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Aktivismus
Ein Haus für fast alle
Aktivismus Das feministische Streikkollektiv Zürich hat im letzten Sommer ein Haus bezogen. Nach dem Streik ist hier vor dem Streik. Ein Besuch.
TEXT MIRIAM SUTER FOTOS GABI VOGT
«Feminismus oder Schlägerei» steht auf einem kleinen, handgemalten Plakat über dem Briefkasten. Stösst man die Eingangstür auf, wird man von Glitzer begrüsst, durch einen Lametta-Vorhang geht es ins Innere des ehemaligen Quartierhauses am Sihlquai. Zwei Mitglieder des Streikkollektivs führen mich ins Dachgeschoss. Hier ist das Atelier, hier werden Streikplakate gebastelt, hier liegt ein Nippel am Boden: «Wem der wohl gehört?», fragt Lea*. Sie ist 30 und gehört zum Streikkollektiv, das basisdemokratisch organisiert ist. Das bedeutet: Keines der Mitglieder will mit Namen in der Presse auftreten, es geht um die Kraft des ganzen Organs, nicht um die Präsenz einzelner Indi viduen. Das gilt auch für die 29-jährige Berfin*. Auf einem hölzernen Deckenbalken im Atelier steht in cremefarbener Handschrift: «Kein Nippel ist illegal», daneben klebt ein zweiter Papiernippel, Lea klebt den vom Boden dazu. Sie sind Teil der Bastelaktion einer Aktionsgruppe und wol
len darauf aufmerksam machen, dass weibliche Nippel in den sozialen Medien zensiert werden – während männliche Nippel unbehelligt gezeigt werden dürfen.
Das Streikkollektiv ist vernetzt mit Organisationen wie beispielsweise dem Frauen*Zentrum, der FIZ Fachstelle Frauenhandel und Frauenmigration und FIST (feminstisches internationalistisches solidarisches Treffen). «Für den Frauenstreik arbeiteten wir auch mit Gewerkschaften zusammen, es bestehen jedoch keine Abhängigkeiten, wir sind parteiunabhängig, autonom und dezentral organisiert», sagt Lea. Das Haus ist offen für «Flint»-Personen, die Abkürzung bedeutet «FrauenLesbenInterTrans». Männer, spezifisch Cis-Männer, also Menschen, die sich ihrem biologischen männlichen Geschlecht zugehörig fühlen, müssen draussen bleiben – ausser während den monatlichen Sitzungen, dort engagieren sich Cis-Männer solidarisch in der Kinderbetreuung.
16 Lea erklärt: «Es ist immens wichtig, dass es Räume gibt, in denen sich Flint-Menschen unter sich treffen und austauschen können. Es heisst immer, der öffentliche Raum sei für alle offen. Aber wenn man mal genau hinschaut, merkt man, dass das nicht stimmt.» Noch immer sei der öffentliche Raum in Männerhand: Sie besitzen den grössten Teil der Macht, können also bestimmen, welche Räume wie genutzt werden. «Am Frauenstreik war die ganze Stadt ein ‹safer space›, wir fühlten uns draussen sicher und bekamen ein Gefühl dafür, wie sich gesellschaftliches Zusammenleben in einem feministischen Sinn anfühlen könnte», sagt Lea.
