahrung als Arzt. Es braucht aber viel klinische Erfahrung, um abzuschätzen, ob es sich bei einer leichten Depression um den Beginn einer ernsthaf

ten Erkrankung handelt oder um eine Befindlichkeitsstörung, die auch mit klärenden Gesprächen gebessert werden kann.

Die Nebenwirkungen von Antidepressiva sind teils massiv. Reicht manchmal auch eine Psychotherapie? Eine Psychotherapie ist nicht milder, auch sie kann ernsthafte Nebenwirkungen haben. Doch im Gegensatz zu Medikamentenstudien können diese nicht eindeutig beziffert werden. Dies aus dem einfachen Grund, dass es kein Placebo für Psychotherapie gibt – und deshalb auch keine Doppelblind-Studien existieren, bei denen weder Patient noch Ärztin wissen, ob das Medikament oder ein Placebo gegeben wird. Daher wird die Wirksamkeit von Psychotherapie eher überschätzt. Im Gesamtvergleich sind Antidepressiva und gewisse wissenschaftlich geprüfte Psychotherapiemethoden bei der Depressionsbehandlung etwa gleich wirksam. Am wirksamsten ist aber klar die persönlich abgestimmte Kombination aus Medikamenten, Psychotherapie und sozialen Massnahmen.

Sie verteidigen Antidepressiva vehement. Wunderpillen sind sie aber nicht, oder? Das habe ich nie behauptet. Es sind gute Medikamente mit guter Wirkung auf eine belastende und gefährliche Erkrankung. Sowohl die neurobiologischen als auch die psychologischen Grundlagen von Depressionen sind ex trem komplex und noch unvollständig verstanden. Daher ist die Forschung auf diesem Gebiet ja so wichtig. Sie ist die Grundlage für noch wirksamere Therapien als jene, die wir heute schon haben.

PROF. DR. ERICH SEIFRITZ ist Klinikdirektor der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich und Vorstandsmitglied der Schweizerischen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie.

«Wie können wir den Sudan ändern, wenn wir uns nicht dafür einsetzen, dass Frauen alles tun können, was sie wollen?»

BAYAN ALI

Arabischer Frühling Die sudanesische Revolution war eine Frauen-Revolution. Ein Jahr später zeigt sich: Der Protest der Sudanesinnen ist noch lange nicht vorbei.

TEXT MERET MICHEL FOTOS MOHAMMED SALAH

SUDAN

Die Boxhandschuhe liegen bei der Wand, während Bayan Ali und ihre Mitkämpferinnen sich mit Liegestützen und Spingübungen aufwärmen. Aus der Stereoanlage dröhnt amerikanischer Pop, draussen versuchen ein paar Buben, durch die Fenster einen Blick ins Innere zu erhaschen.

Bayan Ali ist klein und zierlich, aber sie ist definitiv eine der fittesten hier. Seit März letzten Jahres kommt die 21-Jährige zweimal die Woche ins Frauentraining im Kampfsportzentrum «Muqatel» – «Kämpfer» auf Deutsch – im Herzen der sudanesischen Hauptstadt Khartum. Damals war ihre Universität geschlossen, die Revolution gegen den Diktator Omar al-Baschir in vollem Gange, und für Ali, die sagt, sie könne nicht einfach zuhause sitzen und nichts tun, war das Thaibox-Training neben einem Spanisch-Kurs und den täglichen Demonstrationen eine willkommene Beschäftigung.

Die Frauengruppe startete im November 2018. Trainer Muhammad al-Munir hatte sie ins Leben gerufen. Er sagt, er möchte jedem und jeder die Möglichkeit geben, Kampfsport zu lernen. Denn auf der Matte, so al-Munir, würden Herkunft, Geschlecht und sozialer Status keine Rolle mehr spielen. So entspannt die Atmosphäre im «Muqatel» heute ist – es ist nicht lange her, da hätten die Frauen und ihr Trainer für das, was sie hier machen, verhaftet und ausgepeitscht werden können. Unter dem alten Regime war Kampfsport quasi per Gesetz verordnet, nichts für Frauen. Schliesslich waren sie beim Training, in Hosen und manche ohne Kopftuch, mit einem fremden Mann im selben Raum.

