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Depressionen
Gute Medikamente, schlechte Medikamente
Depressionen Antidepressiva sind für die Pharmaindustrie ein grosses Geschäft. Dabei wirken sie kaum besser als Placebos, zeigen Studien. Stimmt das?
TEXT ANDRES EBERHARD FOTOS HENRI LÜNSMANN
Stellen Sie sich vor, Sie haben einen Termin bei Ihrem Hausarzt und klagen über innere Leere. Sie seien stets müde, sähen im Leben keinen Sinn, hätten an nichts mehr Freude, könnten sich zu nichts aufraffen. Und dann sind da auch noch Schuld- und Minderwertigkeitsgefühle, weil Sie all dies an sich selbst nicht ausstehen können. Wie wird Ihr Arzt reagieren? Womöglich wird er Sie an eine Therapeutin oder einen Psychiater überweisen. Die Chance ist gross, dass er Ihnen neben einer Verordnung zur Psychotherapie auch gleich eine Packung Antidepressiva mitgibt.
Die Zahl depressiver Menschen steigt seit Jahren – über 300 Millionen sind es gemäss der Weltgesundheitsorganisation WHO weltweit. In wohlhabenden Ländern wie der Schweiz sind es besonders viele. Viele von ihnen, rund 700 000, schlucken Antidepressiva. Experten warnen davor, dass zu viele Menschen mit einer leichten Depression Medikamente mit teils gravierenden Nebenwirkungen einnehmen. Die Betroffenen belasten damit nicht nur sich selbst, sondern durch die Kosten auch das Gesundheitssystem.
Kritisch ist diese Entwicklung vor allem darum, weil sich immer stärker eine Erkenntnis durchsetzt: Antidepressiva wirken nicht sonderlich gut. Im Spätherbst letzten Jahres sorgte eine Publikation des renommierten Forschungsnetzwerks Cochrane für Aufsehen. Die dänischen Forscher schrieben, dass Antidepressiva kaum besser wirkten als Placebos. Zu diesem Schluss kamen sie, nachdem sie über 500 Studien zum Thema ausgewertet hatten. Auf einer Skala von 52 Punkten schnitten Antidepressiva um weniger als zwei Punkte besser ab als Zuckertabletten. Diesen marginalen Unterschied würden Ärzte nicht einmal feststellen können, hielt das Autorenteam fest. Auch wenn der Aufschrei nach Erscheinen der Studie gross war: Neu ist diese Erkenntnis nicht. Bereits 2002 kamen Meta-Untersuchungen zu vergleichbaren Ergebnissen. 82 Prozent der Wirkung von Antidepressiva seien mit dem Placebo-Effekt zu erklären, hiess es damals. Der grosse Einfluss der Scheinmedikamente bei Depressionen kommt nicht von ungefähr; schliesslich ist Hoffnungslosigkeit ein typisches Symptom der Krankheit. Allein durch die Aussicht auf Besserung fühlen sich manche Betroffene besser.
Unbekannte Ursachen Zurück zu Ihrem Arzttermin: Sie möchten wissen, warum Sie Medikamente einnehmen sollen. Ihre Hausärztin wird Ihnen erklären, dass Sie an einer Depression leiden. Nun sind Sie aber besonders neugierig und fragen, wozu denn Antidepressiva gut sind. «Die Medikamente bringen gewisse Hirnbotenstoffe wie Serotonin, Dopamin, Adrenalin oder Noradrenalin wieder ins Gleichgewicht», wird die Ärztin antworten. Sie geben aber nicht nach: Woher sie denn wisse, dass es Ihnen an diesen Stoffen mangle. In diesem Fall bleibt Ihrer Ärztin – sofern sie Sie nicht anlügt – nur eine Antwort übrig: «Wissen kann ich das nicht.»
Nicht nur Ihr Hausarzt, auch sonst niemand weiss, was Depressionen auslöst. Das ist erwähnenswert, weil Pharmafirmen ein halbes Jahrhundert lang das Gegenteil behauptet haben. Sie brachten neue Medikamente auf den Markt, die sie als Wundermittel gegen Depressionen vermarkteten. Dass Hirnbotenstoffe etwas mit psychischen Prozessen und damit auch mit Krankheiten zu tun haben, wurde zwar erforscht. Aber das heisst noch nicht, dass ein Mangel an Serotonin, Dopamin und Co. die Ursache einer Depression ist. Misstrauisch hätte machen können, dass die Erforschung sämtlicher Antidepressiva auf einem Zufallsfund beruht. Das erste Präparat wurde Anfang der 1950erJahre von der Firma Hoffmann-La Roche entwickelt. Die Forscher waren auf der Suche nach einem Wirkstoff gegen die damals unheilbare Tuberkulose. Dabei stellten sie fest, dass bettlägerige, teils todgeweihte Testpersonen plötzlich «ungewöhnlich fröhlich» wurden. Um die Welt gingen Fotos des Life-Magazins aus einem abgelegenen New Yorker Spital, wo Tuberkulose-Patienten gemeinsam auf den Gängen tanzten. Plötzlich interessierten sich auch Psychiater für den Stoff namens Iprionazid, und weil sich bei Patientinnen mit Depressionen ein ähnlich aktivierender Effekt zeigte, kam das Mittel unter dem Namen Marsilid auf den Markt.
Per Zufall hatte man also ein Medika ment gefunden, das wirkte. Nun wurden daraus Annahmen über die Krankheit entwickelt. Zwar wurde Marsilid wegen seiner schlimmen Nebenwirkungen – etliche erkrankten an Heptatitis, manche starben – nach wenigen Jahren durch andere Präparate ersetzt. Doch das Prinzip blieb dasselbe: Während vieler Jahre versuchte man, den «aktivierenden» Effekt von Marsilid zu reproduzieren, und dabei die Nebenwirkungen zu minimieren. Dass der ganzen Forschung eine Fehlannahme zugrunde liegen könnte, ging vergessen.
Das grosse Geschäft In seinem Buch «The Inflamed Mind» beschreibt der Neurowissenschaftler Edward Bullmore beispielhaft, wie weit die Forschung über Depressionen teilweise von der Wirklichkeit entfernt war. Um ein neues Antidepressivum zu finden, wurde in der Regel zunächst ein Test mit Mäusen durchgeführt. Die Maus wurde an ihrem Schwanz aufgehängt, worauf sie eine