Wenn man die Partnerin nicht zu küssen wagt Im Streikhaus kann man dieses Gefühl in einer Art Mikrokosmos erleben. Durch diese Erfahrung, erklärt Berfin, kann dies nachher auch im öffentlichen Raum eingefordert werden. «Es geht hier im Streikhaus auch darum, Strategien für den persönlichen Alltag zu erarbeiten. Ein ‹safer space› bedeutet für jede Person etwas anderes.» «Safer», also sicherer, bezeichnen die beiden das Streikhaus, weil sich die Menschen hier sicherer fühlen als im öffentlichen Raum. Denn viele Frauen und Flint-Personen fühlen sich nicht überall im öffentlichen Raum wohl. Ein klassisches Beispiel: Eine Frau läuft alleine nach dem Ausgang nach Hause und kommt an einer Gruppe Männer vorbei, die ihr Sprüche hinterherrufen. Diese Erfahrung dürfte vielen Frauen bekannt vorkommen – sie zeigt, dass sich die Geschlechter im öffentlichen Raum mit unter- schiedlicher Selbstverständlichkeit bewegen. Für Menschen, die nicht heterosexuell sind, wird diese Diskriminierung vervielfacht: Lesbische Frauen etwa, die sich nicht trauen, ihre Partnerin in der Öffentlichkeit zu küssen, oder schwule Männer, die nicht Händchen halten, da sie fürchten, verprügelt zu werden. Dies geschieht auch in der Schweiz noch immer, etwa nach der letztjährigen «Pride» oder vermehrt im Vorfeld der Abstimmung über die Erweiterung der Anti-Diskriminierungsstrafnorm im Februar. Im hinteren Teil des Oberge - schosses gibt es einen Ruheraum, hierher konnten sich an der Eröffnungsparty im September alle diejenigen zurückziehen, denen der Lärm zu viel wurde. Solche Rückzugsräume hat das Kollektiv überall im Haus eingerichtet. Über eine schmale Treppe gelangen wir, von Rotlicht beleuchtet, hinunter in den ersten Stock. Hier sind mehrere Sitzungsräume und das Lager des Gratisladens im Erdgeschoss: ein grosser Haufen Kleider, Schuhe, Taschen, angesammelt durch private Spenden oder das Leeren des eigenen Kleiderschranks von Mitgliedern des Kollektivs. Im Raum daneben befinden sich, säuberlich aufgeräumt und in Regalen verstaut, Utensilien der verschiedenen externen Gruppen, die sich im Haus einquartiert haben, wie etwa Flyer der Gruppe «Es heisst, der öffentliche Raum sei für alle offen. Aber das stimmt nicht, wenn man genau schaut.» LEA, STREIKKOLLEKTIV
«Ni Una Menos». Ursprünglich in Argentinien gegründet, hat sich in Zürich ein Schweizer Zweig der feministischen Gruppierung gebildet. «Nicht eine weniger» bedeutet der Name auf Deutsch, die Gruppe macht auf Femizide aufmerksam – also Morde an Frauen, die umgebracht wurden, weil sie Frauen sind. Es ist diese sexistische Gewalt, die Berfin und Lea von allen feministischen Anliegen mit am meisten beschäftigt: In der Schweiz ermordet im Schnitt alle zwei Wochen ein Mann eine Frau. «Immer, wenn ein Femizid begangen wird, ruft die Gruppe am darauffolgenden Donnerstag auf dem Ni-una-menosPlatz zu einer Kundgebung auf.» Gemeint ist der Helvetiaplatz, «wir haben den für uns umbenannt», erzählt Lea. 2020 war dies bereits fünfmal der Fall. An der Wand hängt ein kleines Plakat: «Be careful with each other, so we can be dangerous together.»
Vieles im Haus ist noch am Entstehen, etwa die feministische Bibliothek im hinteren Teil des ersten Stocks. Noch ist der Raum etwas karg eingerichtet und ausgerüstet, aber einige Werke liegen bereits auf dem Tisch: «Frauen im Laufgitter» von Iris von Roten, «Fleischmarkt» von Laurie Penny oder «Vergewaltigung» von Mithu M. Sanyal. Im Erdgeschoss betreten wir den Bewegungsraum mit wunderschönem Parkettboden und einem riesigen Spiegel. Hier finden Tanzkurse statt, aber auch Unterricht in Kampfsport, Yoga, verschiedenen Tanzarten und Theater werden angeboten. Das Programm wird von verschiedenen Externen zusammengestellt, die Räume werden kostenlos vergeben. Als Gegenleistung wird ein Engagement im Haus erwartet – zum Beispiel Putzdienst. Wir gehen vorbei an einem weiteren Ruheraum, «Das ist kein Hängerraum» steht auf einem Zettel an der Tür. Im Innern: zwei Sofas, ein Schrank, ein kleines Regal in der Ecke, am Boden ein Teppich. Die Infrastruktur für die Kinderbetreuung müsse noch dringend ausgebaut werden, sagt Lea. Einmal im Monat trifft sich das Kollektiv zur Haussitzung, hier können externe Gruppen vorsprechen, wenn sie im Haus etwas machen wollen.