Dreissig Jahre lang regierte der Machthaber Omar al-Baschir den Sudan mit äusserster Härte: Oppositionelle verschwanden, das Regime schürte den Hass zwischen den verschiedenen Volksgruppen. Wegen seiner Rolle im Bürgerkrieg in Darfur 2003 ist al-Bashir international wegen Völkermords angeklagt und zur Haft ausgeschrieben.

Doch auch die Frauen litten besonders unter «Keizan», wie das Regime landläufig genannt wird. Diverse Gesetze zielten darauf ab, sie aus dem öffentlichen Raum und dem gesellschaftlichen Leben zu verbannen: So waren etwa auf der Strasse das Kopftuch Pflicht und Hosen verboten. Um zu arbeiten oder ins Ausland zu reisen, brauchten Frauen die Einwilligung eines

männlichen Vormunds. Der Sudan ist eines von sechs Ländern weltweit, das die UN-Konvention zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau (CEDAW) nicht unterschrieben hat. Die Kontrolle über die Frauen unter dem Vorwand der Scharia war das einfachste Mittel für den Machthaber, die Gesellschaft zu disziplinieren.

Neue Fronten Als im Dezember vor einem Jahr nach einer Erhöhung des Brotpreises Massenproteste gegen das Regime ausbrachen, waren die Frauen an vorderster Front dabei. An vielen Protesten machten sie mehr als die Hälfte der Teilnehmenden aus. Dann, im April 2019, ging ein Bild viral, das die 22-jährige Architekturstudentin Alaa Salah zeigte, wie sie im traditionellen Gewand und mit erhobenem Zeigefinger auf einem Autodach über der Protestmenge stand. Von da an war die sudanesische Revolution auch in den internationalen Medien vor allem eins: eine Frauen-Revolution. Viele Sudanesinnen schöpften Hoffnung, dass sich ihre Situation nun endlich bessern könnte.

Omar al-Baschir stürzte im April 2019, im Juli wurde eine Übergangsregierung gebildet, die je zur Hälfte aus dem Militär und den «Kräften für Freiheit und Wandel» (FFC) bestand, einer Koalition zivilgesellschaftlicher Parteien und Organisationen. Seither hat sich für die Frauen einiges geändert. In den zentralen Quartieren Khartums sieht man Frauen ohne Kopftuch, in Hosen oder manchmal im T-Shirt unterwegs. An Ausstellungen und Vernissagen sind Männer wie Frauen unter den Gästen, in den Gärten der Kulturzentren sieht man sie rauchen. Nach drei Jahrzehnten Repression heisst dies viel für die sudanesischen Frauen. Und dennoch: Der Kampf für Gleichberechtigung endet nicht mit dem Fall des Regimes. Das musste Bayan Ali im Sommer vergangenen Jahres selbst erfahren. Damals wollte sie an einem Thaibox-Wettkampf in den Vereinigten Arabischen Emiraten teilnehmen. Es wäre eine gute Erfahrung, dachte Ali – und sie wäre die erste sudanesische Frau, die für den Kampfsport ins Ausland reist. Doch dafür brauchte sie die Einwilligung ihres Grossvaters. Bei ihm lebt Ali derzeit, während ihre Eltern in Saudi-Arabien arbeiten. Und der sah die Sache ganz anders: Kampfsport sei nichts für Frauen, sagte er seiner Enkelin. Erst recht nicht, wenn Ali

Ärztin werden wolle. Was für ein Bild das abgeben würde, eine Ärztin, die Menschen hilft und gleichzeitig Kampfsport beherrscht? Er wollte sie nicht gehen lassen.

In der Antwort, die sie ihm daraufhin gab, steckt das Kerndi lemma jeder Revolution, die gegen Unterdrückung, für Gerechtigkeit und Freiheit kämpft: «Wie können wir den Sudan ändern, wenn wir uns nicht auch dafür einsetzen, dass Frauen alles tun können, was sie wollen?» Oder anders gefragt: Führen der Sturz der Diktatur und die Transformation zur Demokratie auch automatisch zu einer gerechteren Gesellschaft?

Der Grossvater stammt aus dem Quartier al-Burri, das in Khartum als Epizentrum der Revolution gilt. Und natürlich war auch er für den Sturz des Regimes, für «Frieden, Freiheit und Gerechtigkeit», wie ein bekannter Slogan besagt. Doch dass seine Enkelin für den Kampfsport nach Abu Dhabi reisen wollte, ging ihm zu weit: «Das ist gegen die Tradition», sagte er ihr. Ein typisches Phänomen, das sich in der Vergangenheit immer wieder zeigte, bei der Revolution für die Unabhängigkeit Ägyptens ebenso wie während des Arabischen Frühlings 2011: Nach der Euphorie auf der Strasse, wo Frauen und Männer geeint gegen das Regime kämpfen, sollen die gesellschaftlichen Verhältnisse zwischen den Geschlechtern zurückkehren zum Status quo.

Zumindest, wenn es nach den meisten Männern geht. Doch viele Frauen im Sudan sind nicht bereit, das Feld wieder zu räu men. Ihr Kampf ist nicht zu Ende, er findet jetzt nur an neuen Fronten statt: gegen die patriarchalen Strukturen in den Köpfen ihrer Väter, Grossväter, Brüder und Ehemänner. Gegen Politiker, die sich zwar für die politische Beteiligung von Frauen ausspre chen, aber wenig dafür tun. Und, noch immer, gegen die konterrevolutionären Kräfte, die hinter den Kulissen alles versuchen, um das Rad der Revolution zurückzudrehen.

Die Dämmerung taucht das Sportfeld in ein rötliches Licht. Plastikstühle stehen vor einer Bühne, ein Zug von Menschen schreitet, sudanesische Flaggen schwenkend, über den Rasen. Zum heutigen Internationalen Tag gegen Gewalt an Frauen haben ein paar Organisationen eine Veranstaltung organisiert. Fast täglich, so hat man das Gefühl, finden in Khartum politische Treffen und Workshops, aber auch Kunstausstellungen und Konzerte statt. Das allein wirkt nach dreissig Jahren unter al-Baschir wie eine Befreiung.

Auf einem der Stühle sitzt Susan Hassan al-Shawiya. Sie ist eine der Gründerinnen von MANSAM, einem Verbund von Frauen, der sich mit der Revolution gebildet hat und für Frauenanliegen lobby iert. «Wir wollten damals als Frauen die Revolution unter stützen», sagt al-Shawiya. «Wir wissen, wie brutal das Regime gegen junge Männer vorgeht, die demonstrieren.» Sie hofften, ihnen durch ihre Anwesenheit Schutz zu bieten.

Frauen aus allen Schichten Jetzt, in der Übergangsphase, setzen sie sich vor allem dafür ein, mehr Frauen in diverse politische Gremien einzubringen. Unter anderem haben sie erreicht, dass in der neuen Regierung vier Ministerinnen sitzen. Das zivile Parteibündnis FFC sprach sich schon im Dezember 2018 für eine 40-Prozent-Frauenquote in allen politischen Gremien aus. In der Deklaration bei der Bildung der Übergangsregierung ein halbes Jahr später war die Quote zumindest noch fürs Parlament festgehalten. Die Realität ist bis heute noch weit davon entfernt. Auch manche Aktivistinnen sind skeptisch angesichts der Fixierung mancher Gruppen auf die

20 Fühlt sich als Schwarze Frau doppelt diskriminiert: Rayan Mahmud.

Frauenquote. «Ich befürchte, für viele Parteien ist eine Quote der einfachste Weg zu zeigen, dass sie sich für Frauen einsetzen», sagt Hala al-Karib von der Menschenrechtsorganisation Siha, die sich besonders für die Stärkung von Sudanesinnen aus marginalisierten Gesellschaftsschichten einsetzt.