Später sitzen wir im Erdgeschoss auf gemütlichen, bunt zusammengewürfelten Sofas und trinken Mate-Tee. Im hinteren Teil des grossen Raums ist die Bar. Betrieben wird sie von der AG Heldin*nenb*ar, die sich zusammengefunden hat. Der Blick geht auf einen grossen Garten mit einer Schaukel, einem Sandkasten – und Platz für eine kleine Bühne. «Im Sommer würden wir gern ein Festival veranstalten, stell dir vor, wie schön das wäre hier im Garten», sagt Lea. Manchmal spielen die Kinderbetreuerinnen von der Autonomen Schule Zürich im Garten mit den Kids, bei ihnen selbst gebe es zu wenig Räume, ergänzt Berfin. Das Haus umfasst 720 Quadratmeter, die Miete kostet 2700 Franken im Monat. Ein Glücksfall, ein solches Haus «Wir erreichen durchaus Leute ausserhalb der feministischen Bubble.» BERFIN, STREIKKOLLEKTIV
mitten in Zürich gibt es eigentlich gar nicht. Bezahlt wird die Miete mit Spenden von Privatpersonen, Genossenschaften und gewerkschaftsnahen Vereinen und den Einnahmen an Solipartys. «Ich habe das Inserat dafür gesehen und es an verschiedene Mitglieder des Kollektivs weitergeleitet», sagt Berfin. Vor dem Frauenstreik im letzten Juni hielt das Kollektiv seine Sitzungen entweder bei Park Platz, einer Zwischennutzung auf dem ehemaligen Parkplatz neben dem alten Bahnhof Letten, oder in Büros von verschiedenen Gewerkschaften oder im Maxim Theater ab. «Das war immer ein Stress, und es war eigentlich schon lange klar, dass wir eigene Räume brauchen.»
Vorbereitungen für den Weltfrauentag Der Stress war dann auch der Grund für die Bewerbung, als das Haus im letzten Sommer von der Raumbörse Zü rich ausgeschrieben wurde. Die Bewerbung wurde von ungefähr dreissig verschiedenen Leuten gemeinsam geschrieben. «Ich glaube, es war deshalb so gut, dass wir sofort in die engere Auswahl kamen und letztlich den Zuschlag erhalten haben», sagt Berfin. «Wie gross das Kollektiv ist, ist schwer zu sagen.» Vor dem Frauenstreik seien bis zu achtzig Menschen an den Vorbereitungssit zungen gewesen: Menschen mit und ohne Aufenthaltsbewilligung, mit und ohne Verantwortung für Kinder, People of Colour, in queeren und hetero Beziehungen, jung und alt, mit und ohne Beeinträchtigung, mit bezahlter, unterbezahlter oder unbezahlter Arbeit.
Aber was ist mit den Menschen, die sich vom Streik nicht angesprochen fühlen? «Wir erreichen durchaus Leute ausserhalb der feministischen Bubble», meint Berfin. «Aber wenn jemand total antifeministisch eingestellt ist oder unsere Anliegen als unwichtig empfindet, dann sind wir natürlich der falsche Ort.»
Das Streikbüro ist freitagnachmittags von 15 bis 19 Uhr geöffnet und neben zahlreichen AG-Sitzungen findet zudem an jedem ersten Samstag im Monat ein grosses feministisches Vernetzungstreffen statt. Aktuell laufen die Vorbereitungen für den nächsten Streik: Der findet am 8. März statt, dem Weltfrauentag. Im Fokus steht dieses Mal der Care-Bereich – Menschen, die in der Kinderbetreuung arbeiten, aber auch Mütter und Grosis werden auf dem Flyer angesprochen. Treibende Kraft ist neben dem Streikkollektiv die Zürcher Trotzphase, eine Gruppe von Fachpersonen aus der Kinderbetreuung. Die Mitglieder setzen sich gegen ausbeuterische Anstellungsverhältnisse in Kitas ein.
Für Lea und Berfin ist die feministische Arbeit mit dem letztjährigen Frauenstreik erst richtig angelaufen. «Es war so ermächtigend, zu sehen, wie viele wir sind», sagt Lea. Dass rund um den Globus Mächte an Einfluss gewinnen, die lang erkämpfte Frauenrechte wieder beschränken wollen, stimmt die beiden nachdenklich. Aber für Berfin ist klar: «Das bedingungslose Einfordern von Raum bereitet mir seit dem Frauenstreik keine Mühe mehr. Im Gegenteil: Wir sind viele, wir sind laut, und wir lassen uns nicht mehr das Wort verbieten.»