Al-Karib wehrt sich gegen die Vorstellung, dass mehr Frauen in der Politik automatisch zu mehr Gleichberechtigung in der Gesellschaft führten. Wahre Repräsentation, sagt sie, müsse die Diversität der sudanesischen Frauen miteinbeziehen. «Wer sind denn diejenigen, die am meisten von einer Quote profitieren? Es sind Frauen aus der Khartumer Mittel- und Oberschicht.» Dabei lebten siebzig Prozent der Sudanesinnen und Sudanesen ausserhalb des Gross raums Khartum und ein Drittel der Bevölkerung unter der Armutsgrenze. Die Situation der Frauen in Konfliktgebieten wie Darfur sei kaum zu vergleichen mit jener der Menschen in der Hauptstadt. Bis heute müssen viele von ihnen fürchten, vergewaltigt zu werden, wenn sie nur schon zum Wasser holen ihr Haus verlassen.

Statt Quoten einzuführen, solle die Regierung auf der Gesetzesebene ansetzen: diskriminierende Gesetze abschaffen, die Ratifizierung der CEDAW-Resolution vorantreiben und konkrete Massnahmen ergreifen, um Frauen zu fördern. «An den Universitäten schliessen jedes Jahr hunderte Ingenieurinnen ab», sagt al-Karib. «Aber viele finden keinen Job. Manche Firmen sagen, dass sie keine Frauen einstellen könnten, weil sie keine Toiletten für Frauen hätten.»

Um einen Eindruck der Komplexität zu erhalten, reicht es, eine Stunde aus dem Zentrum Khartoums ins Quartier al-Hajj Yussif zu fahren. Nach und nach weichen die mehrstöckigen Gebäude flachen Lehmbauten, und statt Autos verstopfen irgendwann fast nur noch Tuktuks die Strassen.

Hier lebt Rayan Mahmud zusammen mit ihrer Familie. Ihre Eltern sind vor Jahrzehnten vor dem Krieg in den Nuba-Bergen in die Hauptstadt geflohen. Seither leben sie, wie fast alle Bewohner dieses Quartiers, als Flüchtlinge im eigenen Land, und viele kämpfen mit Armut, denn Arbeit gibt es in al-Hajj Yussif kaum. Nicht wenige der jungen Männer schliessen sich den «Rapid Support Forces» an, jener berüchtigten Miliz, die hauptsächlich an dem Massaker gegen Protestierende vergangenen Sommer beteiligt war.

Heimlich an die Demo «Jeder hatte seine ganz persönlichen Beweggründe, warum er an der Revolution teilnahm», sagt Mahmud. Bei der 21-jährigen Me dizinstudentin war es die doppelte Diskriminierung, die sie auf die Strasse trieb: «Weil ich eine Frau bin. Und wegen meiner dunklen Hautfarbe.» Im letzten Jahr bekam sie dies immer wieder zu spüren, als sie sich für Praktikumsstellen in Spitälern bewarb. «In einem Spital sagte mir der Verantwortliche, dass sie keine Frauen einstellen würden.» In anderen, so glaubt Mahmud, sei sie aufgrund ihrer Hautfarbe nicht genommen worden. Rassismus und Diskriminierung, vor allem vonseiten der arabisch-stämmigen Sudanesen aus dem Norden gegenüber den Schwarzafrikanerinnen aus dem Süden des Landes, sind noch immer weit verbreitet. Als der Aufstand im Dezember 2018 begann, hatte Rayan Mahmud wochenlang an den Demonstrationen teilgenommen, ohne ihrer Familie davon zu erzählen. Sie war sich sicher, dass ihr Vater es ihr nicht erlauben würde aus Angst, es könnte ihr etwas geschehen. Doch Mahmud war das egal. Sie setzte grosse Hoffnungen in die Revolution: Sie glaubte, dass diese neue Einheit während der Demonstrationen – zwischen Männern und Frauen, zwischen Sudanesinnen aus allen Regionen des Landes – anhalten würde.

Zusammen mit anderen jungen Frauen in ihrem Quartier gründete sie eines der Widerstandskomitees in al-Hajj Yussif. Diese Komitees entstanden während der Revolution in den verschiedenen Stadtteilen, sie brachten die Aktivistinnen und Aktivisten zusammen, hier organisierten und engagierten sie sich. In al-Hajj Yussif etwa bauten sie neue Wasserleitungen und zogen Stromkabel zu den Häusern, nachdem das Regime ihnen Wasser und Strom abgestellt hatte. Es war nur eine von vielen Bosheiten, mit denen Keizan versuchte, die Menschen hier dafür zu bestrafen, dass manche sich auflehnten. Doch dann wurden Mahmud und die anderen Frauen aus dem Komitee geworfen. Als es im Quartier eine Wahl gab dazu, wer künftig im Komitee sitzen sollte, habe eine Gruppe von Männern zu den Frauen gesagt, dass ihre Rolle nun vorüber sei. «Sie meinten, wir Frauen könnten am Abend ja ohnehin nicht mehr das Haus verlassen. Dabei stimmt das gar nicht», sagt Mahmud.

Die junge Frau ist stur. Sie und die anderen Gründerinnen stellten sich dennoch zur Wahl, und Mahmud ist sich sicher, dass sie gewählt wurde: Die Wahl erfolgte per Handzeichen. Dennoch stand ihr Name nicht auf der Liste der neuen Mitglieder. Mahmud glaubt, dass die Männer, die dahintersteckten, von Anhängern des alten Regimes instrumentalisiert wurden, um die Frauen

loszuwerden: ein konterrevolutionärer Putsch. «Sie wissen, dass sie uns nicht bestechen können, deswegen wollten sie uns raushaben», sagt sie. «Denn wir Frauen haben zu sehr unter dem Regime gelitten, als dass wir uns jetzt von ihm kaufen lassen.» Mahmud ist, bisher zumindest, enttäuscht von der Revolution. Zwar zeugen in al-Hajj Yussif bis heute diverse Wandmalereien von dem Wandel, in dem sich das Land nach dreissig Jahren Diktatur gerade befindet. Doch Mahmud musste feststellen, dass sich das Gefühl der Einheit an den Demonstrationen kaum im Alltag niederschlug. Gerade für die Frauen im Quartier habe sich kaum etwas geändert hat. Selbst wenn sie studieren, wie Mahmud und viele ihrer Freundinnen, würden sie dennoch im Haushalt verschwinden, sobald sie heirateten. Mahmuds Strategie ist deswegen pragmatisch: vorerst nicht zu heiraten.

Bayan Ali, die Thaiboxerin, konnte ihren Grossvater am Ende doch noch von der Reise überzeugen. Einerseits, weil sich ihr Vater nach einer familieninternen Abstimmung einverstanden erklärte. Andererseits, indem Ali dem Grossvater erklärte, mit Kampfsport könne sie sich im Notfall gegen Übergriffe auf der Strasse verteidigen, und das leuchtete ihm wiederum ein. Ein kleiner Sieg. Der andere: Bayan Ali kehrte aus Abu Dhabi mit einer Bronze-Medaille zurück.

Hintergründe im Podcast: Mehr zu diesem Artikel und den Recherchen von Meret Michel vor Ort auf: surprise.ngo/talk

Die Gessnerallee lässt alle teilhaben: «Zwischen den Säulen» von Markus & Markus gab es gratis zu sehen. Im März werden wieder vier Arbeiten aus der freien Szene ohne Eintritt gezeigt.

«Hauptsache, ihr seid da!»

Kulturelle Teilhabe Immer mehr Kulturhäuser bieten Plätze für Leute mit schmalem Budget an. Das zeugt zwar von Solidarität. Nur gehören Kunst und Kultur eigentlich zum Grundbedarf des Menschen.

TEXT KATJA ZELLWEGER

«Wem es nicht bis zum Ende des Monats reicht, der gibt, was möglich ist. Hauptsache, ihr seid da.» So wird in der freien Szene Argentiniens – notgedrungen – das Hutgeld definiert. Sind Touristen anwesend, wird auf Englisch manchmal ein höherer Richtpreis verkündet. Unfair, vielleicht. Aber auch pragmatisch und sozial. Wer nicht hat, der muss nicht geben. Trotz prekären Verhältnissen im Kultur- und Sozialbereich gibt es staatlich finanzierte Museen und Konzertsäle, die keinen Eintritt verlangen. Das nationale Kunstmuseum verlangt nur von Touristen Eintrittspreise. In der Schweiz sind kulturelle Veranstaltungen in der Regel kostenpflichtig. Ein Kulturbesuch gilt für viele als unerschwingliches, exklusives Luxusgut. Dass der Zugang zur Kultur nicht nur denen vorbehalten sein sollte, die sich das leisten können, steht sogar in der Erklärung der Menschenrechte, Artikel 27: «Jeder Mensch hat das Recht, am kulturellen Leben der Gemeinschaft frei teilzunehmen, sich an den Künsten zu erfreuen und am wissenschaftlichen Fortschritt und dessen Errungenschaften teilzuhaben.»

Die soziokulturelle Animatorin Carmen Berchtold definiert Kultur sehr breit, vom Opernbesuch über einen Spaziergang bis zur Mitgliedschaft im Fussballklub. Für Berchtold – sie koordiniert und erarbeitet für Surprise Stadtführungen – umfasst Kultur «im Sinne Bourdieus» alles, was mit gesellschaftlicher Partizipation zu tun hat. «Kultur beginnt für mich bei der Würde und freien Entwicklungsmöglichkeit für alle.» Das sei grunddemokratisch. «Es geht darum, die Wahl zum Mitmachen, zum Dabeisein zu haben. Ob das Angebot genutzt wird, ist sekundär.»

Geld ist einer der einschränkendsten Faktoren für einen Kulturbesuch. Von ihrer Arbeit mit Armutsbetroffenen weiss Berchtold, dass chronischer Geldstress und Armut krank machen und isolieren. «Ist einem nach einem Kafi oder einem Konzert zumute, kann man diesem Impuls nicht nachgeben. Die Leute sprechen davon, sich in einem permanenten Überlebensmodus zu befinden. Dauernd müsse man Feuerlöschen und habe keine Kraft mehr für Lebensqualität.» Zudem hätten Betroffene oft einen erschwerten Zugang zu Gesprächen, die sich nicht um ihre Sorgen drehen – sei es mit neuen Bekanntschaften oder in ihrem eigenen Umfeld. Oder sie fühlten sich aus Scham nicht dazugehörig. Wer trotzdem über seinen Schatten springe und sich etwas gönne, das nicht nur dem nackten Überleben diene, setze sich auch dem Urteil der Öffentlichkeit aus: «Ist einer hochverschuldet und gönnt sich einmal im Monat eine Runde Poker, muss er sich dafür rechtfertigen. Als hätte er keine Erholung ver

«Mich interessieren Graffiti und Hip Hop»

Ich male seit 25 Jahren Graffiti und Wappen. Ich interessiere mich für Geschichte, speziell für Adelsgeschichte bis ins 16. Jahrhundert zurück. Auch Mozart und Shakespeare finde ich spannend. Der Film «Shakespeare in Love» hat mir sehr gut gefallen, den habe ich online gesehen. Am meisten interessiert mich aber die Graffiti- und Hip-Hop-Szene. Was mir fehlt, ist der Austausch. Ich suche junge Leute, die in der Kunstszene vernetzt sind und legal sprayen. Ich trommle auch an der Basler Fasnacht. Aber ich trommle allein. Nach drei Stunden habe ich Rückenschmerzen, die Cliquen laufen mir zu schnell. Ich war schon in Schüleraufführungen oder im Theater Basel. Dort ginge ich gerne öfters hin, doch ich kann es nicht zahlen. Im Sommer gibt es viele Openair-Konzerte, die ich mir leisten kann. Aber ich habe keine Freunde und bin immer alleine unterwegs. Das stinkt mir. SERGE FURRER, (42) verkauft Surprise in Basel.

«Kunst ist das Spiegelbild meiner Seele»

Den Hafenkran am Zürcher Limmatquai fand ich super. Dass Leute so etwas im Kopf hatten. Dass sie es durchgesetzt und wie sie es umgesetzt haben. Mir gefällt Kunst, die mir im Stadtbild begegnet. Ins Theater ging ich früher auch immer mal wieder, ins Bernhard Theater oder Theater am Hechtplatz. Ich würde mir durchaus wieder mal ein Billett kaufen und auch alleine hingehen. Auch klassische Konzerte, Oper: Mit Handkuss würde ich die besuchen. Für die Kunstbiennale Manifesta in Zürich hatte ich einen Museumspass bekommen. Ich hielt mich an Sonntagen jeweils stundenlang in den Räumlichkeiten auf und fragte mich: Wie ist der Künstler auf diese oder jene Idee gekommen? Im Museum komme ich mir selbst näher, beschäftige mich mit eigenen Ideen. Und merke plötzlich: Ich bin ja auch gut! Kunst ist für mich eine Art Spiegelbild meiner Seele, meiner eigenen Ideen, meines Lebens. HANS RHYNER, (42) verkauft Surprise in Zürich.

dient.» Kultur und Freizeitgestaltung rücken oft wieder dann in den Fokus, wenn die persönliche Abwärtsspirale sich zu verlangsamen beginnt. «Wenn jemand nur schon wieder auf einen Spaziergang geht, kann das ein Zeichen dafür sein, dass er sich auf dem Weg zurück ins Leben befindet.» Die Teilhabe an Freizeitgestaltung und Kultur ist laut Berchtold ein wichtiger Gradmesser und eine Unterstützung.

Kurzschluss: Kunst ist wertlos Laut Bundesamt für Statistik waren im Jahr 2017 8,2 Prozent der Schweizer Wohnbevölkerung von Armut betroffen. Seit 2014 steigt die Zahl, während die Einkommen tendenziell sinken und stagnieren. Die Armutsgrenze wurde 2017 im Durchschnitt auf 2259 Franken Einkommen im Monat bei einer Einzelperson festgelegt. Sozialhilfeempfänger erhalten einen «Grundbedarf für den Lebensunterhalt», der laut der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe (SKOS) 2019 mit 997 Franken im Monat eine «menschenwürdige Existenz» sichern sollte. Darin enthalten sind alle Lebenshaltungskosten mit Ausnahme von Miete und Krankenkasse, wie Nahrungsmittel, Verpflegung, Kleidung, Kehrichtgebühren, Mobilitätskosten, Telefonrechnung und Körperpflege. Auch Vereinsbeiträge, Radio/TV-Gebühren, Zeitungsabos oder Kulturbesuche müssen damit gedeckt werden. Wer also keine Vernissage einplant, an der ein Museumsbesuch gratis ist, wird Kultur bald zum verzichtbaren Luxus zählen.

Lösungen bieten einige Veranstalter wie etwa das Freiburger Belluard Festival oder das Berner Auawirleben Festival mit dem «Ticket suspendu» an: Jemand bezahlt doppelt und offeriert so einen Gratiseintritt, den jemand anders mit schmalem Budget an der Kasse beziehen darf. Weitere Veranstalter bieten unterschiedliche Preiskategorien an, die man seinem Budget entsprechend frei wählt, oder sie verlosen Tickets. Die Zürcher Gessnerallee hat gar eine Art Pricing-Manifest erarbeitet: «Kunst ist für alle da, sie ist kein Luxusgut, sondern unser täglich Brot.» In der letzten Saison verzichteten sie auf Plakate und nutzten die Einsparnisse für fünf Abende mit freiem Eintritt für alle.

Im Sommer gibt es konsumfreie Zonen wie Strassenfestivals, wo draussen unter Leuten Musik und Strassenkunst genossen werden kann. In Wabern bei Bern wird vom Kollektiv Frei_Raum die Heitere Fahne betrieben, ein «inklusiver Kulturort mit Beiz», der «das Solidaritätsprinzip mit dem Hutgeld zelebriert». Das sagt Rahel Bucher, Gründungsmitglied und Zuständige für die Programmarbeit. «Einerseits gilt die Solidarität für

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